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ISBN Print: 978 3 8006 6759 8
ISBN ePDF: 978 3 8006 6760 4
ISBN ePub: 9978 3 8006 6761 1
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Satz: Fotosatz Buck, Zweikirchener Str. 7, 84036 Kumhausen
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Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier
(hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff)
Vorwort ohne Sinn – dafür mit Verstand
I. Der Unsinn mit dem Sinn
1. Gelobt sei, was Sinn macht
Sinn und Schicksal
Ich bin dieser Niemand.
Die Schlacht um Midway – Pathos oder Pragmatismus?
Tat, nicht Sinn
2. Des Kaisers neue Kleider
Wie Konzerne sich verbiegen, um Purpose zu demonstrieren
It’s a Mad, Mad, Mad Purpose World
Purpose als „Corporate Religion“
Purpose Puzzle – Was versteckt sich hinter diesen Parolen?
Wer glaubt diese Hochstapelei?
3. Wie konnte es nur so weit kommen?
Fauler Zauber: Erklärungsversuche
Warum dann noch Purpose?
Unternehmen wollen es so
„Ich war jung und brauchte den Sinn“
II. Warum überhaupt Sinn?
1. Die neue Angst will Futter
Purpose, rette mich!
Kultur des Hungers, Kultur der Angst
Ära der Narzissten
Premium Mediocre – Die Aufwertung der Mittelmäßigkeit
Die Industrialisierung des Privaten
Arbeit, die uns auffrisst
Ist der Purpose Opium des Volks?
Trau keinem Sinn-Verkäufer!
2. Wege aus der Fremdbestimmung
Was wollen Sie denn?
Wozu dann noch ein Purpose?
Sinn für alle
Wozu (oder für wen) machen wir das alles?
Gesprengte Fesseln
‘Start with Why!’
Motivation im Alltag finden – ganz allein
63. Niemand kann Sinn verordnen (und Arbeit eigentlich auch nicht)
Das ’Why!‘ ist Psychologie pur
Erst das Individuum, dann das Unternehmen
Laufen lassen
Weil man will, nicht weil man soll
’Ruling Passion‘
’Career Crafting‘ und Regelbrechen
Bullshit-Jobs
Nicht alle Chefs sind Sadisten
Sinn ist Selbstverwirklichung
Passion ist gut, aber…
… Fokussierung ist besser
Wenn der Millionär trotzdem arbeiten geht
Der Gipfel der Manipulation
4. Alles nur eine Frage der Moral?
Vielleicht verwechseln wir ja was
Moral und Wirtschaft – ein Widerspruch?
Doppelmoral ist keine Moral
Moral ist kein Markenprodukt
Alltagsmoral
5. Worthülse New Work – Nur sinnlose Versprechen?
„Was der Mensch wirklich tun will“
Arbeit gegen Geld? Wer kam bloß auf diese absurde Idee?
Was uns New Work wirklich, wirklich bringt
Die Perversion von New Work
Digitale Nomaden – Immer in Bewegung bleiben
Heimat ist, wo ich WLAN habe
Auch Nomaden wollen was zum Beißen
’Du musst Dein Leben ändern!‘
III. Die Psychologie kennt keinen Sinn
1. Denken ist nicht fühlen
Die Überraschung
Was kümmert mich ein Schwarzes Loch?
Sinn ist psychologisch irrelevant
Was treibt dich an?
Menschliche Motive: Was uns bewegt
2. Erfüllung und Glück
Ein glücklicher Mensch …
Die Glückstheorie
Guter alter Maslow
Wir wollen im Grunde nur geliebt werden
Der Maslow’sche Verwechsler
Motivation und Emotion
Kennst du deine Motive?
73. Gute und schlechte Anreize
Der innere Antrieb – Intrinsische Motivation
Der freie Wille zum Lernen – Die Kognitive Bewertungstheorie
Die Selbstbestimmungstheorie
Extrinsische Motivation – Fatale äußere Anreize
Der Korrumpierungseffekt – Wie man demotiviert, indem man motiviert
Geld kann Spaß nicht ersetzen
Wie man Motivation nachhaltig zerstört
Und was ist dein wahrer Antrieb?
Diese Art der Sinnfrage macht eine Menge Arbeit …
4. Flow – Totale Hingabe
Der Ungar mit dem Flow
Die Merkmale des Flow-Erlebens
Worin gehst du völlig auf?
Die Schlüssel zum Flow
Die autotelische Persönlichkeit
Lohnt Flow?
Was Menschen im Flow sagen
Wer im Flow ist, fragt nicht nach dem Sinn des Lebens
5. Alles Einstellungssache?
Driver Technology
Einstellung kommt vor dem Handeln
Die Darbietungs-Keule: Der Mere-Exposure-Effekt
Die Kognitive Dissonanz: Innere Spannung abbauen
Die Post Decision Dissonance …
Die mentale Krücke
Führt Einstellung auch zu Verhalten?
Warum ändert sich so wenig trotz bester Absichten?
Wann wir den Hintern hochkriegen
Man macht es sich halt gerne einfach
IV. Die Philosophie kennt viel mehr als Sinn
1. Herrschen durch Sinnstiftung
Jesus würde vor Neid erblassen
Wie gesund ist das Opium des Volks?
Das haben herrschende Kulturen schon immer gemacht
Selbstverwirklichung als existenzialistisches Grundprinzip
Das war früher besser
2. Alles sinnlos – Der Existenzialismus
Kierkegaard: Der erste Existenzialist
Antwort auf die Jahrhundertkatastrophe
Was war Sinn und Zweck des Existenzialismus?
Ins Leben geworfen
Existenzialismus meets Pop-Kultur
Ist das nicht egoistisch gedacht?
8Camus und der (Un)Sinn des Lebens
Warum sich nicht gleich umbringen?
3. Sisyphos und sein verdammter Stein
Wir sind Sisyphos
Ein glücklicher Mensch
Das Leben an sich hat keinen Sinn …
Ein glückliches Leben
Hör auf zu jammern!
V. Arbeit neu denken – ohne Sinn
1. „Weiter so“ geht nicht mehr weiter
Verunsicherung verlangt Wandel
Sich erden im Hier und Jetzt
Weg mit den Ersatzbefriedigungen
Ungewissheiten akzeptieren
Sich vom unaufrichtigen Leben befreien
2. „Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer“ oder eher „Gefährliche Reise“?
Sehnsucht ist nicht nachhaltig
Besser wie Shackleton führen!
Dasein ist konkret, Sehnsucht ist es nicht
3. Mehr machen, weniger denken
Von Job Enrichment und Job Rotation
Abwechslungsreich, ganzheitlich und bedeutsam
Leider macht auch Waffenproduktion Sinn
Ein moralisches Dilemma, nicht eine Sinnfrage
4. Begeisterung ist die große Schwester von Zufriedenheit
Begeistern könnte vieles, aber tut es das auch?
Bloß nicht direkt fragen, wenn es um Trends geht
Was wirklich begeistert: der Job an sich
Captain America? Sisyphos!
5. Was gute Jobs wirklich ausmacht
Einen Job wählen wie mit Tinder
Die Qual der sinnvollen Wahl
Bloß nicht fragen, sondern berechnen
Die Tätigkeit an und für sich
VI. Sisyphos 2.0 – Die Lust zu bewegen
1. Sisyphos‘ Sicht auf Arbeit
„Ich liebe diesen Fels!“
Sisyphos als Olympionike
Darüber nachdenken, aber nicht zu viel
Lieber putzen als zu viel denken
92. Verschüttete Kerntalente freilegen
Arbeit macht keinen Sinn. Arbeit ist Sinn
Talent und Trauma liegen nah beieinander
Verschüttete Talente freibekommen
Und die Moral
3. Sinn muss man selbst finden
Der Überlebenssinn von Viktor E. Frankl
Finde deinen Sinn!
4. Ein besseres Leben: Stärken und Tugenden
Die Erfindung der positiven Psychologie
Values in Action – VIA
Erste Tugend: Weisheit und Wissen
Zweite Tugend: Mut
Dritte Tugend: Menschlichkeit
Vierte Tugend: Gerechtigkeit
Fünfte Tugend: Mäßigung
Sechste Tugend: Transzendenz
Stärken und Werte geben Sinn …
Signature Strength – die ganz persönliche Profilierung
5. Und wofür schlägt Ihr Herz bei der Arbeit?
Berufe auch jenseits des Ruhrpotts
Faktor 1: Berufliche Orientierung
Faktor 2: Arbeitsverhalten
Faktor 3: Soziale Kompetenzen
Faktor 4: Psychische Konstitution
Damit der Mensch zum Job passt
6. Und was interessiert Sie so überhaupt?
Es gibt nur 25 Berufe
Grundmuster von beruflichen Interessen
Berufsberatung hört nicht mit der Schule auf
7. Freiheit herrscht nicht
Selbstwirksamkeit ist Trumpf
Selbstlosigkeit als besondere Form von Wirksamkeit
Purpose ist Freiheitsberaubung
Sisyphos und Freiheit
Sisyphos und der Hamster
8. Wahre Größe dient
Service-Based Leadership
Was Friedrich den Großen so groß macht
Initiativen: Service-Based
Und jetzt du
10VII. Selbst Sinn und Glück finden – einige Anregungen
1. Glück ist das, was aus dir raus will
Dave Brubeck und wie er beinahe nicht weltberühmt geworden wäre
2. Die Reise nach Innen
Megatrend Achtsamkeit
Mentales Doping
Reflektiert, ausgeglichen, souverän
Achtsamkeit sollte man nicht lesen, sondern praktizieren
Training Is the Breakfast of Champions
Der schlimmste Feind des Sinns …
Achtsamkeit 4.0
Empfehlung
Sinnsuche? Lass es sein!
3. Sinn ist immer nur der eigene Sinn
Sinn kannst nur du selber
Wer will das schon?
Auseinandersetzung mit dem Ich
Der Paranoiker-Vorbehalt
Ihr eigener Sinn wird andere irritieren
Gedankenspiel Schiffbruch
Fortschritt ohne Zweck ist Sinn an sich
Nicht nur leben, sondern erleben
Gegenwartsorientierung
Weniger ist mehr
Was brauchst du wirklich zum Leben?
Vorfreude und Nostalgie
Der Härtetest des Sinns: Krankheit
Nachwort mit Alternativen zum Sinn
VIII. Anhang
Literaturverzeichnis
Endnoten
Wie man auch ohne Purpose Erfüllung
bei der Arbeit findet
von
Professor Dr. Ingo Hamm
Verlag Franz Vahlen München
Die Lust, einfach etwas zu bewegen
Die ganze Arbeitswelt redet von Sinn. Jeder sucht ihn, doch kaum jemand findet ihn – schon gar nicht bei der Arbeit. Wieso macht man den Job eigentlich, in einem Unternehmen, das man nicht richtig kennt, dessen Chef man nicht mag, in einer Wirtschaft, die man nicht mehr versteht? New-Work-Konzepte mit Sinnstiftung durch Arbeit, mit „Why“ und „Purpose“, versprechen viel. Aber trotz neuer Freiheiten bleiben viele Menschen unzufrieden und jagen immer dem nächsten, besseren und vor allem sinnvolleren Job hinterher.
Das Buch entlarvt eine regelrechte Sinn-Industrie von Beratern und Unternehmen, die vorgeben, die „Welt zu retten“. Sich auf diese New-Work-Köder einzulassen macht – im Gegenteil – unglücklich. Warum Sinngebung durch Unternehmen keinen Sinn macht, und wie man dennoch, ganz ohne Sinn, Erfüllung durch Arbeit findet, zeigt dieses Buch.
Der Autor zeigt neue Wege der Psychologie und Philosophie, um dem Unsinn mit dem Sinn zu entkommen, und wie man im Arbeitsleben ohne Sinn auskommt: es ist die Tätigkeit an sich, die glücklich macht, wenn man das tut, was man gerne macht und immer schon gut konnte. Es ist Zeit für einen „Existenzialismus der Arbeit“, in dem pures Erleben, Freiheit und Selbstbestimmung den Beruf bestimmen. Es ist Zeit für einen „Sisyphos 2.0“, wo Arbeit nicht das mühsame Auf und Ab ist, sondern die Lust, einfach etwas zu bewegen. Mit diesem Buch kann jeder eben einfach sinnlos glücklich werden.
Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie, war McKinsey-Berater, arbeitete auf Konzernseite und folgte schließlich seiner Leidenschaft für angewandte Forschung und Beratung. Hamm berät Organisationen bei der Umsetzung von Strategien und durchleuchtet als Autor und Redner aktuelle Trends für die Unternehmenspraxis. Er hat zahlreiche Vorträge, Beiträge und Fachartikel publiziert, sowie erfolgreiche Sachbücher veröffentlicht.
Haben Sie einen Beruf? Macht Ihr Job Sinn? Retten Sie damit die Welt?
Wohl kaum. Wer von uns könnte schon ehrlichen Gesichts von sich behaupten, beruflich die Welt zu retten!
Wenn Sie also nicht die Welt retten: Warum kündigen Sie dann nicht?
Warum machen Sie weiter einen Job, der offensichtlich keinen Sinn oder lediglich minderen Sinn macht?
Die Frage ist absurd, nicht wahr?
Und genau in dieser Absurdität stehen wir heute im Berufsleben. Irgendwer hat vor kurzem proklamiert, dass ein Job, ein Beruf, eine Arbeit nun plötzlich Sinn machen, die Welt retten müsse – sonst könne man ihn in die Tonne treten. Und weil das alles noch viel zu Deutsch und allgemeinverständlich ist, hat die New Work-Bewegung das ins weniger verständliche, aber marketing-fähige Neuhochdeutsch übersetzt:
Jeder Job ohne Purpose ist ein Bullshit Job.
Das ist doch mal ein Wort!
Nun kann jeder dahergelaufene Pseudo-Philosoph große Töne spucken – das ist in den Wind gesprochen. Es spielt keine Rolle, was ein selbsternannter Guru von sich gibt. Es spielt vielmehr eine Rolle, wer und wie viele seine unvorsichtig dahingesprochenen Worte für bare Münze nehmen.
Im Fall des sogenannten Noble Purpose, des Sinns der Arbeit, erleben wir diesbezüglich eine globale Pandemie.
„Einer Umfrage des Job-Netzwerks Xing zufolge legen Menschen großen Wert darauf, dass ihr Job sinnstiftend ist“, schreibt Julia Hägele in der Süddeutschen Zeitung (5.9.2020). „Jeder Zehnte gibt an, dass er sogar die Arbeit wechseln würde, um einer solchen Tätigkeit nachzugehen. Und jeder Zweite wäre bereit, für eine erfüllende Tätigkeit oder eine gesellschaftlich 12verantwortungsvolle Aufgabe weniger zu verdienen.“ Was ist bloß los mit uns?
Seit wann stehen für uns Gehalt und Status nicht mehr an erster Stelle? Beide spielen laut Jobbörse Indeed und ihrem Bericht „Meaning of Work 2020“ nicht mehr die wichtigste Rolle bei der Wahl eines Arbeitsplatzes. „Heute wollen Menschen einen Job, der sie erfüllt“, meint Indeed-Arbeitsmarktexpertin Annina Hering, als ob Arbeit gleichzusetzen wäre mit Glück, Erfüllung und Selbstverwirklichung. Wenn das unsere armen Großeltern wüssten, die noch arbeiteten, um unseren Eltern eine warme Mahlzeit täglich auf den Tisch stellen zu können! Arbeit soll einen messianischen Auftrag erfüllen und die Welt retten?
Das mit dem Messias ist nicht übertrieben: Der Purpose ist der neue Heilige Gral des westlichen Arbeitslebens. Die Arbeitgeber verbiegen sich geradezu in millionenschweren Werbekampagnen für den Nachweis, dass sie ab sofort nur noch Jobs anbieten, die Sinn machen, die Welt und die Robben-Babys retten. Sogar Waffenhersteller behaupten das neuerdings mit einer Chuzpe, die Baron Münchhausen wie den Wächter der Wahrheit aussehen lässt.
Arbeit muss Sinn machen. Das ist das neue Evangelium des Proletariats. Tatsächlich?
Im Gegenteil.
Die meisten Jobs, die vierfarbig-hochglänzend Sinnerfüllung versprechen, sind ausgemachter Etikettenschwindel. Auch wenn sie es nicht wären: Das Purpose-Konzept selbst ist nicht sinnvoll, sondern grenzdebil, geradezu irre.
Natürlich gibt es sinnvolle Jobs! Doch wer die Ausnahme zur Regel erhebt, möchte Angestellten und Arbeitnehmern jeden Tag Sahnetorte verschreiben. Zum Frühstück, zum Mittag- und Abendessen und zweimal zwischendurch – das verträgt kein Mensch. Das übersteht kein Mensch. Das ist weder gesund noch gewünscht. Das ist der Unsinn vom Sinn.
Sinn macht im Job keinen Sinn. Sinn im Job ist keine sinnvolle Sinnerfüllung, sondern lediglich eine weitere quiekende Publicity-Sau, die grunzend durchs New Work-Dorf getrieben wird.
„Wer leere Phrasen drischt, muss mit dem Risiko leben, an dem aufgewirbelten Staub zu ersticken.“
Margot S. Baumann
Sinn ist Trend. Das fordern die Leute und das bieten die Arbeitgeber seit kurzem in rauen Mengen an: Sinn. Alle reden davon. Alle stellen plötzlich die Sinnfrage. Bei der Arbeit. Früher haben wir dem Boss die Gehaltsfrage gestellt, heute stellen wir uns und ihm die Sinnfrage:
Macht meine Arbeit Sinn?
Was mache ich hier im Büro, in der Werkshalle überhaupt und sowieso? Was ist der tiefere Sinn des Lebens und der Arbeit?
Wenn unsere Eltern so eine Frage laut bei der Arbeit ausgesprochen hätten, wenn sie überhaupt derart keck gewesen wären, man hätte sie mindestens ausgelacht, wenn nicht für komplett meschugge erklärt. Heute ist es umgekehrt. Wer vor der Frühstückspause um Neun nicht schon mindestens dreimal die Sinnfrage gestellt hat, muss zur Strafe freitags für die Zukunft demonstrieren. Sinn ist in.
Sinn ist in den letzten Monaten dermaßen in, dass sich bei mir inzwischen die Anfragen verunsicherter Vorstände, Führungskräfte, Arbeiter und Angestellter häufen, die hinter vorgehaltener Hand wissen wollen, ob sie veräppelt werden oder ob der Sinn der Arbeit tatsächlich mehr sei als eine aufgeblasene Worthülse aus dem New Work-Vokabular. Ich beruhige sie dann und erkläre ihnen, dass der Sinn der Arbeit keine leere Worthülse sei.
Es ist viel schlimmer.
Ich glaube, dass der Trend ein Manipulationsversuch ist, mit dem Arbeitnehmer letztendlich für dumm verkauft werden sollen. Dass dieser Trend die Arbeit mit etwas aufzuladen versucht, das die meisten Jobs gar nicht zu leisten im Stande sind – und vor allem gar nicht nötig haben! Und wir können nicht alle bei Greenpeace, als Virologen oder als Notärzte arbeiten.
Sollten wir das denn?
15Wer beobachtet, welches Bohei um den Sinn der Arbeit gemacht wird, muss zum Schluss kommen, dass der Sinn der Arbeit über das Schicksal der Welt entscheidet. Mindestens.
Das ist ein guter Ansatzpunkt. Denn das Schicksal der Welt ist bestens dokumentiert; wir brauchen lediglich die Geschichtsbücher aufzuschlagen.
Wenn der Sinn der Arbeit so eminent, so schicksalsträchtig wäre, dann müssten sich in den Geschichtsbüchern doch jede Menge historischer Belege finden – und siehe da: Sobald man einen Sinn-Fan nach Belegen fragt, wird mit schöner Regelmäßigkeit das Lehrbuch-Beispiel vom Bau der Kathedrale zitiert1. Es geht so:
Ein Mann geht über den Vorplatz einer Kathedrale im Bau und trifft nacheinander drei Steinmetze, die exakt dieselbe Tätigkeit ausüben: Steine behauen. Jeden von ihnen fragt er, was er da mache. Der erste Metz antwortet: „Ich behaue Steine.“ Der zweite sagt: „Ich fertige Balustraden.“ Der dritte aber sagt: „Ich baue eine Kathedrale!“ Wer von den dreien ist der beste Steinmetz?
Rhetorische Frage. Natürlich der dritte. Warum? Weil nur er und er allein den Sinn seiner Arbeit, den Purpose erkannt hat, und weil dieser noble Sinn ihn heftiger als jede herkömmliche Motivation zu Höchstleistung antreibt. Niemand würde das bezweifeln.
Denn natürlich hat es diese Lehrgeschichte in praxi nie gegeben und vor allem nicht ihre postulierte Motivationswirkung – deshalb ist es eine Lehrgeschichte. Sie ist eine Parabel, eine erfundene Geschichte zu Lehrzwecken – oder zur Manipulation, wenn Sie so möchten. Davon kann sich jeder überzeugen, der einen Blick auf die echte Geschichte der Menschheit wirft. Picken wir ein recht plakatives und dramatisches Beispiel heraus.
16Die Schlacht um die Midway-Inseln im Pazifik war ein historischer Wendepunkt im Verlauf des zweiten Weltkriegs. Hätten diesen Punkt nicht die Amerikaner für sich entschieden, würden Sie diese Zeilen jetzt womöglich in japanischen Schriftzeichen lesen oder nächste Woche zur Blockwart-Wahl gehen. Midway war kriegsentscheidend, und diese Kriegsentscheidung konnte und kann recht eindeutig auf den Beitrag eines einfachen Soldaten zurückgeführt werden. Aha, Captain America in echt!
Genau das suggeriert der Sinn-Hype: Wenn jemand komplette Kriegsverläufe beeinflussen und das Schicksal der ganzen Welt wenden kann, dann doch wohl einer, der vom Sinn seiner herkuleischen Aufgabe durchdrungen ist, mindestens jedoch vom noblen Purpose der flammenden Vaterlandsliebe und dem ebenso noblen Bestreben, dem sinnlosen Morden ein Ende zu bereiten. Ja?
Ganz im Gegenteil. Wie kommen wir überhaupt auf die Idee, dass der Noble Purpose irgendeinen kriegsentscheidenden Impact hätte? Vom Streamen der Marvel-Blockbuster? Wo doch die echte Geschichte der Menschheit voll von Episoden und Begebenheiten ist, die das Gegenteil beweisen. Nie in der Geschichte der Menschheit hat der Sinn einer Aufgabe einen größeren Unterschied gemacht – das behauptet lediglich das ex post verbrämende Pathos. In Wirklichkeit läuft das Ganze umgekehrt.
Betrachten wir doch mal die Kriege und anderen Amokläufe der Menschheitsgeschichte: Je stärker bestimmte Leute ihrem irren Handeln irgendeinen übergeordneten Sinn aufpfropften – und das heute noch tun – desto eher endete es für ihre leichtgläubige und sinnsuchende Gefolgschaft im Speziellen und die Menschheit im Allgemeinen in Fiasko und Massenmord.
Auch das Umgekehrte gilt: Wenn in der Menschheitsgeschichte etwas Bahnbrechendes geschah, dann steckte dahinter nicht selten kein höherer, sondern ein im Gegenteil eher ganz pragmatischer Sinn.
Genau das beweist Midway, detailliert nachzulesen in Craig L. Symonds „The Battle of Midway“ (2011). Der wahre Held von Midway – falls es in Kriegen Helden gibt, Yoda war da ganz 17anderer Meinung – war kein Captain-America-Verschnitt, sondern der Inbegriff eines einfachen Arbeiters und Soldaten, der nicht von hehrem Purpose getrieben war, sondern schlicht seine Arbeit liebte – nicht das Pathos.
Mehr noch: Dieser einfache Soldat namens Joseph J. Rochefort stellte sich eben und gerade nicht die Sinnfrage bei der Arbeit, sondern erledigte schlicht und einfach seine Arbeit wie ihm aufgetragen wurde. Nicht die Sinnfrage entschied diese und jede andere Schlacht – auch wenn Comics und Filme wie „300“ Millionenbudgets verballern, um uns vom Gegenteil zu überzeugen. Nicht ein abgehobener, pathetischer Purpose entschied diese Schlacht, sondern die gewissenhafte Arbeit von Joseph J. Rochefort: Er war Kryptoanalytiker, im Volksmund „Codebreaker“ genannt.
Er entschlüsselte den Code der Japaner, was deren geheime Funksprüche in Klartext verwandelte und die Schlacht entschied. Warum tat er das? Weil er den höheren Sinn seiner Arbeit erkannt hatte? Weil er der Welt den Frieden bringen wollte? Nein.
Weil er gut im Kreuzworträtseln war.
Deshalb hatte ihn sein Vorgesetzter, Commander Chester Jersey Monate zuvor vom Tankschiff Cuyama für die neu gebildete „Code & Signal Section“ der Navy vorgeschlagen: „Der Mann ist gut im Kreuzworträtseln, der knackt sicher auch gerne Code-Rätsel.“ Das tat er. Und entschied Midway.
Was will uns das sagen?
Nicht die Sinnfrage entscheidet Schlachten, Karrieren und das Schicksal der Welt, sondern gewissenhafte Arbeit, Arbeit, die man gerne und deswegen gut erledigt – und das, was man damit erreicht: Impact.
Was etwas absolut Sinnvolles erreicht, das keinen oder kaum Impact entwickelt, beweisen freitags die Demonstranten fürs Klima. Sinn ohne Einfluss ist wie eine stillgelegte Lok auf dem Abstellgleis: Man kann noch so sehr den Kessel anheizen – die Lok kommt trotzdem nicht weit.
Nicht der Sinn entscheidet, sondern die Tat.
18Nicht das, was Sinnvoll ist, verändert die Welt – sonst hätten wir keine Klimakrise – sondern das, was getan wird: Daher die Klimakrise; es wird zu wenig getan, obwohl das allen Sinn der Welt machen würde. Der Sinn ist ein Gedanke, und Gedanken sind nicht nur frei, sondern wohlfeil. Es macht absolut Sinn, das Klima zu retten, und was machen viele selbsternannte Klima-Kümmerer?
Sie denken über die nächste Fernreise nach, laden ihr Smartphone unreflektiert mit Atomstrom oder genießen Veggie-Food auf nicht nachhaltiger Palmöl-Basis: Sinn und Tat, Feuer und Wasser. Das ist der Unsinn vom Sinn. So wird Schindluder mit dem Sinn getrieben.
Ich möchte sogar behaupten, dass es aus Sicht der Psychologie überhaupt keinen Sinn im herkömmlichen Sinne gibt. Nur weil wir über etwas wie den Sinn nachdenken können, heißt das nicht, dass der Sinn unser Handeln bestimmt – wie jeder weiß, der schon mal eine Diät machen wollte, total motiviert daran dachte und dann doch wieder Sahnetorte goutierte. Sinn ist ein erbärmlicher Ersatz für Taten.
Midway wurde nicht durch den Sinn entschieden, sondern durch die Liebe zum Kreuzworträtsel. Joseph J. Rochefort folgte keinem Pathos, keinem Sinn, sondern machte einfach nur das, was er gut konnte, was er mochte und worin er gut war. Sinnsuchende entscheiden keine Kriege – selbst wenn Kriege Sinn machen würden, was sie nicht tun.
Auch der Vorgesetzte von Soldat Rochefort hatte niemanden mit besonderer Vaterlandsliebe oder pathetischen Opferbereitschaft gesucht, sondern lediglich einen ordentlichen Handwerker.
Und doch geben heute Konzerne Millionen aus, um umworbenen Bewerbern und pingeligen Endkunden jenseits jeden Zweifels klar zu machen, dass ihr Unternehmen einen Noble Purpose verfolgt.
Merkt der Kaiser nicht, aus welchem Faden seine neuen Kleider gewoben sind?
Es ist ganz erstaunlich, welche Firmen neuerdings von sich behaupten, einem Noble Purpose zu folgen. Selbst ein Waffenhersteller überraschte mich neulich damit.
In einer Stellenanzeige postulierte er, dass ein Bewerber auf diese Anzeige, falls er für geeignet befunden würde, in seinem neuen Job „Verantwortung für das Gemeinwesen“ übernehmen würde.
Zufällig war ein Student unserer Hochschule auf dieselbe Anzeige gestoßen und fragte daraufhin verwirrt: „Verstehe ich das richtig? Auf Leute schießen macht also Sinn, wenn und weil es dem Gemeinwesen dient?“
Ich bin mir nicht sicher, ob da Verunsicherung oder blanker Sarkasmus aus ihm sprach. Ich war jedoch erfreut, einen jungen Menschen entdeckt zu haben, der nicht auf den Purpose-Hype hereinfällt. Denn viele andere gehen dem Purpose auf den Leim. Sind wir wirklich so leichtgläubig?
Funktioniert der Mensch so? Man drückt ihm eine Knarre in die Hand und sagt ihm, dass er damit „Verantwortung fürs Gemeinwesen“ übernimmt?
Wenn die menschliche Psyche nach diesem Kaugummi-Automaten-Prinzip funktioniert – oben Groschen einwerfen, unten kommt der Kaugummi raus – dann Gute Nacht!
Dann wäre der berühmte Purpose der größte Taschenspielertrick der Wirtschaftsgeschichte und Wirecard dagegen ein Bagatelldelikt. Wenn der Purpose derart manipulativ wirkt, dann sollten wir seinem Erfinder gratulieren! Kriegt er eigentlich Tantiemen dafür?
Und weil die Reise durch Absurdistan so delektabel ist, legen wir noch ein paar Etappen ein.
Deklinieren wir einige Purposes durch, die einem in freier Wildbahn voller Stellenanzeigen und Unternehmensleitbildern über den Weg laufen. Beginnen wir bei
„We move you!“2
Ein Unternehmen, das uns emotional bewegt? Nein, eben nicht. Es rührt uns emotional nicht mit bewegenden Geschichten, Erkenntnissen, Einblicken oder gar bewegender Kunst oder erhabener klassischer Musik an. Es bewegt uns überhaupt nicht seelisch, sondern physisch: Es stellt Autos her.
An diesem Punkt der Herleitung bekomme ich stets welche Reaktion von Zuhörern? Nun, was war Ihre?
Manche lachen erheitert auf, andere schmunzeln amüsiert. Das ist die Sekundär-Rezeption des Purpose: Wird seine manchmal subtile, manchmal absurde Manipulation aufgedeckt, dann ist der Purpose nicht mehr der vorgebliche Sinn unseres Lebens, sondern ein Schenkelklopfer, ein Treppenwitz der Manipulation. Manchmal reagieren die Leute auch sauer, wenn sie den Purpose-Trick durchschauen: Man bemerkt die Absicht dahinter – wir sollen manipuliert werden – und reagiert verstimmt. Dabei wäre die Sache so einfach: Besagte Autobauer sollen nicht vorgeben, uns seelisch zu bewegen. Die sollen einfach wie bisher gute – oder schnelle oder günstige oder elegante oder schadstoffarme – Autos bauen. Nächste Etappe:
„We reimagine fashion for the good of all.”3
Klar erkennbar: Hier spricht ein Modeunternehmen, das nicht einfach nur Klamotten nähen lässt, sondern sich dem Wohl von uns allen verschrieben hat – womit das denn? Mit Blusen und Hemden? Damit wir uns nicht missverstehen: Kleidung ist nützlich, Mode dagegen verschleißt mit ihren fiebrigen, mittlerweile zweiwöchentlich stattfindenden Kollektionswechseln, Stichwort „Fast Fashion“, die Ressourcen der Erde.
Sie nützt also dem Gemeinwohl nicht nur nicht – sie schädigt es. So gesehen macht der Purpose Sinn durch Nicht-Sinn: Wenn ich schon Ressourcenräuberei begehe, behaupte ich doch einfach keck das Gegenteil.
21Mit dem Purpose setzen sich purposende Unternehmen selbst den Heiligenschein auf und hoffen, dass wir uns von seinem Glanz blenden lassen. Der Purpose als Ersatzreligion, wobei diese Religion eine Religion des Absurden ist. Apropos Religion.
Nun mögen Religionskritiker einwenden, dass viele Religionen punktuell ins Absurde abdriften – ich weiß das nicht. Selbst wenn dem so wäre, bliebe immer noch die Frage: Wozu brauchen wir denn eine Religion des Absurden? Seit wann ist Absurdität ein wirtschaftlicher Produktionsfaktor?
Worauf die Marketing-Cracks einwenden: „Aber es funktioniert doch! Die Leute glauben unseren Purpose! Er motiviert sie! Er gibt ihrer Arbeit einen Sinn! Und die Kunden goutieren das und zahlen für so etwas freiwillig einen Extra-Euro!“ Wirklich?
Wenn Sie morgens im Büro den PC oder in der Werkshalle Ihre Maschine einschalten: Würden Sie das ohne den Firmenslogan nicht tun?
Weil Sie keine Familie haben, die Sie mit Ihrer Hände Arbeit ernähren müssen? Und weil Sie selber von Luft und Liebe leben? Hat nicht jeder von uns bereits seinen eigenen Purpose für die tägliche Arbeit? Wozu brauchen wir dann noch einen Über-Purpose? Nächste Etappe.
„Our mission is to accelerate the world’s transition to sustainable energy.”4
Das ist einfach! Dieses Unternehmen stellt – Stichwort nachhaltige Energie – ganz bestimmt Windräder, Brennstoffzellen und Solar-Farmen für den afrikanischen Kontinent her. Richtig? Falsch. Es stellt E-Autos der gehobenen Preisklasse her.
Ich denke, Sie haben inzwischen den Bogen raus, wie man hinter die Fassade von Hochglanz-Behauptungen blickt. Machen wir ein munteres Rätselraten daraus:
22„Inspire and develop the builders of tomorrow“5
Wessen Purpose könnte das sein? „Inspire und develop“ hört sich nach Bildungsauftrag an. Der Purpose könnte von der Kultusministerkonferenz eines englischsprachigen Staates stammen. Woher stammt er wirklich? Von einem Bauklötzchen-Hersteller.
„To inspire and nurture the human spirit.“6
Dieser ist einfach! Menschlicher Geist? Inspiration? Der Spruch stammt klar von einer der führenden Universitäten der Welt. Ja? Nein. Er stammt von einer Kaffeehauskette.
„We are here to help women everywhere develop a positive relationship with the way they look, helping them raise their self-esteem and realise their full potential.“7
Der Purpose einer Institution der Frauenförderung? Eines Programms für mehr Gleichberechtigung? Oder des Verbands der Psychotherapeutinnen? Nein: Die Firma stellt Duschgels und Körpermilch her.
„Making life multi-planetary“8
Der Slogan, der auf den Uniformen der Enterprise-Crew steht? Nein. Der Purpose eines Unternehmens, das außer der Erde noch keinen anderen Planeten besucht hat, das jedoch von einem Chef geführt wird, der es nicht unter einem Weltrekord, nein, einem galaktischen Rekord tut.
„We exist to refresh the world in mind, body and spirit.“
Hm, das ist ein schwieriger Fall. Worauf würden Sie tippen? Erfrischung für Verstand, Körper und Geist? Eine neue Weltreligion? Eine bahnbrechende neue Psychotherapie? Nein, ein Limonaden-Hersteller.
„To give everyone a voice and show them the world.”9
Wer jedem eine Stimme gibt, muss ein NGO für den Kampf für die Demokratie in totalitären Staaten sein; mindestens. Und tatsächlich? Eine Internet-Plattform für lustige Katzen-Videos.
„To be the world’s favorite destination for discovering great value and unique selection.”
23Das ist einfach: Destination? Dann ist das ein Reiseunternehmen. Nein, ein Fast-Food-Filialist.
Und jetzt ein ganz besonderes Bonbon aus der Schublade mit Noble Purposes:
„We will aim to continuously promote harmony between people, society, and the environment while contributing to the prosperity of society.“10
Harmonie und Wohlstand der Gesellschaft? Das US-Innenministerium! Nein. Ein asiatischer Autohersteller. Wussten wir es nicht schon lange? Wenn wir den Zündschlüssel drehen, dann dient das nicht der Fortbewegung, sondern der Harmonie und dem Wohlstand von Nationen.
„Help the world run better and improve people’s lives.”11
Die UNO-Blauhelme? Ärzte ohne Grenzen? Nein, ein Software-Konzern.
Und zum Abschluss ein schaurig-schönes Beispiel eines Purpose:
„Wir öffnen alle Augen für die Schönheit der Einzigartigkeit, erwecken sie zum Leben und machen das Leben selbst schöner! Für eine Welt, in der sich jeder gesehen, gehört und geschätzt fühlt.“12
Wer mag das wohl sein? Gott? Germany‘s Next Top Model? Der World-Wildlife-Fund? Da kann jetzt wirklich keiner darauf kommen: ein Kosmetik-Händler.
Und das war nur eine kleine Auswahl der messianischen Heilsversprechungen einiger besonders kreativer Unternehmen.
Seit meine lieben Mitmenschen wissen, dass ich solche Stilblüten sammle, schicken sie mir welche, wenn sie über eine besonders verstörende stolpern. Seit ich sie sammle, frage ich mich, warum wir nicht alle längst im Paradies wohnen. Selbst wenn nur zehn Prozent der Noble Purposes wahr wären: Wie würden im Schlaraffenland leben. Man fragt sich unwillkürlich:
Wir können uns auf unsere Meinungsforscher verlassen: Sobald ein neuer Trend auftaucht, wird er beforscht, so auch der Purpose. So hat unter anderem die gleichnamige Unternehmensberatung mit der „Kienbaum Purpose Studie“ (Kienbaum, Dopheide & Walter, 2020) den titelgebenden Purpose an 1.300 Befragten vieler Unternehmen erforscht. Ernüchterndes Ergebnis:
59 Prozent der befragten Fach- und Führungskräfte sind nicht in der Lage, den Sinn und Zweck der eigenen Firma auf Anhieb zu nennen. Sie wissen zwar, worin ihre eigene Aufgabe besteht und vielleicht auch, was ihr kleiner Beitrag für die nachfolgende Wertschöpfungsstufe im Betrieb – sprich die Nachbarabteilung – bedeuten könnte. Sie wissen jedoch nicht, was dieser Beitrag für das ganze Unternehmen bedeutet, was das eigene Unternehmen damit letztendlich bezwecken möchte. Hier herrscht ganz offensichtlich tatsächlich ein Manko: Sagt man den eigenen Mitarbeitern nicht explizit per Purpose, warum und wozu sie das machen, was sie machen, wissen sie buchstäblich nicht, wozu sie das machen. Wobei an dieser Stelle immer ein Einwand aus der Praxis kommt:
„Aber jedes halbwegs ordentlich gemanagte Unternehmen hat doch heute einen dokumentierten Claim!“
Stimmt – und auch dessen Wirkung untersuchte die besagte Studie; dazu Fabian Kienbaum:
„Wir haben festgestellt, dass es generell schwierig ist, einen Claim von einem echten Zweck zu unterscheiden.“ Das heißt: Die Belegschaft kennt vielleicht den Claim. Doch dieser ist meist derart mit Marketing-Sprech verschwurbelt, dass man ihn auch oder gerade mit Germanistik- oder Anglistikstudium a) nicht versteht und/oder b) darin keinen nachvollziehbaren Sinn oder Zweck entdecken kann.
Selbst wenn Claim = Purpose wäre: Was würde das nutzen? Ich befürchte: wenig bis nichts. Lazar Backovic und Michael Scheppe zitieren dazu im Handelsblatt-Beitrag (2020) „Corona wird zum Stresstest für den Managementtrend Purpose“ eine Studie der Unternehmensberatung Odgers Berndtson. Danach misst nur die Hälfte von 2.000 befragten Managern dem Purpose-Thema überhaupt eine größere Bedeutung zu.
25Nehmen wir beide Studien zusammen, dann ergibt sich allerdings Erschreckendes: Purpose? Sinn und Zweck des eigenen Unternehmens? Die Belegschaft weiß nichts davon und will davon auch nichts wissen.
Da fragt man sich doch unwillkürlich: Wenn keiner was davon wissen will – warum geben dann Unternehmen für den Purpose so viel Geld aus?
Warum machen die das überhaupt?
Wie konnte es bloß soweit kommen?
Woher kommt diese Sahnehaube auf der New Work-Torte? Warum arbeiten so viele Unternehmen überhaupt mit Purpose?
Eine gute Erklärung bietet der Blick zurück auf die ersten Vorstufen des Wahnsinns. Wir alle kennen sie und genießen noch immer die Auswüchse der Bespaßung der Belegschaft.
Wir reden hier weder vom Home Office, vom Tischkicker im Aufenthaltsraum noch von ernstgemeinten Verbesserungen der Rahmenbedingungen der Arbeit an sich. Wir reden hier über das, was zum Beispiel Irmela Schwab in ihrem W&V-Beitrag „Zwölf Arbeitgeber und ihre kreativsten Benefits“ (Schwab, 2019) an Wohltaten aufzählt und beschreibt, die Unternehmen über ihre Mitarbeiter ausschütten.
McKinsey zum Beispiel bietet seinen Beratern drei Monate Sabbatical pro Jahr. Mit der Regelung „Take Time“ können sie zwischen zwei Projekten ohne Angabe von Gründen bis zu drei Monate Auszeit nehmen, während ihr Gehalt anteilig weiterbezahlt wird.
SAP bietet Meditation im Büro an. Bereits mehr als 7.000 Mitarbeitende haben bereits Achtsamkeits-Trainings absolviert. Im Mittelpunkt der Meditationspraxis steht die Selbstreflexion.
26Cisco Systems gewährt Home Office – ohne Limit!
Die Deutsche Telekom fördert die Gesundheit ihrer Mitarbeiter mit mehr als 5.000 Deskbikes; das sind sozusagen Heimtrainer fürs Büro.
Upstalsboom ist eine Hotelkette, die ihre Azubis mit der „Tour des Lebens“ auf den Kilimandscharo oder auch zum nördlichen Polarkreis nach Spitzbergen schickt.
Die Mitarbeiter des Familienunternehmens Würth haben beim „Würth Open Air” Stars wie Sting und Die Fantastischen Vier erleben können. Puma hat einen eigenen Barber Shop im Werk – früher hieß das „Frisör“ – und bietet während der Arbeitszeit die Gelegenheit zur gepflegten Rasur, zum Haareschneiden oder zur Nagelpflege. Natürlich hat der Sportartikelhersteller auch ein obligatorisches Fitness-Center inklusive Kung-Fu und Yoga (je nachdem, was im täglichen Umgang mit Vorgesetzten und Kollegen angemessener erscheint).
Bei Henkel können Angestellte Geld- und Sachspenden sowie bis zu fünf Tage bezahlte Freistellung jährlich für ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten beantragen, wie zum Beispiel Brücken in Vietnam bauen.
Und wenn Henkel dabei für sich in Anspruch nehmen würde, damit zur „Harmonie und zum Wohlstand in der Gesellschaft“ beizutragen, dann wäre das in diesem Fall auf jeden Fall gerechtfertigt.
Delivery Hero versüßt mit Napping Rooms in der Firmenzentrale die anstrengenden Arbeitstage. Die Räume fürs Nickerchen sind ausgestattet mit Schlafcouch und Hängematte.
Die Angestellten der Münchner Paulaner Brauerei erhalten mit dem sogenannten „Haustrunk“ ein großzügiges monatliches Kontingent von 78-Bierzeichen, was in etwa 40 Litern Bier entspricht, natürlich auch andere Getränke.
Bei Porsche können Angestellte sich bei Eintreten eines akuten Pflegefalls ihrer Angehörigen drei Monate von der Arbeit befreien lassen und erhalten in dieser Zeit 75 Prozent ihres Bruttogehaltes. Auch dieser „Benefit“ spielt in einer deutlich anderen Klasse als Tischkicker und Kilimandscharo-Bespaßungsreisen.
27Beim Internetunternehmen Scout 24 sind die Hunde der Mitarbeiter nicht nur ein geduldeter, sondern ein geschätzter Teil des Arbeitsalltags. Viele Angestellte machen von der Möglichkeit Gebrauch, ihren Vierbeiner täglich ins Büro mitzubringen.
Und was hat Ihr Arbeitgeber so alles zu bieten, um Ihnen den harten Arbeitsalltag etwas erträglicher zu gestalten?
Das fragt man sich dann doch, wenn man sich durch dieses Paradies der Vergünstigungen schlemmt. Wer braucht denn noch einen Sinn bei der Arbeit, wenn man derart bespaßt, gepampert und verwöhnt wird?
Oder braucht es gerade deshalb einen aufgestülpten Sinn, weil man durch dieses Schlaraffenland der Gadgets zu sehr von der eigentlichen Arbeit abgelenkt wurde und man vor lauter Wohltaten gar nicht mehr weiß, wofür und für wen man eigentlich arbeitet?
Es gibt zwei mögliche Antworten auf diese Frage: Die Unternehmen wollen es so, und die Mitarbeiter wollen es ebenfalls.
Der plötzliche Hang zum Purpose kann zum einen bedingt sein durch den Fachkräftemangel, unter dessen Knute verzweifelte Unternehmen mit buchstäblich sämtlichen legalen Mitteln um Nachwuchs buhlen. Die Ratio dahinter ist allerdings bedenklich.
Sie könnte lauten: Mit sachlichen Argumenten gewinnen wir keine hochqualifizierten Bewerber mehr. Dieser „War for Talents“ hat sich im Stellungskrieg festgefahren, so dass die Strategen der Unternehmen nach „The Next Big Thing“ suchen – und was könnte größer sein als der Purpose, der Sinn des Lebens, der Arbeit und des Universums?
Die Materialschlacht der Bespaßung der Belegschaft kann mit noch mehr Material allein nicht mehr gewonnen werden: Nach dem dritten Tischkicker nimmt der Grenznutzen jedes weiteren exponentiell ab.
28Selbst die größten „Kanonen der Bespaßung“ verlieren durch ihren inflationären Gebrauch ihre Feuerkraft. Daher sucht man Zuflucht bei der neuesten Geheimwaffe im Krieg um Talente: Purpose.
Also wird emsig an einem vermeintlich moralischen Überbau für das ganze Unternehmen gearbeitet. Oder wie ein deutscher Konzernvorstand mir zuraunte: „Wir sind der Meinung, dass ein Unternehmen nur dann eine Existenzberechtigung hat, wenn es nachhaltig und langfristig Wert für die Gesellschaft schafft.“ Profit ist also out, tabu? Wer könnte so einer markigen Aussage widersprechen!
Und welches Unternehmen würde – wenn es ohnehin alle andern schon tun – sich nicht als Retter der Welt darstellen wollen? Zum Beispiel eines, das es eher mit Ehrlichkeit als mit megalomaner Selbstüberhöhung hält. Das kann ich jetzt nicht ernst gemeint haben: Ehrlichkeit?
Im Zeitalter von Fake News? Ehrlichkeit ist out. Nicht nur auf Seiten der Arbeitgeber. Denn der Purpose wird mit einer absolut marketing-tauglichen Push/Pull-Strategie in die Unternehmen hineingesogen und hineingeschoben: Die Arbeitgeber wollen den Purpose aus den geschilderten und aus einigen anderen Gründen – aber die Arbeitnehmer auch!
Der Purpose ist nichts, was die Unternehmen sich einfach so ausgedacht haben. Wir tun ihnen also Unrecht, wenn wir ihre Purposes anschauen und „Solche Dummschwätzer!“ denken oder sagen. Denn dieser Trend kommt auch aus dem Publikum:
Personalchefs lassen hinter vorgehaltener Hand häufig durchblicken: „Bewerber vor allem der jungen Generation springen voll darauf an. Wenn das so auf unserer Homepage und in der Stellenanzeige steht: Job mit Purpose – das finden die total gut.“ Und bewerben sich. Was damit beabsichtigt war. Oder wie es ein US-Headhunter uncharmant ausdrückte: „Dickheads take the bait.“ Narren schlucken Köder. In großer Anzahl. Warum?
Im Newsroom der Otto Group gibt Millennial Activist Monika Jiang im Interview „‘Generation Unruhe‘ auf der Suche 29nach dem Sinn“ (Remberg, 2018) einen Hinweis. Für sie ist „die aus der inneren Unsicherheit entstandene Frage nach der Sinnhaftigkeit ein entscheidendes Merkmal“ dieser Generation. Sie „möchte ihren Beitrag für eine gemeinsame Mission leisten…“
Das bestätigen auch empirische Erhebungen wie zum Beispiel der Deloitte Global Millennial Survey 2020, in dem wir lesen: „…millennials and Gen Zs express resolve and a vision to build a better future“. … „they have remained focused on larger societal issues.“
Die Generation Z arbeitet nicht, um Geld zu verdienen, sondern um Sinn zu finden und Sinn zu stiften. Sie lehnt klassische Hierarchien und ihre Machtspielchen ab – und damit ihre direkten Vorgesetzten, von denen sie verlangen, dass sie „besser“ sein müssen. Ein Chef erhält von dieser Generation nicht mehr Respekt aufgrund seiner Position, sondern nur noch Anerkennung für etwaige Sinnstiftung – früher haben die Gläubigen das von Pfarrer, Kirche und Papst erwartet. Oder vom Kommen des Messias. Das ist kein Witz.
Das hat bereits einen Paradigmenwechsel bei der Bewerbersuche von Unternehmen ausgelöst. Das demonstrieren Ratgeber wie „Perspektivwechsel im Employer Branding: Neue Ansätze für die Generationen Y und Z“ (Hesse & Mattmüller, 2015). Die Arbeitsmarktexpertin Annina Hering von Indeed meint, das könne auch daran liegen, dass ein großer Teil der Generation Y in finanzieller Sicherheit aufgewachsen sei und es sich leisten könne, für moralische Überlegenheit, Sinnsuche und Selbstfindung auf Geld und Sicherheit zu verzichten.
Wem schon bei der Geburt der Silberlöffel überreicht wurde, der giert nach Erreichen der Volljährigkeit nach Sinn und Purpose? Das kann ich als ersten Erklärungsansatz akzeptieren. Aber das geht mir nicht tief genug.
Könnte die Sinnfrage, die sich viele Menschen heute stellen, nicht auf ein tiefer liegendes Problem hindeuten?
„Sinn des Lebens: etwas, das keiner genau weiß. Jedenfalls hat es wenig Sinn, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein.“
Peter Ustinov
Wozu brauchen Menschen eine mentale Gehhilfe? Eine Krücke braucht nur, wer mit unsicheren Schritten unterwegs ist: Verunsicherung ist das Stigma unserer Zeit. Das verschwiegene, verdrängte, verleugnete, tabuisierte Lebensgefühl der Moderne.
Der moderne Mensch ist häufig überfordert, fühlt sich viel zu oft und zu sehr hilflos, verunsichert, ohnmächtig, zweifelnd, furchtsam, geängstigt. Natürlich wird diese Verunsicherung verdrängt, verniedlicht, verleugnet und überspielt.
Doch, Hand aufs Herz, sie ist da. Im Sturm dieser Verunsicherung sucht der Mensch nach einem Felsen in der Brandung, an dem er sich festhalten kann. Früher waren es Religion und Institutionen. Was bleibt uns noch, seit beide ihre Verlässlichkeit verloren haben? Der Purpose.
Der Purpose scheint nicht nur für die Generationen Y und Z der Notanker zu sein, sondern für alle Altersgruppen. Denn nicht nur die jungen Generationen befinden sich oft in finanzieller Sicherheit, sondern große Teile der Republik, die sich mit gut dotierten Jobs auseinandersetzen, bei denen es jedoch um Tätigkeiten oder Unternehmen geht, die wenig greifbar sind und deswegen nach Erklärung verlangen: dem Purpose.
Der arbeitende Mensch ist überfordert. Und nicht nur mit dem schmerzhaft vermissten Sinn und Zweck seines Jobs, sondern mit Sinn und Zweck seiner Existenz. Eine neue Angst geht um, die lange totgeglaubte Existenzangst.
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