Feynman, Richard P. Vom Wesen physikalischer Gesetze

PIPER

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Vorwort zur deutschen Ausgabe von Rudolf Mößbauer

Aus dem Amerikanischen von Siglinde Summerer und Gerda Kurz

 

Mit 33 Abbildungen

 

ISBN 978-3-492-97236-9

August 2017

© Richard P. Feynman 1965

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Character of Physical Law«, The M.I.T. Press,

Cambridge/Massachusetts, London 1967

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 1990

Covergestaltung: semper smile, München

Coverfoto: Shelley Gazin

Datenkovertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Zu den Höhepunkten im Leben einer amerikanischen Universität zählen zweifellos jene Veranstaltungen, bei denen auswärtige Redner über Themen von allgemeinem Interesse berichten. Solche Vorträge oder Vortragsserien, die sich vielleicht mit der Bezeichnung Studium Generale umschreiben lassen, sind bei Studenten und Professoren gleichermaßen beliebt, vermitteln sie doch, über den Horizont der eigenen Tätigkeit hinausgehend, Einblicke in andere Wissensbereiche und in übergeordnete Zusammenhänge. Ein Beispiel hierfür sind die alljährlich veranstalteten »Messenger Lectures« an der Cornell-Universität in Ithaca (Staat New York), einer jener privaten amerikanischen Universitäten, die landesweit die Standards setzen, an denen sich auch staatliche Universitäten messen lassen müssen.

Es war im Jahre 1964, als Richard Feynman, Professor für Theoretische Physik an dem gleichfalls privaten California Institute of Technology, an seine ehemalige Hochschule in Ithaca zurückkehrte, um dort im Rahmen von sieben »Messenger Lectures« über das Wesen physikalischer Gesetze zu berichten. Richard Feynman, oder Dick Feynman, war einer der Giganten der Physik dieses Jahrhunderts. Sein enormes weltweites Ansehen resultierte nicht nur aus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, sondern beruhte auch auf seinem großen didaktischen Geschick, das gleichermaßen Kollegen, Studenten und eine allgemeine Öffentlichkeit in seinen Bann ziehen konnte. Zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten zählen neben seinen fundamentalen Beiträgen zur Entwicklung der Quantenelektrodynamik, die ihm 1965 zusammen mit Tomonaga und Schwinger den Nobelpreis eingebracht haben, seine gleichermaßen fundamentalen Beiträge zur Theorie der schwachen Wechselwirkung und zu vielen anderen Bereichen der Physik, insbesondere die von ihm entwickelten berühmten Feynman-Diagramme, die heute in jedem Laboratorium zur übersichtlichen graphischen Beschreibung und zur mathematischen Formulierung von Reaktionen und Wechselwirkungen verwendet werden.

Generationen von Studenten in aller Welt benützen für ihr Studium die berühmten Feynman Lectures. Sie sind ein ganz ungewöhnlich gut durchdachter Querschnitt durch die Grundlagen der Physik. Die ungeheure, ihm auch von den Studenten entgegengebrachte Wertschätzung und Verehrung fand ihren Ausdruck in einem riesigen Banner, das die Studenten seiner Hochschule am Morgen nach seinem Todestag am Turm der Bibliothek anbrachten und das die Aufschrift trug: »We love you Dick«.

Ein wesentlicher Teilaspekt seiner vielfältigen Persönlichkeit war die einmalige Fähigkeit, sein tiefgehendes Verständnis physikalischer Phänomene und seine fundamentalen Einsichten an Kollegen und Schüler weiterzugeben. Auch die hier präsentierten Vorlesungen geben Zeugnis von seinen außerordentlichen didaktischen Fähigkeiten. Jeder, der wie der Autor dieser Zeilen das Glück hatte, in seiner Nähe zu arbeiten, kann den ungeheuren Verlust ermessen, den die gesamte wissenschaftliche Welt erlitt, als Dick Feynman am 15. Februar 1988 im Alter von 70 Jahren von uns ging. Er war ein ganz ungewöhnlicher theoretischer Physiker, der nicht nur souverän die mathematischen Hilfsmittel seines Metiers zu handhaben wußte, sondern darüber hinaus auch laufend bemüht war, eine Übertragung abstrakter physikalischer Gedankengänge in eine anschauliche und allgemein verständliche Sprache vorzunehmen. Es ist ja häufig ein langer Weg von der Entdeckung einer neuen physikalischen Erscheinung oder einer neuen Theorie bis hin zu ihrem vollständigen Verständnis. Die berühmte Strahlungsformel von Max Planck, zunächst auf mathematischer Grundlage entstanden und erst sehr viel später in ihrem physikalischen Gehalt erkannt, ist hierfür ein bekanntes Beispiel. Häufig ist es dann nochmals ein weiter Weg bis zu einer anschaulichen Interpretation längst bekannter physikalischer Sachverhalte. Musterbeispiele hierfür sind die Interpretationen der Einsteinschen Theorien der Relativität. Feynman war über alle Maßen befähigt und auch willens, komplizierte physikalische Gedankengänge auf einfache Weise zu deuten. Sein fortlaufendes Bemühen, physikalische Prozesse zu durchdenken, war eng verknüpft mit seiner Bereitschaft, zu jeder Zeit über jedes beliebige Problem zu diskutieren. Berühmt war ein wöchentliches Seminar, bei dem die Teilnehmer aufgefordert waren, wissenschaftliche Fragen zu stellen, deren Beantwortung er dann ohne jede Vorbereitung aus dem Stegreif formulierte.

Gleich am ersten Tag nach Aufnahme meiner eigenen Tätigkeit in Pasadena überschüttete mich Dick bei einem Mittagessen geradezu mit Vorschlägen für neue Experimente, wobei ich damals große Mühe hatte, seinem amerikanischen Akzent zu folgen. Bereits eine Woche später verbrachte ich einen ganzen Tag in dem mit einer großen Wandtafel ausgestatteten Keller seines Hauses, um seine Hilfe für die Lösung offener Probleme in Anspruch zu nehmen. Er als Theoretiker untersagte mir bei diesen Diskussionen zu meinem größten Erstaunen die Verwendung von mathematischen Formulierungen mit der Begründung, daß die Mathematik ja dann nachgeholt werden könne, wenn die Lösungen erst einmal klar wären. Dies war typisch für seine intuitive Denkweise, die ihn auch für uns Experimentalphysiker zu einem idealen Gesprächspartner machte. Ungeachtet seines leidenschaftlichen Engagements im Bereich der Physik, war Feynman keineswegs ein einseitig orientierter Mensch. Zu seinen vielen Aktivitäten gehörte unter anderem auch ein einjähriger Aufenthalt als Student am Biologie-Department seiner kalifornischen Hochschule, zählte sein professionell betriebenes Studium des Aktzeichnens ebenso wie seine effiziente Teilnahme an der Untersuchungskommission zur Aufklärung der Ursachen des Absturzes der amerikanischen Raumfähre »Challenger«.

Angesichts der inzwischen verstrichenen 26 Jahre entsprechen die hier in Übersetzung vorliegenden »Messenger Lectures« aus dem Jahre 1964 ihrem Inhalt nach natürlich nicht überall dem neuesten Stand. So gab es damals eine Fülle von Elementarteilchen, und es war noch nicht bekannt, daß alle diese Teilchen sich auf eine kleine Zahl von Grundbausteinen, die sogenannten Quarks und die Leptonen, zurückführen lassen. Ebenfalls noch nicht entwickelt waren die modernen Eichtheorien, die heute eine entscheidende Rolle bei der Deutung der in der Natur auftretenden Wechselwirkungen spielen. Feynmans Vorträge beschäftigen sich jedoch in erster Linie mit den hinter den physikalischen Gesetzen stehenden übergeordneten Prinzipien. Eben solche Prinzipien sind heute noch gültig, wenn auch ihre Erforschung in der Zwischenzeit große Fortschritte gemacht hat, Fortschritte, an denen Feynman einen nicht unwesentlichen Anteil hat. Für die meisten Menschen, die Physik in ihrer Gymnasialzeit erleben durften oder mußten, ist dieses Fach sicher ein Sammelsurium von unzusammenhängenden Erscheinungen geblieben. Es hat bei vielen gerade deswegen einen abschreckenden Eindruck hinterlassen. Auch mir ist es in dieser Hinsicht nicht anders gegangen, und wenn ich dennoch Physik studiert habe, so lag dies nur daran, daß ich doch irgendwie das Gefühl hatte, hinter dem Ganzen müsse mehr an Ordnung und Schönheit herrschen, als in der Schule vermittelt wurde.

Es sind gerade diese ordnenden Prinzipien, die Feynman in seinen »Messenger Lectures« einem allgemeinen akademischen Publikum nahebringen wollte. Werner Heisenberg machte den vergeblichen Versuch, die ganze Physik auf eine Weltformel zurückzuführen. Dick Feynman ist hier bescheidener, aber auch realistischer. Zwar ist er durchaus der Meinung, daß die zwei Kulturen C. P. Snows letztlich dadurch entstanden sind, daß ein Verständnis naturwissenschaftlicher Prozesse nur auf mathematischer Basis möglich ist und diese damit für eine der beiden Kulturen notwendig ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Doch versteht er es in seinen hier präsentierten Vorlesungen meisterhaft, unter fast vollständiger Vermeidung mathematischer Begriffe dem Leser darzulegen, welche allgemeinen Prinzipien hinter jenen Naturgesetzen stehen, wie wir sie heute kennen. Feynman befleißigte sich in allen seinen verbalen Äußerungen nie einer hochgestochenen Sprache. Er drückte sich immer einfach und klar aus. Seine Vorträge waren nie akademisch-würdevoll, sie boten vielmehr ein sprühendes Feuerwerk von Gedanken und Ideen, das seine Zuhörer intellektuell anregen und zu Begeisterungsstürmen hinreißen konnte. Leider kann das geschriebene Wort nur einen matten Abglanz von der Wirkung dieses ungewöhnlichen Lehrers und Wissenschaftlers vermitteln, der für alle, die ihn erleben durften, Vorbild war und dies auch immer bleiben wird.

Garching, im März 1990

Rudolf Mößbauer

Vorwort

Bei den sieben Kapiteln des vorliegenden Buches handelt es sich um Vorträge, die im Rahmen der von der Cornell University (USA) seit 1924 alljährlich veranstalteten »Messenger Lectures« gehalten wurden. Die Zuhörerschaft waren Studenten, die ganz allgemein mehr Vom Wesen physikalischer Gesetze wissen wollten. Den Vorlesungen lag kein ausgearbeitetes Manuskript zugrunde, sie wurden anhand einiger Notizen ex tempore gehalten.

Die von Hiram J. Messenger, Doktor und Professor der Mathematik, gestiftete Einrichtung soll der Cornell University die Möglichkeit bieten, hervorragende Persönlichkeiten aus aller Welt zu einer »Vorlesung oder Vorlesungsreihe über die Entwicklung der Zivilisation« einzuladen. Zweck der Vorträge ist, »den moralischen Standard unseres politischen, beruflichen und gesellschaftlichen Lebens zu heben«.

Im November erging die Einladung, die Vorlesungen für 1964 abzuhalten, an den bekannten Physiker und Pädagogen Professor Richard P. Feynman, ehedem selber Professor an der Cornell University, heute Professor für Theoretische Physik am California Institute of Technology und seit kurzem Ausländisches Mitglied der Royal Society. Professor Feynman hat sich nicht nur durch seinen Beitrag zum gegenwärtigen Verständnis der physikalischen Gesetze, sondern auch durch seine Fähigkeit, das Thema Nichtphysikern nahezubringen, einen Namen gemacht.

Die folgenden Kapitel sind Niederschriften der Vorträge, die Professor Feynman vor überfülltem Auditorium auf einer großen Bühne hielt, auf der er seinem bekanntermaßen durch Ausdruckskraft und Gestik mitreißenden Vortragsstil ungehindert freien Lauf lassen konnte.

Das vorliegende Buch bietet sich jenen, die die Vorlesungen am Fernsehschirm verfolgen möchten, als Führer oder Gedächtnisstütze an. Wiewohl in keiner Weise als Lehrbuch gedacht, wird es dem um ein klareres Verständnis der Gesetze bemühten Physikstudenten dank der Fülle seiner Argumente eine Hilfe sein.

Den Hörern von BBC-1 ist Richard Feynman bereits aus Philip Dalys Physiker-Sendung Men at the Heart of Matter sowie durch seinen großartigen Beitrag zu Strangeness minus three, einer der faszinierendsten Reihen über die jüngsten wissenschaftlichen Entdeckungen von 1964, bekannt.

Die Nachricht, daß der für seine Vorlesungen weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus berühmte Professor in diesem Jahr die »Messenger Lectures« halten werde, rief sofort das Science und Features Department der BBC auf den Plan. Es wurde beschlossen, die Reihe im Rahmen des Fortbildungsprogrammes der BBC-2 in Fortsetzung der Vorlesungen so namhafter Leute wie Bondi (über Relativität), Kendrew (über Molekularbiologie), Morrison (über Quantenmechanik) und Porter (über Thermodynamik) auszustrahlen.

Die von meiner Assistentin Fiona Holmes und mir nach den Vorlesungen zusammengestellte Niederschrift wurde von Professor Feynman auf ihren wissenschaftlichen Gehalt überprüft. Wir hoffen, daß das Buch Anklang findet. Mit Richard Feynman zusammenzuarbeiten, gehört zu den ersprießlichen Erfahrungen, und wir zweifeln nicht, daß Fernsehzuschauer wie Leser großen Gewinn aus diesem Projekt ziehen werden.

Alan Sleath, Producer BBC Outside Broadcasts

Science and Features Department, Juni 1965

Die BBC dankt dem Cornell University News Bureau für die Erlaubnis, Tafel 2 und dem California Institute of Technology für die Genehmigung andere, in Vorlesung 1 zugrunde gelegte Fotografien und Zeichnungen zu reproduzieren.

Studenten, die sich eingehender mit Professor Feynmans Arbeit befassen möchten, seien darauf hingewiesen, daß die vom Leiter in der Einführung erwähnten Bücher unter dem Titel The Feynman Lectures in Physics vom California Institute of Technology herausgebracht wurden.

Einführung des Vortragenden der »Messenger Lectures« 1964 durch den Rektor der Cornell University, Dale R. Corson

Meine Damen und Herren, ich habe die Ehre, Ihnen Professor Richard P. Feynman vom California Institute of Technology vorzustellen, der die diesjährigen »Messenger Lectures« halten wird.

Professor Feynman hat sich in der theoretischen Physik einen Namen gemacht und einen wesentlichen Beitrag zu der spektakulären Entwicklung der Physik in der Nachkriegszeit geleistet, war er doch maßgeblich daran beteiligt, daß Ordnung in das Durcheinander kam. Von den vielen Ehrungen und Auszeichnungen, die ihm zuteil wurden, möchte ich hier nur den Albert Einstein Award von 1954 erwähnen. Diese alle drei Jahre verliehene Auszeichnung besteht aus einer Goldmedaille und einer ansehnlichen Geldsumme.

Professor Feynman, der am M.I.T. studiert und in Princeton promoviert hat, arbeitete am Manhattan Projekt in Princeton und später in Los Alamos mit. 1944 nahm er den Ruf zum Assistant Professor in Cornell an, obwohl er sich erst nach Kriegsende hier niederließ. Neugierig, was im Protokoll über seine Ernennung stand, suchte ich die Sitzungsberichte unseres Treuhänderausschusses heraus und … fand nichts. Die späteren Eintragungen, gut zwanzig, bezogen sich auf Beurlaubungen, Gehaltserhöhungen und Beförderungen. Eine Notiz sprang mir besonders ins Auge. Am 31. Juli 1945 schrieb der Vorsitzende der Fachschaft Physik an den Dekan der Geisteswissenschaften: »Dr. Feynman ist ein hervorragender Lehrer und Forscher, wie sich so schnell kein zweiter findet.« Für ein solch ausgezeichnetes Mitglied der Fakultät erschien ihm ein Jahresgehalt von dreitausend Dollar denn doch etwas zu wenig und so schlug er eine Erhöhung um neunhundert Dollar vor. In einer Anwandlung von ungewohnter Großzügigkeit und ohne Rücksicht auf den Etat der Universität strich der Dekan neunhundert aus und macht einen runden Tausender daraus. Sie sehen, was uns Professor Feynman schon damals wert war. Ende 1945 zog Feynman dann nach Cornell und brachte fünf äußerst fruchtbare Jahre an unserer Fakultät zu. 1950 wechselte er an das Cal. Tech, über, wo er seitdem lehrt.

Bevor ich ihn selber zu Wort kommen lasse, möchte ich Sie noch etwas mit seiner Persönlichkeit vertraut machen. Vor drei oder vier Jahren übernahm er am Cal. Tech, einen Einführungskursus in Physik, der seinem Ruhm eine neue Dimension hinzufügte. Diese Vorlesungen, die das Thema auf eine herzerquickend unbekümmerte Weise angehen, liegen in zwei Bänden gedruckt vor.

Im Vorwort dieses Werks findet sich ein Foto von Feynman, das ihn beim Schlagen der Bongo zeigt. Wenn man meinen Bekannten vom Cal. Tech, glauben darf, taucht er in Los Angeles ab und an in einem Nachtlokal auf und übernimmt den Part des Trommlers; Professor Feynman allerdings bestreitet das. Eine andere Spezialität von ihm ist, Safes zu knacken. So soll er einmal an geheimem Ort ein Geheimdokument aus einem Safe entwendet und einen Zettel hinterlassen haben: »Wer könnte es wohl gewesen sein?« Auch über die Zeit, als er Portugiesisch lernte, ehe er eine Vorlesungsreihe in Brasilien hielt, gäbe es einiges zu berichten, aber das Gesagte umreißt den Mann wohl hinreichend.

So möchte ich nun noch meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, Professor Feynman wieder in Cornell begrüßen zu dürfen, und das Thema seiner Vorlesungsreihe bekanntgeben: Vom Wesen Physikalischer Gesetze. Heute abend wird er über »Das Gravitationsgesetz – Schulbeispiel für ein physikalisches Gesetz« sprechen.

1. Das Gravitationsgesetz – Schulbeispiel für ein physikalisches Gesetz

Es ist seltsam, aber in den wenigen Fällen, da ich in der Öffentlichkeit als Trommler auftrat, hat es nie jemand für nötig erachtet, meine Tätigkeit als theoretischer Physiker zu erwähnen. Wahrscheinlich, weil wir die Künste höher veranschlagen als die Naturwissenschaften. In der Renaissance forderten die Künstler den Menschen auf, sich in erster Linie mit seinesgleichen zu beschäftigen, und doch gibt es eine ganze Reihe anderer Dinge in der Welt, die unser Interesse verdienen. Selbst die Künstler schätzen Sonnenuntergänge, den Wellengang des Ozeans und den Lauf der Gestirne am Himmel. Mit Fug und Recht können wir also gelegentlich auch über etwas anderes reden. Schon die Betrachtung dieser Dinge bereitet uns ein ästhetisches Vergnügen. Darüber hinaus durchwaltet ein Rhythmus, eine dem leiblichen Auge unsichtbare Regelmäßigkeit zwischen den Naturerscheinungen die Welt, die nur durch die Analyse sichtbar wird und die wir physikalische Gesetze nennen. Ich möchte in dieser Vorlesungsreihe das allgemeine Wesensmerkmal dieser physikalischen Gesetze vorstellen. Wir begeben uns damit, wenn Sie so wollen, auf eine noch oberhalb der Gesetze selbst liegende Ebene der Verallgemeinerung. In Wirklichkeit betrachte ich die Natur dabei als Resultat detaillierter Analysen, auch wenn ich hauptsächlich über ihre allerallgemeinsten Eigenschaften sprechen werde.

Nun läuft man bei einem solchen Thema leicht Gefahr, allzu philosophisch zu werden, und in der Tat gilt es als Ausweis hoher Philosophie, sich in Allgemeinheiten auszudrücken, die jedermann begreift. Ich für meinen Teil möchte lieber etwas spezieller bleiben, denn ich will eindeutig und nicht verschwommen verstanden werden. Deshalb werde ich in der ersten Vorlesung versuchen, mich nicht nur allgemein über physikalische Gesetze auszulassen, sondern gleich ein Beispiel anführen. Daran kann ich in der Folge die allgemeinen Aussagen von Fall zu Fall festmachen und so die Realität in eine sonst allzu abstrakte Betrachtung einbeziehen. Als Beispiel für ein physikalisches Gesetz habe ich die Gravitationstheorie, die Phänomene der Schwerkraft, auserkoren. Warum gerade die Schwerkraft, weiß ich selber nicht. Dieses große Gesetz wurde jedenfalls als eines der ersten entdeckt und hat eine interessante Geschichte. Nun sagen Sie vielleicht: »Alles schön und gut, aber das ist ein alter Hut, ich möchte etwas über die modernere Wissenschaft hören.« Über die jüngere vielleicht, aber nicht über die modernere. Die moderne Naturwissenschaft steht exakt in derselben Tradition wie die Entdeckungen des Gravitationsgesetzes. Wir würden lediglich über Entdeckungen aus jüngerer Zeit reden. Ich komme mir mit einer Vorlesung über die Schwerkraft keineswegs altmodisch vor, denn bei der Beschreibung ihrer Geschichte und Methoden, der Art ihrer Entdeckung, ihrer Eigenschaft, bin ich durchaus modern.

Dieses Gesetz wurde als »die bedeutendste Verallgemeinerung« bezeichnet, »die dem menschlichen Geist je geglückt ist«, und wie Sie nach meinen einleitenden Worten bereits ahnen, geht es mir nicht so sehr um den menschlichen Geist als um das Wunder einer Natur, die sich an solch ein elegantes und einfaches Gesetz wie das der Schwerkraft halten kann. Deshalb werden wir unser Augenmerk weniger darauf richten, wie klug wir, die wir all das herausgefunden haben, doch sind, als vielmehr darauf, wie klug die Natur ist, die es befolgt.

Das Gesetz der Gravitation besagt, daß zwei Körper eine Kraft aufeinander ausüben, die umgekehrt proportional dem Quadrat ihrer Entfernung und direkt proportional dem Produkt ihrer Massen ist. Mathematisch ausgedrückt lautet das große Gesetz:

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(F = Kraft)

 

eine Konstante multipliziert mit dem Produkt der beiden Massen, dividiert durch das Quadrat der Entfernung. Füge ich nun noch hinzu, daß ein Körper auf eine Kraft durch Beschleunigung reagiert beziehungsweise seine Geschwindigkeit pro Sekunde umgekehrt proportional zu seiner Masse verändert oder, anders gesagt, daß er seine Geschwindigkeit um so mehr verändert, je geringer seine Masse ist, dann habe ich alles Wissenswerte über das Gravitationsgesetz gesagt. Alles andere entpuppt sich als mathematische Folge dieser beiden Dinge. Da ich indessen weiß, daß Sie nicht alle Mathematiker sind und deshalb die Konsequenzen dieser beiden Aussagen nicht auf Anhieb durchschauen können, möchte ich die Geschichte der Entdeckung kurz skizzieren, einige der Konsequenzen aufzeigen und darlegen, wie sich die Entdeckung auf die Weiterentwicklung der Naturwissenschaften ausgewirkt hat und welche Geheimnisse mit einem solchen Gesetz verbunden sind. Schließlich möchte ich noch einen Blick auf die von Einstein vorgenommenen Verfeinerungen werfen und soweit möglich kurz auf die Beziehung zu den anderen Gesetzen der Physik eingehen.

Die Geschichte ist schnell erzählt. Schon in der Antike hatte man die scheinbare Bewegung der Planeten am Himmel beobachtet und daraus geschlossen, daß sie zusammen mit der Erde die Sonne umkreisen. Doch mit der Zeit war diese Entdeckung in Vergessenheit geraten. Als sie später – davon unabhängig – von Kopernikus wieder gemacht wurde, erhob sich die Frage: Wie hat man sich diesen Umlauf um die Sonne genau vorzustellen? Beschreiben die Planeten einen Kreis mit der Sonne im Mittelpunkt oder irgendeine andere Kurve? Wie schnell bewegen sie sich? Und so weiter. Das zu entdecken, beanspruchte mehr Zeit. Vor allem kam es nach Kopernikus erst einmal zu heftigen Debatten, ob die Planeten und die Erde die Sonne tatsächlich umkreisten oder ob nicht vielmehr die Erde den Mittelpunkt des Universums bildete. Schließlich fand ein Mann namens Tycho Brahe[1] einen Weg, diese Frage zu beantworten. Er kam auf den Gedanken, erst einmal sehr, sehr sorgfältig zu beobachten, wo die Planeten am Himmel auftauchen, diese Beobachtungen gewissenhaft aufzuzeichnen und dann anhand dieser Aufzeichnungen die alternativen Theorien zu unterscheiden. Damit hatte er den Schlüssel zur modernen Wissenschaft gefunden. Dank diesem Einfall, die Dinge anzuschauen und die Einzelheiten aufzuzeichnen in der Hoffnung, durch die so erlangte Information auf die eine oder andere theoretische Interpretation verwiesen zu werden, begann man die Natur wirklich zu verstehen. Tycho Brahe, ein reicher Mann, der eine Insel bei Kopenhagen besaß, stattete seine Insel mit großen Messingkreisen und speziellen Beobachtungsposten aus und zeichnete Nacht für Nacht den Stand der Planeten auf. Einzig durch so harte Arbeit können wir etwas herausfinden.

Anhand dieser gesammelten Daten versuchte dann Kepler[2], die Art der Bewegung der Planeten um die Sonne zu bestimmen. Dazu bediente er sich der Methode des Ausprobierens und Ausklammerns von Irrtümern. Einmal glaubte er schon, die Lösung gefunden zu haben: Die Planeten schienen eine Kreisbahn um die nicht direkt im Mittelpunkt liegende Sonne zu beschreiben. Doch da zeigte sich, daß einer der Planeten, wenn ich nicht irre, war es Mars, acht Bogenminuten abwich, und einen derart großen Fehler traute er Tycho Brahe nicht zu. So schloß er diese Möglichkeit aus und setzte im Vertrauen auf die Präzision der Experimente seine Versuche fort, bis er schließlich dreierlei herausfand.

Erstens, daß die Planeten eine Ellipse um die in einem Brennpunkt liegende Sonne beschreiben. Eine Ellipse ist eine allen Künstlern wohlbekannte Kurve, da sie ein perspektivisch verkürzter Kreis ist. Ja selbst Kinder verstehen sie zu zeichnen nach dem Rezept: Man ziehe eine Schnur durch einen Ring, befestige die beiden Enden auf einem Blatt Papier, stecke einen Bleistift durch den Ring und fange an zu malen (Abb. 1).

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Abbildung 1

 

Die beiden Punkte A und B sind die Brennpunkte der Ellipse beziehungsweise der Planetenbahn um die in einem dieser Punkte liegenden Sonne. Die nächste Frage lautet: Wie durchläuft der Planet diese Ellipsenbahn? Läuft er schneller, wenn er sich in der Nähe der Sonne befindet? Verlangsamt er sein Tempo, wenn er weiter weg ist? Auch hierauf fand Kepler die Antwort (Abb. 2).

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Abbildung 2 1) Stand des Planeten im Abstand von 3 Wochen 2) Sonne

 

In einem bestimmten Zeitraum, sagen wir drei Wochen, notierte er sich den Stand eines Planeten zu zwei getrennten Zeitpunkten und wiederholte diesen Vorgang an einem anderen Ort der Umlaufbahn. Dann verband er die Sonne durch sogenannte Radiusvektoren mit diesen Punkten und stellte fest, daß die von Umlaufbahn und Radiusvektoren eingeschlossene Fläche in beiden Fällen gleich groß ist. Damit die Fläche an jedem beliebigen Ort der Umlaufbahn unter den gleichen Umständen gleichgroß sein kann, muß der Planet seine Umlaufgeschwindigkeit erhöhen, wenn er näher bei der Sonne ist und verlangsamen, wenn er weiter von ihr entfernt ist.

Einige Jahre später fand Kepler ein drittes Gesetz, das nicht nur die Bewegung eines einzigen Planeten um die Sonne erfaßte, sondern verschiedene Planeten zueinander in Beziehung setzte. Es besagt, daß die Zeit, die der Planet braucht, um die Sonne ganz zu umlaufen, von der Größe der Umlaufbahn abhängt, und daß diese Zeiten mit den Quadratwurzeln der Kuben der Größe der Umlaufbahn variieren, wobei die Größe der Umlaufbahn durch die große Halbachse bestimmt wird. Grob zusammengefaßt lauten die drei Keplerschen Gesetze: Die Umlaufbahn beschreibt eine Ellipse; in gleichen Zeiten werden gleiche Flächen überstrichen, und die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten variieren mit der dritten Potenz der großen Halbachsen ihrer Bahnen. Diese drei Gesetze liefern eine vollständige Beschreibung der Bewegung der Planeten um die Sonne.

Als nächstes erhob sich die Frage: Was veranlaßt die Planeten, sich um die Sonne zu bewegen? Manche Zeitgenossen Keplers vermuteten hinter den Planeten Engel, die sie durch den Schlag ihrer Flügel auf ihrer Bahn vorantrieben – eine Antwort, die, wie Sie sehen werden, gar nicht so abwegig ist. Nur daß die Engel an einer anderen Stelle sitzen und ihre Flügel nach innen schlagen.

Mittlerweile erforschte Galilei die Bewegungsgesetze ganz gewöhnlicher Gegenstände auf der Erde. Zu diesem Zweck führte er eine Reihe von Experimenten durch, um zu sehen, wie Kugeln geneigte Flächen hinunterlaufen, Pendel schwingen und dergleichen mehr und entdeckte dabei ein großes Gesetz: das Trägheitsgesetz. Danach bewegt sich ein Gegenstand, der sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit geradlinig fortbewegt, bis in alle Ewigkeit geradlinig fort, wenn keine Kraft auf ihn einwirkt. So unglaublich das für jemanden klingt, der einmal versucht hat, einen Ball bis in alle Ewigkeit rollen zu lassen, so trifft doch zu, daß dieser mit gleicher Geschwindigkeit ewig weiterrollen würde, wenn die idealen Bedingungen gegeben wären, das heißt wenn keine Reibung oder dergleichen auf ihn einwirkte.

Daran anknüpfend warf Newton die Frage auf: »Was ist, wenn er sich nicht geradlinig fortbewegt?« Und antwortete: Damit sich die Geschwindigkeit in irgendeiner Weise ändern kann, ist eine Kraft erforderlich. Schubst man beispielsweise eine Kugel in die Richtung, in die sie rollt, wird sie ihre Geschwindigkeit beschleunigen. Stellt man fest, daß sie ihre Richtung ändert, muß eine Kraft seitlich auf sie eingewirkt haben. Diese Kraft kann gemessen werden als das Produkt zweier Faktoren. Dazu mißt man den Betrag, um den sich die Geschwindigkeit in einem kurzen Zeitintervall ändert (diese Änderung nennt man Beschleunigung), multipliziert diesen mit dem als Masse eines Körpers bezeichneten Koeffizienten, dem sogenannten Trägheitskoeffizienten, und erhält so die meßbare Kraft. Man braucht nur einmal einen Stein an einer Schnur über dem Kopf im Kreis herumzuschwingen, um herauszufinden, daß man einen Zug ausüben muß. Der Grund dafür ist, daß der Stein bei der Kreisbewegung zwar nicht seine Geschwindigkeit, aber seine Richtung verändert; es muß eine ständig nach innen ziehende Kraft vorhanden sein, und diese ist proportional zur Masse. Deshalb müßten wir, wenn wir zwei verschiedene Objekte nacheinander mit derselben Geschwindigkeit um den Kopf schwingen wollten, beim einen mehr Kraft aufwenden als beim anderen, und zwar proportional zum Unterschied in der Masse. So lassen sich die Massen mit Hilfe der zur Veränderung der Geschwindigkeit erforderlichen Kraft messen. Daraus leitete Newton ab, daß, wenn ein Planet die Sonne, um das Beispiel zu vereinfachen, auf einer Kreisbahn umläuft, keine Kraft erforderlich ist, um ihn seitlich, tangential, von dieser Bahn abweichen zu lassen; und daß er, wenn keinerlei Kraft auf ihn einwirkt, auf dieser Linie weiterfliegt. Das aber tut er gerade nicht; er befindet sich später mitnichten irgendwo draußen im All, wohin er eilen würde, wenn es keine Kraft gäbe, sondern weiter unten in Richtung Sonne (Abb. 3).

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Abbildung 3 1) Bewegung ohne Krafteinwirkung 2) Abweichung der Bewegung von der geraden Linie 3) wirkliche Bewegung

 

Mit anderen Worten, seine Geschwindigkeit, seine Bewegung, wurde zur Sonne hin abgelenkt. Die Engel müssen ihre Flügel also fortwährend zur Sonne hingewandt schlagen.

Was aber den Planeten geradlinig vorantreibt, wissen wir nicht. Man hat nie herausgefunden, warum sich die Dinge bis in alle Ewigkeit auf dieser Linie fortbewegen. Der Ursprung des Trägheitsgesetzes liegt im dunkeln. Die Bewegung setzt sich fort, obwohl es keine Engel gibt. Um aber den Prozeß des Fallens einzuleiten, ist eine Kraft erforderlich. Der Ursprung dieser Kraft mußte offensichtlich in Richtung Sonne zu suchen sein. Mehr noch, Newton konnte sogar nachweisen, daß sich aus dieser einfachen Vorstellung als unmittelbare Folge der Flächensatz ableiten ließ, daß also, wenn alle Veränderungen der Geschwindigkeit, auch im Fall der Ellipse, exakt auf die Sonne gerichtet sind, in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstrichen werden müssen. Wie das im einzelnen zusammenhängt, werde ich Ihnen in der nächsten Vorlesung zeigen.

Von diesem Gesetz ausgehend, bestätigte Newton die Auffassung, daß die Kraft sonnenwärts wirkt. Weiß man nun, wie die Umlaufzeiten der verschiedenen Planeten mit der Entfernung von der Sonne variieren, so kann man bestimmen, wie sich diese Kraft je nach der Entfernung abschwächt. Newton konnte nachweisen, daß sich die Kraft umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung verändert.

Damit hatte Newton noch nichts Neues gesagt; er hatte lediglich zwei Aussagen von Kepler mit anderen Worten bekräftigt. Seine eine Behauptung deckt sich mit der Aussage, daß die Kraft in Richtung Sonne wirkt, und die andere mit der Feststellung, daß die Kraft umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung ist.

Man hatte aber mit dem Teleskop beobachtet, daß Jupiter von Satelliten umkreist wird und fast so etwas wie ein kleines Sonnensystem bildet, geradeso als würden die Satelliten vom Jupiter angezogen. Auf die gleiche Weise wird der Mond, der die Erde umkreist, von der Erde angezogen. Allem Anschein nach wird alles von allem angezogen. Als nächstes wurde diese Beobachtung verallgemeinert zu dem Satz, daß jeder Körper jeden anzieht. Trifft das zu, muß die Erde den Mond anziehen wie die Sonne die Planeten. Daß die Erde die Dinge anzieht, ist jedoch bekannt – andernfalls würden Sie hier nicht fest auf Ihren Plätzen sitzen, obgleich Sie lieber in der Luft schwebten. Die Anziehungskraft der Erde auf irdische Objekte gehörte zu den durchaus bekannten Phänomenen der Schwerkraft, und da nun verfiel Newton auf die Idee, daß die Kraft, die den Mond auf seiner Umlaufbahn hält, dieselbe Schwerkraft sein könnte, die die Gegenstände zur Erde zieht.

Es ist kein Kunststück auszurechnen, wie weit der Mond in einer Sekunde fällt: Wir kennen die Größe der Umlaufbahn, wir wissen, daß der Mond für eine Umrundung der Erde einen Monat braucht; somit können wir auch sagen, welchen Weg er in einer Sekunde zurücklegt. Haben wir das ausgerechnet, können wir feststellen, um wieviel die Bahn des Mondes unter die gerade Linie gefallen ist, auf der er sich ohne die Anziehungskraft der Erde fortbewegen würde. Diese Entfernung beträgt 0,127 Zentimeter. Der Mond ist sechzigmal so weit vom Erdmittelpunkt entfernt wie wir. Bei uns beträgt die Entfernung 6436 Kilometer, beim Mond 386 160 Kilometer. Stimmt das Gravitationsgesetz, müßte ein Körper auf der Erdoberfläche in einer Sekunde um 0,127 Zentimeter × 3600 (dem Quadrat von 60) fallen, da sich die Kraft, bis sie zum Mond hinauskommt, gemäß dem Gravitationsgesetz um 60×60 abgeschwächt hat. 0,127 Zentimeter × 3600 ergibt knapp fünf Meter. Die Fallgeschwindigkeit auf der Erde beträgt, das wußte man bereits seit Galileis Messungen, rund fünf Meter pro Sekunde. Das bedeutete, daß sich Newton auf dem richtigen Weg befand. Nun gab es kein Zurück mehr, hatte sich doch gezeigt, daß ein neues, zuvor als völlig unabhängig betrachtetes Faktum, die Umlaufzeit des Mondes und die Entfernung der Mondbahn von der Erde, mit einem anderen Faktum, der Fallgeschwindigkeit pro Sekunde auf der Erdoberfläche, zusammenhing. Das war die dramatische Probe aufs Exempel, daß alles stimmte.

Darüber hinaus machte Newton noch eine Fülle anderer Vorhersagen. So konnte er berechnen, welche Bahn der Planet beschreiben mußte, falls das Gravitationsgesetz zutraf, und stellte fest, daß es in der Tat eine Ellipse war. Damit hatte er gewissermaßen drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Außerdem konnte man sich mit einemmal verschiedene neue Phänomene erklären. Beispielsweise die Gezeiten. Sie waren eine Folge der Anziehungskraft des Mondes auf die Erde und ihre Meere. Eine solche Möglichkeit hatte man auch früher schon in Betracht gezogen, war jedoch an der Schwierigkeit gescheitert, daß, falls das Wasser wirklich durch die Anziehungskraft des Mondes aufgestaut wurde, es pro Tag nur eine Flut hätte geben dürfen, und zwar auf der Seite, auf der der Mond stand (Abb. 4).

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Abbildung 4

1) Mond zieht Wasser teilweise von der Erde weg

2) Mond zieht Erde teilweise vom Wasser weg

3) wirkliche Situation

4) Mond

 

Wir wissen aber, daß die Gezeiten grob alle zwölf Stunden einsetzen, und daß es pro Tag zwei Fluten gibt. Aufgrund dieser Beobachtung kam eine andere Denkschule zu einem anderen Schluß. Ihrer Theorie zufolge zog der Mond die Erde vom Wasser weg. Der erste, der begriff, was wirklich vor sich geht, war Newton; nämlich daß der Mond bei gleichem Abstand auf Erde und Wasser mit der gleichen Kraft einwirkt und daß das Wasser bei y dem Mond näher, bei x vom Mond weiter entfernt ist als die starre Erde. Deshalb wird bei y das Wasser stärker und bei x weniger vom Mond angezogen als die Erde, so daß sich durch die Kombination beider Bilder die doppelten Gezeiten ergeben. Wodurch aber wird die vom Mond auf die Erde ausgeübte Anziehungskraft im Gleichgewicht gehalten? Dadurch, daß sich die Erde desselben Tricks bedient wie der Mond und sich, genau wie dieser, um ein Gegengewicht gegen die Anziehungskraft des anderen Himmelskörpers zu schaffen, im Kreis bewegt. Der Mittelpunkt dieses Kreises liegt im Erdinneren. Beide, Erde und Mond, kreisen also um denselben Mittelpunkt, wodurch sich die Anziehungskräfte für die Erde ausgleichen, während das Wasser in x weniger und in y stärker vom Mond angezogen wird und so auf beiden Seiten anschwillt. Damit waren nicht nur die Gezeiten und die Tatsache, daß sie zweimal pro Tag einsetzen, erklärt, sondern noch eine Reihe anderer Dinge: daß die Erde rund ist, weil alles nach innen gezogen wird, aber wiederum nicht ganz rund ist, weil sie sich um die eigene Achse dreht, wodurch die Außenseite ein ganz klein wenig hinausgedrückt wird; warum Sonne und Mond kugelförmig sind und so fort.

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