Jörg Olbrich

Der Winterkönig

Geschichten des Dreißigjährigen Krieges

Roman

Prag, 23. Mai 1618

»Was ist das für ein Lärm?«, schrie Jaroslav Borsita Martinitz und schlug ärgerlich mit der Faust auf den Tisch.

Philipp Fabricius fuhr erschrocken zusammen und warf dabei mit dem Ärmel seines schwarzen Mantels fast das Tintenfass vor sich um. Es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, das Gefäß festzuhalten, bevor es über die Kante fiel und den kostbaren Marmorfußboden der böhmischen Hofkanzlei in der Prager Burg verschmutzte. Er sah den königlichen Statthalter vorwurfsvoll an, den das allerdings nicht zu interessieren schien. Wie immer, wenn sich Martinitz durch irgendetwas gestört fühlte, drehte er nervös mit dem Zeigefinger an den fingerlangen Barthaaren.

»Bei diesem Krach kann man unmöglich arbeiten«, pflichtete Wilhelm Slavata, der oberste Landrichter, seinem Freund bei.

»Fabricius, geh und schau nach, was dort unten im Gange ist«, befahl Martinitz. Der Statthalter rutschte unruhig auf seinem Stuhl vor und fuhr sich mit der knochigen rechten Hand über den kahlen Schädel.

Philipp wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als der Aufforderung von Martinitz zu folgen. Trotz seiner für diese Jahreszeit viel zu dicken Kleidung fror der Sekretär der königlichen Statthalter entsetzlich. Pflichtbewusst war er den vier Statthaltern Martinitz, Slavata, Ladislaus von Sternberg und Diepold von Lobkowitz am Morgen nach der Kirche in das Amtszimmer gefolgt, obwohl er spürte, wie das Fieber seinen Körper gepackt hielt. Sein normalerweise lockiges, schwarzes Haar klebte ihm in klumpigen Strähnen am Kopf, und er sah alles um sich herum wie durch einen nebligen Schleier. Philipp betete darum, dass die heutige Sitzung ein schnelles Ende finden würde und er sich bald in seinem Bett verkriechen konnte, hatte aber die düstere Vorahnung, dass daraus nichts werden würde.

In diesem Moment flog die schwere Holztür der Ratsstube mit einem Knall auf und schlug krachend gegen die Wand. Sofort stürmte eine Horde wütender und bewaffneter Männer in den Raum. Sie sprang über die drei Besucherbänke vor den Statthaltern auf diese zu. Spätestens jetzt bereute Philipp es, an diesem Morgen nicht in seiner Kammer geblieben zu sein. Er hätte einen Verweis bekommen, wenn er nicht zum Dienst erschienen wäre, fürchtete aber, dass das was nun folgen würde, wesentlich schlimmer für ihn ausgehen könnte.

»Was fällt Euch ein, einfach so hier hereinzustürmen«, schrie Martinitz und sprang so heftig auf, dass er dabei mit seinem gewölbten Bauch fast den Tisch umstieß, an dem er saß.

»Das werdet Ihr gleich erfahren«, antwortete Matthias von Thurn. Wie ein Richter stand der grauhaarige Graf vor den königlichen Beamten und deutete mit dem Finger auf sie. »Ergreift sie und schafft sie nach draußen.«

Die vier Statthalter wollten ihre Waffen ziehen, wurden aber von der Menge regelrecht überrannt, bevor sie zu einer Gegenwehr fähig waren. Auch Philipp wurde gepackt und von den Männern aus dem Raum hinaus in den breiten Flur gezogen, in dem normalerweise die Bittsteller warteten.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Martinitz mit sich überschlagender Stimme.

»Ihr seid zu weit gegangen«, antwortete von Thurn. »Heute werdet Ihr für Eure Taten zur Rechenschaft gezogen. Die Zeit der Unterdrückung der protestantischen Stände ist nun vorbei.«

Philipp sah sich um und erkannte, dass die Eindringlinge überall standen. Von unten drängten sich weitere Männer über die Treppe nach oben. Fast alle hatten die Hände an ihren Waffen und waren bereit, diese sofort gegen die Statthalter einzusetzen, sollte es denn nötig sein. Eine Flucht war ausgeschlossen. Philipp hoffte, dass von Thurn ihn gehen lassen würde. Schließlich protokollierte er die Versammlungen der Statthalter lediglich und war nicht für ihre Taten verantwortlich. Dabei wusste er nur zu gut, dass die Horde ihre Revolte gegen die Hofkanzlei nicht ohne Grund durchführte.

Der Sekretär schaute zu Martinitz und Slavata. Beide Männer waren erbleicht. Von dem anfänglichen Selbstbewusstsein, mit dem sie sich gegen die Angreifer gestellt hatten, war nichts mehr übrig geblieben. Unruhig ließen sie ihre Blicke über die endlos erscheinende Gruppe der Eindringlinge schweifen. Ladislaus von Sternberg und Diepold von Lobkowitz hatten sich erst gar nicht gegen von Thurn und seine Mannen gewehrt und standen lethargisch im Flur, als ginge sie der Aufstand der Stände nichts an.

Graf von Thurn hob die Hände und brachte die wild durcheinander schreiende Menge so zum Schweigen. Er sprach mit lauter Stimme, sodass ihn jeder im Flur hören konnte: »Seit der Regentschaft von König Ferdinand werden die Rechte der protestantischen Stände in Böhmen mit Füßen getreten. Selbst vor der Zerstörung unserer Kirchen schreckten die Jesuiten nicht zurück. Dies war ein klarer Verstoß gegen den Majestätsbrief, der von Kaiser Rudolf II im Jahr 1609 ausgestellt und später von Kaiser Matthias bestätigt worden ist.«

Während die meisten Anwesenden die Worte ihres Rädelsführers nickend bestätigten, erschrak Philipp bis ins Mark. Er kannte das von Graf von Thurn angesprochene Dokument, in dem den böhmischen Landeseinwohnern eine freie Religionswahl und der Aufbau einer protestantischen Kirchenorganisation erlaubt wurde. Selbst der Bau von evangelischen Kirchen auf den königlichen Kammergütern war gestattet worden. Wenn sich die Statthalter von Prag nun tatsächlich offen gegen diesen Majestätsbrief gestellt haben sollten, würde ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert sein. Philipp wusste nur zu gut, dass auch er dann kaum noch mit heiler Haut davonkommen konnte.

»Um unser Recht durchzusetzen, haben wir uns in einem Protestschreiben an Kaiser Matthias gewandt«, fuhr von Thurn fort. »Doch in Wien fand unser Anliegen kein Gehör. Im Gegenteil, dem protestantischen Adel wurde verboten, weitere Ständeversammlungen abzuhalten. Der Kaiser drohte uns sogar mit dem Verlust des Leibes und der Ehre, wenn wir seine Anordnung nicht befolgen. Es stellt sich uns nun die Frage, was Matthias dazu brachte, von seinem Weg abzuweichen und sich gegen den Majestätsbrief zu stellen, den er selbst bestätigt hat. Von den anwesenden Statthaltern wollen wir wissen, ob sie von dem kaiserlichen Schreiben gewusst haben oder gar dazu rieten und es approbierten.«

Der Flur schien sich während der Worte von Graf von Thurn weiter gefüllt zu haben. Die Männer standen dicht gedrängt und schoben sich gegenseitig immer weiter vor. Philipp hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Es roch nach Schweiß, und die Hitze im Flur schien mit jeder Sekunde zuzunehmen. Aus Angst davor, von der Menge totgetreten zu werden, sollte er zu Boden fallen, kämpfte der Sekretär verzweifelt gegen den drohenden Schwindel an.

Die Eindringlinge rückten noch enger zusammen. Alle wollten wissen, was die Statthalter nun zu ihrer Verteidigung vorbringen würden. Trotz seiner Schwäche war auch Philipp gespannt, ob es ihnen gelang, sich aus dieser bescheidenen Lage herauszuwinden. Von den Wachen der Burg war sicherlich keine Hilfe zu erwarten. Die Männer waren entweder von den Rebellen überwältigt worden oder geflohen.

»Wir sind dem Kaiser mit schwerem Eid verpflichtet und verbunden«, antwortete Martinitz sichtlich um Fassung bemüht. Weil er von seinen Widersachern an beiden Armen festgehalten wurde, war er kaum in der Lage sich zu rühren. »Wir dürfen nichts offenbaren, was die Statthalter im Namen des Königs in ihrem Kreis beraten.«

»Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, dass wir unverrichteter Dinge wieder abziehen werden«, sagte von Thurn mit energischer Stimme. »Wir verlangen hier und heute eine Antwort. Gebt Ihr diese nicht, wird das von den protestantischen Ständen als Schuldeingeständnis gewertet werden.«

»Ich muss energisch protestieren und kann guten Gewissens sagen, dass wir weder zu diesem, dem Majestätsbrief zuwider laufenden Schreiben geraten, noch davon gewusst haben.«

Philipp sah Ladislaus von Sternberg überrascht an. Der stand zittrig zwischen den Rebellen und hielt den Gehstock, den er benötigte seit er vor zwei Jahren vom Pferd gefallen war und sich das Bein verdreht hatte, krampfhaft fest. Normalerweise wählte der Mann den Weg des geringsten Widerstandes. Sein Protest passte nicht zu dem Verhalten, das Philipp sonst von ihm kannte.

Der Sekretär betete, dass die adeligen Herren nun schnell zu einer Endscheidung kommen würden. Ihm selbst fiel es immer schwerer, sich auf den Beinen zu halten, obwohl auch er nach wie vor von zwei Männern gepackt wurde. Er hatte das Gefühl, dass der Lärm in der Burg sein Fieber noch steigerte und seinen Kopf früher oder später zum Bersten bringen würde.

»Herr Burggraf«, sprach von Thurn von Sternberg direkt an. »Wir wissen wohl, dass Ihr und Diepold von Lobkowitz fromme Herren seid und den protestantischen Ständen nicht schaden wolltet. Herr Slavata und Herr Martinitz sind die Feinde unserer Religion und wollen uns um den Majestätsbrief bringen.«

»Das ist eine Lüge«, protestierte Martinitz und versuchte, auf seinen Widersacher zuzugehen. Daran wurde er aber von den anderen Männern gehindert.

»Dann stimmt es nicht, dass Ihr beide schon bei der Sitzung des Landtages nicht anwesend wart, bei dem der Majestätsbrief entlassen wurde, und Ihr seitdem alles darauf verwendet, das Dokument außer Kraft zu setzen?«

Weder Martinitz noch Slavata antworteten auf diese Anschuldigungen. Philipp wusste nur zu gut, dass beide Statthalter immer wieder nach Möglichkeiten gesucht hatten, gegen die Protestanten vorzugehen. Er hatte dies selbst dokumentiert. Den Männern war es ein Dorn im Auge, dass der protestantische Teil der Bevölkerung in Prag immer mehr zunahm.

Die Tatsache, dass von Thurn gnädig mit von Sternberg und von Lobkowitz umging, ließ den Sekretär hoffen, ebenfalls aus dem Gebäude herauszukommen, ohne Schaden zu nehmen.

In den nächsten Minuten wurden weitere Vorwürfe vorgebracht. Martinitz und Slavata versuchten vergeblich, sich zu verteidigen, gerieten aber immer mehr in die Zwickmühle. Weil mehrere Männer durcheinandersprachen und seine Kopfschmerzen immer unerträglicher wurden, konnte Philipp den Worten nicht mehr folgen. Er spürte, dass er dieser Tortur nicht mehr lange standhalten konnte. Wie auch immer die Entscheidung über seine Zukunft ausfallen mochte, er betete, dass diese rasch getroffen würde. Falls es tatsächlich Gottes Wille war, den jungen Sekretär mit gerade einmal zwanzig Jahren zu sich zu holen, sollte er ihm die Gnade eines schnellen Todes gewähren.

Plötzlich verschaffte sich Graf von Thurn mit lauter Stimme Gehör und riss damit auch Philipp aus seiner Lethargie. »Die Herren von Sternberg und von Lobkowitz sollen nun die Burg verlassen. Ihnen wird nichts geschehen. Keiner von uns wird Hand an sie legen. Die anderen beiden dagegen werden nun unseren Richtspruch erfahren.«

Zunächst rührten sich die beiden Angesprochenen nicht und starrten von Thurn überrascht an. Erst als sie von den Eindringlingen in Richtung Ausgang geschoben wurden, erkannten sie, dass es der Graf ernst meinte, und bahnten sich fluchtartig ihren Weg zur Treppe. Philipps Hoffnung, nun ebenfalls freigelassen zu werden, erfüllte sich nicht.

»Seht, liebe Herren, diese Zwei sind unsere größten Feinde. Sie wollen uns um den Majestätsbrief und die Freiheiten unserer Religion bringen. Glaubet gewiss, dass unsere Stände niemals mit unseren Weibern und Kindern in Frieden leben können, solange diese Herren im Lande verweilen. Wir würden unseres Lebens nicht sicher sein. Wenn wir sie weiter gewähren lassen, ist es um unsere Religion geschehen und wir alle hier werden an Leib, Ehre und Gut verdorben und verloren sein.«

Ein Raunen ging durch den Flur. Graf von Thurn stand in der Mitte des Raumes und genoss seinen Triumph sichtlich. Der Anführer der Rebellion wirkte auf Philipp wie ein Kriegsherr auf dem Schlachtfeld, der seine Männer aufhetzte, bevor er sie in den Kampf schickte.

»Derethalben deklarieren wir die beiden als Feinde und werden mit ernstlicher Strafe gegen sie verfahren.«

Philipp blickte in die entsetzten Gesichter der beiden Statthalter. Beide wussten nur zu gut, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte, sollte nicht noch ein Wunder geschehen. Während Slavata um seine Fassung rang, forderte Martinitz von den Eindringlingen, zu einem Beichtvater geführt zu werden, bevor das Urteil an ihm vollstreckt wurde.

»Wir werden Euch jetzt sicher nicht noch einem schelmischen Jesuiten zuführen«, entgegnete von Thurn und deutete zum Fenster. »Hinaus mit ihnen.«

In diesem Moment brach der Tumult los. Gleich fünf der anwesenden Ritter stürzten sich auf Martinitz und zogen ihn zum geöffneten Fenster. Philipp versuchte, sich nach hinten zu drängen, wurde aber von seinen Widersachern festgehalten.

»Jesu, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!«, schrie der Statthalter und versuchte sich gegen die übermächtigen Angreifer zu wehren.

Philipp sah voller Entsetzen zu, wie der Oberkörper von Martinitz durch das schmale Fenster geschoben wurde. Sofort machten sich drei Männer an seinen Beinen zu schaffen, hoben sie an und warfen den Statthalter hinaus.

»Jesus, Maria«, schrie Martinitz. Seinen Fall konnte aber nichts mehr aufhalten.

»Wir wollen sehen, ob ihm seine Maria helfen wird«, sagte von Thurn spöttisch.

Der Sekretär konnte nicht erkennen, was weiter mit Martinitz geschah. Die Männer standen so dicht an den Fenstern, dass es unmöglich war, einen Blick an ihnen vorbei zu werfen. Philipp war überzeugt, dass der Statthalter den Fall unmöglich überlebt haben konnte; immerhin lag das Fenster siebzehn Meter über dem Boden. Die aufgeregten Rufe der Protestanten belehrten ihn jedoch eines Besseren.

»Er bewegt sich noch«, rief einer der Männer und deutete nach unten.

Die Stimmung im Flur heizte sich noch weiter auf. Die Eindringlinge schrien wild durcheinander. Philipp bekam einen Schlag gegen den Kopf und nahm nun alles nur noch verschleierter wahr.

Wieder musste sich von Thurn mit energischer Stimme Gehör verschaffen. »Edle Herren, noch ist unsere Aufgabe hier nicht beendet«, rief er und zeigte auf Slavata. »Da habt ihr den anderen.«

Auch dem zweiten Statthalter blieb keine Möglichkeit zur Gegenwehr. Er klammerte sich verzweifelt mit den Händen am Fensterrahmen fest, musste aber loslassen, als ihm einer der Männer mit dem Kopf seines Dolches auf die Finger schlug.

Mit blankem Entsetzen spürte Philipp, wie nun auch er von den Eindringlingen gepackt und zum Fenster geschleift wurde. »Ich habe nichts mit den Taten der Statthalter zu schaffen«, rief er verzweifelt. »Ich bin nur der Sekretär.«

In ihrer Rage machten die Männer um Graf von Thurn jetzt aber keine Unterschiede mehr. Sie drückten Philipp durch das Fenster, und er würde genauso fallen wie die beiden Statthalter zuvor. Sein durch das Fieber geschwächter Körper ließ keine Gegenwehr zu. Er merkte, wie er den Halt verlor und sah, wie der Graben unter ihm immer näher kam. Ein Fenstersims stoppte seinen Fall. Philipp spürte einen stechenden Schmerz in der Hüfte. Dann rutschte er an der Mauer entlang in die Tiefe. Die unzähligen Schläge gegen Arme und Beine nahm der Sekretär kaum wahr. Innerlich hatte er bereits mit dem Leben abgeschlossen.

Der Aufprall in dem Graben vor dem Schloss erschütterte Philipps Körper. Er stieß mit dem linken Ellenbogen gegen einen Stein und schrie auf. Der Schmerz zog durch seinen gesamten Körper und schien keine Stelle auslassen zu wollen. Und doch – der Sekretär konnte es nicht fassen – hatte er den Sturz überlebt. Neben sich sah er, wie Martinitz versuchte, den scheinbar leblosen Körper von Slavata, dem das Blut aus einer Wunde an der Schläfe lief, aus dem Graben zu ziehen. Auch die Dienerschaft, welche die Burg beim Eintreffen der Rebellen verlassen haben musste, eilte den Statthaltern nun endlich zur Hilfe.

Plötzlich krachten Schüsse von oben. Philipp schaute zu dem Fenster und sah, wie sich die protestantischen Grafen und Ritter dort zusammendrängten und ihre Waffen nach unten richteten. Zu seinem Glück behinderten sie sich dabei aber gegenseitig und schafften es nicht, einen gezielten Schuss abzugeben. Er musste hier weg.

»Lauft in den Graben hinunter und macht der Sache ein Ende«, befahl von Thurn oben mit lauter Stimme.

Die protestantischen Eindringlinge waren aber zu weit von der Stelle entfernt, an der ihre drei Opfer auf den Boden geschlagen waren. Jetzt geriet es ihnen zum Nachteil, dass sie allesamt in die Burg gestürmt waren und jeder bei der Verhandlung gegen die Statthalter hatte dabei sein wollen.

»Geh nach Wien!«, befahl Martinitz seinem Sekretär. »Kaiser und König müssen erfahren, was heute hier geschehen ist.« Der Statthalter hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Brustkorb und schien große Mühe beim Sprechen zu haben. Seine Worte wurden von keuchendem Atem begleitet und waren fast nicht zu verstehen.

»Ich kann Euch hier nicht alleine lassen«, entgegnete Philipp und sah seinen Herrn ängstlich an. Er selbst spürte stechende Schmerzen in den Ellenbogen und Knien, schien sich bei dem Sturz aber keine Brüche zugezogen zu haben.

»Das musst du aber. Wir haben noch genug Freunde in der Stadt, die uns helfen werden. Sorge dich nicht um Slavata und mich. Geh nach Wien. Dort wird man wissen, was zu tun ist, um diesem gottlosen Treiben ein Ende zu bereiten.«

Philipp sah, dass nun immer mehr königliche Soldaten und Diener auf den Graben zustürmten, um ihre Herren zu retten. Slavata wurde aufgehoben und von der Burg weggetragen. Zwei Männer stützten Martinitz, der mit dem rechten Fuß nicht auftreten konnte, und halfen ihm so bei der Flucht.

Überall um die Burg herum erklangen Schreie. Mittlerweile schien sich halb Prag am Ort des Geschehens versammelt zu haben. Wenn Philipp dem Befehl seines Statthalters nachkommen wollte, musste er den Tumult nutzen und versuchen, unbemerkt zu verschwinden.

Als er sich auf seinem linken Arm abstützte, gab dieser nach und der Sekretär fiel mit dem Gesicht in den Dreck. Die Schmerzen waren unerträglich. Benommen schaute er auf den zerrissenen und blutdurchtränkten Ärmel seiner Jacke. Am liebsten wäre er jetzt einfach im Graben liegen geblieben und hätte auf sein Ende gewartet. Nein! So wollte er nicht sterben.

Er mobilisierte seine letzten Kräfte, nahm seinen ganzen Mut zusammen und kroch aus dem Graben. Als Philipp merkte, dass sich niemand für ihn interessierte, humpelte er, so schnell es sein geschundener Körper zuließ, davon. Als er einige Minuten später die Moldau erreichte, kämpfte er gegen das Verlangen seines schmerzenden Körpers nach einer Pause an und überquerte hinkend den Fluss. Die Schreie an der Burg wurden leiser. Hinter sich konnte Philipp keinen Menschen sehen. Er war seinen Häschern also entwischt und für den Moment mit dem Leben davongekommen.

***

In seiner Kammer packte Philipp nur die nötigsten Dinge zusammen. Er wusste, dass man ihn hier zuerst suchen würde und musste die Stadt so schnell wie möglich verlassen. Die Schmerzen in seinem Körper wurden mit jedem Schritt stärker. Seine Kleidung war an Armen und Beinen zerrissen und voller Blut von zahlreichen Schürfwunden. Es gab nichts, was der Sekretär jetzt lieber tun würde, als sich einfach auf sein Bett fallenzulassen und zu schlafen. Aber er musste sich in Sicherheit bringen.

Weniger als fünf Minuten nachdem er das Haus, in dem er lebte, betreten hatte, verließ er es wieder. Die Zeit, sich wenigstens notdürftig zu reinigen und frische Kleidung anzulegen, nahm er sich nicht. Er ging zu einem Kutscher, von dem er wusste, dass er den Statthaltern treu ergeben war. Sie vereinbarten einen Treffpunkt, der etwa einen Kilometer von der Stadt entfernt war. Bis dahin musste sich Philipp alleine durchschlagen. Es war zu gefährlich, den Versuch zu unternehmen, in der Kutsche durch die Stadttore zu fahren.

Der Weg zum vereinbarten Treffpunkt brachte Philipp an den Rand der Verzweiflung. Er stand mehrfach kurz davor aufzugeben. Mit jedem Schritt zog ihm der Schmerz durch seine Beine hoch bis zur Brust. Das Wissen darum, wie viel davon abhing, dass er Wien so schnell wie möglich erreichte, verlieh ihm jedoch die Kraft, sein Ziel zu erreichen. Graf von Thurn durfte mit seiner schändlichen Tat nicht durchkommen.

Der Kutscher erwartete ihn bereits, als Philipp schwer atmend bei dem Mann ankam. Völlig fertig stieg er in die Fahrgastzelle und ließ sich dort auf eine Bank fallen. Schlafen konnte der Sekretär aber auch jetzt nicht. Jeder Stein, über den die Räder der Kutsche holperten, versetzte seinem Körper einen schmerzenden Stich und zwang ihn dazu, sich aufzusetzen. Die Tortur endete erst, als eine gnädige Ohnmacht ihn von seiner Pein befreite.

Prag, 24. Mai 1618

»Ich kann noch immer nicht fassen, dass Ihr diesen furchtbaren Sturz überlebt habt«, sagte Polyxena von Lobkowitz und sah ihren Gast kopfschüttelnd an.

Trotz des Tumultes am gestrigen Tag war die Gräfin, wie immer wenn sie Besucher im Haus hatte, perfekt zurechtgemacht. Ihre braunen Haare waren streng nach hinten gekämmt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Sie trug ein mit Blumen besticktes Kleid, dessen Kragen ihre Wangen zur Hälfte bedeckte.

Sie hatte die beiden Statthalter nach dem Anschlag in ihrem Palais aufgenommen und für die Pflege der Verletzten gesorgt. Nun saß sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Diepold von Lobkowitz und Jaroslav Borsita Martinitz im Speisesaal ihres Anwesens. An den Wänden des Raumes zeigten kostbare Porträts die lange Geschichte der Adelsfamilie und den Reichtum der von Lobkowitzes.

»Die allerseligste Jungfrau Maria hat uns mit ihrem Mantel in den Lüften gehalten und zur Erde getragen.« Martinitz hatte seinen geschwollenen Fuß zum Kühlen in einen Wassereimer gestellt. Ansonsten hatte er den Sturz wesentlich besser überstanden als sein Kollege und lediglich ein paar Kratzer im Gesicht und an den Händen.

»Wenn das so ist, muss das böhmische Volk von dieser Rettung erfahren«, erklärte Polyxena bestimmt. »Es ist wichtig, dass die Leute erkennen, dass der katholische Glaube der richtige ist und gottesfürchtige Menschen vor den protestantischen Rebellen geschützt werden.«

»Graf von Thurn und seine Mannen werden sich auch dadurch nicht aufhalten lassen«, gab Diepold von Lobkowitz zu bedenken.

»Kaiser und König werden den protestantischen Ständen diesen Frevel nicht durchgehen lassen«, entgegnete die Gräfin. »Sei du lieber froh, dass du vor tätlichen Angriffen bewahrt wurdest. Wien muss erfahren, was hier geschehen ist. Es müssen sofort Maßnahmen getroffen werden. Nicht auszudenken, was passiert, wenn die Rebellen ihre Macht in der Stadt erst einmal gefestigt haben.«

»Unser Sekretär ist auf dem Weg dorthin«, sagte Martinitz.

»Dann hoffen wir, dass er auch dort ankommt und der Kaiser die richtigen Schritte in die Wege leitet.«

Diepold von Lobkowitz nickte zustimmend. Martinitz wusste, dass er es nicht wagen würde, sich vor anderen Personen offen gegen sein Weib zu stellen. Er selbst akzeptierte den evangelischen Glauben durchaus neben den katholischen Werten. Vermutlich hatte ihn diese Tatsache davor bewahrt, ebenfalls aus dem Fenster geworfen zu werden. Für seine Gemahlin galt diese Einstellung aber genauso wenig wie für Martinitz und Slavata.

»Wie geht es unserem geschätzten Kollegen?«

»Er schläft noch und erholt sich von den Verletzungen«, antwortete die Gräfin. »Ihn hat es deutlich ärger getroffen als Euch.«

»Slavata hat sich an dem steinernen Gesims des untersten Fensters angestoßen und ist im Graben mit dem Kopf auf einen Stein gefallen. Ich bete zu Gott, dass er bald erwacht und eine schnelle Genesung erfährt.«

»Das hoffen wir alle«, sagte Diepold von Lobkowitz.

In der Tat hatte es Slavata von allen drei Opfern am schlimmsten erwischt. Martinitz selbst würde zwar noch ein paar Tage unter den Schmerzen leiden, im Vergleich zu seinem Amtskollegen ging es ihm aber den Umständen entsprechend gut.

»Was gedenkt Ihr nun zu unternehmen?«, fragte die Gräfin und sah Martinitz herausfordernd an. »Im Moment dürfte es zu gefährlich sein, Euch offen in den Straßen Prags blicken zu lassen.«

»Das ist es in der Tat«, gab Martinitz zu. »Wir müssen auf Hilfe aus Wien hoffen. Ansonsten sind wir mit unseren wenigen treu ergebenen Soldaten den protestantischen Ständen hoffnungslos unterlegen. Bis dahin bitte ich Euch, mir und dem Grafen Slavata weiterhin Eure Gastfreundschaft zu gewähren.«

»Die habt Ihr, solange es von Nöten ist«, antwortete Polyxena. »Graf von Thurn wird es nicht wagen, ohne meine Erlaubnis auch nur einen Fuß in mein Haus zu setzen. Hier seid Ihr sicher.«

»Dafür bin ich Euch sehr dankbar. Darüber hinaus werden wir noch eine Möglichkeit finden müssen, zu erfahren, was die protestantischen Stände unternehmen und was in der Burg vor sich geht.«

»Darum werde ich mich kümmern, Martinitz«, sagte Diepold von Lobkowitz. »Im Gegensatz zu Euch kann ich mich frei in der Stadt bewegen. Von Thurn kann unmöglich alle katholischen Adeligen aus dem Weg schaffen, und ich denke auch nicht, dass dies seine Absicht ist. Ferdinand ist der wahre Feind der Protestanten. Nach seiner Wahl zum König von Böhmen hat er klar gegen den evangelischen Glauben Stellung bezogen und den Majestätsbrief in Frage gestellt. Damit hat er die Stände gegen sich aufgebracht und die Rebellion provoziert.«

»Sei trotzdem vorsichtig«, sagte Polyxena. »Niemand kann sagen, wie die Prager Bürger auf den gestrigen Tag reagieren werden. Wenn die Stimmung hochkocht, ist niemand mehr sicher.«

»Mach dir um mich keine Gedanken. Unser Volk ist zu großen Teilen katholisch. Es werden längst nicht alle gutheißen, was in der Prager Burg geschehen ist.«

Martinitz sah Diepold von Lobkowitz nach, als dieser den Raum verließ. Er wusste, dass sich der Mann nicht so leicht in Gefahr begeben würde. Eher redete er Graf von Thurn nach dem Mund, als dass er seinen eigenen Wohlstand riskierte. Martinitz selbst war zur Untätigkeit gezwungen. Für ihn war der einzige sichere Platz das Anwesen der Gräfin von Lobkowitz. Die Tatsache, dass die ihm vermutlich die meiste Zeit über Gesellschaft leisten würde, um etwas Abwechslung in ihr ansonsten tristes Leben zu bekommen, machte es für Martinitz wesentlich leichter, seine derzeitige Lage zu ertragen. Auch wenn die Gräfin die Fünfzig bereits überschritten hatte, sah man ihr dieses Alter keineswegs an. Außerdem war Polyxena klug und ließ sich nicht so leicht etwas vormachen.

***

»Warum habt Ihr selbst nicht den Vorsitz übernommen?«, fragte Graf Wenzel Wilhelm von Ruppau, sah sein Gegenüber stirnrunzelnd an und wischte sich mit der Hand eine der wenigen schon lange ergrauten Haarsträhnen weg, die noch auf seinem Kopf wuchsen.

»Ihr seid für diese Aufgabe besser geeignet als ich«, antwortete Graf Matthias von Thurn. »Wir haben heute die Macht in dieser Stadt übernommen. Wenn wir diese behalten wollen, werden wir nicht umhin kommen, uns gegen einen Angriff der kaiserlichen Armee zu rüsten. Der wird früher oder später kommen.«

»Ihr wollt einen Krieg gegen das Kaiserreich führen?«

»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. König Ferdinand wird die gestrigen Ereignisse nicht ohne weiteres hinnehmen und den Kaiser davon überzeugen, unsere Rebellion niederzuschlagen. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Daher sehe ich es als meine Aufgabe an, eine Armee aufzustellen und deren Oberbefehl zu übernehmen.«

»Ich sehe ein, dass dies notwendig ist«, sagte von Ruppau. »Dennoch erhoffe ich mir, zu einer friedlichen Lösung mit dem Kaiser zu gelangen.«

»Solange Ferdinand König von Böhmen ist, wird dies nicht gelingen.«

»Also wollt Ihr ihn absetzen?«

»Zunächst müssen wir Zeit gewinnen. Noch steht ein Großteil des katholischen Adels auf unserer Seite. Wir müssen unsere Macht stärken. Matthias wird nicht mehr ewig leben. Sollte Ferdinand dann zum neuen Kaiser gewählt werden, wird es einen Krieg in Böhmen geben.«

Die beiden Männer saßen allein im Sitzungssaal der Prager Burg, in dem tags zuvor noch die Statthalter ihre Arbeit verrichtet hatten, um die weiteren Schritte zu planen. Von Thurn war fest entschlossen, Ferdinand zuvorzukommen und wenn nötig, sogar mit einem Heer nach Wien zu ziehen. Mit ihrem Aufstand hatten sie eine Rebellion ausgelöst. Wenn sie jetzt kleinbeigaben, würde die Stellung der Protestanten in Böhmen noch schwächer werden, als sie es vorher gewesen war. Das durfte nicht geschehen.

Von Thurn wollte von Ruppau allerdings jetzt nicht zu viel von seinen Plänen mitteilen. Wichtig war es zunächst, Ordnung in die Regierung der Stadt zu bekommen. Alles Weitere würde er dem Vorsitzenden des neuen Direktoriums später erklären. Er hielt von Ruppau für einen intelligenten Mann, der sich darauf verstehen würde, die Geschicke des Landes in die Hand zu nehmen. Von Thurn durfte nicht riskieren, dass er vor der Größe seiner Aufgabe kniff und sich doch noch auf die Seite von König Ferdinand schlug. Dann wäre alles umsonst gewesen.

Im Sitzungssaal der Prager Burg hatten die Aufständischen in einer Versammlung ein Direktorium gewählt, in dem jeweils zehn Vertreter des Adels, der Ritter und der Bürger der Stadt ihren Platz fanden. Zum Vorsitzenden des Gremiums war Graf Wenzel Wilhelm von Ruppau gewählt worden. Damit waren die Statthalter des Königs abgesetzt.

»Ich erwarte regelmäßig Berichte über den Fortgang bei der Erstellung des Heeres«, sagte von Ruppau nach einer Weile.

»Selbstverständlich«, antwortete von Thurn. »Schließlich seid Ihr der Regent dieser Stadt.«

***

»Was ist passiert?«, fragte Philipp Fabricius und schaute verwirrt in das Gesicht einer ihm unbekannten jungen Frau, die über ihn gebeugt stand. »Wo bin ich hier? Wer seid Ihr?«

»Ihr stellt viele Fragen auf einmal«, antwortete die Unbekannte tadelnd. »Ich bin Magdalena Lava. Ihr seid hier in Sicherheit. Mehr braucht Ihr im Moment nicht zu wissen.«

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Einen ganzen Tag. Es ist fast Abend.«

Philipp sah sich in dem Raum, in dem er untergebracht war, um. Neben dem Bett stand eine schlichte Holztruhe, ansonsten war das Zimmer leer, aber sehr sauber. Nur langsam kehrten seine Erinnerungen wieder zurück. Die schrecklichen Szenen, die sich in der Prager Burg abgespielt hatten, nahmen in seinem Geist Gestalt an. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Der Anschlag auf die Statthalter und ihn selbst, seine Flucht aus der Stadt. Der Kutscher musste ihn in ein Gasthaus gebracht haben. Sicher hatte der Mann Angst gehabt, dass ihm sein Fahrgast unterwegs verstarb und hatte die Reise deshalb unterbrochen.

»Ich muss so schnell wie möglich weiter«, sagte er mit müder Stimme. Erst jetzt merkte er, wie ausgetrocknet sein Mund war. Obwohl er in einem Bett lag und man ihn dick zugedeckt hatte, fror er entsetzlich. Egal wie schwer ihm aber der weitere Weg nach Wien fallen würde, er durfte nicht hierbleiben.

»Ihr müsst zunächst wieder zu Kräften kommen«, entgegnete Magdalena mit entschlossener Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Ich werde Euch nicht aus diesem Zimmer herauslassen. Zumindest heute nicht.«

»Ich habe eine wichtige Nachricht, die so schnell wie möglich in Wien ankommen muss. Wenn mein Auftrag erfüllt ist, kann ich mich immer noch ausruhen.«

»Nein. Ihr werdet mindestens noch eine Nacht in diesem Bett bleiben. Tot werdet Ihr Eure Nachricht nicht übermitteln können.«

Ein Blick in die Augen der jungen Frau reichte Philipp aus, um zu erkennen, wie ernst es ihr mit ihren Worten war. Ihm fiel auf, wie schön Magdalena war. Sie hatte lange braune Haare und ihre ebenfalls braunen Augen schienen unergründlich zu sein. Er schätzte, dass sie etwa so alt war wie er selbst. Höchstens ein Jahr jünger.

Philipp sah Magdalena weiter an. Er spürte, dass er sich sehr leicht in das zarte Gesicht mit dem herzlichen Lächeln verlieben könnte, wusste aber auch, dass dafür nicht der richtige Zeitpunkt war. In Prag hatte er sich nie viel aus den jungen Frauen gemacht. Seine Karriere als Sekretär war immer das einzig Wichtige für ihn gewesen. Jetzt hatte er das Gefühl, einen Engel vor sich zu haben.

Er versuchte sich aufzusetzen, legte sich aber sofort wieder zurück auf das Kissen, als sein Körper an fast allen Stellen zu schmerzen begann.

»Seid Ihr immer noch der Meinung, dass Ihr heute weiterreisen wollt?«, fragte Magdalena und sah ihren Gast mitfühlend an.

»Es geht nicht darum, was ich will. Ich muss so schnell wie möglich nach Wien. Mein Name ist übrigens Philipp Fabricius.«

»Ich weiß. Das hat mir der Kutscher bereits gesagt.«

»Wo ist er?«

»Unten im Schankraum.«

»Könnt Ihr ihm sagen, dass er die Pferde einspannen soll?«

»Nein. Ihr werdet heute nicht mehr abreisen. Es wird bald dunkel und dann ist die Fahrt viel zu gefährlich. Wir leben in unsicheren Zeiten. Sicher wollt Ihr nicht mit irgendwelchen Wegelagerern darüber streiten, ob sie Euch weiterfahren lassen oder nicht. Schon gar nicht in Eurem Zustand. Ich werde Euch jetzt eine Suppe holen. Wenn Ihr nicht mehr im Bett liegt, wenn ich wiederkomme, binde ich Euch daran fest.«

Magdalena wartete Philipps Antwort nicht ab und verließ den Raum. Der Sekretär nutzte die Gelegenheit, seinen Körper näher zu untersuchen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er bis auf ein paar Verbände völlig unbekleidet war. Er konnte nur hoffen, dass es der Kutscher gewesen war, der ihn ausgezogen hatte und nicht Magdalena. Danach fragen würde Philipp allerdings nicht, seine Lage war peinlich genug.

Trotz seiner beginnenden Kopfschmerzen und der immer noch großen Müdigkeit zwang sich Philipp dazu, wach zu bleiben. Ihm war klar, dass er höchstens eine Tagesreise von Prag entfernt war. Er war also noch lange nicht außer Gefahr. Magdalena musste ihm mehr über sich erzählen. Er wollte nicht befürchten müssen, dass sie ihn nach einem falschen Wort an einen protestantischen Adeligen verriet.

Die junge Frau kehrte schneller zurück, als Philipp erwartet hatte. In der Hand hielt sie eine Schale mit einer dampfenden Flüssigkeit.

»Ich habe Euch eine Hühnerbrühe warm gemacht.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Ihr müsst etwas essen, wenn Ihr wieder zu Kräften kommen wollt.«

»Kann ich bitte zunächst einen Becher Wasser bekommen?«

»Natürlich.«

Philipp setzte sich leicht auf, und Magdalena legte das Kissen so zurecht, dass er sich mit dem Kopf darauf abstützen konnte. Dann hielt sie ihm einen Becher mit Wasser an die Lippen.

»Danke«, sagte Philipp, nachdem er ein paar kleine Schlucke getrunken hatte. »Erzählt mir, wo ich hier bin.«

»Wir sind im Gasthaus meiner Eltern. Es liegt etwas abseits der Handelsroute, wird aber häufig von Reisenden besucht. Im Moment seid Ihr und Euer Kutscher die einzigen Gäste.«

»Warum seid Ihr noch hier?«

»Wie meint Ihr das?«

»Eine so hübsche Frau hat doch sicher zahlreiche Verehrer. Warum seid Ihr bei Euren Eltern geblieben?«

»Weil sie mich brauchen. Außerdem war bisher kein Mann hier, der es wert gewesen wäre, mit ihm fortzugehen. Ich bin katholisch erzogen und werde nicht mit dem erstbesten Kerl mitgehen, der mich umwirbt. Und jetzt wird gegessen.«

Philipp musste innerlich lächeln, als er sah, dass Magdalena leicht errötet war. Dabei hatte er sie mit seinen Fragen nicht kokettieren wollen. Er wusste jetzt aber, dass sie den richtigen Glauben hatte und ihn sicher nicht an die Protestanten verraten würde. Die Wirtstochter nahm einen Löffel mit Suppe und hielt ihn an seinen Mund. Die Brühe war warm, aber nicht zu heiß. Philipp spürte schnell, wie gut es ihm tat, etwas davon zu essen. Als die Schale zur Hälfte leer war, konnte er nicht mehr.

»Ihr müsst jetzt schlafen«, erklärte Magdalena bestimmt. »Ich werde zwischendurch immer wieder nach Euch schauen. Wenn das Fieber morgen verschwunden ist, könnt Ihr Eure Reise fortsetzen.«

***

»Den Kerl muss uns die Heilige Jungfrau Maria persönlich geschickt haben«, sagte Jakub Lava und rieb sich die schwieligen Hände.

»Wie kommst du darauf?«

»Er wird uns unsere Sorgen nehmen, mein Kind.«

Magdalena saß mit ihren Eltern in der Küche beim Essen. Es gab einen Gemüseeintopf mit einem Rest Hühnerfleisch vom Vortag. Die Einrichtung war karg. Die Familie hatte gerade das Nötigste, um sich mit ihrem Gasthof am Leben zu halten. Magdalenas Eltern standen die Sorgen ins Gesicht geschrieben. Die langen arbeitsreichen Jahre hatten sie gezeichnet. Johannas Haare waren ergraut, Jakub hatte schon lange keine mehr. In den letzten Wochen waren nur wenige Besucher gekommen. Überall im Reich war zu spüren, dass sich die Lage zwischen den Protestanten und dem böhmischen König zuspitzte. Die Familie wusste nicht genau, was am gestrigen Tag in Prag vorgefallen war. Der Kutscher, der am späten Abend mit seinem kranken Fahrgast bei ihnen angekommen war, hatte von einer Rebellion in der Stadt gesprochen.

»Die Zeiten sind schwer«, sprach Jakub weiter. Er stand auf, ging zu seiner Tochter und legte ihr die Hände auf die Schulter. »Die Leute sprechen von einem möglichen Krieg. Wir haben keine Ersparnisse mehr und werden das Gasthaus nicht behalten können, wenn niemand mehr zu uns kommt und für Essen und Unterkunft bezahlt. Unser Gast scheint eine wichtige Person zu sein. Sicher hat er genug Geld, um uns für unsere Mühen großzügig zu entlohnen.«

»Er sagt, dass er so schnell wie möglich nach Wien reisen muss«, sagte Magdalena. »Wir können ihn nicht lange gegen seinen Willen in unserem Haus festhalten.«

»Das habe ich auch nicht gesagt. Wenn er wirklich eine wichtige Botschaft für den Kaiser hat, dürfen wir seine Mission nicht in Gefahr bringen. Im Gegenteil: Wir müssen ihm helfen! Je schneller die Rebellion der Protestanten niedergeschlagen wird, umso eher kehrt der Friede in unser Reich zurück. Und damit auch die Besucher in unser Gasthaus.«

Magdalena sah ihren Vater nachdenklich an. Normalerweise sprach er nicht viel. Selten hatte sie ihn so lange reden hören. Dennoch verstand sie nicht, was genau sie tun sollten. Sie schaute zu ihrer Mutter, die ihrem Blick jedoch auswich. In diesem Moment wusste sie, dass ihre Eltern bereits eine Entscheidung getroffen hatten.

»Was soll ich tun?«

»Du fährst mit diesem Fabricius nach Wien und sorgst dafür, dass er unterwegs nicht stirbt.«

»Ihr schickt mich weg?« Magdalena sah ihren Vater entsetzt an. Warum wollte er, dass sie das Gasthaus verließ?

»Nein, mein Kind. Du sollst ja nicht in Wien bleiben. Der Sekretär aus Prag wird dich aber großzügig für diesen Dienst entlohnen. Vielleicht schaffen wir es mit dem Geld, unser Gasthaus zu behalten.«

»Was, wenn Fabricius nicht will, dass ich ihn begleite?«

»Es wird dir schon etwas einfallen, wie du ihn überzeugen kannst. Die Entscheidung ist gefallen. Ihr werdet morgen aufbrechen.«

***

Als Philipp am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich zwar deutlich besser, merkte aber, dass er immer noch Fieber hatte. Die Prellungen, die er sich bei dem Sturz aus dem Fenster zugezogen hatte, schmerzten nach wie vor bei jeder Bewegung. Am meisten machte ihm sein linker Ellenbogen zu schaffen. Noch immer konnte er den Arm kaum bewegen. Als er sich aufsetzte, spürte er leichten Schwindel, kämpfte aber dagegen an. Er musste seine Reise heute fortsetzen. Egal wie schwer ihm das auch fallen mochte.

Durch das Fenster fielen die ersten Sonnenstrahlen, und Philipp konnte sich in dem Zimmer umsehen. Er erschrak, als sein Blick plötzlich auf Magdalena fiel, die neben seinem Bett auf einem Stuhl schlief. Hatte sie etwa die ganze Nacht bei ihm gesessen?

Die Wirtstochter schien zu bemerken, dass Philipp sie beobachtete, und öffnete die Augen.

»Geht es Euch besser?«

»Ein bisschen.« Philipp stellte die Beine auf den Boden und wollte aufstehen, als ihm einfiel, dass er unbekleidet war. Verlegen sah er Magdalena an. »Wo sind meine Sachen?«

»Sie waren völlig verdreckt. Meine Mutter hat sie gewaschen und die Löcher gestopft. Ich kann sie Euch holen.« Magdalena machte keine Anstalten aufzustehen und sah Philipp stattdessen skeptisch an. »Wollt Ihr heute wirklich aufbrechen? In Eurem Zustand werdet Ihr Wien nicht lebend erreichen.«

»Ich habe Euch doch gesagt, dass ich dringend dorthin muss. Ich habe eine sehr wichtige Nachricht für den Kaiser. In Prag gab es einen Aufstand und er muss so schnell wie möglich davon erfahren. Ich kann nicht länger bleiben.«

»Werdet Ihr später nach Prag zurückkehren?«

»Ich habe es vor.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Ich weiß es nicht genau. Eine Woche vielleicht. Höchstens zehn Tage.«

»Dann werde ich Euch begleiten.«

»Ihr werdet was?« Philipp sah Magdalena überrascht an. Er hatte damit gerechnet, von ihr weitere Vorträge zu hören, dass er so krank nicht weiterreisen konnte, nicht aber mit diesem Vorschlag.

»Ihr müsst heute weiter. Das verstehe ich. Allein werdet Ihr Euer Ziel aber nicht erreichen.«

»Der Kutscher ist bei mir.«

»Er wird sich nicht um Euch kümmern können. Ihr habt die Wahl. Entweder bleibt Ihr hier, oder ich komme mit.«

»Das wollt Ihr wirklich tun?« Noch immer war Philipp von Magdalenas Vorschlag völlig überrascht. Auch wunderte er sich darüber, wie selbstsicher die junge Frau ihm gegenüber auftrat. Offensichtlich wusste sie genau, was sie wollte.

»Ja. Natürlich mache ich das nicht umsonst. Pro Tag, an dem wir unterwegs sind, zahlt Ihr meinem Vater einen Taler. Die ersten sieben bekommt er im Voraus.«

Ach, daher weht der Wind, dachte Philipp und lächelte Magdalena an. »Wie kommt Ihr darauf, dass ich so viel Geld habe?«

»An Eurer Kleidung kann man erkennen, dass Ihr nicht arm seid. Auch wenn die Sachen in einem erbärmlichen Zustand sind, müssen sie einmal teuer gewesen sein. Wenn Ihr so ohne Weiteres beim Kaiser vorgelassen werdet, bekleidet Ihr sicher ein hohes Amt.«

Dumm ist sie nicht. Philipp musste zugeben, dass ihm der Gedanke, die weitere Reise gemeinsam mit Magdalena anzutreten, durchaus gefiel. »Was wird Euer Vater dazu sagen?«

»Er ist einverstanden. Wir brauchen das Geld.«

»Ihr habt also bereits mit ihm gesprochen.«

»Ja. Ich wusste, dass ich Euch nicht würde überzeugen können, noch eine weitere Nacht hierzubleiben.«

Wieder musste Philipp anerkennen, dass Magdalena sehr genau wusste, was sie wollte. Natürlich ging es ihrer Familie um die Bezahlung. Er konnte sich gut vorstellen, wie schwer es sein musste, mit den Einnahmen aus dem Wirtshaus zu leben. Es kamen sicher weniger Gäste hierher, als Magdalena zugegeben hatte. Den geforderten Preis konnte er bezahlen. Später würde er das Geld von Slavata oder Martinitz zurückverlangen.

»Könnt Ihr mir dann jetzt bitte meine Sachen holen?«

Magdalena musste lachen. Sofort verliebte sich Philipp in den Klang. Er würde alles daran setzen, die junge Frau während der nächsten Tage für sich zu gewinnen. Der Weg nach Wien war weit, und er war fest entschlossen, die Zeit zu nutzen.

Eine Stunde später saßen Philipp und Magdalena in der Küche. Die Wirtsleute hatten dem Sekretär noch ein reichhaltiges Frühstück aufgetischt, von dem er allerdings nicht viel essen konnte. Jakub Lava hatte sich von dem Sekretär die sieben Taler auszahlen lassen und ihn eindringlich gewarnt, gut auf seine Tochter aufzupassen. Philipp hatte dem Mann versichert, dass seiner Tochter nichts geschehen würde. Von Johanna Lava bekamen sie noch ein gut gefülltes Paket mit Reiseproviant. Dann stand der Abfahrt nichts mehr im Wege.