cover

Westend Verlag

Ebook Edition

Amos Oz
Avraham Shapira

Man schießt und weint

Gespräche mit israelischen Soldaten nach dem Sechstagekrieg

Westend Verlag

Originaltitel: Siach Lochamim

Aus dem Hebräischen übersetzt von Susanne Euler

Diese Neuausgabe folgt der ersten deutschen Ausgabe Gespräche mit israelischen Soldaten, erschienen 1970 im Joseph Melzer Verlag, Frankfurt

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-659-0

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Amos OzMan schießt und weint
Einführung in die deutsche Ausgabe
Die Übersetzung
Ich hatte kein schlechtes Gewissen, als ich zu schießen begann – doch freute ich mich, als er entkam …
Es herrschte ein Gefühl, dass jeder alles hergeben würde
Für mich begann der Krieg …
Bereitschaft, Spannung und die Sorge um Zuhause
Zionismus
Kampfgeist
Über die Freundschaft und den Mangel an Alternativen
Ich habe gar nicht an Krieg gedacht …
Angst
Die historische Tat und die Gemeinschaft der Soldaten
Du fürchtest dich bis zur ersten Kugel …
Jetzt weiß ich, was Krieg ist
Donnerstag bei Sonnenaufgang
Es war in El-Arisch
Du fühltest, dass die Jungs zu allem, was passieren würde, bereit waren
Avi Porath In Maayan Harod
Ich machte mir Gedanken über den Tod
Geschmack des Lebens und Geruch des Todes
Im Tal des Todes
Rivka NaidetHeute kann ich nicht lächeln, vielleicht morgen
Was ist Heldentum?
Der Krieg ist ein Maßstab für alle Ereignisse im Leben
Vom Charakter und der inneren Bilanz
Gemischte Gefühle
Ein scheußliches Gefühl
So einen Befehl hätte ich unter allen Umständen verweigert
Schande ist die richtige Bezeichnung
Vom Gewissen und von der Moral
Recht und Macht
Tausend Formen der Moral
Der Völkermord und der Sechstagekrieg
An Volk und Land gefesselt
Wir lehrten unsere Söhne, einen gefahrvollen Weg zu gehen
Brief an einen ägyptischen Jungen11
Ich begann zu spüren, dass der Krieg bei mir zu Hause war
Heilig ist das, wofür du dein Leben opfern würdest
Jerusalem
Ich will nie wieder zurück
Heute Nacht machen wir Geschichte!
Ringsum Zerstörung – und vor dir eine Pflanze im Blumentopf
Ich muss mal hingehen und es berühren
Re‘uben Kohen Konflikte
Amos Oz Eine fremde Stadt
Jerusalem meiner Kindheit Muki Tsur
Der dritte oder der letzte Krieg – das ist die Frage
Ich hatte viele Träume
Und die Welt geht ihre Wege
Der Krieg änderte die Proportionen
Du suchst nach etwas Verborgenem
Verschwendung der Bereitwilligkeit
Die Feindseligkeiten werden andauern
Uns selbst finden
Menachem Shelach Zurück
Anmerkungen

Amos Oz
Man schießt und weint

In Hulda fiel ein Sohn, ein Fallschirmspringer. Nachdem ich vom Krieg zurückgekehrt war, ging ich zu seinen Eltern. Einige Freunde waren da. Die Mutter weinte. Der Vater biss auf seinen Lippen herum. Jemand von den Alten versuchte, sie zu trösten, und sagte: »Schaut, wir haben doch, trotz allem, Jerusalem befreit … Er ist doch nicht umsonst gefallen.« Da brach die Mutter in Heulen aus und schrie: »Die ganze Westmauer ist mir nicht einen Fingernagel von Micha wert.« Wenn du mir sagen würdest, dass wir um unsere Existenz kämpften, dann hatte sein Opfer einen Sinn. Wenn du mir aber sagst, wir hätten um die Mauer gekämpft, dann nicht. Verflixt, ich habe eine Beziehung zu diesen Steinen … doch es sind nur Steine. Und Micha war ein Mensch. Und wenn man heute die Westmauer mit Dynamit sprengen würde und dies Micha wieder lebendig machte, dann würde ich sagen: »Sprengt!«

Alles fing an mit einer Unterhaltung zwischen mir und Avraham Shapira. Das Gespräch, bei dem vielleicht dieses Buch geboren wurde, es entstand aus dem gemeinsamen Gefühl, als nach dem Sechstagekrieg im Land ein Art Siegesrausch herrschte: Das Land schäumte regelrecht über und die Euphorie kannte keine Grenzen. Siegesalben, Siegesbücher, Siegeskult, Heldenkult, Nationalkult, Kult um die heiligen Orte. Doch kein Mensch sprach vom menschlichen Leid und erst recht nicht vom besiegten Feind. Wir hatten das Gefühl, dass man von Mensch zu Mensch gehen und erfahren muss, was die Kämpfer auf dem Schlachtfeld erlebt hatten und was sie nach dem Schlachtfeld erlebten.

Bei dieser ersten Begegnung wussten wir noch nicht, dass daraus ein Buch werden sollte, und sprachen nicht über eine mögliche Veröffentlichung. Nur diese Idee, mit den Menschen über das zu reden, was sie im Krieg erlebt hatten, wurde bei dieser Unterhaltung geboren.

Die Schlüsselfrage war: Was habt Ihr gefühlt? Die einzigen Gefühle, die in der Öffentlichkeit zum Ausdruck kamen, waren Gefühle der Euphorie, der Ekstase, des Siegesrausches. Es gab natürlich auch die Eltern, die ihre Söhne verloren hatten, und man hatte sie zu Wort kommen lassen und ihnen zugehört. Es gab ihren Schmerz, aber irgendwie wurde dieser Schmerz von den Siegesfeiern verdeckt. Vielleicht ist das bis zu einem gewissen Punkt sogar verständlich: Das jüdische Volk, das fast 2 000 Jahre lang keine militärische Macht besaß und oft Opfer derselben wurde, stellte plötzlich fest, dass es plötzlich selbst Macht besaß. Da war es fast menschlich, dass es sich berauschte, als es feststellte, dass diese Macht Erfolge bringen, ja, Wunder bewirken konnte. Es nahm auch nicht wunder, dass diese Macht den Menschen zu Kopf stieg und sie außer sich waren.

Auch ich kannte diese Gefühle der Freude und Befreiung: In nur wenigen Tagen wurde aus der Angst der bevorstehenden Vernichtung die Freude über einen fast übernatürlichen Sieg – wir alle empfanden das wie ein Wunder. Doch bei unseren Treffen für Gespräche mit israelischen Soldaten (Anm. d. Übersetzers: Titel der deutschen Erstauflage) wurde deutlich, dass wir alle auch andere Gefühle hatten und darüber sprechen wollten.

Bei den Versammlungen in den Kibbuzim kamen diese Gefühle nicht vor und auch nicht in den Zeitungsinterviews. In den Zeitungen konnte man vor allem lesen: Es gab einen Flankenangriff von rechts, einen Flankenangriff von links, wir haben einen Hinterhalt gelegt, wir haben sie überwältigt, es war sehr schwer, es gab einen grausamen Kampf. Die andere Seite fand keine Beachtung, nirgends, nicht in den Zeitungen, nicht in den öffentlichen Gesprächen – allenfalls in persönlichen Gesprächen zwischen Freunden. Ich weiß es nicht, da diese Gespräche von Natur aus privat sind. Ich vermute aber, dass viele Kämpfer nach ihrer Heimkehr vom Krieg auch die Gefühle der Qual mit ihren Freundinnen oder Frauen geteilt haben. Das Wort »Qual« ist hier ein sehr wichtiges Wort. Es ist gewissermaßen ein Schlüsselwort im Text von Gespräche mit israelischen Soldaten. Denn es gab diese Qual.

Ich weiß nicht, ob wir die Zukunft vorhergesagt haben. Wir erlebten die Gegenwart und sahen, dass diese nicht so einfach war, wie es die allgemeine Stimmung suggerierte. Die Menschen dachten, dass es Frieden geben würde und sich die Araber schon damit abfinden werden, dass sie machtlos sind und ihre Niederlage schließlich akzeptieren. Vielleicht werden wir sogar weitere Gebiete einnehmen – wir haben Jerusalem befreit, wir haben die heiligen Stätten befreit, wir sind bis Scharm el-Scheich gekommen! Im Gegensatz zur allgemeinen Empfindung, dass jetzt alles gut werden würde, hatte ich das Gefühl, dass das, was zu Ende ging, eigentlich erst der Anfang gewesen war. Ich hatte das Gefühl, dass das Blutvergießen und das Leid nicht zu Ende waren.

Ich werde etwas erzählen, was in Gespräche mit israelischen Soldaten nicht vorkommt. Am ersten Kriegstag, am 5. Juni 1967, stand ich um acht Uhr morgens zwischen den gepanzerten Fahrzeugen in der Division von General Tal auf der Straße nach Rafiach – eine halbe Stunde später rollten wir hinter den Panzern und allen übrigen Fahrzeugen in die Stadt ein. Und da sah ich zum ersten Mal einen toten Menschen in diesem Krieg: Am Wegesrand lag ein getöteter ägyptischer Soldat auf dem Rücken. Seine Gliedmaßen waren weit ausgebreitet und seine Augen noch offen. Ich sah ihn an und sagte: »Ich werde in meinem Leben nie wieder essen und trinken können.« Nicht länger als sechs oder sieben Stunden später stand ich in Scheich Zawid, umgeben von ägyptischen Gefallenen. Ich trank Wasser aus meiner Feldflasche und hörte der Musik aus dem Transistor zu. Die Verwandlung, die ich in diesen sieben Stunden erlebt hatte, diese Verwandlung war unbegreiflich.

Ich kann mich an noch etwas erinnern. Ich erinnere mich, wie ich mit einigen anderen Soldaten am Abhang einer Sanddüne im Sinai sitze. Das war am ersten Tag des Krieges, und plötzlich wird auf uns von der nächsten Düne mit einem Mörser geschossen. Natürlich legten wir uns flach hin und suchten Schutz. Ich sah die Menschen, die auf mich schossen. Und was war mein erster Instinkt? Nicht Feuer erwidern, nicht abhauen, nicht nach Verstärkung rufen, sondern: die Polizei rufen! Ich dachte, diese Menschen sind nicht normal, sie kennen mich nicht, warum schießen sie auf mich? Dieser Instinkt, die Polizei zu rufen, war eigentlich vollkommen normal. Aber alles, was danach kam, war nicht mehr normal. Es kam der Wahnsinn des Krieges. Aber dieser Instinkt, die Polizei zu rufen, fremde Menschen schießen auf mich, das war ein völlig normaler Instinkt. Das war der letzte Rest der zivilen Ordnung, der zivilen Moral.

Ich erinnere mich an die Tage, als das Buch herauskam. Ich kann mich an die Angriffe auf das Buch erinnern, allerdings nicht mehr, von wem sie kamen. Man sagte, es sei ein schwarzmalerisches Buch, man sagte, es sei ein pazifistisches Buch, dass es ein Buch sei, welches die Freude am Sieg verdirbt, dass es ein verwöhntes, dass es ein schöngeistiges Buch sei – die ganze Vielfalt diffamierender Ausdrücke wurde über uns gegossen. Aber das war zu erwarten und überraschte uns nicht sonderlich. Das Buch wurde trotzdem ein Bestseller, und auch die Menschen, die es ablehnten, wollten es lesen. Ich kann mich erinnern, dass Menschen zu mir sagten: »Ich habe Gespräche mit israelischen Soldaten gelesen, und obwohl ich mich innerlich gegen das Buch aufgelehnt habe, blieb ich nicht gleichgültig.« Darüber habe ich mich sehr gefreut. Wenn mir jemand sagt, dass er nicht gleichgültig geblieben sei, dann hat das Buch sein Ziel erreicht.

Die Zensoren wollten verhindern, dass die Welt ein allzu schlechtes Bild von Israel bekommen könnte. Zum Glück wurde das Buch nicht im Ganzen verboten – selbst darüber hätte ich mich nicht gewundert. Es wurden aber einige wichtige und besonders scharfe Stellen gestrichen. Dennoch konnte das Buch seine Mission erfüllen. Heute gibt es einige, die behaupten, dass das Buch nicht scharf genug sei, und vergessen dabei oft, dass es zensiert wurde.

Ich sehe heute in der israelischen Gesellschaft mehr Gleichgültigkeit, mehr Stumpfheit als damals. Was derzeit in den besetzten Gebieten geschieht, überschreitet zuweilen die Grenze zu Kriegsverbrechen, aber es berührt niemanden. Die Kommentare zum Geschehen in den Gebieten gleichen sich: »Wer hat ihnen erlaubt, uns zu provozieren?«; »Besatzung ist nun einmal Besatzung und kein Zuckerschlecken« oder »Es sind die anderen, die keinen Frieden wollen«. Es ist ein Mechanismus der Verdrängung und des Leugnens am Werk. Viele Menschen ignorieren einfach die Nachricht, sobald sie erkennen, dass es sich um die besetzten Gebiete handelt. Daher deckt die Presse auch nicht genug von dem auf, was in den besetzten Gebieten geschieht. Tag für Tag, Stunde für Stunde, werden Palästinenser erniedrigt, beleidigt, gedemütigt und bei den Checkpoints mit Schikanen gequält. In den arabischen Dörfern läuft der Abfluss der israelischen Siedlungen durch die Straßen. Erwachsene Menschen werden gedemütigt durch 19 oder 20 Jahre alte Soldatinnen und Soldaten, oft durch kleine, fast unsichtbare Bosheiten. Neulich hat mir jemand eine Geschichte erzählt, die sich an einem Checkpoint abgespielt hat: Ein erwachsener Palästinenser wartet, wartet und wartet, bis irgendeine junge Soldatin, vielleicht 18 Jahre alt, ihm ein herablassendes Handzeichen gibt. Allein diese Handbewegung reicht mir, um zu sagen: Das ist die Demütigung des menschlichen Antlitzes, sowohl seines als auch ihres. Ganz zu schweigen von den Morden an Palästinensern, die nicht oder nicht streng genug bestraft werden.

Ich habe noch während der Kämpfe auf dem Sinai geahnt, dass dieser Sieg zum Fundament des tiefen Hasses gegen Israel werden würde. Ich war zwar davon überzeugt, dass wir im Recht waren mit diesem Krieg, und dachte, dass wir kämpften, um uns zu verteidigen – ansonsten hätte ich mich geweigert, in den Krieg zu ziehen. Ich wusste aber, dass wir am Anfang einer langen und harten Auseinandersetzung mit der ganzen arabischen und moslemischen Welt standen. Ich wusste, dass sie unseren Sieg und ihre Demütigung uns nicht einfach vergeben würden. Ich wusste, dass dieser Krieg nicht unmittelbar zum Frieden führen würde. Ich wusste, dass dieser Frieden durch die Niederlage und Demütigung der Araber zerstört werden würde. Ich wusste auch, dass die Besatzung uns korrumpiert. In Gespräche mit israelischen Soldaten sprach ich nicht darüber, sondern in einem Artikel, den ich wenige Monate nach dem Krieg für die Zeitung Davar schrieb.

Das Gefühl der Erleichterung, das damals im Land herrschte, war verständlich, und auch ich fühlte mich erleichtert: Vorher dachten alle, wir stünden vor unserer Vernichtung, und keiner ahnte, dass wir den Krieg nach nur sechs Tagen mit einem so eindeutigen und großartigen Sieg beenden würden. Der Unabhängigkeitskrieg von 1948 hatte gerade 19 Jahre zuvor stattgefunden, und viele unter uns erinnerten sich, obwohl sie damals noch Kinder waren. Wir erinnerten uns genauso an die Belagerung, an den Hunger und an Bombardierungen, an ein Leben unter der Erde, im Bunker, wie an die Massen von Gefallenen, an die schweren Verluste und an langandauerndes Leid. Keiner glaubte, dass dieser Krieg ein Blitzkrieg werden sollte. Als es nach sechs Tagen zu Ende war, rieben sich die Menschen die Augen und waren fassungslos. Kein Wunder, dass ein ganzes Volk euphorisch wurde.

Aber meine Freunde und ich sahen die andere Seite der Medaille, wir sahen im Krieg das Leid des besiegten Feindes, wir sahen seine Erniedrigung, wir sahen den Preis, den der Feind bezahlt hatte. Und wofür eigentlich? Für die Aggressivität der arabischen Herrscher, für die Prahlerei von Nasser? Wir wussten, dass in diesem Moment Menschen aus der Westbank mit ihren Habseligkeiten, eingewickelt in Tüchern auf den Kopf, ins Exil fliehen mussten – und sahen vor unserem geistigen Auge das Bild des Bauern mit dem Stock in der Hand aus seinem Weg in die Diaspora. Wir wussten, dass er den Preis bezahlte für eine Sünde, die er nicht begangen hatte. Und dieses Gefühl brannte in uns und es war uns allen eine Qual – oder zumindest vielen von uns.

Ich kann mich an unseren Eindruck erinnern, dass uns die Shoa gleich zweimal begegnet war. Zum ersten Mal während des Wartens auf den Krieg, als viele das Gefühl hatten, dass uns eine neue Shoa treffen könnte, dass man uns vernichten würde, weil unser Feind zahlreicher und stärker war als wir, bewaffnet mit modernen sowjetischen Waffen. Gefühlt hatte die andere Seite die Zügel in der Hand und sah dem kommenden Krieg bereits siegessicher entgegen. Wir dachten, sie würden kommen und uns alle vernichten, wie in der Shoa. Das zweite Mal dachten wir an die Shoa, als wir die Karawanen der palästinensischen Flüchtlinge sahen. Einer von uns, der einst selbst ein Flüchtlingskind gewesen war, brachte es zum Ausdruck und sagte, dass er sich selbst in diesem Kind sehe, das von seinen Eltern auf den Armen getragen wird, vom verlassenen Dorf in die Diaspora. Ich selbst bin gegen solche unmittelbaren Vergleiche und war immer der Überzeugung, dass sich das Böse in der Welt auf unterschiedlichste Weise offenbart. Ich glaube, dass die Bereitschaft zur Differenzierung wichtig ist, um nicht unversehens selbst zum Diener des Bösen zu werden.

Das Lied, das damals in der Luft schwebte, hieß »Jerusalem aus Gold«, und es brachte das ganze Glück über den Sieg zum Ausdruck: das Gefühl der vollkommenen Erleichterung, die große Sehnsucht nach Jerusalem und die Freude über die Vorteile, die wir nach dem Sieg genießen würden. In diesem Lied von Naomi Shemer heißt es: »Wie vertrocknet die Brunnen sind, wie leer der Marktplatz. Keiner, der den Tempelberg besucht, in der alten Stadt … Lasst uns wieder hinabsteigen zum Toten Meer, über die Straße nach Jericho.« Kurz nach dem Krieg kritisierte ich die Verfasserin in einem Zeitungsartikel und machte meinem Ärger Luft. Der Marktplatz der Stadt war, bevor wir die Altstadt erobert hatten, nicht leer, sondern voll mit Menschen. Der Weg nach Jericho war nicht leer, täglich kamen und gingen Tausende von Menschen von Jericho nach Jerusalem und von Jerusalem nach Jericho. Die Behauptung, die Stadt sei leer gewesen, gleicht demjenigen, der in ein volles Kaffeehaus geht, nach links und rechts schaut und sagt: »Keiner ist da.« Richtig wäre es zu sagen: »Keiner meiner Freunde ist da.« Stattdessen aber: »Wie leer der Marktplatz« – es gab da eine starke ethnozentrische Neigung und eine große Bereitschaft zu ignorieren, dass es in den besetzten Gebieten einen besiegten Feind gab, dass die Gegend nicht leer war, sondern dort Millionen Menschen lebten, die von uns vergessen wurden, weil sie Araber waren.

Ich kann mich erinnern, dass während unserer Besuche für Gespräche mit israelischen Soldaten heiß diskutiert wurde und die Debatten oft bis in die Nacht andauerten. Anfänglich eher vorsichtig, öffneten sich die Leute während der Gespräche immer mehr und gaben ihre verborgenen Gefühle preis. Das war kein Entschluss, sondern verlief fast spontan. Man sagte uns etwa, dass es im Kibbuz Geva einen Kameraden gebe, der mit uns reden möchte. Also fuhren wir nach Geva. Nahman Raz versammelte eine Gruppe von Menschen, wir setzten uns hin und redeten. Dann sagte man uns, dass es eine weitere Gruppe im Kibbuz Ein Shemer gebe. In der Regel trafen wir uns zunächst mit ein oder zwei Leuten, die dann eine Gruppe anzogen, sodass die Gespräche sehr spontan und dynamisch verliefen. Am Ende unserer Reisen gab es noch etliche Kibbuzim, die wir nicht besucht hatten, und mit Sicherheit viele Menschen, die ihre Erlebnisse eigentlich erzählen wollten. Wir gingen vollkommen spontan und planlos vor. Wir haben nicht beschlossen, dass wir etwa die Negev besonders stark repräsentieren wollen oder Galiläa oder die Linken oder die Rechten. Wir fuhren tatsächlich einfach dorthin, von wo aus wir zuerst angerufen wurden.

Ich kann mich erinnern, dass ich ein wenig erschrocken war, als ich das fertige Buch in den Händen hielt. Ich hatte den Text nicht einmal am Stück gelesen, sondern jede Debatte einzeln. Ich dachte, was haben wir getan? Verderben wir etwa die Freude am Sieg? Trüben wir den nationalen Feiertag? Ich wurde unruhig, denn ich wusste, dass viele Menschen uns das Buch übel nehmen würden. Ich wusste, dass es harte Angriffe gegen uns geben würde, aber ab einem gewissen Punkt hatte ich auch das Gefühl, mit mir selbst eins zu sein: Ich war davon überzeugt, dass es gut war, die Dinge ausgesprochen zu haben, und gut, dass sie aufgeschrieben und in einem Buch erscheinen waren. Ich habe nicht damit gerechnet, dass das Buch ein Bestseller werden und man es im ganzen Land lesen würde. Genauso wenig ahnte ich, dass es in viele Sprachen übersetzt werden würde. Daran habe ich nie gedacht.

Gespräche mit israelischen Soldaten wurde zum Ursprung verschiedener Friedensbewegungen. Der Fairness halber muss man sagen, dass es schon vor Erscheinen des Buches kleine Gruppen von Friedensaktivisten gab, auch schon vor dem Sechstagekrieg – Uri Avnery etwa oder die Zeitschrift Matzpen. Darüber hinaus gab es einige kleine radikale Gruppen, die Frieden predigten und die Zweistaatenlösung vorschlugen. Aber Gespräche mit israelischen Soldaten war ein großer Schub in diese Richtung. »Peace Now« wurde 1978, zehn Jahre nach dem Erscheinen des Buches, gegründet und basiert auf den darin ausgedrückten Ideen.

Im Krieg war ich an der Sinai Front, in der Division von General Tal. Ich war ein Reservist und in einer Propagandaeinheit. Ich saß nicht in einem Panzer, aber ich sah den Krieg aus der Nähe, und in einigen Fällen hat man auch auf mich geschossen und ich habe das Feuer erwidert. Solange du auf dem Schlachtfeld bist – bis heute fällt es mir schwer, darüber zu reden –, bist du beherrscht von einem Gefühl der quälenden Last und einer ständigen Angst. Angst davor, dass dir etwas passiert. Angst davor, dass demjenigen etwas passiert, der neben dir steht. Gleichzeitig ist da eine tiefe quälende Last, irgendeine innere Stimme, die dir sagt, dass dies kein Ort für Menschen ist, ein unmenschlicher Ort.

Nach Kriegsende hatte ich eindeutig das Gefühl, dass es mit dem Sechstagekrieg nicht zu Ende sein würde, dass die Araber diese Niederlage und diese Demütigung nicht einfach schlucken würden. Sie werden sich rächen, dachte ich, um zu korrigieren, was passiert ist, und um ihr Ansehen und ihre nationale Ehre wiederherzustellen. Klar war mir auch, dass die Besatzung zu einem Fluch werden würde und die Besetzten unendlich viel leiden würden.

Ich erinnere mich, dass wir kein Problem damit hatten, einen Laster zu besteigen und bis an die äußerste Grenze zu fahren, um mit den Leuten zu sprechen. Oft waren wir bis spät in die Nacht unterwegs und nachdem wir endlich um drei oder vier Uhr morgens zurückgekommen waren, konnte ich nicht schlafen. Ich kann mich an schlaflose Nächte erinnern wegen dieser Gespräche. Sie schwirrten in meinem Kopf umher, gerade so, als ob sie in mir weitergingen und die Dinge, die hätten gesagt werden müssen, aber nicht gesagt wurden, immer weiter in mir schwelten.

Die Menschen, mit denen wir sprachen, wollten vor allem beichten. In diesem Buch kommen die innersten Gefühle zum Ausdruck – Gefühle, die Menschen normalerweise nicht offen miteinander teilen, bestenfalls im Privaten mit dem Partner oder der Partnerin, aber nicht vor einem eingeschalteten Aufnahmegerät. Ich wundere mich noch heute, dass Menschen so bereitwillig waren, sich zu offenbaren und ihre inneren Blockaden zu überwinden, ihre inneren Widerstände. Viele hatten zunächst Zweifel und fragten, was für ein Buch daraus am Ende werden sollte. Wird es unseren Staat in den Schmutz ziehen? Dennoch haben sie diese Bedenken überwunden und geredet.

Die Menschen öffneten sich, und ihre Gefühle wurden sichtbar, weit mehr, als ich erwartet hatte. Unter normalen Umständen bremst der Mensch sich selbst, im Gespräch mit anderen zensiert er sich selbst. Aber jene Gespräche waren vollkommen unzensiert – vielleicht auch weil sie in der Nacht stattgefunden haben und Menschen sich in der Nacht mehr öffnen als am Tag. So ist Gespräche mit israelischen Soldaten auch ein Buch der Nacht. Als im ganzen Kibbuz schon alle schliefen außer dem Nachtwächter, saßen wir uns im Klubhaus oder im Zimmer eines Mitglieds gegenüber und redeten. Der Kaffee kochte, und die Gespräche begannen oft mit banalen Fragen: »Wie läuft es in Geva?« – »Was ist los in Hulda?« – »Was passiert, was gibt es Neues?« – »Wer ist verwundet?« – »Wie geht es ihm?«. Dann fingen wir langsam an, über das zu reden, was wir erlebt hatten. Irgendjemand setzte an, ein Zweiter fuhr fort, und ein Dritter erzählte, dass ihm das auch passiert war oder genau das Gegenteil – und so erwärmte sich das Gespräch und die Menschen öffneten sich. Es war wie ein kleines Wunder. Vorher war ich mir nie sicher, ob die Kameraden sich offenbaren würden. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich mich offenbaren würde.

In der Zeit nach dem Krieg war ich davon überzeugt, dass man uns die Gebiete innerhalb weniger Wochen wieder wegnehmen würde. Die Großmächte würden kommen und die eroberten Gebiete annektieren. Die fanatischen Rufe nach einer Annexion der Westbank, der Golanhöhen und von Gaza sind sicher nur hysterisches Geschrei, dachte ich. Doch ich hatte mich geirrt. Zwar weiß ich, dass damals im ganzen Land eine Bewegung entstanden ist, an deren Spitze große Namen standen, Schriftsteller und Staatsmänner – Menschen, die ich respektiere und verehre. Doch ich konnte nicht verstehen, wieso diese Menschen glaubten, dass die eroberten Gebiete leer seien? Glaubten sie wirklich, dass wir allezeit über mehr als eine Million Palästinenser herrschen könnten und dass sie unsere Herrschaft akzeptieren würden? Vergaß man etwa die Lehren, die wir unter der britischen Herrschaft gelernt hatten, als wir uns gegen die Fremdherrschaft erhoben hatten? Die Geschichte lehrt uns, dass es keine Besatzung gibt, die nicht auf dem Schwert sitzt. Über diese Ignoranz gegenüber den Lehren der Vergangenheit habe ich mich damals sehr gewundert.

Ich freue mich über dieses Buch – freue mich, dass es existiert. Ich freue mich, dass diese Stimme aufbewahrt worden ist, doch ich befürchte, dass ihre Botschaft heute in Vergessenheit gerät.

Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass jede Besatzung ein Fluch ist. Ich denke, dass das, was mit uns passiert ist nach dem Sechstagekrieg – die Besatzung und die Gier nach mehr (weiteren Siedlungen, um genauer zu sein) –, ich denke, dass dies das größte Unrecht ist, das der Zionismus gebracht hat, und gleichzeitig sein größter Fehler.

Aus dem Hebräischen übersetzt von Abraham Melzer