Michael Ende
Geschichten von Wundern und Zeichen
Die Einsicht kam plötzlich und war unbezweifelbar. Es half nichts, sich gegen sie zu wehren. Er, Iwri, war anders als alle anderen Leute des Schattenvolkes. Diese Einsicht machte ihn keineswegs glücklich.
Er lag in seiner Schlafnische und konnte keinen Schlaf finden. Mit offenen Augen starrte er zur Decke hinauf, die nur eine Handspanne über seinem Gesicht lag, hart, schwarz, steinern. Er versuchte sich zu erinnern, aber vergeblich.
Früher war sein Schlaf, wie bei allen anderen Schatten, ein bewusstloser Starrezustand gewesen, eine ausgesparte, dunkle Stelle zwischen den wachen Phasen der Tätigkeit und der Nahrungsaufnahme. Doch letzthin hatte sich etwas geändert, er empfing im Schlaf undeutliche Eindrücke, Bilder zogen an ihm vorüber, nie gekannte Gefühle bestürmten ihn. Er entsann sich dämmerhaft, in diesen Zuständen an ein letztes, äußeres Ende der Welt von Misraim gekommen zu sein und dort Öffnungen geschaut zu haben, die den Ausblick auf etwas gewährten, das außerhalb der Katakomben lag. Was dieses Außerhalb gewesen war, hatte sein Gedächtnis nicht festhalten können, doch seine Wangen waren jedes Mal nach dem Erwachen nass von Tränen. Iwri musste sich eingestehen, dass er sich nach diesen abnormen Zuständen sehnte. Zugleich schämte er sich dafür, denn er war sicher, dass er sich Illusionen hingab. Und das galt allgemein als unverzeihliche Schwäche.
Nach der offiziellen Lehre, die niemand zu bezweifeln wagte, war die Welt von Misraim, dieses labyrinthische Universum aus Gängen, Treppen, Hallen, Stollen, Kammern und Höhlen, in welchem das Schattenvolk lebte, arbeitete, schlief und sich fortpflanzte, die einzig mögliche Wirklichkeit. Es gab große Wissende, die berechnet hatten, dass dieses ganze Katakombensystem zwar nicht unendlich, aber dennoch unbegrenzt sei. Durch eine unwahrnehmbare Krümmung aller Räume in sich selbst kehre ein hypothetischer Wanderer, der sich immer in einer bestimmten Richtung fortbewege, nach einer unvorstellbar langen Reise von der entgegengesetzten Seite zu seinem Ausgangspunkt zurück. Dabei sei es ganz gleichgültig, ob dazu schon vorhandene Gänge und Tunnel benutzt oder ganz neue gegraben würden, in welche Richtung auch immer. Seither war die Frage, was möglicherweise jenseits der Grenzen von Misraim sei, endgültig als unvernünftig entlarvt und wurde nicht mehr gestellt. Ein solches Außerhalb konnte es schlicht und einfach nicht geben, weil sein pures Vorhandensein es ja eben zu einem Teil von Misraim und damit gerade zu einem Nicht-Außerhalb gemacht hätte. Das Einzige, was seit jeher bestanden hatte und immer bestehen würde, waren die Katakomben. Dementsprechend galt auch jede Frage danach, wie man denn hier hereingeraten sei, nur als ein Zeichen grenzenloser Unwissenheit und wurde spöttisch oder nachsichtig belächelt. Da es kein Hinaus gab, war ja auch ein Herein unmöglich. Als Zeichen hoher Bildung und illusionsloser Aufgeklärtheit galt es dagegen unter den Schatten, sich damit zufriedenzugeben, dass man nun einmal da war, ohne einen Sinn darin oder einen Grund dafür zu suchen. Das Bewusstsein, sich keinerlei Selbsttäuschung hinzugeben, erfüllte die Wissenden sogar mit einigem Stolz, weshalb sie sich selbst den Titel »die Ent-Täuschten« oder »die Ent-Täuscher« beilegen durften. Dementsprechend galt beim ganzen übrigen Volk der Schatten nur das für wahr, was den bitteren Geschmack von Enttäuschung hatte.
Die Schlafnische, in der Iwri lag, war eine von vielen, die sich in den Wänden der großen Ruhehöhle befanden, genauer gesagt, die siebente von unten und die achtundzwanzigste von rechts in der westlichen Wand, und nur durch eine der fahrbaren Leitern zu erreichen. Auch die anderen Wände waren voller Schlafnischen, eine wie die andere zwei Meter lang und einen halben hoch. Und es gab andere Ruhehöhlen in allen Teilen der Katakomben, größere als diese und kleinere. Wie viele wusste Iwri nicht. Er hatte sagen hören, dass es sogar Grabkammern für Paare oder für Einzelne geben solle, dabei musste es sich aber wohl um besonders privilegierte Mitglieder des Schattenvolkes handeln.
Iwri durchforschte sein Gedächtnis, wann diese seltsamen Zustände zum ersten Mal über ihn gekommen waren. Bei der Frage nach dem Wann stellte er nicht ohne Beunruhigung fest, dass er seine Wachphasen nicht voneinander unterscheiden konnte. Es war ihm, als erblicke er nur eine endlose Reihe von Spiegelbildern, vollkommen identisch, die sich nach hinten in der Dämmerung verloren. Ein immer gleiches bleigraues Zwielicht erfüllte alle Räume in Misraim, ein Licht, das von nirgendwo herzukommen schien, so, als stünde es wie Nebel in der reglosen Luft. Im Grunde, so sagte er sich, gab es überhaupt keine Zeit, wenn Zeit Veränderung bedeutete, sondern nur die unablässige Wiederholung ein und desselben, ein immerwährendes amorphes Jetzt. Die Zeit war gleichsam ein dickflüssiger Brei, der ständig umgerührt werden musste, damit er in Bewegung blieb. Sobald man die Hand zurückzog, stockte er, und es gab keinen Unterschied zum Vorher oder Nachher, so als sei er überhaupt nie in Bewegung gewesen.
»Es führt zu nichts«, hörte er die Stimme des Chefs ganz nahe an seinem Ohr. »Es ist eben so, wie es ist. Du willst jetzt aufhören mit der nutzlosen Grübelei. Du möchtest viel lieber denken, was alle denken, und tun, was alle tun. Du willst zur Gemeinschaft gehören. Du willst dich nicht aussondern.«
Iwri kannte diese Stimme, wie jeder Schatten sie kannte. Der da zu ihm sprach, war der Direktor und Oberste Anordner von Misraim, Herr Bechmoth. Niemand hatte ihn je zu Gesicht bekommen und doch war er allgegenwärtig durch dieses leise, heisere Raunen von bezwingender Eindringlichkeit. Außer in den Schlafphasen redete er fast ohne Unterbrechung zu jedem Einzelnen, gab ihm Anweisungen und Befehle, lobte, tadelte, lenkte und koordinierte dessen Tätigkeit mit der aller anderen. Wie er das bewerkstelligte, ob durch ein unvorstellbar ausgeklügeltes System verborgener Lautsprecher oder gar im Ohr eingebauter Empfänger, war selbst den Wissenden unbekannt, doch galt seine Fähigkeit, all die zahllosen und dabei überaus spezifischen Anordnungen immerfort gleichzeitig zu übermitteln, ohne je irgendein Zeichen von Ermüdung oder Verwirrung erkennen zu lassen, als ein Mysterium übermenschlicher Intelligenz, das jeden Widerspruch von vornherein als absurd erscheinen ließ. Deshalb wurde ihm vom Volk der Schatten nahezu religiöse Verehrung und bedingungsloser Gehorsam gezollt.
»Du willst jetzt aufstehen und an deine Arbeit gehen«, raunte die Stimme.
Die Leiter glitt selbstständig heran. Iwri wälzte sich aus seiner Schlafnische, stieg hinunter und ging durch den Eingang der Ruhehöhle auf den Hauptkorridor hinaus.
In endlosen Kolonnen marschierten die Schatten zu ihren jeweiligen Arbeitsplätzen, oder sie kamen von dort, treppauf, treppab, durch Tunnels und Korridore, Hallen und Stollen, entlang an bodenlosen Abgründen und über Brücken, bis in die letzten Verästelungen und Kapillaren des unermesslichen Adernsystems von Misraim. Die Tätigkeits-, Schlaf- und Nahrungsaufnahmephasen jedes Einzelnen waren streng geordnet, sodass der Gesamtkreislauf niemals ins Stocken geriet. Für alles Notwendige gab es bestimmte Räume, auch für die intimeren Körperverrichtungen wie Ausscheidung oder Paarung.
Iwri reihte sich ein. Er musste nicht überlegen, wohin er zu gehen hatte, denn die Stimme des Anordners lenkte seine Schritte: »Linke Abzweigung – Treppe hinauf – geradeaus – rechter Tunnel …«
Im Prinzip gab es unter den Schatten keinerlei berufliche Spezifikation, jeder konnte jederzeit zu jeder Arbeit herangezogen werden. So war Iwri derzeit einem Vermessungstrupp zugeteilt, der die Länge, Höhe und Breite aller vorhandenen Treppenstufen festzustellen hatte – bei der unendlichen Zahl solcher Treppen eine Arbeit ohne Aussicht, jemals fertig zu werden. Darum wurden die Mitglieder des Trupps von Zeit zu Zeit ausgewechselt, und die neu Hinzugekommenen fingen wieder von vorne an. Keiner von ihnen wusste, welchen Sinn diese Tätigkeit hatte, und keiner fragte danach. Die Stimme des Chefs versicherte ihnen, dass ihre Arbeit von außerordentlicher Wichtigkeit sei, und es gab keinen Grund, daran zu zweifeln.
Der Fels, in den das ganze Katakombensystem gegraben war, bestand aus einer grafitschwarzen Substanz von großer Schwere und Dichte. Ein kopfgroßes Stück davon wog so viel, dass ein Einzelner es kaum hochzuheben vermochte. Da sie obendrein noch zäh und hart gleichzeitig war, setzte sie jeder Bearbeitung größten Widerstand entgegen. Gelang es aber doch, einen Brocken zu zerschlagen, so zerfiel er sogleich zu Staub. Dieser wurde auf Schienenfahrzeugen fortgeschafft und in weit entfernten Anlagen – Iwri kannte niemanden, der sie je gesehen hatte – zur einzigen Nahrung für das Schattenvolk verarbeitet. Es handelte sich um eine schwarze Brühe, die Hunger und Durst sehr rasch stillte, aber nach nichts schmeckte. Man brauchte nur wenig davon. Der Schatten, der sie zu sich nahm, wurde dadurch dichter und dunkler. Umgekehrt bewirkte der Mangel an Nahrung ein nebelartiges Verwischen der Konturen bei dem Hungrigen, ja, auf längere Sicht sogar eine leichte Transparenz. Das Gleiche, nur auf nicht mehr rückgängig zu machende Art, geschah auch beim Tode eines Schattens: Er wurde durchsichtig und löste sich wieder in Staub auf.
Trotz des ständigen Nahrungsbedarfes so vieler blieb – nach Auskunft der »Ent-Täuscher« – die Gesamtmenge der Substanz konstant. Was auf der einen Seite abgebaut wurde, kam auf der anderen in Form von Müll, Abfällen, Exkrementen und dem Staub der Hingeschiedenen wieder hinzu. Was sich also im Laufe großer Zeiträume ändern konnte, war höchstens die innere Struktur, nicht aber das ursprüngliche Volumen der Welt von Misraim. Diese Einsicht wurde allgemein als beruhigend empfunden.
Iwri hatte an seinem Arbeitsplatz, wie immer seit er dem Vermessungstrupp angehörte, ein Stück Kreide vorgefunden, mit dem er bestimmte Stellen der Treppe zu bezeichnen hatte. Widerspruchslos ging er ans Werk, doch war er nicht recht bei der Sache. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu den seltsamen Erlebnissen während seiner letzten Schlafphase zurück. Als schließlich die Arbeitszeit vorüber war, legte er das Kreidestück nicht, wie es der Vorschrift entsprochen hätte, dorthin zurück, wo er es vorgefunden hatte, sondern steckte es in die Tasche. Niemand schien es zu bemerken, auch die Stimme Bechmoths meldete sich nicht. Er selbst hätte nicht erklären können, warum er es getan hatte. Unterwegs auf dem Rückweg versteckte er das Kreidestück in einem niedrigen Seitengang, der unbenutzt schien. Danach ging er zur Nahrungsaufnahme, wurde dunkler, fühlte sich müde und begab sich gehorsam in seine Schlafnische. Wieder suchten ihn diese seltsamen Bilder heim und wieder konnte er sich nach dem Erwachen nicht erinnern, was er jenseits der Durchblicke gesehen hatte. Das Kreidestück hatte er vergessen, doch da er an seinem Arbeitsplatz ein neues vorfand, kam ihm das nicht einmal zu Bewusstsein.
Während der nächsten Arbeitsphasen wiederholte er seinen Diebstahl noch mehrmals, ohne dass jemand es ihm verwehrt hätte. Erst als er schon sechs oder sieben Kreidestücke in seinem Versteck angesammelt hatte, gelang es ihm, sich nach dem Erwachen an seine ihm vorerst selbst noch ganz unbegreifliche Handlungsweise zu erinnern. Und als die nächste Ruhephase kam, tat er etwas, das ihm selbst als unerhörte Eigenmächtigkeit, ja als Verbrechen erschien. Anstatt sich, wie die Stimme des Chefs es anordnete, in seiner Schlafnische zur Ruhe zu begeben, schlich er zu seinem Versteck. Diesen Weg zurückzulegen bereitete ihm einige Mühe, da er wie alle anderen daran gewöhnt war, bei jedem Schritt geleitet zu werden. Jetzt musste er eigene Entscheidungen treffen. Doch kaum sah er das Häufchen Kreidestücke vor sich, da wurde ihm klar, warum er diesen Ungehorsam begangen hatte.
Er suchte eine möglichst glatte Stelle an einer der Wände und begann, zögernd zunächst und mit wenig Geschicklichkeit, die Umrisse jener Öffnungen zu zeichnen, an die er sich erinnerte. Die ersten Versuche misslangen oder schienen ihm selbst reichlich primitiv, aber er gab nicht auf und versuchte es von Neuem. Was ihn dabei antrieb, war die undeutliche Hoffnung, dass er, wenn ihm erst einmal die Darstellung der Öffnungen überzeugend gelänge, auch das in seinem Gedächtnis wiederfinden würde, was hinter ihnen, dort draußen, jenseits der Durchblicke gelegen hatte. Doch war seine Mühe vergebens.
»Du willst das nicht tun, was du da tust«, hörte er die raunende Stimme des Großen Anordners, die bis jetzt geschwiegen hatte. »Wenn du damit fortfährst, werde ich dich verlassen müssen. Ich habe dich gewarnt.«
Iwri reagierte nicht darauf, sondern arbeitete schweigend und verbissen weiter.
»Was du tust«, sagte die beschwörende Stimme, und zum ersten Mal klang ein Anflug von zorniger Ungeduld in ihr, »was du tust, schmerzt mich. Darum müssen wir deine Existenz streichen. Man wird dich ersetzen. Da du unbedingt leiden willst, leide. Aber es wird Vorsorge getroffen, dass du niemanden mit deiner Krankheit ansteckst. Du gehörst nicht mehr zum Schattenvolk, du bist von nun an nichts mehr. Noch weißt du nicht, was das heißt. Du wirst es lernen.«
Das war für lange Zeit das letze Mal, dass Iwri die Stimme des Chefs hörte.
Nachdem er sein Werk, so gut er es eben konnte, zu Ende gebracht hatte, trat er zurück und betrachtete es eine Weile. Das Ergebnis enttäuschte und entmutigte ihn. Er fühlte sich plötzlich sehr müde.
Er begab sich zur Nahrungsaufnahme, doch teilte niemand ihm seine Ration zu. Er wurde einfach übersehen. Glücklicherweise galt das auch, als er sich selbst versorgte. Niemand hinderte ihn daran, darum beunruhigte ihn die Sache nicht weiter. Das änderte sich allerdings, als er zur Schlafhöhle zurückkehrte, um seine Nische aufzusuchen. Er musste feststellen, dass diese inzwischen von einem anderen Schatten belegt war. Sonst war keine mehr frei.
Iwri kehrte zum Ort seiner Tat zurück. Ein Reinigungstrupp war eben dabei, seine Zeichnungen abzuwaschen.
»Was macht ihr denn?«, fragte er. »Warum tut ihr das?«
Niemand antwortete ihm, man schien ihn nicht einmal gehört zu haben.
»Möchte wissen«, sagte einer der Arbeiter nach einer Weile zu seinem Kollegen, »was das überhaupt sein soll.«
Und plötzlich fiel Iwri das Wort ein. Er erinnerte sich daran, wie an etwas seit Langem Vergessenes.
»Es sind Fenster«, sagte er leise, »Fenster, durch die man hinausschauen kann. Das heißt, es sind natürlich keine wirklichen Fenster, nur Bilder davon, leider. Und sie sind außerdem ziemlich unvollkommen …«
Der Reinigungstrupp beendete seine Arbeit und ging fort. Die Wand war wie vorher.
»Fenster …«, murmelte Iwri. Woher war ihm dieses Wort plötzlich zugeflogen? In der Sprache des Schattenvolkes kam es jedenfalls nicht vor.
Das Häufchen Kreidestücke lag noch immer in der Ecke. Er nahm eines davon und begann von Neuem auf die glatte Wand zu zeichnen. Aber auch diesmal ließ ihn das Ergebnis höchst unzufrieden. Vielleicht, sagte er sich, lag es an der Wand. Vielleicht konnte er irgendwo eine geeignetere Stelle finden. Obgleich ihn dieser Gedanke selbst nicht überzeugte, steckte er doch alle Kreidestücke in seine Tasche und machte sich auf den Weg.
Nie zuvor hatte er sich aus eigenen Kräften zurechtfinden müssen, und so hatte er sich binnen Kurzem hoffnungslos im Gewirr der Gänge und Abzweigungen verirrt. Der Versuch, die labyrinthische Anordnung der Höhlen zu begreifen, und die ganz ungewohnte Notwendigkeit, an jeder Kreuzung eigene Entscheidungen zu treffen, erschöpften Iwris Kräfte sehr schnell. Todmüde rollte er sich in einer Ecke auf dem Boden zusammen und schlief. Diesmal stellten sich keine Bilder von Fenstern ein, im Gegenteil, es war ihm, als schöben sich Wände von allen Seiten immer dichter an ihn heran, bis er schließlich kein Glied mehr rühren konnte. Schweißgebadet erwachte er.
Als er sich aufrichtete, erblickte er am Ende eines Korridors einige Ordnungswächter, die, wie ihm schien, suchend herumblickten. Einem plötzlichen Impuls folgend floh er vor ihnen. Erst später, als er außer Atem stehen bleiben musste, fragte er sich, warum er das getan hatte, denn vermutlich war er für sie ebenso wenig vorhanden wir für alle anderen. Sicher konnte er dessen allerdings nicht sein.
Was sollte er nun tun? Da er keine Stimme mehr hörte, die ihm Anweisungen gab, musste er sich selbst eine Aufgabe, ein Ziel setzen. Er war ratlos, und es dauerte lange, bis er in sich die Kraft dazu fand. Was ihm zunächst zu schaffen machte, weil es ihm ganz neu war, war seine Einsamkeit. Wie durch eine unsichtbare, aber undurchdringliche Sphäre war er von allen anderen Schatten getrennt. Zum ersten Mal fühlte er die große Traurigkeit und wusste, dass sie ihn nie mehr verlassen würde, ja, dass dies nur der Anfang war, nur ein erstes Vorzeichen dessen, was ihn erwartete. Die Traurigkeit selbst hatte ihn noch gar nicht erreicht, sie war noch weit fort, eine lastende, riesige Finsternis, die sich von ferne langsam heranschob. Sie war auf allen Seiten, es gab kein Entrinnen.
Iwri hatte große Angst davor. Hätte es eine Möglichkeit gegeben, wieder unter die Obhut des Anordners zurückzukehren und vom Schattenvolk aufgenommen zu werden, er hätte vielleicht Gebrauch davon gemacht, nur um nicht mehr allein zu sein. Aber zugleich wusste er, dass er niemals mehr würde aufhören können, nach dem zu suchen, was jenseits der Fenster lag. Es gab also kein Zurück für ihn, dazu war es zu spät. Er musste geschehen lassen, was geschah.
War aber das, was er durch die Fenster gesehen hatte und woran er sich nicht mehr erinnern konnte, kein Hirngespinst, sondern Wirklichkeit, dann gab es – allen Meinungen der Wissenden zum Trotz – außerhalb von Misraim eine Welt oder sogar viele Welten. Aber dann war das ganze unermessliche Katakombensystem nichts als ein Gefängnis, in dem das Schattenvolk aus wer weiß welchem Grund gefangen gehalten wurde. Und Bechmoth, der Große Chef, war nur der Kerkermeister. Das erklärte auch die Härte, mit der er gegen Iwris Versuche, die Fenster zu malen, vorgegangen war. Aber wie war es möglich, dass niemand sonst sich als Gefangener fühlte, dass alle mit ihrem Sklavendasein zufrieden waren?
Auf der Suche nach einem Ausgang irrte Iwri nun während zahlloser Wachphasen, die jetzt ganz unregelmäßig bei ihm verliefen, durch die Labyrinthe von Misraim. Immer auch zugleich auf der Flucht vor möglichen Verfolgern wagte er es nicht, an einem Ort zu verweilen. Zu der immer mächtiger werdenden Angst und Traurigkeit gesellte sich nun auch noch die Empfindung, lebendig begraben zu sein, in der Enge ersticken zu müssen. Bisweilen verfiel er in Zustände der Panik, die sich bis zu unerträglichen körperlichen Schmerzen steigerten.
Dann begann er zu rennen, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach, oder kroch auf allen vieren, oder er tastete sich Schrittchen für Schrittchen wie ein Blinder seines Weges. Dabei gelangte er in immer neue Teile des Labyrinthes, von deren Existenz er bis dahin nichts geahnt hatte. Er kam in Höhlen, die so riesenhaft waren, dass ganze Städte mit vielstöckigen Häusern darin Platz fanden. Er stieg über Stufengewirre aufwärts und abwärts und wieder aufwärts, weil die Treppen immer eine in die andere mündeten oder im Leeren endeten. Er zwängte sich durch Stollen, die so eng und niedrig waren, dass man sie nur auf dem Bauch kriechend durchqueren konnte. Er taumelte und rollte schräge Flächen hinunter und klomm in schmalen Kaminen aufwärts. Aber nirgends fand er einen Ausgang aus Misraim, niemals deutete eine Stelle darauf hin, dass er an ein Ende der Katakomben gelangt sei. Dagegen geschah es ihm oft, dass ein Ort ihm den Eindruck vermittelte, er sei vorzeiten schon einmal hier gewesen und nun zurückgekehrt, aber ganz sicher war er sich nie. Die Nahrung stahl er, was nicht weiter schwierig war, da er nach wie vor von niemandem beachtet wurde, und er schlief, wo und wann es sich gerade ergab.
Auf all diesen Wegen trug er seine Kreidestückchen mit sich und hütete sie wie seinen kostbarsten Schatz, denn er wusste, dass er keine neuen mehr bekommen würde. Wo auch immer eine Stelle ihm geeignet schien, malte er seine Fenster. Natürlich schmolz sein Vorrat dadurch mehr und mehr zusammen, deshalb wuchs die Sorgfalt, mit der er sich von Mal zu Mal gründlicher vorbereitete, ehe er ans Werk ging, um nur ja keinen Strich zu vergeuden. Aber ebenso hartnäckig, wie er seine Versuche wiederholte, ebenso regelmäßig wurden sie unmittelbar nachher wieder entfernt. Obwohl das sein Tun sinnlos machte, bestätigte ihn gerade die Eile, mit der es geschah, in der Überzeugung, dass seine Arbeit, trotz all ihrer Unzulänglichkeit, für Bechmoth oder für das ganze Kerkersystem eine Gefahr darstellte. Er klammerte sich an die Idee, dass alles anders werden würde – was auch immer das bedeuten mochte –, wenn es ihm doch noch gelänge, das darzustellen, was er vor langer Zeit jenseits der Fenster erblickt hatte. Aber er konnte es nicht finden, auch in seinen Schlafphasen stellte es sich nicht mehr ein. Im Grunde malte er nur noch die Erinnerung einer Erinnerung, die ihm selbst immer unwahrscheinlicher vorkam, und seine Fenster blieben leer. Die Verzweiflung darüber war das Schlimmste von allem. Die Wirklichkeit von Misraim, an die das Schattenvolk glaubte, war ihm unwiderruflich abhandengekommen, und die andere, um derentwillen er ausgestoßen war, konnte er nicht finden. Es gab keine Erlösung für ihn, nicht nach dieser noch nach jener Seite.
Irgendwann kam dann der Augenblick, da er bei einem letzten Versuch sein letztes kümmerliches Kreidestück verbraucht hatte, und wieder war es vergebens gewesen. Damit war für ihn alles zu Ende. Die große Traurigkeit hatte ihn nun erreicht und begrub ihn unter sich wie ein Berg. Er verschaffte sich einen Strick und erhängte sich.
Als er wieder zu sich kam, hatte man ihm Handschellen angelegt. Zwei Ordnungswächter standen über ihn gebeugt und redeten streng auf ihn ein. Er verstand nicht, was sie sagten, nur dass sie zufrieden seien, ihm nun endlich das Handwerk zu legen. Dann zogen sie ihn hoch und führten ihn ab. Er wehrte sich nicht.
Sie brachten ihn in eine kleine, niedrige Einzelzelle, dort blieb er lange Zeit sich selbst überlassen. Er schlief viel, oder besser gesagt, er hielt sich absichtlich in einem Zustand dämmernden Halbbewusstseins, weil jeder Augenblick des Wachens unerträgliche Qual bedeutete. Er vermied es, darüber nachzudenken, was man mit ihm vorhatte, ob er irgendwann wegen seiner Fenstermalerei verurteilt werden würde oder ob man ihn ganz einfach vergessen hatte. Nahrung wurde ihm allerdings von unsichtbarer Hand regelmäßig hereingeschoben. Mit dem Stiel seines Löffels versuchte er die Umrisse von Fenstern in die Wände seiner Zelle zu kratzen, doch die Wände waren zu hart und zeigten keine Spuren seiner Mühen.
Er lag zusammengerollt in einer Ecke und hatte das Gesicht zur Wand gedreht, als ein leises Geräusch an seiner Zellentür ihn aufhorchen ließ. Er regte sich nicht. Eine Hand fasste seine Schulter und schüttelte ihn sanft.
»Wach auf«, sagte jemand, »komm mit, aber sei leise.«
Iwri drehte sich langsam um und sah zwei Schatten, einen jungen Mann und ein Mädchen. »Was wollt ihr?«, fragte er und hörte dabei seine eigene Stimme kaum. »Wer seid ihr?«
»Freunde«, antwortete das Mädchen. »Wir holen dich hier heraus.«
»Freunde …«, wiederholte Iwri mühsam. »Was soll das heißen?«
Die beiden versuchten ihn aufzurichten. »Komm schon. Es bleibt wenig Zeit.«
Iwri sträubte sich. »Das ist ein Irrtum«, krächzte er, »ihr meint jemand anders.«
»Nein, nein«, flüsterte der junge Mann hastig, »wir erklären dir alles später, dann kannst du fragen, so viel du willst. Aber mach schnell.«
Iwri ließ sich von ihnen hinausführen, erst durch einen niedrigen Korridor mit mehreren Zellentüren, dann durch einen Raum, wo Schlüssel an den Wänden hingen. In der Ecke saßen zwei Ordnungswächter an einem Tisch, beide das Gesicht auf die Arme gelegt, und schnarchten leise. Die Entführer eilten mit ihm in einen hochgewölbten Tunnel hinaus, wo reger Verkehr herrschte. Sie nahmen ihn in die Mitte.
»Falls uns jemand anhält«, raunte das Mädchen, »überlass uns das Reden.«
Tatsächlich mussten sie am Ende des Tunnels nochmals durch eine Kontrolle.
»Krankentransport«, erklärte der junge Mann. »Es ist dringend. Hier sind die Anordnungen.«
Der Wächter überflog das Papier und sagte: »Weitergehen.«
Über verwirrende Wege erreichten sie schließlich eine Wendeltreppe, die mehrere Hundert Stufen in einem Schacht aufwärts führte und zuletzt in einem Saal voller Gerümpel mündete, offenbar ein Magazin für unbrauchbar gewordene Maschinen aller Art.
Die beiden versicherten sich, dass niemand ihnen gefolgt war, dann schoben sie einige verrostete Blechplatten beiseite, dahinter wurde in der Wand eine Vertiefung sichtbar. Sie klopften mehrmals in einem komplizierten Rhythmus gegen bestimmte Stellen, die Rückwand der Vertiefung glitt beiseite, und sie schlüpften hindurch. Hinter ihnen schloss sich die Mauer wieder.
»Jetzt«, sagte das junge Mädchen, »kannst du fragen. Jetzt sind wir auf unserer Seite.«
»Auf unserer Seite …«, wiederholte Iwri, »auf welcher Seite?«
»Außerhalb von Bechmoths Reich.«
Iwri blieb stehen und blickte verwirrt umher. »Außerhalb …«, murmelte er mehrmals vor sich hin. »Außerhalb … also doch … aber … wer seid ihr?«
»Bechmoths Feinde. Genügt dir das nicht?«
»Doch«, stammelte Iwri, »das heißt, nein. Es genügt mir nicht.«
»Hörst du, es genügt ihm nicht«, sagte der junge Mann. »Erkläre es ihm.«
Sie lächelte. »Herrn Bechmoths Rechnung wird nicht aufgehen, niemals. Weil wir dafür sorgen.«
»Seid ihr viele?«
Das Mädchen seufzte. »Leider nicht.« Und der junge Mann fügte hinzu: »Jedenfalls nicht genug.«
»Und ich – was habt ihr mit mir vor?«
»Na, du gehörst doch zu uns, oder nicht?«
»Wir brauchen dringend solche wie dich.«
»Wozu braucht ihr mich?«
»Das wirst du von Madam selbst erfahren.«
»Sie legt großen Wert auf deine Mitarbeit.«
»Madam? Wer ist das?«
»Die Ärztin. Frau Dr. Lewjothan – hast du noch nie von ihr gehört?«
»Sie ist es, der du deine Rettung verdankst. Sie hat uns geschickt.«
Iwri blieb abermals stehen. »Meint ihr etwa die – eh – die Trösterin?«
»Ja, ich glaube, so nennt man sie im Schattenvolk.«
»Aber komm jetzt weiter. Lass sie nicht warten.«
»Heißt das – es gibt sie wirklich?«
Iwri hatte wohl hin und wieder aus Gesprächsfetzen und Andeutungen von einem Gerücht gehört, demzufolge eine geheime Gruppe existiere, die auf irgendeine nicht genauer bekannte Art gegen den Chef und sein System kämpfe und von einer Ärztin, eben jener »Trösterin«, angeführt werde. Es schien nicht geboten, darüber zu sprechen. Iwri hatte den wenigen Andeutungen keinen Glauben geschenkt und sie deshalb bald wieder vergessen. Hastig fragte er: »Sie will mich sehen? Warum?«
»Vielleicht wegen deiner Fenstermalerei.«
»Weiß sie denn davon?«
»O ja, mein Lieber. Sie weiß viel, in mancher Hinsicht mehr als Bechmoth. Das ist auch nötig, sonst wären wir bald erledigt.«
»Aber meine Fenster …«, stammelte Iwri, »sie sind ja nie fertig geworden. Sie waren immer unvollständig. Das Wichtigste fehlte.«
»Darum geht es nicht.«
»Aber worum geht es denn?«
»Vielleicht darum«, sagte der junge Mann, »dass du immun bist.«
»Ich bin was?«
»Hör mal«, wandte sich das Mädchen an ihren Partner, »ich fürchte, du redest zu viel.«
»Möglich«, antwortete der, »ich überlasse das besser Madam Lewjothan.«
Der Gang, durch den sie gekommen waren, öffnete sich plötzlich, und sie traten auf eine Rampe hinaus. Der Blick, der sich von hier aus bot, war im ersten Augenblick überwältigend für Iwri. In einer Höhle von gewaltigen Ausmaßen breitete sich vor seinen Augen eine Anlage von gläsernen Gewächshäusern aus wie eine lichterglänzende Stadt. Jedes war von innen erleuchtet und glomm in einem eigentümlichen, rosigvioletten Licht. In der Mitte dieser weit hingebreiteten Anlage erhob sich ein Kristallpalast, der von einem schmalen, ebenfalls gläsernen Turm überragt wurde.
»Dort oben«, hörte Iwri die Stimme des Mädchens nahe an seinem Ohr, »erwartet sie dich. Du wirst den Weg schon allein finden, er ist kaum zu verfehlen. Wir können dich jetzt nicht weiter begleiten.«
»Danke«, sagte Iwri, »wie heißt ihr beiden eigentlich?« Er wandte sich nach seinen Begleitern um, aber sie waren schon fort.
Er stieg von der Rampe herunter und trat in das nächstliegende Gewächshaus ein. Feuchtheiße Luft schlug ihm entgegen und nahm ihm fast den Atem. Es roch süßlich und betäubend nach Verwesung. Iwri musste einen Brechreiz unterdrücken. In schwarzen Beeten zur Linken und zur Rechten wuchsen chaotisch durcheinander große Pilze, deren fahle, fleischige Formen wie organische Knorpel aussahen. Schleimige Fäden hingen zwischen ihnen.
Während er weiterging, von einem Gewächshaus ins andere, immer auf den Glaspalast zu, dessen Turm von überallher zu sehen war, fiel ihm auf, dass die Heizungsrohre, die an den Seitenwänden entlangliefen, an vielen Stellen schadhaft waren, rostzerfressen, verkrustet, da und dort aufgeplatzt. Ebenso verhielt es sich mit den Sprenkelanlagen, die an den Rändern der schwarzen Beete angebracht waren und für die Bewässerung der Pilze sorgen sollten. Überall tropfte und zischte es. Das ganze System schien altersschwach und verkommen. Auch die Lichtquellen, von denen der rosigviolette Schein ausging, hatten verbeulte Blechschirme, hingen schief und krumm oder waren da und dort ganz ausgefallen. An solchen dunkleren Stellen wuchsen keine Pilze.
Schließlich hatte Iwri den Glaspalast im Zentrum erreicht. Bisher war er niemandem begegnet. Stockwerk für Stockwerk stieg er in den Turm hinauf und hörte nichts als seinen eigenen Atem und das Kling-Klong seiner Schritte auf den Glasplatten des Bodens. Der höchste Raum war achteckig, von hier aus konnte man nach allen Seiten hin, wie von einem Wachturm aus, die Gewächshäuser überblicken. Hoch über allem, in der dämmernden Beleuchtung nur schwach erkennbar, wölbte sich die Decke der Riesenhöhle wie ein schwerer, wolkenverhangener Himmel.
»Da bist du endlich«, sagte eine tiefe, eigentümlich verschleierte Frauenstimme plötzlich, »das ist gut.«
Iwri drehte sich erschrocken um. Auf der anderen Seite des achteckigen Raumes stand eine sehr hohe, schlanke Gestalt in einem weißen, langen Kittel. Ihr Gesicht war nur undeutlich zu sehen, da ein Schatten über ihm lag.
»Frau Doktor Lewjothan?«, fragte er stockend.
Die Gestalt nickte. »Komm ein bisschen näher. Ich sehe nicht mehr so gut.«
Er machte ein paar Schritte auf sie zu, sie hob die Hand. »Bleib stehen. Das genügt.«
Iwri stand jetzt mitten im Raum, er fühlte sich verlegen. Eine Weile war es still, sie betrachteten sich gegenseitig.
Die Dame war über einen Kopf größer als er. Ihr schmales, bleiches Gesicht war fein geschnitten, wirkte aber trotzdem streng, ja geradezu hart. Es war schwer auszumachen, ob es sich um das eines frauenhaften Jünglings oder einer jünglingshaften Frau handelte. Irgendwie waren beide Geschlechter darin enthalten. Ihre dunklen, leicht schräg gestellten Augen ruhten auf ihm, ohne zu blinzeln. Er fühlte eine hypnotische Kraft, die von diesem Blick auf ihn ausging, ohne dass er ein Bedürfnis empfand, sich dagegen zu wehren. Ihr kupferfarbenes Haar war kurz, fast männlich geschnitten. Um ihre Lippen spielte der Anflug eines Lächelns, das jedoch nicht ihm galt, sondern ständig und allgemein zu sein schien. Doch wirkte es nicht heiter, im Gegenteil, es verlieh ihr eine unerklärliche Aura von Tragik, die ihm jede weitere Annäherung verwehrte. Er senkte seinen Blick.
»Deine Fenster«, hörte er ihre Stimme sagen, »haben uns in Gefahr gebracht.«
»Meine Fenster? Wie meinen Sie das?«
»Ich fürchte, mein kleiner Schatten, du bist ein Künstler. Ich will damit sagen, du verstehst deine eigenen Ideen nicht. Ja, deine Fenster. Uns war von Anfang an klar, was du damit meintest. Es waren unsere Glashäuser, die du unbewusst darstelltest. Aber nun weißt du es, es gibt wohl auch für dich keinen Zweifel mehr, nicht wahr? Und du weißt jetzt auch, was dir bislang noch immer fehlte: das, was man durch diese Fenster sieht. Du konntest es nicht darstellen, weil du dich davor entsetzt hast. Schockiert dich diese Erkenntnis?«
»Ich weiß nicht«, antwortete er unsicher, »ob es das war …«
Sie lachte tonlos. »Erstaunlich, wie sehr sich gerade das Schöpferische in jedem von uns wehrt, sich seiner eigenen Beweggründe bewusst zu werden. Nur ein bisschen Mut, kleiner Schatten! Wenn du deine eigenen geheimen Sehnsüchte akzeptierst, wirst du dich wesentlich wohler fühlen, das versichere ich dir.«
»Vielleicht haben Sie ja recht …«, murmelte er.
»Oh, ich bin da ganz sicher, aber du musst natürlich aus eigener Einsicht dazu kommen. Ich will nicht, dass du mir nach dem Mund redest. Das hilft uns beiden nicht. Und gerade deine Hilfe ist es – deine freiwillige natürlich –, die ich dringend brauche.«
»Meine Hilfe?«, fragte Iwri. »Was wollen Sie von mir?«
Sie löste ihren Blick von ihm und ließ ihn über das Panorama der glimmenden Gewächshäuser schweifen. »Du hast ja wohl selbst auf deinem Weg hierher gesehen, in welch desolatem Zustand sich unsere Anlagen befinden. Wir haben niemand, der geeignet ist, sie instand zu halten. Aber ohne sie ist unsere Arbeit nicht möglich.«
»Diese Pilze – was ist das?«, fragte er.
Sie wandte sich ihm wieder zu und lachte auf ihre eigentümlich tonlose Art. »Du hast dich also vor ihnen entsetzt, nicht wahr? Ja, ich gebe zu, sie sehen ziemlich ekelhaft aus. Aber sie sind unser größter Schatz. Aus ihnen gewinnen wir unser Medikament, GUL, unsere stärkste Waffe im Kampf gegen Bechmoth. GUL bedeutet nur die chemische Formel …«
Sie begann, ihm die Formel zu erklären, doch er verstand nicht, was sie sagte.
»Es sind die Sporen«, schloss sie, »aus denen wir das Medikament extrahieren. Aber darum brauchst du dich nicht zu kümmern. Die Pflege und Verarbeitung der Pilzkulturen wird von anderen besorgt. Deine Aufgabe wäre nur die Instandhaltung der Anlage.«
»Für wen ist dieses Medikament«, wollte er wissen, »und was bewirkt es?«
»O verzeih, ich vergaß. Das kannst du natürlich nicht wissen, gerade du nicht. Deswegen bist du ja hier. Auf dich wirkt es nicht, oder es hat seine Wirkung verloren – warum wissen wir nicht.«
Sie machte eine Pause und dachte nach.
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