Detlef Vetten
Eine Geschichte vom Siegen
und Verlieren
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Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH
ISBN 978-3-7307-0424-0
Inhalt
Am Boden
Schnappatmung
Wie es begann
Arbeitssieg
Aufstieg
Meisterschaft, die erste
Herr H. hat Urlaub
Barbara I
Augsburg und Manni
„Isch bin glücklisch“
Jupp Heynckes: Die Wurzeln
Jahrgang ’45
Die anderen: „Bomber“ und „Kaiser“
Dünne Luft
Sevilla
Das Säbener Gefühl
Schluss mit dem „Krampf“
Barbara II – Buffons Wut
Jupp Heynckes: Der Spieler
Sturm und Drang
Die anderen: Paul und Uli
Todeszone
Auf Gedeih und Verderb
Barbara III – Der Albtraum
Überfliegers Fehltritt
Jupp Heynckes: Der Trainer
Der preußische „Don“
Die anderen: Arbeit und Gaudi
Der Gipfel?
Jupp Heynckes und die Bayern
Dem Jupp sein Verein
Altstars
Machen Sie’s noch mal, Herr H.?
Barbara – Finale
Jupp Heynckes: Zahlen und Fakten
Literaturverzeichnis
Der Autor
Am Boden
Der FC Bayern München strauchelt. Startrainer Carlo Ancelotti und die Mannschaft haben keine Freude aneinander. Die Siege bleiben aus. In der Bundesliga scheinen die Münchner abgehängt, international drohen blamable Wochen. Was tun?
Schnappatmung
Am 8. März 1971 bekommt der größte Boxer aller Zeiten Prügel. Muhammad Ali ist am Ende der 15 Runden im New Yorker Madison Square Garden ein taumelnder Koloss. Er muss zu Boden. Rappelt sich auf und fordert Joe Frazier auf, härter zuzuschlagen. Jetzt gehe der Kampf erst richtig los. Dann wird Ali weiter verdroschen und verliert.
Der kleine Junge muss in den Keller, Bier holen. Er pfeift eine muntere Melodei. Nein, er habe keine Angst. Dabei pisst er sich beinahe in die Hosen.
Lars Schlecker sagt 2011, im Unternehmen der Familie sei alles so weit in Ordnung. Die Drogeriekette habe eine glänzende Zukunft vor sich. Nach Fehlern in der Vergangenheit gebe es den „Sinneswandel. Man sieht uns nicht mehr so negativ. Die Kunden nehmen das neue Konzept begeistert an.“ Doch dann: Nicht mehr lang – und das Imperium ist zerschlagen.
Das letzte Hurra klingt oft recht jämmerlich.
Nun erwischt es wohl die Bayern.
Der FC Bayern München. 2014 bewertet ihn die Londoner Agentur Brand Finance. Wert: 668 Millionen Euro. Es geht weiter gipfelwärts. Die Bayern machen sich in Nordamerika und vor allem in Asien als Marke breit. Ein Unternehmen mit Visionen ist da im Münchner Süden groß geworden.
Der FC Bayern München. 27 Deutsche Meisterschaften. 18-mal DFB-Pokalsieger. Sieben Supercups. Sechs Ligapokale. Fünfmal Champions-League-Sieger. Einmal UEFA-Cup. Einmal Europapokal der Pokalsieger. Zwei Weltpokale. Ein Europa-Supercup. Triple. Double.
Der FC Bayern München. Gerd Müller. Franz Beckenbauer. Uli Hoeneß. Lothar Matthäus. Manuel Neuer. Oliver Kahn. Bastian Schweinsteiger. Sepp Maier. Georg Schwarzenbeck. Rainer Ohlhauser. Philipp Lahm. Ottmar Hitzfeld. Udo Lattek. Pep Guardiola. Jupp Heynckes. Carlo Ancelotti.
FCB, laut Wikipedia: „Der Fußball-Club Bayern, München e. V., kurz FC Bayern München, ist ein deutscher Sportverein aus der bayerischen Landeshauptstadt München. Er wurde am 27. Februar 1900 gegründet und ist mit 290.000 Mitgliedern der mitgliederstärkste Sportverein der Welt. Bekannt wurde der FC Bayern München durch seine professionelle Fußballabteilung, die seit 2001 in die FC Bayern München AG ausgegliedert ist. Die erste Herrenmannschaft spielt seit der Saison 1965/66 ununterbrochen in der Bundesliga.“
Der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern München, Karl-Heinz Rummenigge, erklärt Ende September 2017, man sei mit sich im Reinen und freue sich auf die großen Herausforderungen der nächsten Zeit. In zwei Tagen steht ein Match in der Champions League gegen den französischen Meister Paris Saint-Germain an. Die Mannschaft gilt in Europa als schwer besiegbar, nachdem sie für 222 Millionen Euro den Stürmer Neymar gekauft hat. Nun verheert der französische Angriffsfußball die besten Mannschaften Europas.
Aber Karl-Heinz Rummenigge verbreitet Bayern-Stolz: „Ich freue mich auf Paris, das ist ein Prestigespiel. Auf der einen Seite der neureiche Verein, auf der anderen der altreiche. Wir haben mehr Erfahrung in der Champions League. Und die müssen wir ausspielen.“
Der traut sich was, der Bayern-Boss!
Es ist ja nicht so, dass die Münchner von Sieg zu Sieg sausen.
Im Gegenteil.
Es läuft mäßig. Manche Grantler meinen gar, die Zeiten seien beschissen.
Gerade hat der FC Bayern die Generalprobe vor dem Paris-Spiel vermasselt
Am Abend des 22. September 2017 tun sich die schnellen Berichterstatter von Spiegel Online mit dem Formulieren objektiver Häme leicht. Nach dem Bundesligaspiel des FC Bayern München gegen den VfL Wolfsburg rutscht der Spott geschmeidig ins World Wide Web: „Bayern verspielen Zwei-Tore-Führung gegen Wolfsburg. Eine 2:0-Pausenführung hat nicht gereicht: Der FC Bayern ist gegen den VfL Wolfsburg nicht über ein Unentschieden hinausgekommen. FCB-Keeper Sven Ulreich patzt.“
Was war jetzt des?
Zefix!
Mi leckst am Arsch!
Die Freunde des ehemals erfolgreichen FC Bayern München halten nicht mehr mit ihrem Zorn hinterm Berg. Der Verein schlittert von einer Peinlichkeit in die nächste. Startrainer Carlo Ancelotti trägt piekfeine Anzüge und ist scheinbar ungerührt – dabei fragen sich mittlerweile selbst Bayern-Sympathisanten, welche Seltsamkeit dem Wundercoach noch einfallen mag.
Es gab Zeiten, da wäre in solchen Augenblicken Franz Beckenbauer, dem „Kaiser“, der Kragen geplatzt. Da hätte er gewettert:
„Das Spiel hätte nicht im Stadion stattfinden sollen, sondern auf dem Sandplatz nebenan.“
„Das sind alles gute Fußballer. Nur: Sie können nicht Fußball spielen.“
„Ich bin immer noch am Überlegen, welche Sportart meine Mannschaft an diesem Abend ausgeübt hat. Fußball war’s mit Sicherheit nicht.“
Der „Kaiser“ aber hat andere Sorgen und kommentiert das Geschehen nicht. Dafür kommen erschreckende Töne von den Spielern. Nach dem Wolfsburg-Match sind die Akteure – ganz anders als ihr Boss Rummenigge – überhaupt nicht zuversichtlich.
Thomas Müller, der in den vergangenen Monaten alle Leichtigkeit früherer Zeiten verloren hat, versucht, den Torwart in Schutz zu nehmen: „Ulle weiß Bescheid, dass das auf ihn geht. Er hat sich entschuldigt. Das passiert. Von der Mannschaft wird kein Vorwurf kommen.“
Mats Hummels, ein Freund klarer Gedanken und gerader Worte, sagt: „Wir haben sie leider ins Spiel zurückgelassen. Ulle ist selbst sauer auf sich, blödes Ding.“
Es wird viel geredet in den Tagen vor dem Spiel gegen Paris Saint-Germain. Die Fans machen sich Sorgen, die Neider des FC Bayern haben eine gute Zeit. In den Redaktionen des Spiegel und des Stern, beim Kicker und der Sport Bild denken die Macher darüber nach, mit welchen Beiträgen sie die „Krise der Bayern“ begleiten werden. Die TV-Sender dauerparken mit Übertragungsteams an der Säbener Straße, wo die Profis ein- und ausgehen. Es könnte was explodieren bei den Bayern – man hat da so ein Bauchgefühl.
Die Bayern pfeifen im Keller. Besser ausgedrückt: Sie versuchen, sich aus der „Krise“ zu quatschen.
Startrainer Ancelotti probiert’s mit Allgemeinplätzen: „Wir müssen eine komplette Leistung abliefern, im Angriff und in der Verteidigung. Wir brauchen alle unsere Qualitäten.“
Mats Hummels besinnt sich auf seine Führungsrolle und gibt nach dem Abschlusstraining die Parole „Vorwärts“ aus. „Das Spiel ist unheimlich attraktiv. Ich freue mich auf die Herausforderung.“
Arjen Robben, geborener Niederländer und nimmersatter Routinier bei den Bayern, will, will, will: „Wenn man sich auf so ein Spiel nicht freut, muss man aufhören.“
Was Robben nicht weiß: Der Trainer wird ihn gegen Paris nicht mal aufstellen.
Parbleu! Das wird ein Höllenritt.
Wie es begann
Am 27. September 2017 lassen es sich die Menschen in Schwalmtal gut gehen. Die Sonne wärmt das niederrheinische Land, es werden sanfte 22 Grad gemessen, zum Wochenende soll’s noch sommerlicher werden.
Viel zu tun im Garten. Die letzten Tomaten sind reif. Die Kartoffeln ausbuddeln, abbürsten, kühl, trocken und dunkel einlagern. Die Rosen blühen lange in diesem Jahr; Astern, Sonnenhut und Fetthennen legen sich ins Zeug.
Cando, der Hofhund, genießt Tage wie diesen: Nicht zu heiß ist es – aber ein älterer Herr wie er mag es auch nicht kalt. Das Wetter ist perfekt, Cando aalt sich vor der Haustür.
Ein vollkommener Tag in Schwalmtal. Wenn nicht Frau Heynckes den Ärger mit ihrem Knie hätte. Das muss operiert werden. Blöde Geschichte!
Ansonsten: alles bestens.
Jupp Heynckes – sorgfältig rasiert, im lässigen Outfit – sieht blendend aus, er fühlt sich großartig. Blutdruck 120 zu 90. Ruhepuls 60. Morgens treibt er Sport, im Bauernhof gibt es einen Fitnessraum mit einer Mehrzweckkraftanlage. „Daran kann ich 25 Übungen machen. Außerdem fahre ich Rad, mache Gymnastik und gehe schwimmen.“
Der Hofherr kümmert sich ums Müsli-Frühstück, stromert später mit Cando über die Gemarkungen. Er telefoniert, erledigt den Briefkram, liest, werkelt im Garten, macht Besorgungen in Schwalmtal und Mönchengladbach, hat immer zu tun, ist selten gestresst.
Ein sportlicher Mann, dem man seine 72 nicht ansieht. Er ist ja ein Mensch mit hellem Teint, aber der Sommer an der Sonne hat einen dezenten Bronzeton hinterlassen.
Abends gibt es etwas Leichtes, dann noch ein bisschen Kultur, ein wenig Ablenkung durchs Fernsehen. Manchmal kommt die Tochter, oder man hat eine Einladung. An diesem 27. September 2017 ist es Fußball. Bayern spielt in der Champions League.
Sehr entspannt schaltet Jupp Heynckes ein. Er freut sich auf den Abend. Ein Glas guten Rotweins wird er sich gönnen. Bier haben sie im Haus Heynckes nicht.
Die Bayern spielen. Seine Bayern.
Mit den Fußballprofis des FC Bayern München hat Jupp Heynckes den größten Erfolg seiner beruflichen Karriere gefeiert. Bevor er in Rente ging, gewann der Trainer Heynckes mit der Mannschaft das Triple. Das war 2013. Bundesliga, Pokal, Champions League: Erster.
Danach war Heynckes endgültig einzigartig in Deutschland. Er ließ sich feiern und federte in den Ruhestand. Schluss mit der Anspannung. Kein Erfolgsdruck mehr. Zeit für die Frau, die Freunde, den Hund. Zeit für sich und zum Leben.
Heynckes hat nach seinem Triumph eine Reihe von irren Angeboten bekommen – da hätte man ihn gern in Gold aufgewogen. Ein halbes Dutzend renommierter Verlage bot viel Geld für seine Biografie. Lächelnd sagte er jedes Mal Nein. Er wollte seine Ruhe.
Nicht, dass sein Interesse für den Fußball aufgebraucht gewesen wäre. Er lehnte sich zurück, nippte am Wein, sah zu, genoss, dachte sich seinen Teil. Am Telefon quatschte er mit Insidern stundenlang über die Liga und die Lage. Wusste, welcher Spieler etwas taugte, welcher Profi umworben wurde, was Sache war. Ging, sozusagen, immer noch hinter den Kulissen ein und aus.
Jupp Heynckes also macht es sich gemütlich und hat Vorfreude. Seine Bayern treffen in Frankreichs Hauptstadt auf die Mannschaft mit dem teuersten Spieler der Welt. Für 222 Millionen Euro ist der Brasilianer Neymar zu Paris Saint-Germain gewechselt – seither gilt das Team als die Equipe mit dem furchterregendsten Angriff auf dem Kontinent. Nun müssen die Bayern – nicht so berauschend in die Saison gestartet – blankziehen.
Trainer der Münchner ist der Italiener Carlo Ancelotti. Einer der ganz Teuren, ein Fuchs, ein Titelgarant. Dem wird schon etwas einfallen, er muss schlaue Ideen haben, er muss.
Die Chefs beim FC Bayern München – Präsident Uli Hoeneß und Boss Karl-Heinz Rummenigge – sind nämlich stinksauer und sehr ungeduldig. Sie hatten sich von Signor Ancelotti versprochen, er würde das teure Ensemble von einem Sieg zum nächsten führen – mit ihm würde München endlich zu Europas Fußballhauptstadt werden.
Bislang war Ancelotti das viele Geld nicht wert. Nun – in Paris muss es das Team richten. Jetzt ein großer Auftritt, dann kann die Zukunft doch noch beginnen.
Jupp Heynckes weiß, wie sich die letzten Minuten vor einem Match anfühlen. Eigentlich kannst du als Trainer nichts mehr bewerkstelligen. Und doch bist du ein wichtiger Mann. Die Spieler nehmen schließlich wahr, was sich in den letzten Minuten vor dem Anpfiff tut.
Also müssen sie spüren, dass der Coach, dieser Übervater, den Sieg will. Er muss mit ihnen in den „Tunnel“ gehen. Nun gibt es nichts Wichtigeres als die kommenden eineinhalb Stunden. Nur das Gewinnen zählt. Der Gegner muss bekämpft werden, die Massen draußen warten aufs Spektakel.
Jetzt brauchen die modernen Gladiatoren ihren Vorkämpfer. Lässig sollte der Trainer die Siegeszuversicht demonstrieren. Ancelotti + Bayern = Triumph.
So sollte das sein.
Und was sieht Jupp Heynckes?
Dieser Carlo Ancelotti flaniert durch die Katakomben und unterhält sich angeregt mit französischen Profis. Er hat jede Zeit der Welt für den Gegner. Trägt seinen maßgeschneiderten Anzug spazieren und kümmert sich kaum um seine Buben. Die stakeln in die Arena und sollen kämpfen. Derweil schäkert Schlachtenlenker Carlo mit dem Feind.
Im Fernsehen blenden sie die Mannschaftsaufstellung ein. Jupp Heynckes muss zweimal hinsehen. Auch der Kicker fasst es nicht:
„PSG-Coach Unai Emery greift gegenüber dem 0:0 in Montpellier, dem ersten Punktverlust der bisherigen Saison, wieder auf seine vermeintlich beste Elf zurück, in der Yuri, Meunier und auch der deutsche Nationalspieler Draxler keinen Platz finden. Kurzawa und Dani Alves bekleiden die Außenpositionen in der Viererkette, außerdem kehrt Superstar Neymar nach einer angeblichen leichten Fußverletzung zurück.
Bayerns Trainer Carlo Ancelotti wechselt auf sechs Positionen: Süle, Martínez, Alaba (Rückkehr nach Sprunggelenksverletzung), Tolisso, Thiago und James dürfen von Beginn an ran. Boateng (nicht im Kader), Hummels, Rafinha, Rudy, Ribéry und Robben (alle Bank) müssen weichen.“
Kann das gut gehen?
Tut es nicht.
Der FC Bayern fängt sich kurz nach dem Anpfiff gleich mal einen Treffer ein, berappelt sich ein wenig – und dann wird die Mannschaft auseinandergenommen. Paris gewinnt mit 3:0 – und in Europa sind sich alle einig, dass die Münchner fortan mit Sperrsitzen in der zweiten Reihe vorliebnehmen müssen.
Jupp Heynckes geht seufzend zu Bett. Das haben seine Bayern nicht verdient.
Beim Müsli am nächsten Morgen ahnt er, dass sein Freund Uli in den nächsten Tagen öfter mal anrufen wird. In München nämlich ist Land unter.
Die offizielle Verkündung erfolgt um 15:53 Uhr. 16 Zeilen unter der Überschrift „FC Bayern trennt sich von Carlo Ancelotti“. Verwaltungsprosa, wie sie üblich ist bei Trainerentlassungen, mit Sätzen wie: „Die Leistungen unserer Mannschaft seit Saisonbeginn entsprachen nicht den Erwartungen, die wir an sie stellen.“ Dazu ein bisschen Herzwärme vom Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Rummenigge: „Carlo ist mein Freund und wird es bleiben, aber wir mussten hier eine professionelle Entscheidung im Sinne des FC Bayern treffen.“
Neutrale Beobachter sehen das auch so. Das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) berichtet: „Der FC Bayern hat sich nach dem ernüchternden 0:3 gegen PSG von Trainer Carlo Ancelotti getrennt.“
Es gibt viele Gründe. Zum Beispiel „die Aufstellung von Ancelotti, der mehrere Stammkräfte auf der Bank ließ. Nach der Schlappe erklärte Klubvorstand Karl-Heinz Rummenigge: ,Das ist eine Niederlage, nach der wir auch Klartext reden und Konsequenzen ziehen.‘
Trainer Carlo Ancelotti muss gehen. Der Italiener war erst im Sommer 2016 als Nachfolger von Pep Guardiola zu den Münchnern gestoßen – und führte den Klub zum Bundesliga-Titel.
Doch in der neuen Saison sind die Bayern bislang unter den eigenen Ansprüchen geblieben. In der Liga belegt der deutsche Rekordmeister nach sechs Spieltagen nur Rang drei.“
Die aufmerksamen Schweizer Beobachter weiter: „Präsident Uli Hoeneß erklärte das Aus von Ancelotti nach 454 Tagen so: ,Der Trainer hat fünf Spieler auf einen Schlag gegen sich gebracht. Das hätte er niemals durchgestanden.‘ Er habe in seinem Leben gelernt, dass der Feind im eigenen Bett der gefährlichste sei, so Hoeneß.“
Was nun, Herr Hoeneß?
Es ist Donnerstag, der 28. September 2017. Der Rentner Jupp Heynckes macht mit Cando die Runde. Er unterhält sich mit seiner Frau über die Knie-OP. Heynckes macht Sport. Ihm geht es gut, sehr gut. Wie lange noch?
München, in den Tagen nach dem 0:3. Nichts ist wie sonst, wie auch? Normalerweise treffen sich die Entscheider des Vereins einmal in der Woche, um sich abzustimmen. Vereinsboss Rummenigge hat das im Interview mit dem Manager Magazin so beschrieben: „Jeder Vorstand bringt dann ein Update aus seinem Ressort. Die finanziellen Aspekte, Personal- und Stadionangelegenheiten werden besprochen, die Mannschaftsbetreuung und das Sponsoring. Nach den Updates diskutieren wir meist über Personalpolitik und Transferperspektiven. Im Fußball gehört es jedoch zum Geschäft, dass wichtige Angelegenheiten auch schnell per Zuruf über den Flur entschieden werden. Wir arbeiten also so strukturiert wie nötig und so flexibel wie möglich.“
Nun geht es bei den Bayern zu wie in einem Kommandostand nach verlorener Schlacht. Großer Schaden ist entstanden, größerer muss vermieden werden.
Dabei hat es sich noch zu Saisonbeginn prima angefühlt, beim FC Bayern das Ruder zu führen. Die Nachrichtenagentur dpa vermeldete: „Der deutsche Rekordmeister Bayern München ist in der weltweiten Fußball-Geldliga um einen Platz auf Rang vier geklettert. Die Münchner steigerten ihren Umsatz in der Saison 2015/16 nach Berechnungen der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte auf 592 Millionen Euro.“
Die Münchner, so die Nachrichtenagentur weiter, seien der einzige deutsche Fußballverein, der in der europäischen Spitze mithalten könne – schon zum fünften Mal in Folge rangierten die Bayern unter den Top Five.
„Neuer Spitzenreiter ist Manchester United, das mit 689 Millionen Euro Real Madrid (620,1) von Rang eins verdrängte. Die Königlichen rutschten auf Platz drei ab, Zweiter bleibt der FC Barcelona (620,2).
Der im Vergleich zur Vorsaison um 25 Prozent gestiegene Umsatz beim FC Bayern ist einem Plus an Einnahmen aus internationalen Fernsehverträgen der Bundesliga und verbesserten Deals mit Werbepartnern geschuldet.“
Das hörte sich gut an. Man würde größer, stärker, reicher – keine Frage. Zumal das Fußballunternehmen aus München bekannt ist für seine umsichtige Geschäftsführung. Uli Hoeneß, seit 1979 fürs Management verantwortlich, hat die Maßstäbe gesetzt. Der Schwabe agiert nach der Devise: keine Schulden!
Er hat einen grundgesunden Betrieb aufgebaut. Während die Italiener und die britischen Vereine sich immer wieder mal im Schuldenschlamm suhlen, schreiben die Münchner seit Menschengedenken schwarze Zahlen.
Vorsichtige Geschäftsleute sind sie an der Säbener Straße, wo der FC Bayern sein Zuhause hat. Hoeneß hat ihnen schwäbische Sparsamkeit und Vorsicht beigebracht. Sein Kollege und Nachfolger Karl-Heinz Rummenigge erklärt im Manager Magazin: „Wir kalkulieren immer mit dem Worst-Case-Szenario. Wenn wir Champions League spielen, dann hat mein Kollege in der Finanzplanung für das nächste Jahr nur die Einnahmen aus der ersten Gruppenphase im Budget. Wenn wir dann Achtelfinale, Viertelfinale spielen, sind das Zusatzeinnahmen. In der Bundesliga kalkulieren wir im Schnitt mit 50.000 Zuschauern, obwohl wir jetzt schon wissen, dass im nächsten Jahr jedes Spiel mit 66.000 Zuschauern ausverkauft sein wird.“
Als Mittelstürmer ist Rummenigge ein Feuerkopf gewesen, bereit zu jedem Wagnis – Hauptsache, er machte ein Tor. Als Entscheider des FC Bayern mahnt er Demut an: „Es wird in den nächsten Jahren nicht einfach werden, unseren Platz zu behaupten. Das wissen wir. Wir müssen also versuchen, im Transfermarkt vorausschauend zu agieren. Wir haben hier auch eine andere Philosophie, wir setzen auch auf Dinge wie Teamgeist und auf Geduld, um die Mannschaft zu entwickeln.“
In der Branche zieht man den Hut.
Die Bayern wissen, wie man Geschäfte macht. Marco Mesirca von der MFS (Münchner Fußball Schule) kennt sich aus im Business, er schreibt: „Der wirtschaftliche Erfolg ist absolut abhängig von den Leistungen der Lizenzspieler. Daher ist der Spielerkader des FC Bayern auf die Teilnahme an internationalen Wettbewerben, explizit an der UEFA Champions League, ausgerichtet. Eine Nicht-Qualifikation an diesem europäischen Wettbewerb hat unmittelbaren Einfluss auf das Betriebsergebnis, da insbesondere Anpassungen an den Ausgaben nur bedingt möglich sind.“
Alles hatte so rosig ausgesehen, zu Beginn der Saison 2017/18. Und nun hat Carlo Ancelotti das Team in die Gefahrenzone gesteuert.
Den Bossen sträuben sich die Haare. Und weil Hoeneß nicht mehr so viele Haare zum Sträuben hat, jagt sein Blutdruck in den Himmel.
Sie haben einen Interimstrainer. Willy Sagnol, der Co von Ancelotti, springt nach der Entlassung des Italieners als Übungsleiter ein. Er hat schon früh den Chefcoach kritisiert: „Pep Guardiola setzte drei Jahre die jungen Spieler immer wieder ein, Ancelotti verlässt sich nur auf die erfahrenen Profis. Da fehlt die Kontinuität. Die Münchner Mannschaft ist zu alt. Du kannst die Champions League nicht gewinnen, wenn du vier Spieler hast, die 33 Jahre und älter sind.“
Aber Sagnol ist nicht wirklich der Mann, den Hoeneß und Rummenigge wollen. Sie reden über Julian Nagelsmann (der Senkrechtstarter unter den jungen Wilden ist in Hoffenheim unter Vertrag), über Thomas Tuchel (toller Mann, momentan arbeitslos, aber in der Branche als – pardon! – Stinkstiefel verrufen), sie reden über Joachim Löw (aber der will definitiv 2018 mit der Nationalmannschaft Weltmeister werden) und Jürgen Klopp (ist sehr happy in Liverpool und will vorerst nicht zurück in die Bundesliga, vielleicht wird er ja Löws Nachfolger) …
Sie zerbrechen sich die Köpfe. Sagnol verliert mit Bayern sein erstes Spiel als Chefcoach …
… und plötzlich ist er omnipräsent: der Name Jupp Heynckes.
Der Mann in Schwalmtal winkt ab. Er hat es doch gut, er tut sich den Stress nicht noch mal an.
Nein! Nein! Nein!
Aus München funken sie SOS.
Nein! Nein!
In München erklärt Uli Hoeneß, er brauche jetzt seinen Freund Jupp.
Nein!
Hallo, alter Spezl, hilf!
Jupp Heynckes trifft die Münchner. Zu dritt besuchen sie ihn. Man verhandelt. Man weiß: Er wird es machen. Er hat die Geschichte mit sich selbst schon ausgekartelt. Er ist sich bewusst, worauf er sich einlässt, er hat alles analysiert. Und er kennt seine Ziele.
Darüber wird er erst mal nicht öffentlich reden. Er gibt als Sprachregelung vor, dass er sich vorstellen könne, „aus Freundschaft“ den Bayern zu helfen. Man müsse noch ein paar Formalien klären, er habe Personalforderungen, er brauche zuverlässige Wegbegleiter an seiner Seite.
In München schlucken sie ein wenig: Die Neuen, die Heynckes will, müssen aus Verträgen abgelöst werden, sie kosten Geld.
Aber es muss nun mal sein. Sonst kommt der Jupp nicht.
Am Freitag, dem 6. Oktober 2017, vermeldet n-tv: „Der FC Bayern holt Jupp Heynckes aus der Fußball-Rente zurück in die Bundesliga. Der 72-Jährige wird den Rekordmeister als Nachfolger des in der vergangenen Woche beurlaubten Cheftrainers Carlo Ancelotti bis zum Saisonende übernehmen. Das bestätigt der Klub nun auch offiziell. ,Ich wäre zu keinem anderen Verein der Welt zurückgekehrt, aber der FC Bayern München ist eine Herzensangelegenheit für mich. Ich habe ein sehr gutes Gefühl‘, sagte Heynckes in der Pressemitteilung der Münchener.
Für Heynckes ist es das insgesamt vierte Engagement bei den Bayern nach 1987 bis 1991, 2009 und 2011 bis 2013. Mit der Entscheidung für den Routinier bis zum Saisonende gewinnen die Bayern-Verantwortlichen um Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge und Präsident Uli Hoeneß vor allem Zeit, eine langfristige Lösung zu finden.
Assistenten von Heynckes werden Peter Hermann und Hermann Gerland. Hermann war bis zuletzt Co-Trainer bei Zweitliga-Tabellenführer Fortuna Düsseldorf. Medienberichten zufolge haben ihn die Bayern für 1,75 Millionen Euro aus seinem Vertrag gekauft. Im Erfolgsfall soll sich die Ablöse auf 2 Millionen Euro erhöhen. Gerland lässt für die Aufgabe seine Tätigkeit als sportlicher Leiter im Nachwuchsbereich des FC Bayern bis zum 30. Juni 2018 ruhen.“
So sei es.
Kleiner Nachtrag zur Personalie Hermann. Das regelt Heynckes wie ein Gentleman. Der Düsseldorfer Trainer Friedhelm Funkel erinnert sich: „Als ich hörte, dass Jupp Heynckes bei den Bayern im Gespräch ist, wusste ich: Das macht der nie ohne den Peter Hermann. Jupp rief mich extra an, um mir zu erklären, warum er den Job in München ohne Peter nicht machen kann. ‚Jupp‘, habe ich gesagt, ,das brauchst du mir doch nicht zu erklären.‘ Da meinte er, ich sei jünger und könne mich schneller auf einen Neuen einstellen. ‚Jupp‘, habe ich gesagt, ‚ich bin 63.‘ Da hat er gemeint: ‚Na und?‘“
Sie sind vom gleichen Schlag, der Friedhelm Funkel und der Jupp Heynckes. Für sie liegt die Wahrheit wirklich aufm Platz. Sie wollen aus jedem Spieler das Beste herausholen. Über Bande spielen – nicht ihr Ding. Intrigen? Krumme Dinger? Linke Touren? Nicht ihr Ding.
Sie sagen, was sie denken. Und wenn sie nichts sagen wollen, bekommen sie ein verschlossenes Gesicht und halten den Mund.
Es muss sauber zugehen bei ihnen.
„Wenn ich an meinem letzten Arbeitstag mein Auto bei den Klubs abgab, war es gewaschen, von mir persönlich ausgesaugt und aufgetankt. Da bin ich wie der Jupp. Es gibt viele Spieler und auch Trainer, die machen das ganz anders, die hinterlassen bei vielen Arbeitgebern keinen guten Eindruck. Das bezieht sich nicht nur auf den Dienstwagen. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Jupp und ich noch da sind. Und ein anderer Grund ist unsere Liebe zum Sport. Sie können mir glauben: Ich freue mich auf jeden Spieltag. War immer so.“
Jupp Heynckes’ Geschichte beginnt also 1945, ganz unten. Und führt in die Jetztzeit, ganz oben.
2017 wird der ehemalige Fußballtrainer Jupp Heyn ckes – nach einem letzten großen Triumph zurück getreten – reaktiviert.
Er soll den in Not geratenen FC Bayern München retten.
Der Klub kann sich jeden großen Trainer auf dem Globus leisten.
Die Bosse wollen Heynckes.
Denn es ist nun mal so: Wenn jetzt einer helfen kann, dann ist es der Jupp Heynckes vom Niederrhein.
Es gibt sonst keinen.
Jupp Heynckes ist der Einzige für diese Mission.
Schon irre!
Er führt eine Truppe aus Männern, die in „dünner Luft“ überleben müssen.
Fußball ist immer Heynckes’ Leidenschaft gewesen. „Es ist eine Freude, da rauszugehen und zu kämpfen“, sagt er. „Aber es ist kein Genuss zu tun, was ich zu tun habe. Ich stehe morgens auf und arbeite Fußball – den ganzen Tag. Nachlassen ist nicht erlaubt. Das Training muss vorbereitet werden, ich muss den nächsten Gegner studieren, ich muss mir eine Strategie fürs nächste Match ausdenken. Jedes Spiel ist ein Endspiel. Ich rede mit den Männern, ich hole das Maximum aus ihnen heraus. Das ist anstrengend.“
Abends kommt er ins Hotel und ist platt.
Am nächsten Tag geht es weiter.
Muss ja.
Wenn Heynckes nicht funktioniert, funktionieren auch die „Bayern“ nicht.
Knapp zwei Wochen nach Heynckes’ Amtsantritt gewinnen die Münchner daheim vor 70.000 Zuschauern die Champions-League-Begegnung gegen Celtic Glasgow mit 3:0. Es ist eine klare Angelegenheit. Zielstrebig erarbeiten die Münchner sich den Sieg. 26:9 Torschüsse. 61 Prozent Ballbesitz. 12:3 Ecken. Die Torschützen: Endlich wieder mal Thomas Müller. Joshua Kimmich. Mats Hummels.
Im Studio des Sportsenders Sky sitzt Experte Lothar Matthäus und ist erfreut. Das sehe doch wieder nach den alten Bayern aus, sagt er und nimmt sich noch ein alkoholfreies Bier.
Er habe es gar nicht mehr mit anschauen können, wie die Münchner sich in den letzten Monaten selbst verloren haben. „Das hat hinten und vorn nicht gepasst. Und Carlo Ancelotti hatte wohl schon aufgegeben. Der Jupp ist jetzt Gold wert.“
Lothar Matthäus kennt Jupp Heynckes seit 38 Jahren. 1979 fiel der Jungspund aus Herzogenaurach dem jungen Trainer auf. Heynckes holte Matthäus nach Mönchengladbach und formte ihn: „Dass ich später Weltklasse wurde, habe ich dem Jupp sehr zu verdanken. Er war in dieser Zeit wie ein zweiter Vater für mich.“
Jetzt beobachtet Matthäus – ehemals Weltklasse, dann Trainer, heute Experte, immer noch ausgesprochen redefreudig, immer noch nicht sehr misstrauisch – den hochverehrten Jupp Heynckes bei seinem Comeback in einem europäischen Wettbewerb.
„Es ist, als ob er nicht weg gewesen ist“, sagt Matthäus. „Der Mann ist in Topform, da können sich manche Junge eine Scheibe abschneiden. Beim Jupp habe ich manchmal das Gefühl, der Mensch wird nicht alt.“
Wie das?
„Ich weiß, wie der die Mannschaft führt. Wie er gleichzeitig eine Vaterfigur und ein strenger Aufpasser ist. Sein Ehrgeiz ist immer noch so groß wie früher. Ich sag’ euch, das ist ein Ehrgeiz, den du erst einmal aushalten musst.“
Wie das?
„Ich erzähl’ euch eine Geschichte. Ich war noch nicht lang bei Gladbach – vielleicht in der zweiten oder dritten Saison. Wir sind mit dem Bus nach Hamburg, hatten ein Auswärtsspiel beim HSV. Es war grausam, ich weiß das Ergebnis nicht mehr – aber wir haben furchtbar verloren.
Sind danach in die Kabine, keiner hat ein Wort gesagt. Der Heynckes hat nur da gestanden und die Arme verschränkt. Wir haben geduscht, die Sachen gepackt und sind zum Bus gedackelt. Ein paar Fans standen rum und haben uns beschimpft.
Wir waren froh, als der Bus losgefahren ist. Einer wollte Musik machen. ‚Nix da!‘, hat der Heynckes gesagt. Ein paar wollten Karten spielen. ‚Nix da!‘, hat der Heynckes gesagt.
Sonst hat er nichts mehr geredet. Auf der ganzen Fahrt nicht. Wir haben es auch nicht gewagt zu sprechen. Es war das totale Schweigen, bis Mönchengladbach.
Man ist ausgestiegen und zu seinem Auto. Kein ‚Auf Wiedersehen‘, nur: ‚Morgen um neun Sondertraining!‘
Da warst du als junger Spieler echt bedient. Wenn der Heynckes beleidigt war, war er schlimmer als jede Frau.“
Gleich muss Matthäus raus ins Live-Studio, die zweite Halbzeit des Bayern-Spiels ist fast zu Ende. Er wird sagen können, dass Heynckes’ Truppe einen ziemlich soliden Auftritt gehabt habe. So dürfe es weitergehen.
„Der macht das schon“, sagt Matthäus.
Was macht er schon?
„Das, was er vorhat. Wirst sehen.“