Kapitel 1
Praça Charles Miller
Die Anfänge des brasilianischen Fußballs
Zwirbelbart, zerzauste Haartolle, weißes Hemd, schwarze Shorts, einen Fußball in den Händen: solchen Aufnahmen aus längst vergangenen Tagen, in denen noch Magnesium als Blitzlicht diente, verdanken wir das Bild, das wir von Charles William Miller haben. Charlie Miller kam am 24. November 1874 im Stadtteil Brás in São Paulo zur Welt. Sein Vater war ein schottischer Ingenieur, der zusammen mit 3.000 anderen Briten nach Südamerika gekommen war, um die Eisenbahn zu bauen. Seine Mutter war Carlota Fox, eine Brasilianerin mit englischen Vorfahren. Mit neun Jahren wurde Charlie, wie es in vornehmen Kreisen üblich war, auf die Schule nach England geschickt. Zunächst besuchte er die Banister Court School in Southampton, bevor er auf die höhere Schule in Hampshire ging.
Banister war eine kleine, von Reverend George Ellaby gegründete Privatschule für die Söhne der Schiffskapitäne der Peninsular Steam Navigation Company. Der Direktor zu Millers Zeit war Christopher Ellaby, der Sohn des Reverends. Christopher Ellaby war ein begeisterter Anhänger des Fußballspiels. In England hatte der Fußball dank der am 26. Oktober 1863 gegründeten Football Association bereits ein offizielles Regelwerk. Als erster Verband überhaupt hatte die FA die Richtlinien des Spiels formuliert. Ellaby war während seiner Zeit in Oxford Kapitän der Collegemannschaft gewesen und gab nun seine Fußballbegeisterung an seine Zöglinge weiter.
Charlie Miller war ein tüchtiger Athlet und wurde schon bald Spielführer seiner Schulmannschaft. Wegen seines Milchgesichts und seines schmächtigen Körperbaus verpassten seine Mitspieler ihm den Spitznamen „Nipper“, zu Deutsch in etwa „kleiner Knirps“. Trotz seiner Statur war er ein hervorragender Mittelstürmer, wenngleich er manchmal auch Linksaußen spielte. „Er ist unser bester Angreifer. Er ist schnell, seine Dribblings sind exzellent, und er hat einen strammen Schuss. Tore schießt er außerdem mit großer Leichtigkeit“, hieß es in seinem Zeugnis.
41 Tore in 34 Spielen für Banister Court sowie drei Tore in 13 Spielen für die St. Mary’s Church of England Young Men’s Association, aus der später der heutige Erstligist FC Southampton hervorging, belegten seine Treffsicherheit. Millers Spielweise war leichtfüßig und schlitzohrig. Er war überaus einfallsreich, hatte eine großartige Ballkontrolle und eine Vorliebe für geschickte Finten, mit denen er seine Gegner verblüffte. Mit 17 erhielt er ein Angebot des Corinthian Football Club aus London, der Spieler aus Schulen und Universitäten in ganz England rekrutierte, um der Übermacht schottischer Teams zu begegnen. Jahre später diente Corinthian, auf Millers Anregung hin, als Vorbild für einen der berühmtesten Klubs aus São Paulo: die Corinthians.
1894 kehrte Charlie nach abgeschlossener Ausbildung nach Brasilien zurück. Im Gepäck hatte er zwei in Liverpool hergestellte Fußbälle, die er von einem Mitspieler geschenkt bekommen hatte, dazu eine Luftpumpe, ein Paar Fußballschuhe, zwei Trikots (eins von Banister und eins von St. Mary’s) sowie einen dicken Wälzer mit dem Regelwerk der Football Association. Angeblich soll Charlie sogar auf der Heimreise trainiert haben. Dabei soll er ständig das Schiffsdeck rauf- und runtergedribbelt sein, um Passagiere und andere Hindernisse herum. Am 18. Februar kam Charlie in Santos an, und als sein Vater ihn fragte, was er aus England mitgebracht habe, sagte er: „Meinen Abschluss. Dein Sohn hat seine Ausbildung zum Fußballer mit Auszeichnung bestanden.“
Der 21-jährige Anglobrasilianer begann wie sein Vater für die São Paulo Railway Company zu arbeiten und schloss sich dem São Paulo Athletic Club an, der im Mai 1888 von der britischen Gemeinde gegründet worden war. Die Mitglieder spielten allerdings lieber Cricket als Fußball. Sie wussten zwar, wie das Spiel funktionierte, aber niemand interessierte sich dafür – bis Charles Miller sie mit den Grundlagen vertraut machte.
Freunden, Kollegen und hohen Beamten der Gaswerke, der Bank of London und der Bahngesellschaft erklärte er die Regeln sowie einschlägige Begriffe wie „Halbzeit“, „Ecke“ und „Strafstoß“. So konnte er nach und nach eine Reihe von Anhängern gewinnen. Er überredete sie, auf einem Platz im Stadtteil Várzea do Carmo, zwischen den Vierteln Luz und Bom Retiro, in der heutigen Rua do Gasômetro, zu trainieren. Viele Leute beobachteten neugierig, was auf dem Platz vor sich ging. Nur wenig später schrieb Celso de Araújo in einem Brief an seinen Freund, den Journalisten Alcindo Guanabara aus Rio de Janeiro: „In der Nähe von Bom Retiro gibt es einen Haufen Engländer, Verrückte, wie es nur Engländer sein können, die etwas herumtreten, das wie die Blase einer Kuh aussieht. Es scheint, dass ihnen dieses Ding große Freude bereitet, aber auch großen Kummer, wenn dieser merkwürdige gelbliche Sack in ein Rechteck aus hölzernen Stangen befördert wird.“
Allen Skeptikern zum Trotz begann der Fußball unter den Gentlemen der britischen Gemeinde Fuß zu fassen, und Miller gelang es schließlich, für den 14. April 1895 ein Spiel zu organisieren. In Várzea do Carmo trafen zwei Mannschaften aus Brasilianern und Engländern aufeinander: die São Paulo Railway und die Companhia de Gás. Angeführt von Miller, der zwei Tore erzielte, besiegten die Eisenbahner die Gaswerke mit 4:2. Es waren nur wenige Zuschauer da: Freunde, leitende Angestellte und Arbeiter, dazu ein paar Esel, die in der Nähe grasten. Das war aber nebensächlich, denn es war das erste offizielle Fußballspiel in Brasilien und damit die Geburtsstunde des brasilianischen Nationalsports.
Zwar hatten schon vor Charlies Rückkehr nach Brasilien die Arbeiter englischer Firmen und britische Seeleute zwischen 1875 und 1890 in den Straßen und an den Stränden von Rio Fußball gespielt, einmal sogar vor der Residenz von Prinzessin Isabella, die das brasilianische Kaiserreich im Namen ihres Vaters Dom Pedro II. regierte. Und es ist richtig, dass der Jesuitenpater José Montero am São Luis College von Itu ein Spiel namens bate bolão einführte, das von Professoren und Schülern betrieben wurde, so wie sie es in Eton zu tun pflegten. Es ist außerdem wahr, dass Spiele wie ballon anglais an verschiedenen kirchlichen und nichtkirchlichen Instituten in São Paulo, Rio de Janeiro und Rio Grande do Sul ausgeübt wurden. Aber für die Brasilianer war Charles Miller O pai do futebol, der Vater des Fußballs, denn er organisierte nicht nur das erste historische Match, sondern rief auch die Fußballabteilung des São Paulo Athletic Club ins Leben. Außerdem hatte er entscheidenden Anteil an der Gründung der ersten brasilianischen Fußballvereinigung am 14. Dezember 1901, der Liga Paulista de Futebol, aus der ein Jahr später die erste Liga des Landes hervorging.
Am 3. Mai 1902 nahm die Liga mit fünf Mannschaften (São Paulo Athletic Club, Associação Atlética Mackenzie College, Sport Club Internacional, Sport Club Germânia und Club Athletico Paulistano) den Betrieb auf. SPAC (São Paulo Athletic Club) dominierte die ersten drei Spielzeiten. Die Spielkleidung des Vereins bestand aus hellblau und weiß gestreiften oder rein weißen Trikots, dazu schwarze Hosen und schwarze Stutzen. Mit zehn Toren in neun Spielen war Charles Miller Torschützenkönig der Saison 1902, im Finale erzielte er beide Treffer beim 2:1 gegen Paulistano. 1903 konnte SPAC den Titel mit einem erneuten Finalsieg gegen Paulistano verteidigen. Auch im Jahr darauf war SPAC siegreich, und Charlie war mit neun Treffern gemeinsam mit seinem Teamkollegen Boyes erneut erfolgreichster Torschütze.
Miller spielte bis 1910 beim SPAC. Da war der Fußball in Brasilien bereits nicht mehr nur das Spiel der urbanen weißen Elite, die den Sport als Symbol des modernen Europas ansah, sondern wurde auch von den unteren Klassen betrieben. Für sie war der Sport auch ein Mittel, um sich auszudrücken, was ihnen in anderen sozialen Umfeldern nicht möglich war.
Wie populär der Fußball schon damals in Brasilien war, zeigte auch die Tournee des Corinthian Football Club of London. Die Fußballer aus England trafen am 21. August 1910 mit der SS Amazon in Brasilien ein. Sie absolvierten drei Spiele gegen Fluminense und zwei weitere Teams, die sie alle deutlich gewannen. Dann fuhren sie nach São Paulo, um gegen Palmeiras, Paulistano und am 4. September gegen SPAC anzutreten. Es war eines der letzten Spiele des 36-jährigen Charles Miller. Die Engländer schlugen SPAC vernichtend mit 8:2. Auch in den anderen Partien hatten sie viele Tore erzielt. „Wir haben nichts anderes erwartet; jeder weiß, dass Corinthian auf technisch hohem Niveau spielt, wohingegen wir, fußballerisch gesehen, noch blutige Anfänger sind“, schrieb der Journalist Adriano Neiva da Motta e Silva, besser bekannt als De Vaney.
Der Besuch der englischen Mannschaft erregte großes Interesse in der Öffentlichkeit. In den Zeitungen wurde über ihre Ankunft berichtet, vorm Hotel Majestic warteten Menschenmengen auf die Fußballer, und das Velodrom, wo die Spiele stattfanden, war restlos ausverkauft. „Die Zuschauer zollten jeder gelungenen Aktion Beifall, und die Luft war von französischem Parfum erfüllt. Sie waren etwas Besonderes, diese Spiele von Corinthian“, schrieben die Zeitungen in São Paulo.
1910 hing Charles Miller die Fußballschuhe an den Nagel und widmete sich ganz seiner Arbeit bei der Royal Mail Line, einer Reederei mit Sitz in England. Jahre später baute er sein eigenes Reiseunternehmen auf und fungierte gleichzeitig als englischer Vizekonsul. Er heiratete Antonieta Rudge, eine der renommiertesten Pianistinnen Brasiliens, die ihn 1920 für den Dichter Paulo Menotti Del Picchia verließ. Er hatte zwei Kinder aus der Ehe und gab seine Verbundenheit zum Fußball nie auf. So war er Schiedsrichter, arbeitete als Manager und blieb stets ein begeisterter Anhänger des Spiels.
Charles William Miller starb am 30. Juni 1953 im Alter von 79 Jahren. Er hatte erlebt, wie São Paulo zu einer Metropole heranwuchs und futebol, den er ein halbes Jahrhundert zuvor ins Land gebracht hatte, sich zu einer nationalen Leidenschaft entwickelte. Er war dabei, als Brasilien die Weltmeisterschaft 1950 ausrichtete, und durchlitt mit Millionen von Brasilianern eine der schmerzlichsten Stunden der brasilianischen Fußballgeschichte, als Brasilien im entscheidenden Spiel gegen Uruguay vor eigenem Publikum im Maracanã-Stadion den WM-Titel verspielte.
Charles Miller ist bis heute in Erinnerung geblieben. In der brasilianischen Fußballsprache bezeichnet der Begriff chaleira (eigentlich „Teekessel“, abgeleitet von „Charles“) den Trick, den Miller zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfand, bei dem der Ball hinter dem Standbein gestoßen wird, beim Schuss also die Beine überkreuzt werden. Genau ein Jahr nach seinem Tod wurde der Platz vor dem Estádio Municipal Paulo Machado de Carvalho (besser bekannt als „Pacaembu“, nach dem Viertel, in dem es sich befindet) nach ihm benannt. Heute ist das riesige Areal im Herzen von São Paulo, das in seiner Form an eine griechische Arena erinnert, auf der einen Seite von riesigen Wolkenkratzern und auf der anderen Seite vom Pacaembu begrenzt.
Das Pacaembu ist ein cremefarbener Jugendstilbau, der an einem Hang angelegt wurde. Das Stadion wurde am 27. April 1940 vom brasilianischen Präsidenten Gétulio Vargas, São Paulos Bürgermeister Prestes Maia und dem Architekten Ademar de Barros eingeweiht. Damals bot es 71.000 Zuschauern Platz. Heute hat es nach Umbauarbeiten im Jahr 2007 rund 40.000 Plätze. Die Heimspielstätte der Corinthians ist ein echtes Juwel und eines der beliebtesten Postkartenmotive der Stadt. Im Inneren, unter den vier Säulen am Haupteingang und der riesigen Uhr, befindet sich das Fußballmuseum mit 17 Räumen, das am 29. September 2008 eröffnet wurde. Ausgestellt werden Fotos, Videos, Aufnahmen berühmter Fußballer, Memorabilien, Souvenirs, seltene Artefakte und Statistiken. Die Ausstellung gleicht einer Reise durch den brasilianischen Fußball des 20. Jahrhunderts.
Hilário Franco Júnior, Professor für Geschichte des Mittelalters, hat ein viel beachtetes Buch geschrieben: A dança dos deuses: futebol, sociedade, cultura („Der Tanz der Götter: Fußball, Gesellschaft und Kultur“). Es beleuchtet die Geschichte des brasilianischen Fußballs aus vier Perspektiven:
„Am Anfang wurde der Fußball kritisiert, weil er für nutzlos erachtet wurde, aber es dauerte nicht lange, bis er sich vom Sport der Elite zum Spiel der Arbeiter entwickelte. In den dreißiger Jahren gab es dafür die ersten Anzeichen. Brasilien wurde sich einer Art gegenseitiger sozialer Befruchtung bewusst, wie sie von Intellektuellen wie Gilberto Freyre, Paulo Prado und Sérgio Buarque de Holanda beobachtet worden war. Mischlinge, Farbige und Weiße begannen, miteinander zu leben. Es gab keinen Grund mehr, sich zu schämen, und wenn Mischlinge Fußball spielen konnten, war das umso besser. Bei der WM 1938 war der Halbbrasilianer und Halbportugiese Leônidas da Silva bester Torschütze. Das war ein Weckruf für das Land. Ein Farbiger und ein Mischling spielten ebenfalls im Turnier, trotz der Proteste derer, die ihren Ausschluss gefordert hatten.
Der nächste entscheidende Einschnitt war das Maracanaço, als Brasilien 1950 im Kampf um den WM-Titel von Uruguay geschlagen wurde. Der Dramatiker Nelson Rodriguez bezeichnete diesen Moment als ‚psychologisches Hiroshima‘. Das war es tatsächlich. Es war ein Schlag für die Psyche der brasilianischen Gesellschaft und der politischen Klassen, die gehofft hatten, dass ihnen ein Turniersieg zum Erfolg bei den bevorstehenden Wahlen verhelfen würde. Es war eine nationale Krise, die erst 1958 endgültig überwunden wurde: Brasilien berappelte sich und gewann in Europa den WM-Titel. In Paris skandierten die Brasilianer: ‚Wir sind die Besten der Welt!‘ Der Nationalstolz explodierte geradezu.
Ab diesem Moment sehnten sich die Brasilianer danach, ihr nationales Minderwertigkeitsgefühl durch einen erneuten Titelgewinn zu überwinden, was ihnen 1962 und 1970 auch gelang. Aber es war ihnen nicht immer vergönnt. Es gab eine sportliche Dürre, dann die Militärdiktatur, Unterdrückung, Folter, politische Oppositionelle, die einfach verschwanden … Die Gesellschaft hoffte schweigend auf den Fußball. Zweifel schlichen sich ein, trotz einiger Erfolge.
Es ist ein Gefühl, das den brasilianischen Fußball bis heute durchzieht. Brasilien schätzt den Fußball, es bringt großartige Spieler hervor, aber es ist nicht mehr die Fußballgroßmacht, die es einmal war. Es gibt andere Großmächte im Weltfußball, und es gibt auch außerhalb Brasiliens großartige Spieler. Brasilien möchte das Brasilien der Zukunft sein, aber sobald es scheint, dass das Brasilien der Zukunft da ist, fangen die Probleme an. Brasilien bewegt sich eher im Zickzack als geradlinig voran. Es macht einen Schritt vor und zwei zurück. Im Fußball ist es nicht anders.“
Nach den Ausführungen des Professors, in denen er mittelalterliche Utopien dem Fußball in der Gesellschaft gegenüberstellt, wenden wir uns einer Begebenheit zu, die sich im Fußballmuseum des Pacaembu abspielte. Zwei Schulkinder warten darauf, eingelassen zu werden. Die lärmenden Schüler verlieren sich in den weitläufigen Räumen und Korridoren und halten kurz an einem interaktiven Exponat. Dort können sie Elfmeter schießen und ihre Schussgeschwindigkeit messen, auf einem Miniaturplatz kicken oder Tischfußball mit kleinen hölzernen Modellfiguren spielen. Am Museumseingang vermittelt ein großer Saal den Besuchern eine Ahnung davon, welche Bedeutung der Fußball in Brasilien hat, und zwar mit einer bunten Sammlung an Fahnen, Bannern, Postern, Wimpeln, Schlüsselanhängern, Schnickschnack, Karikaturen, Dokumenten, Mützen und Teppichen. All das ist eine Hommage an die Leidenschaft der Fans.
Eine Rolltreppe bringt die Besucher in den ersten Stock. Dort werden sie von Pelé in drei verschiedenen Sprachen begrüßt. Die Besucher werden anhand von Bildern eines Balls, der von einem kleinen Jungen getreten wird und von einem Feld zum nächsten hüpft, durch die Räume geführt. Barocke Engel fliegen hoch oben im Dunkeln. Lebensgroße Modelle von Fußballlegenden dribbeln, schießen und tänzeln durch die Luft. Auf einer Tafel steht: „Es sind 25, doch es könnten ebenso gut 50 oder 100 sein, denn sie waren die Väter des Fußballs, einer Kunstform, die in Brasilien gespielt wird. Götter und Helden, Idole vieler Generationen, die als Engel betrachtet werden können, deren Flügel oder vielmehr Füße uns an Orte führen, wo Kreativität, Poesie und Magie gedeihen. Sie sind wahre Engel barocker Kunst.“ Engel mit Namen wie Pelé, Sócrates, Gilmar, Carlos Alberto, Bebeto, Tostão, Garrincha, Ronaldo, Gérson, Rivelino, Didi, Vavá, Romario, Ronaldinho, Roberto Carlos, Rivaldo, Taffarel, Zico, Zagallo, Falcão, Nílton Santos, Djalma Santos, Jairzinho, Julinho Botelho, Zizinho.
Ein Junge namens Paulo, der mit seinen Klassenkameraden ins Museum kam, ist in ein Video über das Tor, das es nicht gab, vertieft, Pelé gegen den uruguayischen Torhüter Ladislao Mazurkiewicz im Halbfinale der WM 1970. Immer wieder und wieder schaut er sich das Video an. Dann liest er staunend und Name für Name die lange Liste barocker Engel. Er schaut zu den Bildern auf und fragt seinen Freund: „Warum ist Neymar nicht dabei?“
Neymar hat es noch nicht zu solcher fußballerischer Größe gebracht, aber draußen vor dem Stadion, unter der Wintersonne, verkaufen die Straßenhändler kein Trikot so häufig wie das goldgrüne mit der Nummer 10, das dem jüngsten Poeten des brasilianischen Fußballs gehört.
Kapitel 2
Prosa und Poesie
Gespräch mit José Miguel Wisnik, brasilianischer Musiker und Essayist
„Wer sind die besten Dribbler der Welt, und wer die besten Torjäger? Die Brasilianer. Es versteht sich von selbst, dass ihr Fußball reinste Poesie ist: Er kreist um Dribblings und Tore. Catenaccio und die Aufteilung des Raums in Dreiecke stellen die Prosa des Fußballs dar: Sie basieren auf Synthese, auf einem kollektiven und organisierten Spiel, also der überlegten Ausführung des Fußballcodes.“
In seinem 1971 verfassten Essay „Il calcio ,è‘ un linguaggio con i suoi poeti e prosatori“ („Mit seinen Poeten und Prosa-Autoren ist der Fußball eine Sprache“) verglich der Filmemacher, Autor und Fußballfan Pier Paolo Pasolini literarische Genres mit Spielweisen im Fußball. Dabei unterschied er zwischen Fußballpoesie und Fußballprosa. Auf dieser Unterscheidung gründet auch José Miguel Wisnik, der brasilianische Musiker, Komponist, Essayist und Professor für brasilianische Literatur, seine Analyse des Spiels, das er leidenschaftlich liebt. Er ist großer Fan von Santos.
Seine Argumentation hat er in dem vor ein paar Jahren erschienenen Buch Veneno remédio: o futebol e o Brasil („Gegengift: Fußball und Brasilien“) dargelegt. Heute sinniert er darüber, was Neymar für die Geschichte des Fußballs in seinem Land bedeutet oder bedeuten könnte. Wisnik bezeichnet Neymar scherzhaft als den „Baudelaire des Fußballs“. Während er gemütlich in seinem Arbeitszimmer in São Paulo sitzt, geht er ein wenig in sich, bevor es aus ihm rausbricht:
„Der brasilianische Fußball brachte eine Tradition hervor, die auf der Ellipse basiert, eine Spielweise, die darauf angelegt ist, nichtlineare Möglichkeiten zu schaffen, Räume zu erobern und die Defensive zu durchbrechen. Meine Ideen basieren auf dem, was Pasolini über Fußballprosa und Fußballpoesie schrieb. Wir stimmen darin überein, dass Fußballprosa gradliniger ist, taktisch strenger, mannschaftlicher, defensiver. Sie beinhaltet Konterangriffe, eine Aufteilung des Raums in Dreiecke, Flankenwechsel und rationale Spielzüge. Die Idee der Fußballpoesie ist, aus dem Nichts heraus auf nichtlineare Weise neue Räume zu schaffen, wobei Dribblings der entscheidende Faktor sind. Sie dienen dazu, in gegnerische Räume vorzustoßen oder einfach spielerisch schön und effektiv zu sein. Sie können Mittel zum Zweck sein oder eine Möglichkeit, ein Tor zu erzielen. Mané Garrincha beispielsweise trieb das Dribbling auf die Spitze, war aber gleichzeitig sehr effektiv. In der Geschichte des brasilianischen Fußballs gab es ruhmreiche Momente, in denen Dribblings um ihrer selbst willen zelebriert wurden, aber gleichzeitig effektiv waren.
In den dreißiger Jahren, als Gilberto Freyre Brasilien aus soziologischer, anthropologischer und historischer Perspektive analysierte, wies er darauf hin, dass das Selbstverständnis des brasilianischen Fußballs eng verknüpft sei mit dem Selbstverständnis der Mischlinge. Die Brasilianer verwandelten die choreografierte, schematische Spielweise der Engländer in eine Art Tanz, indem sie elegante Beinarbeit, Capoeira und Sambaelemente vermengten. Das hatte zweifellos großen Einfluss darauf, wie unsere ganze Kultur heute wahrgenommen wird: die Vorstellung, dass Effizienz nur gewürdigt wird, wenn sie mit Freude einhergeht. Anders gesagt: Der ideale Zustand ist eine Zusammenführung von Arbeit und Feiern. In dieser Hinsicht ist der brasilianische Fußball sowohl das Gift als auch das Gegenmittel, denn er ist so wie Popmusik und Karneval eine Form kultureller Verwirklichung, aber er ist auch ein Problem, weil er der Vorstellung Vorschub leistet, unsere Kultur stelle Faulheit und Almosen über Leistungsfähigkeit.“
Können wir auf das Thema Fußball und Poesie zurückkommen und was das mit Neymar zu tun hat?
„Natürlich. Das war nur eine kleine Einführung. Also, die Brasilianer veränderten den englischen Fußball auf eine Weise, die Freyre als kurvenförmig und Pasolini als poetisch bezeichnete. Diese Spielweise wurde in Südamerika in den sechziger Jahren entwickelt und erreichte ihren Höhepunkt bei der WM 1970 in Mexiko. Damals bediente sich der brasilianische Fußball eines Repertoires an nichtlinearen Spielzügen, die sich als Ellipsen bezeichnen lassen, ein Konzept aus der Geometrie und auch der Rhetorik. Spielzüge, die auf Kurven gründen oder dem Einfrieren der Zeit. Bedenken Sie nur die verschiedenen Arten des Dribblings: links antäuschen, rechts antäuschen, Übersteiger, den Moment nutzen, um den Gegner in einer statischen Situation zu besiegen. Weiterhin der Doppelpass, der Heber, die folha seca („das trockene Blatt“), bei der sich der Ball genau im richtigen Moment senkt. Das war das klassische Repertoire des brasilianischen Fußballs zwischen 1962 und 1970. Ab 1970 passte sich der brasilianische Fußball jedoch an die neuen Gegebenheiten im internationalen Fußball an. Der war nun von körperlicher Fitness, Teamplay, variablen taktischen Formationen sowie der Spezialisierung der Angreifer und Verteidiger geprägt.
Bei den Weltmeisterschaften der siebziger, achtziger und neunziger Jahre probierten die Brasilianer verschiedene Lösungen aus. Die Poesie war irgendwie noch da, dank Spielern wie Zico, Sócrates und Falcão, die 1982 dabei waren, oder Romário, der 1994 in einer Nationalmannschaft, die einen eher prosaischen Stil pflegte, noch Ellipsen spielte. So ging es weiter bis zur Ankunft von Ronaldinho, einem fußballerischen Genie, der das gesamte Repertoire des brasilianischen Fußballs wieder zum Leben erweckte. Er beherrschte Didis folha seca, Pelés Heber und Garrinchas Dribblings. Ronaldinho war ein Künstler der Manieriertheiten, fast so, als zitiere er die berühmten Kunststücke anderer Spieler. Ronaldinho ist sich dessen sehr wohl bewusst, und so wie ein Autor andere Autoren zitiert, so zitiert er die Tore der Spieler vergangener Tage.“
Und jetzt kommen wir auf Neymar …
„Ja, jetzt kommt Neymar ins Spiel. In einer Zeit, in der keiner mehr an eine poetische Tradition glaubt, in der jeder meint, sie verschwinde aufgrund einer vermeintlichen Hinwendung zur Fußballprosa, selbst in Brasilien, taucht Neymar auf. Ein Spieler, der diese poetische Spielweise verkörpert und erhalten möchte.
Neymar hat ein beeindruckendes Dribbelrepertoire. Außergewöhnlich, würde ich sagen: ein Repertoire, dass mit seinem Erfindungsreichtum und seiner Frische erstaunt. Es ist reinster Ellipsenfußball. Falls Sie mir nicht glauben, schauen Sie sich seinen Hackentrick gegen Sevilla in einem der ersten Spiele der Saison 2013/14 in Spanien an: Das war etwas Unerwartetes, woran niemand sonst auch nur zu denken wagte.
Bei Santos galt Neymar bereits seit seinem 13. Lebensjahr als zukünftiger Champion. Er ist Teil einer Generation, die dazu trainiert und erzogen worden ist, etwas Besonderes zu sein. Viele Spieler haben es schwer, die Vorschusslorbeeren zu rechtfertigen. Neymar aber hat von Anfang an sämtliche Qualitäten nachgewiesen, die ihm zugeschrieben wurden. Neben seinen magischen Fähigkeiten am Ball besitzt er außerdem ein natürliches Charisma, ist ausgesprochen sympathisch und hat es geschafft, sich ein öffentliches Image zu basteln, genau wie ein Popstar. Die Mädchen und die ganze Öffentlichkeit liegen ihm zu Füßen. Zudem wird er von den Fans anderer Klubs und den großen Spielern der Gegenwart und Vergangenheit respektiert. In seiner Zeit bei Santos hat er mit seiner überschwänglichen Art und seinen Dribbelkünsten gezeigt, dass er die Tradition am Leben erhält.
Ja, Neymar ist ein Poet, ein Graffitikünstler: Er hat seine Sonette auf den Mauern in der ganzen Stadt hinterlassen. Seine Frisur, die Art, wie er den Kragen hochschlägt, und sein Torjubel sind alle Teil seiner poetischen Performance. Neymar ist eine Art moderner Volksheld, voller Energie und Leben, und ein absoluter Star unserer Zeit. Auf dem Feld hat er großartige Übersicht, er beherrscht den tödlichen Pass, und er hat überragende Fähigkeiten beim Torabschluss. Er kann mehr als nur dribbeln. Seine Beziehung zum Dribbling ist nicht nur rhetorischer Natur, so wie es bei Robinho der Fall war, der keine großen Torjägerqualitäten hatte und dessen Doppelpässe oft reine Aufschneiderei waren. Neymar hat einen technisch fortgeschrittenen Stil, komplex und dabei beängstigend effektiv. Effizient, ohne seinen Reiz für den Zuschauer einzubüßen. Sein Spiel ist auf einem anderen Level, vollkommen neuartig, und verleiht dem poetischen Fußball eine ganz neue Dimension.
Ich sehe ihn in einer interessanten Situation. Es ist viel darüber geredet worden, ob er sich an die Spielweise der Seleção [die brasilianische Nationalmannschaft] anpassen kann; beim Confederations Cup hat er das unter Beweis gestellt. La Canarinha [ein anderer Spitzname der Nationalelf] hat einen Stil gefunden, der Neymars Potenzial voll ausschöpft. Die große Frage ist, wie er sich weiterhin bei Barcelona einfügt. Santos konnte ihn bis 2013 halten. Dass ein Spieler auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit nicht sofort an einen europäischen Klub verkauft wurde, war sehr wichtig für das brasilianische Selbstwertgefühl. Ehrlich gesagt, war er bei Santos weitgehend auf sich allein gestellt, und ich habe gehofft, er würde nach Barcelona gehen, um im internationalen Fußball heranzureifen.“
Passen Neymars Poesie und Barcelonas Prosa zusammen?
„Barcelonas Fußball ist nicht prosaisch, sondern eher eine totale Mutation. Auf der einen Seite sind da Elemente der holländischen Spielweise mit Verengung und Erweiterung der Räume, auf der anderen Seite südamerikanische Merkmale wie das Tiki-Taka-Kurzpassspiel. Man könnte es als in Prosa verfassten Fußball bezeichnen, extrem beweglich, aber nicht übermäßig strukturiert. Messi und seine Dribblings, mit denen er die Defensive durchstoßen kann, lassen keinen Zweifel am beherrschenden südamerikanischen Element von Barcelonas Spielweise. Ich glaube, dass Barcelona in seinen größten Momenten die Quadratur des Kreises gelungen ist, nämlich Prosa und Poesie zu vereinen, europäischen und südamerikanischen Fußball zu verbinden und die klassische Dichotomie des Fußballs zu überwinden. Was passiert nun, da Messi und Neymar beide dort sind? Sie haben unterschiedliche Spielweisen. Messis Dribblings sind nicht so verschwenderisch wie Neymars: Sie sind effizient. Der Art und Weise, wie Messi sich mit dem Ball am Fuß über den Platz bewegt, haftet etwas Geheimnisvolles an – man kann kaum erklären, wie er es anstellt. Er bewegt sich nicht wie ein Brasilianer. Seine Intuition ist überirdisch, er hat einen siebten Sinn dafür, wann sein Gegner ihm eine Gelegenheit gibt oder wenn sich Räume auftun. Messi ist die gerade Linie zu Neymars Ellipse.“
Kapitel 3
Mogi das Cruzes
Der Vater
Chaotischer Verkehr: Motorroller und Motorräder mit jaulenden Hupen. Überführungen, Wolkenkratzer, Sozialbauten, Brücken, die sich über den dichten Verkehr erheben, Industrie, Straßenarbeiten, Favelas. São Paulo, eine Megametropole mit elf Millionen Einwohnern, zieht sich endlos dahin: Es scheint Besucher in seine Fänge nehmen und niemals wieder loslassen zu wollen. Die Stadt breitet sich entlang der dreispurigen Rodovia Ayrton Senna aus, der neuesten ihrer Art im Land, benannt nach dem gleichnamigen Nationalhelden und Rennfahrer aus São Paulo, der 1994 beim Grand Prix von Imola tödlich verunglückte.
Der Bus fährt vom Busbahnhof Rodoviário Tietê ab, dem größten in Lateinamerika und zweitgrößten der Welt nach Port Authority in New York. Reisende auf ihren Wegen eilen hierhin und dorthin. Der Bus ist pünktlich, hat aber Schwierigkeiten, sich durch den dichten Verkehr zu kämpfen. Er schrammt an Lastwagen und Autos vorbei, die zwischen den Spuren hin und her wechseln. Eine Mautstelle, dann geht es auf die Autobahn. Auf dem Weg Richtung Itaquaquecetuba entlässt die Stadt den Bus endlich aus ihren Fängen und in eine offene grüne Landschaft voller Hügel, die wie mit dem Lineal gezogen aussehen. Hoch oben am Himmel flattern Drachen, und zwischen der Vegetation sind vereinzelt knochentrockene, staubige Fußballplätze zu erkennen. Sie gehören zu den Favelas, die sich an die Hänge klammern: rote Ziegelbauten, die aussehen, als wären sie von einem Kind aus Legosteinen zusammengebastelt worden, behelfsmäßige Dächer, Satellitenschüsseln, große Planen, die Bauarbeiten abdecken, die niemals vollendet wurden. Ein paar Tümpel, ausgebrannte Autos, Kinder, die auf Fahrrädern die mehrspurige Straße überqueren, um mit ihren Einkäufen nach Hause zu kommen.
Dann folgt die steile Abfahrt von der Serra de Itapeti. Im Tal sieht man die Wolkenkratzer von Mogi das Cruzes, einer der Gemeinden von Alto Tietê, einer Region im Osten des Großraums São Paulo. Hier spielte Neymar da Silva Santos Fußball, und hier kam sein Sohn Neymar Júnior zur Welt: ein Ort mit knapp 400.000 Einwohnern, die Bevölkerung hat sich in den letzten 15 Jahren durch den Zuzug von Pendlern verdoppelt. Sie wohnen hier und fahren jeden Morgen zur Arbeit in die Stadt. Und jeden Abend warten sie am Bahnsteig der Estação da Luz in São Paulo geduldig darauf, sich in die Wagen der Linie 11 der Companhia Paulista de Trens Metropolitanos zu zwängen, einem knarrenden und klappernden Vorortzug, der sie wieder nach Hause bringt.
Immerhin gibt es Arbeit in Mogi, wo Industriegiganten wie General Motors, der Traktorhersteller Valtra und der Stahlkonzern Gerdau Werke haben und einen Großteil der Bevölkerung beschäftigen. Der Dienstleistungssektor ist mit Namen wie Tivit und Contractor vertreten, zwei der größten Telemarketingunternehmen. Die Landwirtschaft boomt: Gemüse, Pilze, Datteln, Mispeln und Blumen, hauptsächlich Orchideen. Atemberaubend schöne Exemplare davon sind in einer der Haupttouristenattraktionen der Stadt zu bewundern: dem Orquidário Oriental. „Orientalisch“? Ja, Sie haben richtig gelesen: Auch der Osten hat Mogi geprägt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte Mogi einen Zulauf von Immigranten aus Japan: Frauen und Männer, die in Landwirtschaft, Gartenbau und Handwerk arbeiteten. Sie errichteten eine lebendige und blühende Gemeinde, die stets den Bezug zu ihren Wurzeln wahrte. Davon zeugen Monumente, Restaurants, Kulturvereine, Festivals, Schulen und eine Städtepartnerschaft mit Toyama und Seki. Leider musste das Torii, das traditionelle japanische Holztor, Symbol der japanischen Immigranten, das am Ortseingang stand, im Frühjahr 2013 aus Gesundheits- und Sicherheitsgründen entfernt werden. Schwere Regenfälle hatten es arg in Mitleidenschaft gezogen.
Glücklicherweise ist eines der anderen Wahrzeichen von Mogi von der Witterung nicht beeinträchtigt worden: eine massive glänzende Skulptur aus rostfreiem Stahl, die sich 13 Meter in den Himmel erhebt und auf den ersten Blick wie Don Quixote aus La Mancha anmutet, tatsächlich aber eine Hommage an Gaspar Vaz anlässlich der 450-Jahr-Feier der Stadt ist. Gaspar Vaz war ein Abenteurer, der den Weg von São Paulo nach Mogi erschloss und die Stadt im Jahr 1560 gründete. Von der Avenida Engenheiro Miguel Gemma aus, wo sich eine glänzende Statue des Stadtgründers befindet, der auf der Suche nach Gold in die Gegend kam (oder aber nach Eingeborenen, die er versklaven könnte), erreicht der Bus den Bahnhof Geraldo Scavone in wenigen Minuten. Exakt eine Stunde dauert die 50 Kilometer lange Reise von São Paulo nach Mogi.
Durch die gepflasterten Straßen der Vila Industrial erreichen wir das Estádio Municipal Francisco Ribeiro Nogueira, besser bekannt als Nogueirão. Das große Tor ist geschlossen, aber jemand kommt und öffnet uns. Dies ist die Heimat des União Mogi das Cruzes Futebol Club, der am 7. September 2013 sein 100-jähriges Bestehen feierte. Gegründet wurde er vom weißen Tuchhändler Chiquinho Veríssimo und dem schwarzen Schuhmacher Alfredo Cardoso. Der Klub wurde am brasilianischen Unabhängigkeitstag ins Leben gerufen. Die Spielkleidung ist rot-weiß oder ganz rot, das Maskottchen ist eine im Tietê-Tal heimische Schlangenart (in der Sprache der Einheimischen bedeutet Mogi „Fluss der Schlangen“).
União ist einer der ältesten Fußballvereine der Region. Im Laufe seiner langen Geschichte haben sich hier Spieler wie Cacau (VfB Stuttgart), Maikon Leite (Náutico Capibaribe aus Recife) und Felipe (Flamengo Rio de Janeiro) ihre ersten Sporen verdient. União war schon immer ein Klub, der zwischen Amateurklasse – 1947 war er Sieger des regionalen Amador-Turniers – und den unteren brasilianischen Ligen pendelte.
Seine goldene Ära erlebte der Klub in den achtziger Jahren bis Anfang der Neunziger, als er um den Aufstieg in die erste Liga der Staatsmeisterschaft von São Paulo mitspielte. Letztlich scheiterte União, und der einzige Titel bleibt die Meisterschaft in der Segunda Divisão 2006. Drei Jahre später erlebte der Verein seine schlimmste Saison: União, oder Brasinha, wie der Verein von den Einheimischen genannt wird, wurde zum „schlechtesten Team der Welt“: 18 Niederlagen in 19 Spielen bei 75 Gegentoren, ein Rekord, der den Klub geradewegs in die Quarta Divisão führte. Heute ergeht es ihm nicht viel besser, weder was die Ergebnisse, noch was die Finanzen angeht – tatsächlich ist die Lage so mies, dass die Hundertjahrfeierlichkeiten ins Wasser fielen. Senerito Souza, der Vorsitzende des Klubs, versprach für die Zukunft bessere Zeiten.
Unterdessen trainieren die Spieler für das nächste Ligamatch. Um 11:30 Uhr tritt die erste Mannschaft zu einem Testspiel gegen den Nachwuchs an. Die Sonne brennt, und der rote Ziegelschornstein auf der anderen Seite des Stadions wirft seinen Schatten auf den grünen Rasen. Hinter dem Metallzaun, der das Feld von der Tribüne trennt, auf der bis zu 10.000 Zuschauer Platz finden, verfolgt Sportmanager Carlos Juvêncio das Treiben der jungen Hoffnungsträger. Wegen der Hautkrankheit Vitiligo, die weiße Flecken auf seinem schönen schwarzen Gesicht hinterlassen hat, wird er auch „Pintado“ („angemalt“) genannt. Als die Spieler sich in die Kabine verziehen, habe ich die Gelegenheit, mit ihm zu plaudern.
„Wie war Neymar da Silva Santos O Pai, der Vater von Neymar Jr., als Spieler?“, frage ich. „Ein guter Angreifer, eine Nummer 7“, antwortet Pintado. „Er spielte auf dem Flügel. Er war flink, beschlagen, gut im Dribbling, scheute keinen Zweikampf. O Pai war ein fröhlicher Bursche, extrovertiert, ein netter Kerl, mit dem gut auszukommen war.“ Diese Ansicht teilen auch frühere Mitspieler wie die Verteidiger Montini und Dunder oder auch Torwart Altair. Jeder stimmt zu, dass Neymar einiges draufhatte am Ball. Ein Angreifer alter Schule, der nicht viele Tore erzielte, aber das Spiel gestalten konnte und gute Flanken schlug.
Ich erkundige mich nach den Fähigkeiten von Vater und Sohn und frage, was Neymar Jr. von seinem Vater geerbt hat. Pintado, der 1993 und 1994 an der Seite von „Pai“ spielte und für União die Nummer 3 trug, erinnert sich gut an Neymar Jr., als der noch ein kleiner Junge war. „Pai brachte ihn zum Training mit. Er war unser Maskottchen.“ Er weiß noch, dass Vater und Sohn das gleiche Ballgefühl und die gleichen Dribbelqualitäten hatten, aber Neymar Jr. war wendiger, leichtfüßiger, schneller, kreativer. Der frühere Torwart der Seleção, Valdir Peres, der bei der WM 1982 in Spanien dabei war und União 1993 und 1995 trainierte, ist der gleichen Meinung. „Neymar Jr.“, sagt er, „ist ein besserer Dribbler und hat mehr Zug zum Tor.“ „Er hat eine bessere Technik“, ergänzt Lino Martins, der seine Profikarriere bei União an der Seite von Neymar Pai ausklingen ließ und danach Neymar Jr. bei den Junioren trainierte.
Neymar da Silva Santos kam 1989 zu União Mogi. Er war 24. Er wurde am 7. Februar 1965 in Santos als mittlerer Sohn der Hausfrau Berenice und des Mechanikers Ilzemar geboren. Er hat einen Bruder, José Benicio, genannt „Nicinho“, und eine Schwester, Joana D’Arc, genannt „Jane“. Er spielte zunächst für die Junioren von Santos. Mit 16 ging er zu Portuguesa Santista, wo er Profi wurde. Danach tingelte er von Klub zu Klub, die meisten eher kleine Fische: Tanabi im Bundesstaat São Paulo, Iturama und Frutal im Bundesstaat Minas Gerais. Dort, im Südosten Brasiliens, erkrankte Neymar Pai an Tuberkulose, was ihn ein Jahr außer Gefecht setzte. Er beschloss, den Fußball dranzugeben und als Mechaniker in der Werkstatt seines Vaters zu arbeiten. Dann aber erhielt er ein Angebot von Jabaquara, einem traditionsreichen Verein aus der Metropolregion Baixada Santista.
Sein Vater war nicht begeistert, aber Neymar nahm trotzdem an. Unter der Woche arbeitete er als Mechaniker, und am Wochenende spielte er. Er machte vier gute Partien, eine davon war ein Freundschaftsspiel gegen União Mogi. Der Schiedsrichter des Spiels, Dulcídio Wanderley Boschilla, machte die Verantwortlichen von Mogi auf ihn aufmerksam, die sich sofort für ihn interessierten. Schon nach dem ersten Vorstellungsgespräch wurde er zum Training mit der ersten Mannschaft geschickt. Nach einem zweiten Gespräch mit dem damaligen Vorsitzenden, José Eduardo Cavalcanti Teixeira, genannt „Ado“, unterschrieb Neymar einen Einjahresvertrag bis 1989. „Damals waren die Gehälter nicht besonders üppig“, erinnert sich Pintado. „Der Sponsor war UMC, die Universität Mogi. Wir bekamen um die 350 Reais im Monat, aber das reichte zum Leben.“
Nach jahrelanger Wanderschaft von einem Verein zum nächsten landete Neymar schließlich bei Mogi. Er zeigte fantastische Leistungen und war ein voller Erfolg in der Liga A3. Er spielte so gut, dass er die Aufmerksamkeit anderer Klubs aus der Region erregte. Die Verantwortlichen von Rio Branco do Americana, einem Verein aus dem kleinen Städtchen Americana im Staat São Paulo, zeigten sich von Neymar sehr angetan, als er gegen ihr Team im alten Stadion an der Rua Casarejos antrat, und wollten ihn um jeden Preis verpflichten.
Trotz der Niederlage bei União gewann Rio Branco die Meisterschaft. Der Klub brauchte einen Stürmer, um den Kader zu verstärken. Sie boten Neymar ein hübsches Sümmchen, und Neymar war drauf und dran anzunehmen. Es war die Chance seines Lebens. Uniãos früherer Schatzmeister Moacir Teixeira erinnert sich: „Er brauchte Geld für seine Familie. Er wollte für seine Angehörigen, die in Baixada Santista lebten, ein Haus kaufen.“ Neymar teilte den Klubbossen seine Wünsche mit – die dachten aber gar nicht daran, ihn ziehen zu lassen.
„Pai war unser bester Stürmer. Er war ein toller Kerl, der sich die Früchte seiner Arbeit redlich verdient hatte“, sagt der ehemalige Schatzmeister. Also bildete Moacir zusammen mit neun União-Fans eine Gruppe, die aus eigener Tasche zusammenlegte, um mit Rio Brancos Angebot gleichzuziehen. Am 21. Dezember 1989 wurde schließlich eine Einigung erzielt. Die Gruppe kaufte Neymars Spielerpass und sorgte dafür, dass er weiter für Mogi auflaufen würde. Der Transaktionswert belief sich auf 100.000 Cruzados Novos, 10.000 pro Vertragspartner, „ohne Anteile und ohne Rendite“, stellt Moacir klar. In heutiger Währung wären das rund 55.000 Reais (um die 17.000 Euro).
Damals war das ein Haufen Geld! Neymar konnte endlich ein Haus in São Vicente für seine Mutter kaufen und sich selbst ein Auto leisten: einen Opel Monza. Er fühlte sich reich, aber wegen der ökonomischen und finanziellen Reformen im Zuge des sogenannten Plano Collor verlor er seine Ersparnisse. In der ersten Hälfte des Jahres 1990 spielte er für União. Da der Klub in der zweiten Jahreshälfte nicht am Spielbetrieb teilnahm, spielte er anschließend noch für Coritiba, Cataduvense und Lemense. Inzwischen wünschte er sich eine Familie. Also heiratete er 1991, im Alter von 26 Jahren, in der Kirche São Pedro O Pescador in São Vicente Nadine Gonçalves. Sie hatten sich kennengelernt, als sie 16 und er 18 und ein kommender Star bei Portuguesa Santista war.
Ihr erster Sohn kam am 5. Februar 1992 um 2:15 Uhr in Mogi das Cruzes zur Welt. Nadines Fruchtblase war am Tag zuvor geplatzt, und sie wurde ins Krankenhaus Santa Casa de Misericórdia gebracht, einem imposanten weißen und hellblauen Gebäude, das in den Straßen der Stadt weithin auffällt. Die Geburt verlief natürlich und ohne Komplikationen – Mutter und Sohn waren wohlauf. Das Baby wog 3,78 kg. Die jungen Eltern erfuhren erst bei der Geburt, dass es ein Junge war – einen Ultraschall hatten sie sich nicht leisten können.
Der erste Arzt, der nach Mutter und Sohn schaute, war der inzwischen verstorbene Luiz Carlos Bacci, anschließend kümmerte sich Benito Klei um die beiden. Er war es auch, der die beiden entließ. Als Fan des Klubs wusste er, dass das Baby der Sohn eines União-Spielers war. Doch erst, als er Jahre später die Geburtsurkunde las, wurde ihm klar, dass er geholfen hatte, den Star von Santos auf die Welt zu bringen. „Damals hatte Neymar Jr. noch keinen Iro, deswegen war es schwer, ihn zu erkennen“, scherzt der Leiter der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe von Santa Casa. Die Familie da Silva Santos wurde vom Physiotherapeuten von União, Atilio Suarti, nach Hause begleitet. Neymar O Pai hatte ihn angerufen und gebeten, sie abzuholen.
Aber wie sollte das kleine Baby heißen? Die Eltern waren unschlüssig, wie sie ihren Sohn nennen sollten. Zunächst wollte Nadine ihn Mateus nennen, der Vater war einverstanden. Eine Woche lang benutzten sie diesen Namen, aber sie waren nicht überzeugt. Als Neymar Pai den Namen seines Sohns eintragen ließ, entschied er sich deshalb kurzerhand um und gab ihm seinen eigenen Namen: Neymar, dem er noch ein „Júnior“ hinzufügte. Zu Hause wurde er „Juninho“ gerufen.
Nadine und Neymar Pai waren überglücklich über die Ankunft von Neymar Júnior. Valdir Peres erinnert sich: „Er traf ganz euphorisch im Mannschaftshotel ein und schwor, sein Sohn werde eines Tages der beste brasilianische Fußballer aller Zeiten.“ Eine Aussage, die eine ganze Batterie gutgemeinter Sticheleien und spöttischer Bemerkungen nach sich zog.
Die Familie da Silva Santos wohnte in der vierten Etage im Block C der Safiras-Wohnanlage in der Nummer 593 der Avenida Ezelino da Cunha Glória im Bairro Rodeio, einem bürgerlichen, von einem Konsortium erbauten Wohngebiet drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die pastellfarbenen Gebäude klammern sich an die Hänge am Fuße der Serra do Itapeti, von wo aus man eine Aussicht auf Mogi hat. Sie bewohnten ein mittelgroßes Appartement, das von União Mogi bezahlt wurde. Heute erinnern sich nicht mehr viele an den kleinen Jungen mit dem lockigen Haar, der hier gelebt hat, bis er vier Jahre alt war. „Sie waren eine ruhige, zurückhaltende Familie, die kein großes Aufsehen erregte“, erinnert sich Licianor Rodrigues, einer der Nachbarn der Familie da Silva Santos.
Divisão EspecialIntermediaria*
In der Partie trafen Edson Cholbi Nascimento, genannt Edinho, der Sohn von Pelé, und Neymar da Silva Santos, der Vater des späteren Neymar Jr., aufeinander. Auf der einen Seite ein Junge, der den Rat seines Vaters beherzigt hatte, wie man sich im Leben zu betragen hat; auf der anderen Seite ein Vater, der seinem Sohn wertvolle Tipps geben sollte (und es bis heute tut), wie man ein großer Fußballer wird und die richtigen Karriereentscheidungen trifft. Für den 25-jährigen Edinho, der bei Santos im Tor stand, war es ein Spiel wie jedes andere. Neymar Pai aber war 30 und wird sich an dieses Spiel für immer erinnern, denn es war ein Match gegen das berühmte Santos, und er war für die Freistöße zuständig. Doch Edinho parierte seine verpfuschten Versuche mühelos. Ein Jammer. Mogi wollte unbedingt gewinnen, aber gegen derart ausgebuffte Profis hatten sie keine Chance. Das Spiele endete mit einem 1:1-Unentschieden. Die Tore erzielten Jamelli für Santos und Gilson da Silva für Mogi. Immerhin ein gutes Resultat. Die Neueröffnung verlief ganz nach Plan.
Ein Jahr später, am 11. März 1996, begrüßte die Familie da Silva Santos ein weiteres Mitglied: Tochter Rafaela kam auf die Welt. Nach vielen glücklichen Jahren als Spieler bei União beschloss Neymar dann, sich in ein neues Abenteuer zu stürzen. Er kehrte ins Haus seiner Eltern im Viertel Nautica 3 in São Vicente zurück und sah sich nach einer neuen Anstellung um. Diesmal verschlug es ihn zu Operário aus Várzea Grande im Bundesstaat Mato Grosso.
Der Vorsitzende des Klubs, Maninho de Barros, suchte nach einer Verstärkung für seine Mannschaft und hatte Neymar Pai für Batel de Paraná spielen sehen. Er kannte den Namen des Spielers nicht, der eine so tolle Leistung gezeigt und sogar ein Tor erzielt hatte. Zur Halbzeit fragte er Laurinho, einen Stürmer von Batel, wer der Spieler sei, und nach dem Match traf er sich mit Neymar Pai und schlug ihm einen Wechsel zu Várzea Grande vor.
Neymar erbat sich Bedenkzeit – er wollte die Sache mit seiner Familie besprechen. Erst nach einem Gespräch mit einem der Geschäftsführer von Operário, der ihm versicherte, dass er seine Familie mitnehmen könnte, nahm Neymar Pai das Angebot an. Von da an trug er das dreifarbige Trikot von Várzea Grande.
Sein erstes Spiel war das Halbfinale der Staatsmeisterschaft von Mato Grosso, und er erfüllte die in ihn gesetzten Hoffnungen sofort: Beim 4:1 gegen Cacerense erzielte Neymar ein Tor selbst und bereitete ein weiteres vor. Im Finale traf Operário auf União Rondonópolis. Neymar verpasste das Hinspiel, das auswärts stattfand und unentschieden endete. Im Rückspiel am 3. August 1997 war Neymar Pai dabei, und das Match endete mit einem 2:1-Sieg.
Für Operário war es bereits die zwölfte Staatsmeisterschaft, für Neymar da Silva Santos hingegen der einzige Meistertitel seiner Karriere, die er 1997 im reifen Alter von 32 Jahren beendete. Er fühlte sich alt: Seit dem Unfall machte sein Körper nicht mehr richtig mit, und beim Training und während der Spiele litt er unter Schmerzen. Auch die vielen Wechsel belasteten ihn und seine Familie. Die Verträge waren inzwischen weniger lukrativ, und er hatte keine Hoffnung, in seinem Beruf noch mehr zu erreichen. Er kehrte heim, um ein neues Leben zu beginnen, das viele Überraschungen bereithalten sollte.