Horst Bieber, Alfred Bekker

Krimi Doppelband 2225

Krimi Doppelband 2225

Alfred Bekker, Horst Bieber

Dieser Band enthält folgende Krimis:



Der dritte Vater (Horst Bieber)

Killer ohne Gnade (Alfred Bekker)


Als beim Dreh eines Action Movies der Star eine echte Kugel abbekommt, beginnen die Ermittlungen von Jesse Trevellian und seinem Team - denn es handelte sich nicht um einen Unfall, wie sich schnell herausstellt.

Ein Action Star, der tief in die Machenschaften des organisierten Verbrechens verstrickt ist, gegen die er in seinen Filmen immer kämpfte und ein Machtkampf innerhalb der Unterwelt - damit hat es Trevellian in diesem Fall zu tun. Und schon bald steht er ebenfalls auf der Abschussliste der Syndikate...


Copyright


Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author / COVER FIRUZ ASKIN

© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Der dritte Vater



Krimi von Horst Bieber




IMPRESSUM


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© Roman by Author

© Cover: pikwizard mit Kathrin Peschel, 2018

Lektorat/Korrektorat: Kerstin Peschel

© dieser Ausgabe 2018 by Alfred Bekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

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Klappentext:


Susi, 15 Jahre alt, ist wieder einmal ausgerissen. Der Privatdetektiv Dirk Landau liest sie an der Ostsee auf und bringt sie zurück nach Tellheim. Susi fasst Vertrauen zu ihm und erzählt Stück für Stück, was sie an ihrem Vater Johannes Döhle, ihrer Mutter Sina und dem momentanen Dauergast Oliver Rendel stört. Und plötzlich passiert etwas unsagbar Schreckliches. Susi befürchtet, dass sie schuld an diesem Unglück ist und erhofft sich Hilfe von Dirk Landau. Der wiederum versucht gerade ein länger zurückliegendes Verbrechen aufzuklären und steht kurz vor dem entscheidenden Durchbruch …



***



Personen

Dirk Landau: Privatdetektiv

Mona Thiesow: seine Partnerin

Ella Marx: die Bürofee der Detektei L & T

Arne Wilster: Kriminalhauptkommissar (KHK) im Archiv des Polizeipräsidiums (PP)

Marlene (Lene) Schelm: Erste Kriminalhauptkommissarin (KHK)

Susanne (Susi) Döhle: Schülerin

Johannes (Hannes) Döhle: Susis Vater

Sina Döhle, geborene Feldmann: Susis Mutter

Oliver Rendel: ein alter Freund und Kollege von Hannes Döhle

Vera Lüders: für sehr kurze Zeit Landaus Urlaubs-Freundin.

Inge Sieloff: arbeitet für Hannes und Sina Döhle in der Firma Feldmann & Küster

Hans-Peter (Hape) Küster: 50% Teilhaber an Feldmann und Küster

Pia Küster, geborene Wenck: Hapes Ehefrau


Alle Taten und Personen, Firmen und Lokale, die meisten Orte und Beziehungen, selbst das Bundesland Leiningen mit seiner Hauptstadt Tellheimer sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären also rein zufällig.



***



Erstes Kapitel


Ohne Vorwarnung kam sie aus dem Bad gestürmt und baute sich vor dem Bett auf, beide Fäuste in die Seite gestemmt: „Soll ich dir mal ganz genau sagen, was du bist?“

Vielen Dank, lieber nicht!“, erwiderte Landau höflich.

Ein Chauvi, ein größenwahnsinniger Macho, ein Potenz-Protz, also insgesamt ein hochkarätiges Arschloch.“

Die Gardinen waren nicht ganz zugezogen, und das Sonnenlicht, das durch den Spalt fiel, leuchtete sie ausgesprochen verführerisch aus. In den vergangenen zwei Wochen war sie tiefbraun geworden, bis auf den weißen Streifen des Bikini-Höschens und den hellbraunen Streifen quer über dem prachtvollen Busen, der jetzt vor Erregung und Wut wippte. Ihre rotbraunen Haare funkelten regelrecht, und der unbändige Zorn machte sie begehrenswert. Temperament besaß sie für zwei, aber die Kombination von ungezügelter Launenhaftigkeit und Egoismus pur ging ihm mittlerweile auf die Nerven. Und dann, wenn er sich mehr Temperament erhofft hatte, war sie lieber eingeschlafen. Was bei ihr nicht länger dauerte, als sich auszuziehen.

Na? Keine Antwort?“

Was willst du hören, liebe Vera? Du hast meinen Charakter glänzend beschrieben, du willst also abreisen, was soll ich da noch sagen?“

Verflucht sei der Tag, an dem ich dir begegnet bin!“, platzte sie heraus. Weil sie fähig war, das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr nach ihm zu werfen, nickte er nur demütig. In Windeseile zog sie sich an und packte ihren Koffer, er schaute gleichmütig zu und wunderte sich, mit welcher Energie sie Kleider, Hosen, Wäsche und Blusen zusammenknüllte und in die Lücken stopfte, nur um ihm zu zeigen, dass sie es keine Minute länger mit ihm aushielt. Natürlich hatte sie in der Dusche wieder die Hähne nicht richtig zugedreht, er hörte das rhythmische Tropfen. Mit einer Hand schob er das Kopfkissen hinter seinen Rücken an das Oberteil des Bettes, setzte sich auf und schaute gelassen zu. Als die Kofferschlösser knackten, unterdrückte er ein Gähnen der Erleichterung und sagte: „Tschüss, Vera. Es war nur mäßig schön mit dir.“

Das kann ich von dir nicht behaupten“, blaffte sie ihn an, worauf er die Schultern zuckte. Jetzt bloß keine Auseinandersetzung mehr! Sein Bedarf an Zank war auf Jahre gedeckt! Wie hatte er sich nur so in ihr täuschen können?! Seine Partnerin Mona Thiesow hatte ihn gewarnt, aber das hatte er für Stutenbissigkeit gehalten und ihr unterstellt, sie habe sich mit ihrer Vorzimmerfee in der Agentur, mit Ella Marx, wieder einmal verschworen, ihm den Urlaub mit einer neuen Freundin zu vermiesen.


Eine Stunde später warf auch er seinen Koffer auf das Bett. Vera Lüders hatte darauf bestanden, an die See zu fahren, er war kein Sonnenanbeter und Bräunungsfetischist, der Strand langweilte ihn schnell, schwimmen konnte er auch im Freibad, und die mitgebrachten Bücher hatte er bereits alle gelesen und sich über alle geärgert; noch mehr allerdings über die lobenden Rezensionen im Tageblatt , hier hielt ihn nichts mehr.

Die junge Frau an der Kasse lächelte still-vergnügt in sich hinein. Sie war hübsch und modern und perfekt, wie das ganze sündhaft teure und irgendwie bis auf die Bar steril-ungemütliche Hotel. Nachdem sie seinen spöttischen Blick aufgefangen hatte, arbeitete sie mit gesenktem Kopf weiter. Wie er Vera Lüders einschätzte, war sie lautstark abgereist, das Hotel-Personal war wohl bestens über ihn informiert, und als er sich heuchlerisch erkundigte: „Sie werden das Zimmer doch noch vermieten können?“, schluckte sie verlegen. Die zarte Röte auf der Stirn zierte sie nicht schlecht.

Auf dem Parkplatz standen nur noch wenige Autos. Wenn es keinen Stau auf der Autobahn gab, konnte er am Nachmittag zu Hause sein, ohne zu hetzen. Er freute sich auf eine Woche Faulenzen in seiner Wohnung, ohne Verpflichtungen, ohne eine anstrengende Vera. Leise pfeifend klappte er den Deckel des Kofferraumes zu und schreckte fürchterlich zusammen, als sich hinter ihm jemand heftig räusperte: „Entschuldigen Sie bitte …“

Er wirbelte herum, das Mädchen trat rasch einen Schritt zurück, und er prustete schwer: „Haben Sie mich erschreckt!“

Oh – oh – das tut mir leid.“ Sie stammelte, nicht weniger erschrocken, und er holte tief Luft. Mit diesen jungen Dingern hatte er seine Mühe, sie mochte fünfzehn oder zwanzig sein, das konnte er nicht schätzen. Ein hübsches schmales Gesicht mit hohen Backenknochen, Stupsnase, voller Mund und eine hohe Stirn, das wollte alles noch nicht recht zusammenpassen, aber sie würde eine bildschöne Frau werden. Aschblonde Haare, die dringend nach einem Friseur verlangten. Jeans, ein dünnes Sweatshirt, darüber eine Jeansjacke, ehedem weiße Joggingschuhe. Über der Schulter trug sie eine dieser formlosen Segeltuchwürste mit einem breiten, lila Tragegurt.

Ich wollte – ich habe …“

Ja?“, ermunterte er.

Ich habe das Kennzeichen Ihres Wagens gelesen.“ Sie musste sich zur Ruhe zwingen. „Und da wollte ich Sie fragen, ob Sie mich mitnehmen können.“

Eine Tramperin. Einen Moment war er enttäuscht. Trotz dieser Einheitsuniform sah sie nicht nach einer Abenteurerin aus, es ärgerte ihn ein wenig, dass er sie falsch eingeschätzt hatte. Sie missverstand sein Zögern und fügte leise hinzu: „Bitte!“

Unwillkürlich zog er die Augenbrauen zusammen und musterte sie. Zu seinem Erstaunen wich ihr Blick nicht aus, so jung sie war, so genau wusste sie schon, was sie wollte.

Wie alt sind Sie denn?“

Fünfzehn“, antwortete sie schnell.

Ach du meine Güte!“, murmelte er, und als sie daraufhin unvermutet lächelte, haute es ihn fast um. Mein Gott, das Kind besaß Charme! Und ein Selbstbewusstsein für weitaus mehr als fünfzehn Jahre.

Ich bin keine Tramperin“, erklärte sie noch immer heiter. „Ich reiße nur öfter von zu Hause aus, aber der Kerl, der mich mitgenommen hat, wurde zudringlich. Und jetzt ist mein Geld alle, deswegen muss ich leider nach Hause.“

Na prima!“, seufzte er, „steigen Sie ein, ich nehm’ Sie mit.“

Eine Ausreißerin, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Aber Vera Lüders hatte ihm heute Morgen einen Gefallen getan, da durfte er sich revanchieren. Wie sagt der Pfadfinder? – „allzeit bereit für die gute Tat des Tages.“

Danke!“, jubelte sie. Ihre Stimme gefiel ihm.

Bis zur Bundesstraße hockte sie schweigend, aber sichtlich entspannt neben ihm. Vor dem Einsteigen hatte sie die Jeansjacke ausgezogen, unter dem engen Hemdchen zeichnete sich ein hübscher Busen ab. Warum sich Frauen in so enge Jeans quälten, verstand er zwar nicht, aber sie hatte schöne lange Beine und schmale Hüften, schon die Figur einer Frau und noch das Gesicht eines Kindes. Es war etwas verwirrend.

Wie heißen Sie eigentlich?“

Susanne Döhle, aber alle nennen mich Susi. Sie können mich übrigens ruhig duzen, kein Mensch sagt ‚Sie‘ zu mir.“

Das kommt noch“, entgegnete er wenig geistreich.

Hoffentlich nicht so bald.“ Wenn sie lachte, war sie schön, und bei aller Offenheit fehlte jede Spur von Dreistigkeit oder Aufdringlichkeit. „Und wie heißen Sie?“

Landau, Dirk Landau.“

Ich freue mich, dass ich Sie getroffen habe.“ Nein, den würdevollen Ton solcher Floskeln traf sie noch nicht, er kaute auf seinen Lippen und hütete sich, seine Erheiterung zu zeigen.

Auf der Bundestraße herrschte so viel Verkehr, dass er sich konzentriere musste, eine flotter Fahrer war er ohnehin nicht, und ein defensiver Mensch hatte aufzupassen, dass ihn die Risikofreudigen nicht pausenlos schnitten oder einkeilten. Allerdings konnten diese Tiefflieger ihn auch nicht mehr aufregen, und wenn er in geschlossenen Ortschaften auf Tempo 55 herunterging, ließen ihn auch die Lichthupen im Rückspiegel kalt. Trotzdem fühlte er sich wohler, als er sich auf der Autobahn eingefädelt hatte.

Da habe ich ja Glück gehabt“, lobte sie plötzlich.

Wie meinst du das?“

Ein vernünftiger Fahrer bis nach Hause.“

Danke für die Blumen.“

Bitte, bitte“, schnurrte sie. „Fahren Sie viel Auto?“

Es geht, allerdings meistens in der Stadt.“

Darf ich fragen, was Sie von Beruf sind?“

Ich bin Privatdetektiv.“

Wirklich?“

Ganz wirklich.“

Ein Derrick ohne Dienstmarke? Wirklich?“

Hundert pro.“

Dann sind Sie auch bewaffnet?“

Nein, ich benutze lieber meinen Kopf als eine Waffe. Übrigens habe ich gar keine Waffe, sondern müsste mir erst eine leihen.“

Oha!“

Enttäuscht?“

Warum sollte ich? Ich habe noch nie einen Privatdetektiv getroffen, sondern kenne nur welche aus dem Fernsehen.“

Die haben mit der Realität nicht viel zu tun.“

Aber sie haben so schöne Sprüche auf Lager.“

Damit kann ich vielleicht auch dienen.“

Lassen Sie mal hören?“

Weißt du, was Hygiene ist?

Ach Gott, das hat ja einen Bart. Wenn man sich die Hände häufiger wäscht als nötig.“

Ich sollte vielleicht doch so viel Whisky trinken wie die Vorbilder im Fernsehen.“

Was trinken Sie denn statt Whisky?“

Ich bin Weißweintrinker.“

Echt?“ Sie staunte. „Weißwein? Nicht Rotwein?“

Ganz echt. Weißwein. Deutschen sogar.“

Man lernt doch nie aus!“, seufzte sie so gekonnt, dass er laut loslachen musste: „Von wem hast du denn den schönen Spruch gelernt?“

Von meiner Großmutter. Sie hat ihn alle Augenblicke benutzt.“

Jetzt nicht mehr?“

Ich sehe sie nicht mehr so oft. Früher bin ich, wenn ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe, zu meiner Oma gefahren, aber die lebt jetzt in einem Pflegeheim und kann mich nicht mehr einfach so aufnehmen.“

Danach kehrte sie ihm den Rücken zu, das Gespräch war beendet. Vorerst wenigstens. Wenig später drehte sie die Lehne herunter und schlief ein.


Als er tanken musste, lud er sie zum Essen ein: „Hast du keinen Hunger?“

Doch, mächtig sogar“, gestand sie.

Na, ich denke, du wirst mich nicht ruinieren.“

Warten Sie’s ab! Ich liebe Kaviar, Austern, Hummer und Champagner.“

Dann sind wir in einer Autobahnraststätte ja genau im richtigen Feinschmecker-Lokal“, spottete er, und sie streckte ihm die Zunge heraus. Nur ein Kind konnte so unbeschwert lachen, und er bot ihr galant seinen Arm.

Was sind wir denn jetzt?“

Wie bitte?“

Ja, was stellen wir dar? Vater und Tochter oder Mann und Freundin?“

Wie wär’s mit Lehrer und Schülerin?“

Nicht Arm in Arm!“, wehrte sie ab. Auf Ironie war sie noch nicht geeicht.

Okay, also Patient und Krankenschwester.“

Ihr Blick ersetzte eine lang Rede, und er staunte ehrlich, was sie so in sich hineinfutterte; sie verstand seine Miene richtig und errötete: „Gestern hat’s nur zu zwei trockenen Brötchen gelangt.“

Dann wünsche ich dir noch einen guten Appetit.“

Im Auto betrachtete er sie amüsiert, sie fummelte an dem Jeansbund herum und schnaufte kläglich: „Es kneift.“

Kein Wunder bei den Mengen.“

Ich werde mich revanchieren.“

Angenommen.“

Dazu brauche ich aber Ihre Adresse.“

Im Handschuhfach liegen Karten.“

Sie holte eine heraus und studierte sie gründlich. „Die Belgerstraße kenne ich.“ Dann gickste sie. „Haben Sie keine Wohnung?“

Wie meinst du das?“

Auf Ihrer Visitenkarte ist keine Privatanschrift gedruckt.“

Nein, ich trenne gerne Beruf und Privatleben. Und abends oder nachts nach einem anstrengenden Tag möchte ich nicht gerne gestört werden.“ Er wollte ihr nicht erklären, dass er viel Wert auf Sicherheit legte und nicht von Verrückten oder durchgeknallten Typen, die meinten, sie müssten ihm noch was heimzahlen, in seiner Wohnung oder vor seiner Haustür angegriffen werden wollte.

Dann kann man Sie schwer erreichen?“

Nein, gar nicht, ich hör regelmäßig meinen Anrufbeantworter oder meine Mailbox ab.“

Darf ich die Karte behalten?“

Wenn du willst, kannst du sogar zwei oder drei nehmen.“

Vielen Dank. In meiner Klasse werden sie Augen machen, wenn ich beweisen kann, dass ich wirklich mit einem echten Privatdetektiv bekannt bin.“

Sie steckt die drei Karten ein und kramte dann eine riesige Sonnenbrille hervor. Die restliche Strecke fuhr er in bester Laune.


Gegen siebzehn Uhr passierten sie das Ortseingangsschild Tellheim , sie setzte sich gerade hin, steckte die Brille wieder ein und flüsterte: „Waldparkallee. Nummer sieben.“

Die Straße kenne ich“, sagte er ausdruckslos. Es war eine der besten Adressen, im sogenannten Quellenviertel: Nach Süden lag der Stadtpark, und hinter der Allee begann der Stadtwald, der den ganzen Ilsernberg bedeckte. Viele alte und große neue Villen, einflussreiche und begüterte Familien, die sich so abweisend gaben wie die hohen Gitter vor ihren Grundstücken. Materiell durfte es einem Mädchen wie Susi Döhle wohl an nichts fehlen, aber vielleicht hasste sie Gitter genauso wie er. Sehr steif saß sie neben ihm und schaute jetzt sehr starr geradeaus.

Direkt vor dem Haus Nummer sieben fand er einen Parkplatz, drehte den Zündschlüssel und fragte sachlich: „Soll ich mit zur Haustür kommen?“

Ja, bitte!“ Ihre Stimme kratzte.

Die Villa war erst nach dem Krieg gebaut worden, zu einer Zeit, als sich die meist neureichen Eigentümer und Nachkriegsgewinner ihres Geldes noch zu schämen schienen; das zweistöckige Gebäude gab sich alle Mühe, kleiner und bescheidener zu wirken. Zwischen der freistehenden Doppelgarage rechts und der Hausecke sperrte ein schmiedeeisernes Tor den Plattenweg in den Garten ab, links stand ein niedriges Häuschen – vielleicht für den Chauffeur? – Und dort diente eine dichte Hecke demselben Zweck.

Nach dem Klingeln hörte Landau, dass Susi schwer atmete, und hatte plötzlich den irrsinnigen Eindruck, dass er diese Szene schon einmal erlebt hatte.

Ein Mann riss die Haustür auf; als er Susi erblickte, verfinsterte sich blitzartig sein Gesicht und wurde hässlich vor Zorn. Doch bevor er etwas sagen konnte, schaute er auf Landau, erstarrte und riss die Augen weit auf, als habe er nicht damit gerechnet, diesen Mann hier zu sehen. Landau ging es ebenso, jeder bemühte fieberhaft sein Gedächtnis … Susi bereitete der gegenseitigen Fixierung ein Ende: „Das ist Johannes Döhle, mein Vater. Und das ist Dirk Landau, ein Privatdetektiv. Er war so nett, mich aus Boltenhagen mitzunehmen.“

Bei dem Wort „Privatdetektiv“, schien bei Döhle der Groschen respektive das Zehn-Cent-Stück zu fallen, aber nach seinem Gesicht zu urteilen, wurden dadurch keine freundlichen Erinnerungen ausgelöst.

Ja, so, danke, sehr freundlich.“ Döhle schwankte immer noch zwischen Verwirrung und wachsendem Zorn und drehte, fast dankbar für die Ablenkung, den Kopf zu dem Mann, der aus dem Treppenhaus in die Diele bis an die Haustür schlenderte und das Trio neugierig musterte.

Guten Tag“, grüßte der Fremde.

Guten Tag“, antwortete Landau etwas ungeduldig; Susi sagte nichts, drängte sich aber plötzlich hastig an den beiden Männern vorbei in die Diele, und Landau hörte noch, dass sie eilig eine hölzerne Treppe hinauflief. Der fremde Mann sah ihr nach, bevor er sich an Landau wandte und etwas sagen wollte, was Döhle aber verhinderte: „Ja, noch mal vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Landau, das war sehr freundlich von Ihnen. Auf Wiedersehen.“

Wiederseh’n“, erwiderte Landau automatisch, verstimmt über diese knappe Verabschiedung. Döhle schob den anderen schon in die Diele zurück, die Tür knallte ins Schloss, und Landau machte achselzuckend kehrt. Mehr konnte er für Susi nicht tun, und Döhle zu bitten, mit der Ausreißerin nicht zu hart ins Gericht zu gehen, hätte er auch nicht über die Lippen gebracht. Es hätte wahrscheinlich auch nichts genutzt.

Aber die Unruhe blieb, wo zum Teufel hatte er den Namen Döhle schon einmal gehört? Und wieso war ihm plötzlich der Gedanke gekommen, er habe diese Szene an der Haustür schon einmal erlebt? Also fuhr er, über sich selbst verärgert, ins Büro.

Natürlich gab Ella Marx, ihre tüchtige, aber vorlaute Vorzimmerfee, sofort ihren Senf dazu: „Schon zurück? War das Wetter da oben im Norden so schlecht?“

Nein, die Begleiterin war so unerträglich. Zum Glück ist sie heute Morgen freiwillig abgerauscht.“

Mona und ich hatten dich vor Vera Lüders gewarnt!“

Daran konnte er sich zwar nicht erinnern, aber wenn es darum ging, ihn unter dem Pantoffel zu halten, waren sich seine Partnerin Mona Thiesow und die Fee der Privatdetektei Landau & Thiesow, Ella Marx, immer einig.

In seinem Zimmer warf er den Computer an und suchte nach dem Namen Döhle. Im vorigen April war eine Sina Döhle zu ihnen ins Büro gekommen: „Meine Tochter Susanne ist wieder einmal ausgerissen, bitte suchen Sie Susi, bevor es einen Skandal gibt oder sie in ernsthafte Schwierigkeiten gerät.“ Weil er einen anderen Auftrag erledigen musste, hatte Mona den Fall übernommen, bei dem sie mithilfe einer Schulfreundin Susis rasch herausfand, dass Susi wohl zu ihrer Oma nach Dürrenbach gefahren war. Dort hatte Mona sie gefunden und nach Tellheim zurückgebracht. Susi war gerade noch rechtzeitig bei Oma Hermine Feldmann eingetroffen, um einen Notarzt zu rufen, der Oma mit einem schweren Schlaganfall ins Krankenhaus schaffen konnte. Oma überlebte, war aber seitdem auf Hilfe angewiesen und musste das schöne und geräumige Haus in Dürrenbach aufgeben.

Wo ist Mona?“, fragte er Ella.

Sie hat einen Aushilfsdienst im Casino übernommen. Und was willst du jetzt machen?“

Ich fahre nach Hause, kaufe unterwegs ein, packe meinen Koffer aus, werfe die Waschmaschine an und werde meinen restlichen Urlaub ganz entspannt auf dem Balkon vertrödeln und genießen.“

Viel Spaß.“

Ach, noch was, Ella. Wenn eine Susanne, Susi Döhle, mich sprechen will, gibt ihr ruhig meine Handynummer und Adresse.“

Neue Freundin?“ Nein, Ella war nicht wirklich neugierig, allenfalls etwas interessiert an seinen sozialen Kontakten. Oder besorgt darüber, dass er vereinsamen könnte.

Und was mache ich, wenn Vera Lüders anruft?!“

Dann weißt du nicht, wo ich mich gerade herumtreibe.“

Na gut. Also kein Versuch, etwas zu kitten?“

Nein, bloß nicht“, antwortete er knapp. „Die Dame ist mir zu anstrengend.“ Er sah, dass ihr zu „anstrengend“ eine eher unanständige Frage auf den Lippen schwebte, aber zu ihrem Glück schluckt sie die Wörter rechtzeitig herunter.


Es blieb noch Zeit, in aller Ruhe einzukaufen, und bis er alles verstaut, seinen Koffer ausgepackt und die erste Maschine mit schmutziger Wäsche angeworfen hatte, verdrängte er den Namen Hannes Döhle. Dann spürte er ein steifes Kreuz, zog seine Laufschuhe an und fuhr auf den Ilsernberg, um gemächlich eine Stunde zu laufen. Von Joggen hielt er nichts, Nordic Walking kam ihm zu albern vor, er liebte das altmodische Spazierengehen mit langen Schritten. Nach einer dreiviertel Stunde begann er eine angenehme Müdigkeit zu spüren. Vera hatte stundenlang am Strand geröstet, das Wasser aber gemieden – zu kalt, zu dreckig, zu viele Menschen. Er hätte sie nie zum Urlaub einladen sollen. Mit Discos und Bars und Prominenten-Kneipen freundete er sich nicht mehr an, und wenn er froh war, endlich wieder frische Luft zu atmen, fing sie prompt mit dem Gähnen an. Kurz vor dem Bett erreichte es seinen Höhepunkt, und der schon lange schwelende Krach war am Sonntagabend losgebrochen, als er ihr ein „rein senkrechtes“ Temperament bescheinigte, was sie genau richtig verstand und ihm sehr übel nahm. Okay, daraufhin hatte sie sich verabschiedet, er musste sie nicht wegschicken, zwei verkorkste Urlaubswochen ließen sich verkraften, und im Fernsehen hatte die Meteorologin ein stabiles Hoch mit hochsommerlichen Temperaturen versprochen.



Zweites Kapitel


Am nächsten Morgen dehnte Landau das Frühstück bis nach zehn Uhr aus. Es war herrlich, in aller Ruhe die Zeitung zu lesen, Kaffee nachzukochen, die Sonne durch das offene Fenster zu genießen und nach Herzenslust zu gähnen. Niemand drängte oder quengelte, keine Vera wollte wissen, was sie heute unternehmen sollten, er musste seine Faulheit weder entschuldigen noch rechtfertigen. Gegen zwölf Uhr rief Susi an. „Ich hatte versprochen, mich für den Austern-Kaviar-Exzess an der Autobahn zu revanchieren. Ihre Nummer hat mir eine junge Frau in Ihrem Büro gegeben. Sie ist etwas neugierig, nicht wahr?“

Etwas, ja.“

Um eins in der Laacher Mühle ?“

Einverstanden.“

Also musste er sich heute doch rasieren.


Susi hatte sich in Schale geworfen. Blauer, kurzer und weiter Rock, eine weiße Bluse, die Haare gewaschen und gekämmt, weiße Sandalen mit halbhohem Absatz, Fuß- und Fingernägel lackiert und sogar ein Hauch von Lippenstift. Vor Bewunderung pfiff er und sagte ehrlich begeistert: „Du siehst großartig aus!“

Störe ich Sie auch nicht?“

Der ängstliche Tonfall gefiel ihm so wenig wie ihr Gesicht. Geschwollene Augen, als ob sie viel geweint hätte, und zitternde Lippen; außerdem mied sie seinen Blick.

Nein. Sonne oder Schatten?“

Lieber Schatten.“

Während er einen Stuhl heranrückte, stand sie mit gesenktem Kopf vor der Buche, die Hände fest um den weißen Lederbeutel geklammert.

So, setz’ dich! Hast du schon gefrühstückt?“

Nei – ein.“ Sie schluckte. „Ich wollte – ich muss mich doch revanchieren.“

Hast du deswegen in der Detektei angerufen?“

Noch immer stand sie wie verloren neben ihrem Stuhl und schüttelte zaghaft den Kopf: „Ja, aber nicht nur …“

Gut. Dann machen wir es so: Wir frühstücken jetzt, dann erzählst du mir, was du auf dem Herzen hast, und danach überlegen wir, was zu tun ist.“

Ja – aa?“ Sie drehte den Lederbeutel sinnlos hin und her. „Störe ich Sie wirklich nicht?“

Nein. Ich habe noch Urlaub, und wenn ich keine Zeit für dich hätte, würde ich dir das sagen.“ Sie schaute schnell hoch, schlug aber sofort wieder die Augen nieder. „Was trinkst du? Kaffee? Tee? Milch – es gibt auch O-Saft.“

Vorsichtig ließ sie sich nieder und rutschte ganz nach vorn. „Wenn wir noch etwas Kaffee …? Und O-Saft …?“

Aber sicher!“ Wo war bloß ihre ganze Selbstsicherheit geblieben? Wie sie da halb verschüchtert, halb verängstigt hockte, tat sie ihm leid, aber irgendwie hatte er auch das Gefühl, dass sie nicht bedauert werden wollte.

Musst du nicht zur Schule?“

Nein, wir haben doch noch Ferien.“

Richtig! So was vergesse ich immer wieder.“

Haben Sie keine Kinder?“

Nein, ich bin ein gelernter Junggeselle und von unehelichen Kindern weiß ich nichts.“

Sie blieb ernst und langte zaghaft nach dem Glas.

Guten Appetit!“

Darauf nickte sie geistesabwesend, trank Schluck für Schluck und schaute in den Mühlengarten, der sich langsam mit Essensgästen füllte. Was sie dachte, war ihrem Gesicht nicht anzusehen, und er geduldete sich. Eine fünfzehnjährige Ausreißerin besuchte freiwillig einen Privatdetektiv, der sie tags zuvor im Elternhaus abgeliefert hatte, und benutzte als Vorwand ihr Versprechen, sich für ein mäßiges Essen in einer überfüllten Autobahn-Raststätte zu „revanchieren“. Deutlicher konnte sie nicht signalisieren, dass sie mit ihm reden wollte, aber jetzt schien sie der Mut wieder verlassen zu haben.

Nach dem ersten Schluck Kaffee schüttelte sie sich: „Puhh, der ist mir zu stark.“

Wie willst du ihn verdünnen? Mit Milch oder warmem Wasser?“

Mit etwas Wasser bitte – nein, nein, das mach’ ich schon!“ Sie drehte sich um und winkte ihrer Bedienung.

Hast du für heute schon was vor?“

Ich? – nein.“

Es ist noch etwas früh, um Essen zu gehen. Kennst du das Thermalbad in Dreschbach?“

Ein Kollege, der später von einem entlassenen Sträfling erschossen wurde, hatte es ihm empfohlen.

Ja.“

Was meinst du? Fährst du mit?“

Das wäre – oh, verflixt, ich habe keinen Badeanzug.“

Den holen wir vorher bei dir zu Hause.“

Nein!“, widersprach sie so scharf, dass er sie verblüfft musterte, und zum ersten Mal hielt sie seinem Blick stand. Mit keinem Argument würde er sie dazu bringen, jetzt in das Elternhaus zu gehen; eher verließ sie ihn auf der Stelle. Sie machte sich nicht klar, dass sie mit ihrem Verhalten mehr von ihren Problemen verraten hatte als mit einer langen Rede.

Okay“, gab er schließlich nach, „da ich aber auf das Thermalbad nicht verzichten möchte, mache ich dir einen Vorschlag: Von dem Essensgeld kaufst du dir einen neuen Badeanzug, und ich zahle unser Mittag- oder Abendessen. Einverstanden?“

Können Sie sich das denn leisten?“

Gong; die Runde ging nach Punkten an sie, er klappte sprachlos den Mund auf und zu, und sie errötete: „Hab’ ich Sie jetzt beleidigt?“

Nei – ein!“, krächzte er.

Das täte mir leid. Aber Hannes sagt auch immer, ich würde langsam fettsüchtig.“

Du würdest – was?“

Fettsüchtig. Ich fände jeden Fettnapf, um voll reinzutrampeln.“

Der Teufel sollte ihn holen, wenn er je die Psyche junger Mädchen verstehen würde. Mit einem Mal kam er sich sehr, sehr alt vor. Trotzdem war ihr strahlendes Lächeln schön, weil es unendlich viel Vertrauen ausdrückte.


In dem Geschäft am Bühler Markt schnappte er sich einen Hocker neben der Kasse und wartete amüsiert. Sie war sehr stolz mit ihm in den Laden marschiert, hatte aber nicht verraten, welche Rolle sie gerade spielte. Als sie seine Erheiterung registrierte, warf sie sehr damenhaft den Kopf in den Nacken. Schade nur, dass ihr dabei die eine Stufe aus dem Blickfeld geriet; er musste schnell zugreifen, und sie kicherte nervös, als sie sich hinterher den Oberarm rieb.

Bald erschien sie mit der leicht trotzigen und zugleich verlegenen Miene, die er nun schon an ihr kannte. „Hätten Sie was dagegen, wenn ich mir einen Bikini kaufe?“

Nein. Wenn er dir gefällt – warum nicht?“

Danke“, hauchte sie und sauste davon.

Das gute Stück war verdammt teuer, aber er sagte nichts, als sie hektisch die letzten Münzen aus dem Portemonnaie zusammenklaubte. Zum Geld hatte sie kein Verhältnis, darauf wollte er wetten, teuer war, was mehr kostete, als sie im Moment an Geld bei sich hatte. Eine Fünfzehnjährige , so dachte er missbilligend, sollte in diesem Punkt rationaler handeln.

Kurz vor Dreschbach sagte sie unvermittelt: „Ich hab’ mir schon immer einen Bikini gewünscht.“

Wieso?“, fragte er verständnislos.

Wir haben einen schönen großen Swimmingpool im Garten.“

Ich verstehe nicht, was …“

Aber bei Hannes zieh’ ich keinen Bikini an!“

Weil ein Lebensmüder auf der Gegenfahrbahn plötzlich ausscherte, bremste Landau scharf und verriss den Wagen nach rechts, die Reifen quietschten markerschütternd, Steine polterten gegen das Bodenblech, der Ruck schleuderte sie in den Gurt, aber das alles drang nicht zu ihr durch.

Der starrt mich schon im Badeanzug an, als ob …“

Sein Auto rumpelte und schwankte über die Kante zurück auf die befestigte Fahrbahn.

Und dieser Oliver ist noch schlimmer.“

Wer ist Oliver?“

Oliver Rendel. Ein Freund und früherer Kollege von Hannes. Sie haben ihn doch gestern gesehen.“ Nach dem Schreck mit dem Kamikazefahrer holte er tief Luft. „Er wohnt seit zwei Wochen bei uns. Das ist vielleicht ein Widerling. Ein richtig geiles Schwein.“

Er drehte kurz den Kopf, aber sie saß wieder sehr steif, sehr gerade und schaute starr nach vorn. Den „geilen, schweinischen Widerling“ hatte sie unbedingt loswerden wollen, und zum ersten Mal kam Landau eine Idee, was Susi bedrücken mochte.

Das Bad war nicht so voll, wie er befürchtet hatte, er schleppte immer eine halbe Expeditionsausrüstung mit, und Susi entfernte sich hoheitsvoll Richtung Umkleidekabinen. Mit ihren Stimmungsschwankungen aus heiterem Himmel verwirrte sie ihn immer noch. Vielleicht testete sie ihn auch nur, um die Grenzen seiner Geduld herauszufinden, das kannte er von jugendlichen Delinquenten im Gespräch; und sollte das der Fall sein, war Schweigen beruflich und vielleicht auch privat die beste und einfachste Antwort.

Gefällt er Ihnen?“ Kokett drehte sie sich herum.

Sehr schön. Aber ich kapiere nicht, warum so wenig Stoff so teuer sein muss.“

Ihr Zwinkern kam einem gelungenen Flirt sehr nahe, und schmunzelnd sprang er ins Wasser. Fünf Bahnen hielt sie mit, sie schwamm mit viel zu viel Kraft und Bewegung, die Langstrecken-Ökonomie beherrschte sie noch nicht. Eine Hälfte des Beckens war abgesperrt, seine Nachbarn zogen wie er gleichmäßig dahin, tausend Meter waren ein so anständiges wie ernsthaftes Maß. Als er sich abtrocknete, entdeckte er sie im anderen Becken, wo sie mit einer Gruppe Gleichaltriger herumtobte. Die Jungen versuchten, die Mädchen unter Wasser zu tunken; die Mädchen rächten sich mit gezielten Spritzern, die Hand flach aufs Wasser geschlagen, laute Schreie begleiteten Erfolge wie Misserfolge.

Eine halbe Stunde später wankte sie schwer atmend heran und ließ sich auf die Decke plumpsen: „Uff, bin ich fertig.“

Hunger? Durst?“

Weder – noch.“ Dabei sprang sie hoch, zerrte ihre Decke aus dem Schatten und streckte sich in der Sonne aus: „Ich brate mich jetzt.“

Viel Spaß. Ich weck’ dich, wenn du medium durch bist.“

Diese Aufgabe wurde ihm abgenommen, ein stämmiger Lockenkopf schlich durch die Reihen, sichtlich auf der Suche nach einer bestimmten Person, entdeckte sie und goss Susi das kalte Wasser aus seiner Badekappe über ihren Rücken. Wie von der Tarantel gestochen schnellte sie hoch und brüllte wüste Morddrohungen, der Junge stolperte vor Lachen, sie raste laut kreischend hinter ihm her, und Landau sah noch, wie sie gemeinsam ins Wasser stürzten. In aller Ruhe absolvierte er seine zweiten tausend Meter und bewunderte neidvoll Energie und Ausdauer der jungen Leute.

Nachdem sie sich das zweite Mal von der Sonne hatte trocknen lassen, zog sie ihre Decke auch in den Schatten, legte sich auf den Bauch, den Kopf auf die Fäuste gestemmt, und sagte tonlos: „Es war schlimm.“

Was war schlimm?“

Gestern, zu Hause. Ich hab’ mich in meinem Zimmer eingeschlossen, Hannes wollte mich verhauen, weil ich wieder ausgerissen war. Dann hat er sich mit Oliver betrunken, und zum Schluss haben sich die beiden geprügelt.“

Was hat denn deine Mutter gesagt?“

Mutter ist erst am Morgen nach Hause gekommen.“ Eine ruhige, fast sachliche Feststellung, und ihre Stimme ließ nicht erkennen, was sie wirklich meinte. „Hannes und sie haben sich fürchterlich in die Wolle gekriegt. Wieder einmal. Und da bin ich abgehauen.“

Dann wissen die beiden nicht, wo du jetzt bist?“

Nein. Das kümmert sie sowieso nicht.“ Auch das klang nicht einmal bitter, es war einfach eine Tatsache. Mutter Sina Döhle und Vater Hannes Döhle waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und hatten weder Zeit noch Aufmerksamkeit für Susi übrig.

Bist du auch schon während der Schulzeit ausgerissen?“

Und ob! Beim nächsten Mal muss ich in ein Internat.“

Was meinst du dazu?“

Ach, ich weiß nicht. Mehr Ärger kann ich nicht mehr kriegen.“ Danach blinzelte sie ihm zu, legte den Kopf auf die verschränkten Arme und schloss die Augen.


Er lud sie zum Essen ein, was sie zerknirscht, aber hungrig annahm, und auf ihr Versprechen, sich jetzt zweimal zu „revanchieren“, erwiderte er nichts. Schließlich war es nur ein Vorwand für sie, und warum sollte er sie zwingen, diese Wahrheit auszusprechen, die sie ohnehin kannte? Allerdings – was immer sie an Kummer mit sich herumschleppte, ihren Appetit beeinträchtigte es nicht. In den Stunden hatte sie Farbe bekommen, und dass er schwieg, störte sie nicht; sie war zufrieden, dass er kurz lächelte, wenn sie ihn anschaute.

Auf der Fahrt zur Waldparkallee seufzte sie plötzlich: „Bringen Sie mich noch an die Tür?“

Wenn du das möchtest – okay.“

Von der Seite sah er, dass sie auf den Lippen kaute. Endlich gestand sie: „Es hilft mir.“

Was hilft dir?“

Wenn Hannes oder Mutter sehen, dass Sie mich nach Hause bringen.“

Wie meinst du das?“

Hannes hat Angst vor Ihnen.“

Warum sollte er Angst vor mir haben? Er kennt mich doch gar nicht.“

Ich hab’ Ihnen doch erzählt, dass sich Hannes und Oliver fürchterlich besoffen haben. Und Hannes hat den Oliver angebrüllt, er sollte mal bloß vorsichtig sein, Sie wären so ein Scheißkerl, der nie Ruhe geben würde. Und heute Morgen hat er mit Mutter rumgeschrien, das sähe ihrer Tochter ähnlich, ausgerechnet mit Dirk Landau aufzukreuzen.“

Das ist ja lustig“, murmelte er.

Mutter mag Sie auch nicht leiden.“

Ach nee!“

Woher kennen Sie Hannes und Mutter?“

Du warst mal wieder abgehauen, und deine Mutter kam zu uns in die Detektei, wir sollten dich suchen. Meine Partnerin hat dich dann gefunden. Du hattest gerade deiner Großmutter das Leben gerettet. Ich habe deine Mutter ein Mal kurz gesehen und gesprochen, deinen Vater kenne ich überhaupt nicht.



Drittes Kapitel


Sina Feldmann – oder Döhle, wie sie jetzt hieß – erkannte er sofort wieder. Noch immer war sie eine schöne Frau, aber ihre Züge waren scharf geworden, und den unzufriedenen Ausdruck um den jetzt schmalen Mund bemerkte sie vor dem Spiegel wahrscheinlich gar nicht mehr.

Guten Abend, Mama. Das ist Herr Landau, wir waren im Thermalbad in Dreschbach.“

Auch Mutter Sina hatte ihn offenbar auf den ersten Blick erkannt, noch vor Susis Erklärung, und dann nach einem verwirrten Zucken ausdruckslos gelächelt. „Guten Abend, Herr Landau, möchten Sie nicht einen Moment hereinkommen?“

Nein, vielen Dank, Frau Döhle. Ich wollte nur Susi pünktlich abliefern.“

Vielen Dank, Herr Landau.

Es war ein wunderschöner Ausflug“, mischte sich Susi ein, und bei ihrem damenhaften Ton musste er ein Lächeln unterdrücken. „Und hinterher haben wir fantastisch gegessen.“ Ihre Mutter warf ihr einen zornig-forschenden Blick zu, den Susi zwar bemerkte, aber kühl ignorierte.

Ja, dann – vielen Dank für Ihre Mühe, Herr Landau.“

Susi ging schon ins Haus hinein, und weil sie noch in Hörweite war, hob er die Stimme: „Keine Ursache, Frau Döhle. Es war keine Mühe, sondern ein Vergnügen.“