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Für Josef

ISBN 978-3-492-97575-9

Mai 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2006

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: The Bridgeman Art Library

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Vorwort

1694 tritt Friedrich August I. die Nachfolge seines jung verstorbenen Bruders an und wird Kurfürst von Sachsen. Das Land findet nach dem Dreißigjährigen Krieg gerade wieder zu Ruhe und Wohlstand, da bricht unter der Führung des neuen Regenten der Nordische Krieg aus. Hauptgegner Schweden ist schwer zu schlagen. Die fast zwanzig Jahre dauernden Kämpfe fordern hohe Opfer. Bauern, Bürger und Adlige lassen ihr Leben auf den Schlachtfeldern, wer überlebt leidet unter der finanziellen Last. Immer höhere Steuern und Abgaben fordert der Monarch, die Stände protestieren und müssen doch zahlen. Denn auch und besonders wenn er nicht an der Front steht, pflegt »August der Starke« einen kostspieligen Lebenswandel. Er will Dresden zur überregional herausragenden Residenz machen, beschäftigt die berühmtesten Baumeister, Bildhauer und Goldschmiede. Sie entwerfen und gestalten Zwinger, Frauenkirche, die Brühlschen Terrassen, das Taschenbergpalais, Jagdschloß Moritzburg und das Wasserpalais Pillnitz.

Pracht, Macht und Frauen sind die erklärten Leidenschaften des sinnenfrohen Barockfürsten. Prächtig, mächtig und stets eine Schönheit an seiner Seite regiert er das Land.

»Das sächsische Frauenzimmer übertrifft die Engländerin an Wuchs und Schönheit, es hat die Freiheit der Französin und das Feuer der Italienerin. Es hat dem Aussehen nach etwas sehr Sittsames und Unschuldiges, es schlägt aber die Augen insgeheim nur nieder, um mit einem geschärften Blick um so mehr Unheil anzurichten«, berichtet Johann Michael Freiherr von Loen, Großonkel Goethes und Beobachter am Dresdner Hof.

»August der Starke«, Herrscher mit legendärer Lendenkraft, weiß die Qualitäten der so gerühmten Damen wahrhaft zu schätzen, mehr als dreihundert Kinder soll er gezeugt haben. Diese Zahl gehört wohl eher ins Reich der Märchen und Sagen, doch immerhin acht Sprößlinge legitimiert der potente Vater.

Seine Gespielinnen kommen und gehen, sind immer bildschön, oft sehr jung und stammen aus allen Schichten. Die kurfürstliche Gattin Christiane Eberhardine schickt sich drein und weiß, keine kann ihr ihre Position streitig machen – bis eine gefährliche Konkurrentin in der höfischen Gesellschaft erscheint.

Friedrich August I. steht im Zenit seiner Macht, als er 1704 der Liebe seines Lebens begegnet. Als sächsischer Kurfürst und König von Polen in Personalunion zieht er alle Register. Er schmeichelt, buhlt und präsentiert wertvolle Geschenke. Unzählige Frauen sind seinem Werben schon erlegen, doch diesmal ist es anders. Anna Constantia von Hoym ist nicht nur wunderschön, sie ist vor allem klug, und sie beherrscht das höfische Spiel. Nirgends folgen die vermeintlich losen Sitten so festen Regeln wie an den Höfen des Barock. Wer die strengen Kodizes verletzt, riskiert viel – Frau von Hoym hat es vor Jahren am eigenen Leib erfahren. Noch einen Fehler wird sie sich nicht leisten. Sie ist verheiratet, und Ehebruch steht unter Strafe. Standhaft verweigert sie, was der kurfürstliche König um so heftiger begehrt.

Wochen vergehen; »August der Starke« gibt nicht auf – und gelangt schließlich ans Ziel.

Das Paar ist unzertrennlich. Ob in den Schlössern zu Dresden und Warschau, ob auf strapaziösen Reisen oder im Feldlager, Anna Constantia weicht nicht von seiner Seite. Die Höflinge wissen: Keine hat der Regent je so geliebt wie sie, keine stand so lange in seiner Gunst. Drei Kinder schenkt sie ihm, und sogar an ihrem Wochenbett wacht der König. Das hat er nicht einmal bei seiner Gemahlin getan.

Eifersüchtig beobachten Minister und Berater den wachsenden Einfluß der schönen Geliebten. Mit ihrem unbestechlichen und gradlinigen Charakter droht sie zu einer Gefahr für all jene zu werden, die sich hinter dem Rücken des Königs die Taschen füllen.

Die Zahl ihrer Feinde wächst. Gerüchte werden gestreut, Intrigen gesponnen und Netze aus Lügen gewoben. Anna Constantia, inzwischen Gräfin von Cosel, verfängt sich darin.

Tochter aus gutem Haus

Ich möchte eine Schwester

Zusammengerollt wie ein junger Igel lag Anna Constantia von Brockdorff zitternd vor Angst unter ihrer dicken Decke und hielt sich die Ohren zu. Ein bitterer Wind jagte beißende Winterkälte durch die Fensterritzen in jede Kammer des Gutshauses.

Eine Weile war nichts zu hören gewesen, doch gerade eben hatte wieder ein markerschütternder Schrei das ganze Haus durchdrungen. Constantia begann zu weinen. Das sechsjährige Mädchen steckte den Kopf vorsichtig unter dem Plumeau hervor und lauschte – da! Da war es wieder, das furchteinflößende Geräusch, erst ein Aufschrei, dann eine Sekunde Schweigen und dann folgte wimmerndes Jammern.

Hastig zog Constantia das Federbett wieder über den Kopf. Ihr Herz raste, Hände und Füße waren eiskalt. Was immer dort unten in der Stube geschah, es war schrecklich!

Sie putzte sich die Nase mit dem Zipfel ihres Kissens und krabbelte aus dem Bett. Mit kleinen eiligen Schritten tapste sie zur Tür und flitzte über die knarrenden Flurdielen in die gegenüberliegende Kammer, dann machte sie einen Satz und stand vor dem großen Bett ihres Bruders.

»Christian! Ich fürchte mich so sehr! Bitte laß mich unter deine Decke.«

Christian Detlev von Brockdorff rutschte bereitwillig zur Seite.

»Komm schnell! Und vorsichtig – Joachim liegt schon neben mir, er ist gerade erst eingeschlafen«, flüsterte er.

Constantia schmiegte sich eng an ihren Bruder. Der nahm sie liebevoll in den Arm.

»Hast du Angst, weil die Mutter so schreit?«

»Das ist die Mutter?« Constantias Herz stockte vor Schreck.

»Aber warum? Wer tut ihr denn solches Leid, daß sie so jammern muß?«

Christian drückte seine kleine Schwester noch etwas fester an sich.

»Niemand tut ihr etwas an – wir bekommen noch ein Geschwister. Sie hat bei dir so geschrien, das erinnere ich noch genau. Sie hat vor vier Jahren bei Joachim so geschrien, weißt du das denn nicht mehr? Und«, er machte eine nachdenkliche Pause, »bei mir wird sie wohl auch so geschrien haben.«

»Wir bekommen ein Geschwister? Woher denn? Wie denn? Einen Bruder oder eine Schwester? Ich möchte eine Schwester – wir sind doch schon zwei Brüder.«

Mit diesen Fragen war der elfjährige Christian überfordert. Zwar wußte er seit einigen Wochen von der Mutter, daß Nachwuchs auf dem Weg war, doch was es genau damit auf sich hatte, war nicht aus ihr herauszukriegen gewesen.

»Laß gut sein, Christian, es ist, wie es ist, und es kommt, wenn es kommt. Gebe Gott, daß alles gut geht und das Kind gesund ist und überlebt«, hatte Margarethe von Brockdorff ihrem Erstgeborenen beschieden und sich zur Seite gewandt. Zwei Kinder hatte sie tot zur Welt bringen müssen. Sie fürchtete sich vor der bevorstehenden Entbindung.

Die klirrende Nacht des 29. Januar 1687 war schon einige Stunden fortgeschritten, die letzten großen Holzscheite glühten im Kamin. Anna Margarethe von Brockdorff, geborene Marselis, verwitwete Berns, lag erschöpft im Wochenbett und hielt ihre soeben geborene Tochter Margarethe Dorothee in den Armen.

»Es ist jedesmal ein Wunder, nicht wahr?« sagte sie mit matter Stimme und schaute ihren Mann glücklich an.

Ritter Joachim Brockdorff nickte.

»Sie sieht stark und gesund aus – stark und gesund wie Sie, Liebste. Sie wird leben.« Er strich dem kleinen Mädchen zärtlich über den Kopf.

»Ich möchte trotzdem, daß sie gleich morgen in der Frühe getauft wird. Für den Fall, daß doch noch etwas Schlimmes geschieht.« Bei dem Gedanken fühlte sie einen Kloß im Hals.

»Es wird nichts Schlimmes geschehen. Diesmal nicht. Ich reite noch vor Tagesanbruch und hole den Pfarrer.«

Nie wäre es Joachim Brockdorff eingefallen, seiner schönen Frau einen Wunsch abzuschlagen. Fünfzehn Jahre waren sie ein Paar, und seit fünfzehn Jahren liebte er sie wie am ersten Tag. Ihre Heirat war eine Liebesheirat gewesen – mit einem kleinen Wermutstropfen nur: Sie war nicht standesgemäß.

Die Marselis waren eine Familie mit langer Tradition und entsprechend stolz. Sie handelten mit Salz und Getreide, Spitzen und Instrumenten, pflegten beste Beziehungen zu den wichtigen Höfen Europas und wußten immer, was dort fehlte oder gewünscht wurde. Obwohl bürgerlicher Herkunft, lebte die inzwischen weitverzweigte Kaufmannsfamilie wie die Adligen.

Dann kam der Dreißigjährige Krieg. Mit Geschützen, Kugeln und Schießpulver war sehr viel Geld zu verdienen, und bald galten die Marselis als wahrhaft gemachte Leute.

Anna Margarethe kam im letzten Jahr dieses für ihre Familie so überaus einträglichen Krieges in Hamburg zur Welt.

Im Sommer 1668 heiratete die knapp zwanzigjährige Anna Margarethe Marselis ihren Vetter Albert Berns. Die Hochzeit machte sie zur Herrin auf Schloß Wandsbeck. Ein Jahr und wenige Monate währte das Glück des jungen Paares, da erlag Albert einer tödlichen Krankheit.

Margarethe Berns war keine zweiundzwanzig Jahre alt, verwitwet, sehr schön und sehr reich. Männer aus den ersten Familien der Umgebung warben um die hübsche, selbstbewußte junge Frau, doch die hatte ihre Wahl schon getroffen.

Ritter Joachim von Brockdorff, fünf Jahre älter als seine Braut, hochgewachsen, ungestüm, stolz und klug, aber bedauerlicherweise von verarmtem Adel, war keineswegs nach Wunsch und Willen der Marselis-Familie, die eine lukrativere Verbindung bevorzugt hätte. Da zählte nicht der alte Ritteradel und nicht die Verwandtschaft mit allem, was in der Region Rang und Namen hatte. Die Marselis waren überzeugt: Die beste Verbindung mit Geld war und blieb Geld.

Auch der Bräutigam hatte vor der Heirat große Widerstände zu überwinden. Familie von Brockdorff war nicht gewillt, eine Bürgerliche an seiner Seite zu dulden. Dieser Hürde gewahr, entschied er sich für eine Schwindelei, gab Margarethe von vornherein als Gräfin Marselis aus und ersparte sich und ihr damit den drohenden Ärger von seiner Sippe.

Knapp ein Jahr kämpfte das Paar, dann siegte die Liebe, und am 1. Oktober 1672 standen die beiden vor dem Altar.

Zwei Güter – Dueholm in Nordjütland und Semb in Norwegen – brachte Margarethe als Mitgift in die Ehe und außerdem eine erhebliche Barschaft von 47000 Talern. Das Geld wurde dringend gebraucht und verschwand mit rasanter Geschwindigkeit. Ritter Joachim Brockdorff hatte nicht weniger als elf Geschwister, die es auszuzahlen galt, um wenigstens das Brockdorffsche Gut Depenau in Besitz nehmen zu können.

Depenau mit seinen Ländereien, Bauern und Unfreien wurde der Wohnsitz des Paares. Hierher kehrte Joachim Brockdorff immer wieder von seinen Einsätzen als »Oberst zu Pferd« im Generalstab des dänischen Königs zurück. Und hier gebar Margarethe von Brockdorff ihre Kinder.

Als aus der Stube keine Schreie mehr zu hören waren, beruhigte sich auch Constantia. Die Angst wich unüberwindlicher Neugierde. Sie atmete tief ein:

»Ist es vorbei, Christian? Meinst du denn, wir haben jetzt ein Geschwister?«

»Ich weiß es nicht. Sei leise und schlaf jetzt, sonst weckst du noch den Kleinen mit deinem Geplapper. Wir werden es morgen erfahren.«

»Aber bis morgen dauert es noch so lange, ich will es lieber gleich wissen.«

»Gib endlich Ruhe. Bis morgen sind nur noch ein paar Stunden, und so lange wirst du Geduld haben müssen.«

Constantia lag mit offenen Augen auf dem Rücken und lauschte den regelmäßigen Atemzügen ihrer schlafenden Brüder. Behutsam schlug sie die Decke zurück, glitt auf den Boden und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer. Die Treppe war der tückische Teil der Unternehmung, denn ihre alten Stufen hatten ein Eigenleben und knackten oder knarrten manchmal sogar, wenn man sie gar nicht berührte. Constantia hielt die Luft an.

Unten angekommen ging sie zielsicher auf die Schlafkammer ihrer Mutter zu. Durch die halbgeöffnete Tür drang das Schnarchen ihres Vaters. Constantia versuchte den Atem ihrer Mutter zu erlauschen, konnte ihn aber nicht ausmachen. Langsam zog sie sich zurück. Schon vor einigen Tagen hatten zwei Knechte ein Bett in die Stube gestellt. Vielleicht schlief die Mutter dort. Constantia drehte sich um und fand auch diese Tür nicht verschlossen. Ein eigenartig fremder, süßlicher Geruch schlug ihr entgegen. Von der Spannung überwältigt achtete sie nicht mehr auf ihre Schritte und trat gegen etwas Hartes. Im selben Augenblick hörte sie das leise Greinen eines Säuglings und eine Sekunde später die Stimme ihrer Mutter, die ihren Oberkörper aufrichtete und sich aus dem Bett beugte.

»Wer ist da?« flüsterte sie und hob ein kleines Bündel aus der Wiege, gegen die Constantia gestoßen war.

»Ich bin es, Mutter«, flüsterte Constantia zurück und trat ehrfürchtig einen Schritt zur Seite. »Ich kann nicht schlafen, weil ich wissen wollte, ob wir ein Geschwister haben.«

Das liebevolle Lächeln ihrer Mutter konnte Constantia zwar nicht sehen, aber an ihren Worten erkannte sie, daß sie keine Schelte zu fürchten hatte.

»Komm zu mir ins Bett, mein Prinzeßchen, sonst erfrierst du mir noch bei dieser Kälte.«

Constantia schlüpfte unter die warme Decke.

»Langsam sonst tust du deiner Schwester weh.«

Margarethe von Brockdorff nahm den Säugling in den linken Arm und küßte Constantia auf die langen schwarzen Locken.

»Eine Schwester! Zeigen Sie sie mir, bitte, ich möchte sie sehen. Ich habe vorhin zu Christian gesagt, ich möchte eine Schwester, denn zwei Brüder sind wir ja schon.«

»Ja, Prinzessin, zwei Brüder sind wir schon, und jetzt sind wir auch zwei Schwestern – aber ich bin sehr müde. Also gedulde dich bis morgen, dann kannst du deine Schwester sehen.«

Constantia kuschelte sich so nah wie möglich an ihre Mutter und schlief augenblicklich ein.

Eines Tages wirst du selbst ein Haus wie dieses führen

Das alte Herrenhaus Depenau mit seinem romantischen Walmdach wirkte auf den ersten Blick wie ein Plätzchen im Paradies Holstein. Umgeben von einem schützenden Wassergraben war es nur über die mächtige Zugbrücke zu erreichen. Im Sommer schmückten bunte Blumen Fassade und Auffahrt; im Winter bogen sich die Äste der hohen Bäume unter glitzerndem Schnee.

Drinnen dominierte in der großzügigen Diele ein Kamin von enormen Ausmaßen. Das lodernde Feuer schuf wohlige Wärme, die in die rechts und links abgehenden Kammern und den ersten Stock zog. Sonst war im ganzen Haus nur noch ein kleiner Raum beheizbar, der als Bad genutzt wurde. In der Mitte stand ein großer Zuber. Einmal wöchentlich befahl Margarethe von Brockdorff, ihn mit heißem Wasser zu füllen. Während bei Christian und Joachim innige Einigkeit bestand, daß regelmäßiges Waschen und Baden vollkommen überflüssig war, liebten Constantia und die kleine Dorothee das Planschen in der Zinkwanne und verließen diese erst dann freiwillig, wenn das Wasser erkaltet und ihre Hände verschrumpelt waren.

Nicht weit vom Bad befand sich die Küche. Köchin und Mägde waren den ganzen Tag beschäftigt, den Anweisungen der Hausherrin Folge zu leisten.

Margarethe von Brockdorff führte ein strenges Regiment. Täglich kontrollierte sie die Bestände der Vorratskammern, überprüfte gepökeltes Fleisch, getrockneten Fisch, eingewecktes oder gedörrtes Obst und Gemüse und entschied, was auf den Speiseplan kam. Wenn es ihre Zeit erlaubte, rief sie Constantia zu sich, band ihr eine kleine Schürze um und nahm sie mit in die Küche.

»Eines Tages wirst du selbst ein Haus wie dieses führen, Prinzessin, und dafür mußt du wissen, wie man kocht.«

Constantia liebte die seltenen Stunden, in denen sie ihre Mutter ganz für sich allein hatte und war eine gelehrige Schülerin. Sie band Blätter zusammen, damit sie getrocknet und zu Kräutertees verarbeitet werden konnten. Eifrig steckte sie kostbare Zibeben auf kleine Holzspieße, fertigte aus Wein, Zucker und Mehl einen dünnen Teig, wendete die Früchte darin und backte sie in Olivenöl aus. Sie lernte Fruchtmus und Kompott zu kochen, kleine Törtchen aus feinem Marzipan zu formen, Fische auszunehmen und Fleisch so zu sieden, daß es eine schmackhafte Brühe ergab und dennoch nicht trocken wurde. Wild mußte gebeizt, Geflügel tranchiert werden. Bohnen und Erbsen oder Thymian und Majoran aus dem Kräutergarten ließen sich trefflich trocknen. Gurken, Kopfsalat und Petersilie eigneten sich nur frisch zum Verbrauch. Aal wurde geräuchert, Karpfen gut gespült, damit er den schlammigen Geschmack verlor.

Unter Anleitung ihrer Mutter ging ihr die Arbeit leicht von der Hand. Doch am liebsten hatte sie es, wenn sie mitgenommen wurde in das kleine Steinhäuschen, das rechts von der Zugbrücke stand. Hier braute Margarethe von Brockdorff Bier, brannte Schnaps und destillierte Wasser zur täglichen Gesichtspflege.

»Wenn du es kaufen mußt, ist Bier sehr teuer«, wußte die Mutter und hieß Constantia das feucht keimende Getreide wenden. Emsig kehrte das kleine Mädchen das Unterste des Haufens zuoberst.

In einer Ecke des Häuschens waren mehrere Destillierkolben aufgebaut.

»So, dann wollen wir mal sehen, ob du auch gut zugehört hast, was haben wir denn hier?« Margarethe von Brockdorff begutachtete mit kritischem Blick die Arbeit der vergangenen Woche.

»Das ist für Branntwein«, Constantia dachte angestrengt nach. »Branntwein dürfen Kinder nicht trinken, nur wenn sie Würmer haben, wie Joachim neulich. Und Branntwein schmeckt auch nicht, aber wenn man ein Reißen im Rücken hat wie der Vater und sich damit einreibt, dann geht das Reißen weg, und wenn man sich das Gesicht einreibt damit, wird man so schön wie Sie, Mutter.« Sie schaute auf die Gefäße mit den vergorenen Früchten.

»Und man kann auch altes Obst dazutun, dann schmeckt es wie Kirsche oder Zwetschge oder Birne«, sagte sie und fügte mit einem leichten Anflug des Bedauerns hinzu: »Aber Kinder dürfen es dann trotzdem nicht trinken.« Ihre Mutter lachte.

»Nein, Kinder dürfen es dann trotzdem nicht trinken, denn sonst wird ihnen schlecht, und das wollen wir ja nicht.«

Constantia schüttelte energisch den Kopf. Ihre Mutter nahm sie an die Hand. Sie zog die Türe hinter sich zu, legte den Riegel vor und drehte den großen Eisenschlüssel zweimal gewissenhaft um. Bier und Branntwein mußten gut gehütet werden, die Versuchung für das Gesinde war groß.

Es waren nur ein paar Schritte bis zum Haupthaus, aber Mutter und Tochter liefen sofort zum Kamin, um sich die kalten Hände zu wärmen. Die Diele war das Lebenszentrum der Familie. Vor allem im Winter fand hier der Alltag statt. Unter der massiven Balkendecke taten die Kinder ihre ersten Schritte, las die Mutter aus der Bibel vor und walteten die verschiedenen Hauslehrer ihres Amtes. Hier wurden Flachs und Hanf gesponnen, Kleidungsstücke genäht und ausgebessert, Kerzen gezogen und sogar Gürtel oder Schuhe hergestellt. Die Zeiten waren hart und das Erbe aus dem Haus Marselis längst aufgebraucht. Margarethe von Brockdorff wirtschaftete sparsam und achtete doch geflissentlich darauf, daß es ihren Kindern an nichts fehlte.

»Lieber, unser Sohn ist sehr gescheit und will mehr wissen, als ich ihm beibringen kann. Ich denke wir sollten einen Hauslehrer für Christian engagieren – was meinen Sie dazu?« hatte sie schon vor Jahren zu ihrem Mann gesagt.

Christian liebte seinen Hauslehrer und zeigte nicht nur Begabung, sondern zusätzlich außergewöhnlichen Fleiß, wenn es darum ging, lateinische und französische Vokabeln, die italienische Grammatik, mathematische Formeln und Grundzüge in Kunst und Geschichte zu lernen. Die gebildete Margarethe von Brockdorff hatte große Freude an den Fortschritten ihres Sohnes und lehrte ihn, Dänisch zu sprechen, die Bibel zu lesen und fehlerfrei zu schreiben.

Kaum regte sich ihr Verstand, entwickelte Constantia eine rasende Eifersucht auf den Unterricht ihres Bruders. Da gab es etwas, daß ihrem geliebten Christian offensichtlich Spaß machte, und sie durfte nicht daran teilhaben. Für das vierjährige Mädchen eine unerträgliche Ungerechtigkeit, gegen die es sich mit allen zu Gebote stehenden Mitteln auflehnte. Aufstampfen, Schreien und jähzornige Ausbrüche brachten jedoch nicht das gewünschte Ergebnis, sondern führten lediglich dazu, daß sie in einer dunklen Kammer eingesperrt wurde. Also verlegte sich Constantia auf Bitten und Schmeicheln.

»Mutter, ich bitte Sie so sehr! Ich will ganz lieb sein und keinen Muckser von mir geben! Ich bin leise, ganz leise, ich will nur zuhören. Bitte!«

»Wie heißt es richtig?« Die Stimme der Mutter klang streng.

»Ich möchte nur zuhören, bitte, bitte!« korrigierte Constantia ihr Flehen und erhielt schließlich die Erlaubnis, auf einem Schemel neben dem Kamin lauschen zu dürfen, wenn der Herr Magister im Haus war. Gespannt verfolgte sie die Lektionen und schnappte im Laufe von Wochen und Monaten viel auf. Eines Mittags bei Tisch versetzte sie ihre Eltern in gehöriges Staunen.

»Je möchte un peu d’eau, s’il vous plaît«, ließ sich Constantia aus der Kinderecke des Tisches vernehmen.

»Was hast du gesagt?« fragte ihr Vater. Constantia legte die Stirn in Falten und suchte nach dem fehlenden Wort.

»Je voudrais un peu d’eau s’il vous plaît«, wiederholte sie flüsternd.

»Prinzessin, wann hast du das gelernt?« Joachim von Brockdorff schenkte seiner Tochter das gewünschte Wasser ein.

»Immer wenn der Herr Magister mit Christian spricht. Aber manchmal spricht er so schnell, dann verstehe ich ihn nicht«, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Das Ehepaar Brockdorff beschloß, ein Fräulein zu engagieren, das mit Constantia nur Französisch sprechen sollte.

Für das kleine Mädchen folgten zwei herrliche Jahre, denn Mademoiselle war jung, temperamentvoll und liebte Kinder. Während Christian auch bei schönstem Wetter am Eichentisch in der Diele saß und den Worten seines Lehrers zu folgen versuchte, tanzten Joachim und Constantia mit Mademoiselle im Schatten der Buchen vor dem Haus französischen Ringelreihen, lernten fröhliche Reime und eine Sprache im Spiel.

Margarethe von Brockdorff mochte die junge Frau vom ersten Tage an. So ergab es sich – vor allem, wenn Ritter Brockdorff im Dienst seines Königs außer Haus war – immer häufiger, daß die beiden Frauen die Abende miteinander verbrachten, handarbeiteten und sich dabei unterhielten.

»Madame, gestatten Sie eine Bemerkung?« nahm Mademoiselle ihren ganzen Mut zusammen.

»Aber natürlich, was haben Sie auf dem Herzen?«

»Nun, bitte, es ist nicht mein Ressort, und verstehen Sie mich nicht als Einmischung, aber wenn Sie erlauben, würde ich gerne etwas zu Constantia sagen.«

»Ich verstehe es nicht als Einmischung«, korrigierte Frau von Brockdorff sanft, »bitte, sprechen Sie. Was möchten Sie mir sagen?«

»Sie wissen, daß ich viel mit den Kindern singe und oft auch ein wenig tanze – und ich meine, daß Constantia sehr musikalisch ist. Kein Lied, bei dem sie nicht sofort den richtigen Ton trifft, keine Schrittfolge, die sie nicht auf Anhieb beherrscht. Madame haben eine Klavierzimbel in Ihrem Zimmer. Ich bin sicher, daß es Constantia Freude machen würde, das Instrument zu erlernen.«

Margarethe von Brockdorff runzelte die Stirn. Ihr erster Impuls war eine scharfe Zurechtweisung. Was maßte sich diese Französin an, ihr zu sagen, was gut und richtig für ihre Kinder war.

Als sie die verdüsterte Miene ihres Gegenübers sah, senkte Mademoiselle demütig den Blick. So entging ihr, daß sich die Gesichtszüge ihrer Arbeitgeberin wieder aufhellten.

»Sie haben recht, meinem Mann und mir ist auch schon aufgefallen, daß Constantia eine schöne Stimme und Talent zum Singen hat. Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Und was das Tanzen betrifft, ist es ohnehin an der Zeit, daß wir einen Tanzmeister für Christian ins Haus kommen lassen. Überantworten wir ihm die Entscheidung, ob Constantia schon so weit ist.«

Bald darauf erhielt Constantia Unterricht auf der Zimbel und lernte gemeinsam mit ihrem Bruder die ersten Tanzschritte.

»Komm, Christian, laß es uns noch einmal üben«, lockte sie mit eifergerötetem Gesicht. »Nur noch ein einziges Mal. Ich singe die Melodie, und du gibst die Kommandos.«

»Sie hat die Anmut einer Elfe«, sagte der Tanzmeister.

Auch Ritter Brockdorff schaute mit Vergnügen zu, wenn Chri-stian und Constantia vorführten, was sie in seiner Abwesenheit gelernt hatten.

»Es ist jedesmal ein Fest, Vater, wenn Sie nach Hause kommen!« Constantia sprang in seine Arme und drückte ihm einen stürmischen Kuß auf die Wange, während Joachim und Dorothee sich aus den Armen ihrer Mutter befreiten und sich an seinen grobledernen Schaftstiefeln festklammerten.

Gerührt begrüßte er die Kleinen mit zärtlichem Blick und tätschelte ihre Wangen. Christian stand ein wenig verlegen an der Seite. Brockdorff wandte sich zu ihm um und legte den Arm um die Schultern seines Erstgeborenen.

»Mein Junge, wenn du so weiter wächst, muß ich bald zu dir aufschauen«, scherzte er. Sein Sohn glühte vor Stolz.

»So groß wie Sie wäre schön, größer muß nicht sein«, entgegnete er höflich.

»So ist’s recht, Söhne so groß wie der Vater, Töchter so schön wie die Mutter.« Brockdorff umarmte seine Frau.

So liebevoll er sich als Vater und Ehemann präsentierte, so streng, unnachgiebig und herrisch war der Hausherr mit Gesinde und Untertanen. Das Gut mit seinen Bauern und Unfreien führte er mit harter Hand – zu hart, wie viele fanden, doch wer wagte, gegen ihn aufzubegehren, bekam die Peitsche, wenn nicht Schlimmeres zu spüren. Auf Depenau bestimmte er die Regeln, machte er die Gesetze. Und wehe dem, der sie nicht befolgte.

In seiner Diele saß Ritter von Brockdorff zu Gericht – war er das Gericht.

Ja, wir haben uns von Gott abgewandt

Neun Jahre war es jetzt her, daß der berühmt-berüchtigte Ove Fresen und zwei Frauen in den Verdacht gefährlicher Machenschaften geraten und in der Brockdorffschen Diele zur Rechenschaft gezogen worden waren. Ein weiterer Kumpan hatte die Qualen der Folter nicht überlebt und war noch vor dem Prozeß hinter dem Anger verscharrt worden. Fresen, ein einfältiger Bauer aus Stolpe, hatte seinem Gerichtsherrn Rede und Antwort gestanden, wie ihm der Schnabel gewachsen war:

Ja, er hatte den Teufel gesehen, nein, verkleidet war der nicht gewesen, eher ganz normal angezogen, mit Wams und ledernen Hosen – eigentlich so wie der Herr Brockdorff gerade gekleidet war. Die Frechheit kostete Fresen den Kopf.

1687 waren es drei Frauen, die, der Zauberei angeklagt, in der Brockdorffschen Diele Rede und Antwort stehen mußten. Unter der Folter hatten sie bereits gestanden und wiederholten bereitwillig, wie und in welcher Form ihnen der Beelzebub erschienen war, zu welch gräßlichem Treiben und schändlichen Taten er sie verleitet hatte. Antje Sieck, Lehnke Schramm und Gretche Dohsen wurden in Ketten in den gutseigenen Kerker gebracht.

Der August war heiß und trocken. Margarethe von Brockdorff schickte Mademoiselle mit Christian und Constantia auf eine Lichtung in der Nähe des Hauses. Dort war die Schwentine ganz flach und die Kinder durften sich Schuhe und Strümpfe ausziehen und im Flußwasser spielen.

Den dreijährigen Joachim und die kleine Dorothee gab sie in die Obhut der Amme, die mit den beiden in mütterlicher Sichtweite im Schatten spielte.

Auf diese Weise war die Diele frei und Ritter Brockdorff konnte, von den Kindern ungestört, seines gutsherrlichen Amtes walten. Feierlich nahmen die beteiligten Herren ihre Plätze ein. Ritter von Brockdorff am Kopfende des Tisches, zu seinen Seiten Pastor, Notar, Verteidiger und ein wenig abseits der Gerichtsschreiber. Die verhafteten Frauen wurden hereingeführt. Gezeichnet und geschunden von überstandenen Folterqualen, die Haare verfilzt, die Kleider starrend vor Schmutz standen die drei armseligen Delinquentinnen vor ihren Anklägern.

Vom Henkersknecht auf bestialische Weise gemartert, hatten sie längst alles gestanden, was ihnen zur Last gelegt worden war.

»Ja, wir haben uns von Gott abgewandt und vom Teufel taufen lassen, ja, ja, ja!« hatte Antje Sieck unter dem Druck der Daumenschrauben schreiend bekannt, und Gretche Dohsen hätte sogar einen nicht begangenen Mord zugegeben, wenn man sie nur nicht wieder auf die Streckbank spannte.

Joachim von Brockdorff diktierte drei Schuldsprüche im Namen Gottes und der Obrigkeit. Die Akten wurden geschlossen, und bis zur Bestätigung der Urteile verbrachten die drei Frauen die wenigen verbleibenden Wochen ihres kläglichen Lebens im Verlies des Herrenhauses Depenau.

Am frühen Morgen des 21. September 1687 sprang Matthias Liebknecht, der Scharfrichter aus Plön, auf dem Hof vom Pferd und trat mit wichtigen Schritten in die Diele.

»Der Herr Ritter von Brockdorff – er hat mich bestellt, wo finde ich ihn?« richtete er seine Frage an Christian und den Herrn Magister, der seinem Zögling soeben den Satz des Pythagoras erklärte. Christian starrte den Fremden mit offenem Mund an. An seiner Kleidung war leicht zu erkennen, welcher Art seine Arbeit war. Der Herr Magister sah kaum von seinem Papier auf und gab sich gänzlich unbeteiligt.

»So, mein Junge, und jetzt sieh dir die Formel noch einmal ganz genau an, ich werde dem Mann den Weg zum Totenberg weisen, und dann sprechen wir alles noch einmal in Ruhe durch.«

Christian hatte den Mund noch immer nicht geschlossen, nickte mechanisch und versuchte zu kombinieren. Ein Scharfrichter, vom Vater ins Haus bestellt, der Herr Magister keineswegs überrascht – das alles konnte nur bedeuten, daß eine Hinrichtung anberaumt war.

»Es ist nicht weit, Er muß hier den Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, dann sieht Er ihn schon, den Totenberg von Depenau«, hörte der Knabe seinen Lehrer durch die geöffnete Haustür den Weg erklären. Der Scharfrichter bedankte sich, saß wieder auf und galoppierte in die gewiesene Richtung.

»Es wird eine Hinrichtung geben, nicht wahr?« Christian sah seinen Lehrer fragend an.

Der Herr Magister überhörte die Bemerkung und widmete sich wieder der Mathematik.

Am Nachmittag kamen drei Schergen des Henkers und machten Bückling vor Margarethe von Brockdorff.

Die Türe quietschte zum Gotterbarmen, als sie den Kerker öffnete. In der hintersten, dunkelsten Ecke saßen weinend und zusammengekauert die drei Frauen und harrten ihres unabwendbaren Schicksals. Fügsam erhoben sie sich und folgten den Männern ans Tageslicht. Zermürbt von Angst, Haft und Folter waren sie zu schwach zu protestieren und hatten eine wie die andere die gefesselten Hände zum letzten Gebet gefaltet.

Der Totenberg war kaum eine Meile vom Herrenhaus entfernt. Johlend empfing die Menschenmenge den Schinderkarren. Ein Spektakel wie dieses wollten sich die Bewohner der Umgebung keinesfalls entgehen lassen. Selten genug, daß man solch eine Unterhaltung kostenlos geboten bekam.

Christian bemühte sich, den Anweisungen des Herrn Magister zu folgen, doch seine Gedanken schweiften immer wieder zu den drei Frauen, die soeben auf dem schäbigen Wagen abtransportiert worden waren. Endlich entließ ihn der Lehrer.

Der Knabe packte seine Sachen zusammen, verbeugte sich artig und rannte zur Tür. Atemlos stand er wenige Minuten später vor der Mademoiselle.

»Die Mutter schickt mich, Constantia ins Haus zu holen. Sie sollen aber ruhig noch ein wenig mit Joachim hier bleiben«, log er.

»Einen Augenblick, sie muß nur noch ihre Schuhe und Strümpfe anziehen, dann könnt ihr laufen.«

Christian versicherte, daß er auf Constantia achten werde, nahm sie bei der Hand und marschierte los.

»Warum soll ich denn schon nach Hause? Ich wollte lieber noch im Wasser spielen«, maulte das Mädchen.

»Wir gehen nicht nach Hause. Wir gehen auf den Totenberg«, weihte Christian sie in seinen Plan ein.

»Auf den Totenberg! Aber da dürfen wir doch nicht hin! Und wer paßt auf uns auf?«

»Ich passe auf dich auf. Das reicht doch wohl.« Christian hielt die Hand seiner Schwester etwas fester.

Auf dem Totenberg hatten sich inzwischen so viele Menschen eingefunden, daß es für die Kinder ganz leicht war, sich unbemerkt am Rand der Menge aufzuhalten. Sie reckten die Hälse und sahen ihren Vater, wie er den Aufbau des Scheiterhaufens kontrollierte. Er schien nicht zufrieden, denn mit einem festen Tritt stieß er die aufgeschichteten Hölzer nieder. Sogleich machten sich die Schergen des Henkers daran, die Scheite erneut zu stapeln. Ritter Brockdorff ging zu einem hölzernen Plateau. Hier stand der Scharfrichter und überprüfte die Standfestigkeit des Richtblockes und die Schärfe seiner Klinge.

Für Matthias Liebknecht war es ein guter Tag. Besser hätte das Urteil aus seiner Sicht gar nicht ausfallen können, und er war dem Gutsherren von Herzen dankbar. Drei Köpfe mit dem Schwert abschlagen brachte pro Kopf zehn Taler, die anschließende Verbrennung der Körper noch einmal so viel. Liebknecht rieb sich die Hände – sechzig Taler an einem Tag, dafür konnte er ein Dutzend Schweine oder acht Ochsen oder schöne Kleider für seine Frau oder von allem etwas kaufen. Es war sehr umsichtig gewesen, daß Brockdorff hatte Gnade walten und die Frauen nicht einfach bei lebendigem Leibe hatte verbrennen lassen.

»Sieh mal, da drüben rechts, das sind die Frauen.« Christian nahm den Kopf seiner Schwester zwischen die Hände und dirigierte ihren Blick in die richtige Richtung.

»Ich sehe nichts! Heb mich mal hoch.« Um nichts in der Welt wollte Constantia auch nur das kleinste Detail dieses überwältigenden Abenteuers verpassen. Christian nahm seine Schwester auf den Arm, und Constantia sah Antje Sieck, Lehnke Schramm und Gretche Dohsen, wie sie, bewacht von bewaffneten Männern, auf dem Boden knieten und beteten. Sie sah den Scharfrichter, der seinen Platz auf dem gezimmerten Plateau eingenommen hatte. Eine Gänsehaut lief ihr über Rücken und Arme, Constantia wendete sich ab.

»Christian, da hinten, da kommt die Mutter, sie reitet den Rappen, und schau nur wie schnell!« Christian ließ seine Schwester auf den Boden gleiten und streckte sich. Tatsächlich, mit wehenden Röcken galoppierte Margarethe von Brockdorff im Herrensattel auf den Richtplatz zu.

»Wir müssen machen, daß wir fortkommen, wenn sie uns hier findet, gibt es ein paar Wochen nichts Süßes und sicher auch Schläge vom Vater.« Christian griff Constantias Hand und beeilte sich, das schützende Dickicht des Waldes zu erreichen.

Aufgewühlt von Zorn und Sorge gab Margarethe von Brockdorff dem Pferd die Sporen. Vor einer halben Stunde war Mademoiselle nach Hause gekommen, um den kleinen Joachim vor den Stechmücken in Sicherheit zu bringen, die am späten Nachmittag das Flußufer surrend bewölkten. Verwundert hatte die Französin festgestellt, daß die beiden größeren Kinder nicht im Gutshaus eingetroffen waren, und ihrer Herrin wahrheitsgemäß berichtet, daß Christian schon vor Stunden gekommen war, seine Schwester abzuholen.

»Ein Teufelsbraten ist er, mein Herr Sohn«, murmelte Margarethe von Brockdorff und ließ sofort den Rappen satteln. Sie war sicher, daß Christian und Constantia den verbotenen Weg zum Totenberg gegangen und im Gewühl der Zuschauer verschwunden waren – aber ganz gleich wo sie sich versteckten, sie würde sie finden.

»Und dann gnade ihnen der liebe Herrgott!« zischte sie wütend. »Was denkt er sich, selbst noch ein Kind, nimmt er die Kleine zu diesem entsetzlichen Schauspiel mit.« Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß die Hinrichtung noch nicht stattgefunden hatte und ihrer Tochter der schreckliche Anblick erspart bleiben möge.

In unmittelbarer Nähe des Richtertisches brachte sie das Pferd zum Stehen und sprang ab. Ihr Mann hatte das Urteil inzwischen verlesen und sich soeben erhoben. Gerade wurden die drei Frauen über die schmale Leiter auf das Podest geführt.

Margarethe von Brockdorff fühlte eine Welle des Mitleids, warf einem Knecht die Zügel zu und lief zu ihrem Mann.

»Joachim, haben Sie die Kinder gesehen? Christian und Constantia sind verschwunden und ich bin sicher, daß sie hierher gekommen sind, um sich das Grauen anzusehen.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung des Henkers.

»Nein, hier waren sie nicht«, antwortete ihr Mann. »Ich hätte sie doch gesehen, wenn sie hier aufgetaucht wären. Hat einer von euch Christian und Constantia gesehen?« rief er den anwesenden Knechten zu, doch die schüttelten die Köpfe.

»Laßt alles stehen und liegen und macht euch auf, die beiden zu suchen. Wer sie findet, hält ihnen die Augen zu und bringt sie unverzüglich zu mir! Ich will nicht, daß sie sehen, was gleich geschieht. Also sputet euch!« Margarethe von Brockdorffs Stimme drohte vor Aufregung überzuschnappen. Die Knechte befolgten auf der Stelle ihren Befehl. Zwei Kinder im Gewühl der Schaulustigen zu finden war erheblich schwieriger als gedacht, und so kehrten sie nach einer Weile einer nach dem anderen unverrichteter Dinge wieder zurück.

»Vielleicht irren Sie sich, und die zwei waren nie hier«, wollte Ritter Brockdorff seine aufgebrachte Frau beruhigen, als ein Raunen durch die Menge ging. Antje Sieck hatte ihr letztes Gebet gesprochen und kniete nun, die Hände auf dem Rücken gefesselt, den Kopf auf dem Richtblock, auf dem Podest.

»Gott sei meiner armen Seele gnädig«, hauchte sie, da sauste Liebknechts Schwert auf ihren weißen Hals und trennte mit einem Schlag den Kopf vom Rumpf.

Margarethe von Brockdorff schlug die Hände vor ihr Gesicht.

»Daß Ihr das ansehen könnt. Ich werde mich nie an diese Greuel gewöhnen!« Sie schwang sich wieder auf ihr Pferd, warf einen langen suchenden Blick auf die Menge und ritt davon.

So schnell sie ihre Füße trugen, liefen Christian und seine Schwester den Weg zum Gutshaus. Constantia war müde, hatte Durst und Hunger. Aber die Angst vor der Mutter verlieh ihr ungekannte Kräfte. Sie stolperte, fiel, rappelte sich wieder auf, achtete nicht auf Brombeerdornen, die ihr Kleid zerrissen, und Äste, in denen sich ihre Haare verfingen.

Umsonst – als sie über den freien Teil der Wiese vor dem Haus rannten, hörten die Kinder dicht hinter sich das Getrappel von Pferdehufen.

»Ho! Schwarzer, steh!« Das Pferd parierte, und Margarethe von Brockdorff sah in vier entsetzte braune Augen.

»Rauf mit Euch!« Sie streckte die Hand aus und zog erst Constantia, dann ihren Bruder vor sich in den Sattel. Christian suchte nach einer plausiblen Entschuldigung und wollte gerade anheben, da schnitt ihm seine Mutter das unausgesprochene Wort ab:

»Keinen Ton will ich hören. Ihr geht sofort und ohne Nachtessen in eure Kammern.«

Der folgende Tag begann nicht gut. Bruder und Schwester wurden vor den Vater zitiert. Christian schluckte mehrmals trocken, während er vom Verlauf des gestrigen Nachmittags berichtete. Einen Augenblick schien es, als wären beide Eltern erleichtert, daß Constantia und er zum Zeitpunkt der Hinrichtung schon auf dem Rückweg gewesen waren. Doch dann verdüsterte sich Brockdorffs Miene wieder, und er verhängte vier Wochen Stubenarrest.

Das wird sie lehren

Die Jahre vergingen. Zipperlein zwangen den Herrn Magister, seinen Dienst zu quittieren, ein jüngerer Hauslehrer nahm seinen Platz ein. Und eines Tages verließ auch Mademoiselle die Familie.

Anfang des Jahres 1689 nahm Ritter Brockdorff ehrenhaft seinen Abschied aus den Diensten des dänischen Königs. In den vergangenen Jahren hatte Margarethe von Brockdorff Gut Depenau oft über Monate allein verwalten müssen. Die Ländereien waren groß und unübersichtlich. Immer wieder versuchten Leibeigene, in die Städte zu fliehen. Sie wollten dort ein freieres Leben führen und sich von ihrer Hände Arbeit ernähren, statt alles an die Gutsherren abgeben zu müssen.

Brockdorff war fest entschlossen, dem einen Riegel vorzuschieben. Regelmäßig ließ er seine Wachleute Patrouille reiten, und häufig führte er die Trupps selbst an. Mit Hunden streiften sie durch die Wälder und wehe denen, die sie dort fanden. Armselige, zerlumpte Gestalten, die hofften, ihrem ausgebeuteten Dasein zu entrinnen, wurden aufgespürt, eingefangen wie die Tiere, gefesselt, blutig gepeitscht und in Ketten in den Kerker des Herrenhauses geworfen.

»Das wird sie lehren, mir entwischen zu wollen. Diese miserablen, elenden Gestalten tragen die Schuld daran, daß es mit dem Gut nicht aufwärts geht. Die Seele lasse ich denen aus dem Leib peitschen, die versuchen, mich zu hintergehen!« wetterte Brockdorff, und Constantia, die ihren Vater abgöttisch liebte, hatte plötzlich Angst vor ihm.

Der Gutsherr stützte den Kopf in die Hände und versank in dumpfes Brüten. Gerade hatte er Bescheid bekommen, daß seine Abgaben zum nächsten Ersten steigen würden. Diese verfluchten Kriege! Jeder von ihnen brachte neue Steuerlasten, die bezahlt werden mußten – und wenn es den letzten Halm, die letzte Ähre kostete.

So konnte es nicht weitergehen mit Depenau. Wie bisher betrieben, warf die Landwirtschaft nicht genug ab. Es mußte etwas geschehen.

»Wir werden umstellen auf Milchvieh und Getreidebau – das ist die Lösung. Wir werden vergrößern und doppelt arbeiten, dann sollte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht gelingt, aus dem Land herauszuholen, was wir brauchen«, bestimmte Brockdorff.

»Aber woher wollen Sie die Leute nehmen?« wagte seine Frau einzuwenden.

»Darüber habe ich schon nachgedacht. Als erstes kaufe ich zusätzliches Vieh, und dann lasse ich Holländer aufs Land, die sollen sich um Milch und Käse kümmern.«

Der Beruf der Holländer war neu und hatte seine Wurzeln in den nicht enden wollenden Kämpfen, die in den Niederlanden um Religion und Glauben geführt wurden. Männer, Frauen und ihre Kinder flohen aus ihrer Heimat und suchten als sogenannte Holländer auf den Gütern jenseits der Grenze ihr Auskommen. Sie pachteten fremde Kühe für jeweils ein Jahr und kümmerten sich um Verarbeitung und Verkauf der Milch. Der Gutsherr erhielt die Pacht und sorgte für Futter und Ställe. Auf zwanzig gepachtete Kühe erwarb der Holländer das Recht, eine eigene Kuh zu halten, die er dann auf Kosten des Gutsherren fütterte. Was beim Herstellen von Käse und Butter an Rückständen blieb, Buttermilch und Molke, nutzten sie für die Schweinemast. Zehn Kühe, so rechnete ein gewiefter Holländer, ernährten ein Schwein, und auch das gehörte dann ihm.

»So können wir sicher sein, daß das Vieh gut versorgt ist, müssen uns aber nicht darum kümmern und haben Kraft und Zeit für andere Dinge.« Brockdorff war stolz auf seine Idee. »Ich werde die Moore unten an der Schwentine und am Stolper See trocken legen, das bringt Land zum Anbau von Roggen, Gerste und Hafer. Ich werde Teile des Waldes verpachten. Wenn unsere Abgaben erhöht werden, müssen auch wir erhöhen, was uns zu zahlen ist. Müller, Schmied und Ziegler werden es nicht gerne hören, aber ich kann nicht helfen.«

Margarethe von Brockdorff nickte zustimmend und bewunderte die Entschlossenheit ihres Mannes.