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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97532-2

September 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

© Thomas Blubacher, 2016

Coverkonzeption: Büro Hamburg

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de

Covermotiv: MS Europa bei der Einfahrt in den Nord-Ostsee-Kanal (rtn, Ute Strait, Picture Alliance)

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Leinen los!

»Kreuzfahrt ist sexy geworden«, freut sich Karl J. Pojer, CEO von Hapag-Lloyd Cruises. Innerhalb von zehn Jahren hat sich das Passagieraufkommen in Deutschland mehr als verdreifacht, 2015 unternahmen 1 812 968 Bundesbürger eine Hochseereise, zwei Drittel davon buchten bei deutschen Reedereien. Dank des anhaltenden Wachstums darf die Fernwehbranche damit rechnen, in wenigen Jahren die Drei-Millionen-Grenze zu überschreiten, zugleich steigt der Wettbewerbsdruck. Und wer hat’s erfunden? Nein, ausnahmsweise nicht die Schweizer. Auch nicht die Reederei Noah & Söhne, die vor viereinhalbtausend Jahren eine unkomfortable 375-tägige Jungfernfahrt ohne Landausflüge veranstaltete, nicht der König von Ithaka, dessen Odyssee durchs Mittelmeer denkbar unentspannt war, und nicht Papst Urban II., der 1095 die ersten Kreuzfahrer der Geschichte zum Eroberungstrip nach Palästina animierte. Es war der 1857 in Hamburg geborene Sohn eines aus Dänemark eingewanderten Juden: Albert Ballin, Vorstandsmitglied der 1847 gegründeten Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft, kurz Hapag.

Weil die Hapag-Transatlantikdampfer in den stürmischen Herbst- und Wintermonaten schlecht ausgelastet und damit unrentabel waren, kam er 1890 auf die Idee, eine Reise anzubieten, die nicht der Beförderung, sondern der Erholung und der Bildung dienen sollte: eine »Exkursion nach Italien und dem Orient« mit gut organisierten Landausflügen in verschiedenen Häfen – der Begriff »Kreuzfahrt«, hergeleitet vom Kreuzen, dem Hin- und Herfahren zwischen den Häfen, kam in Deutschland 1928 auf und wurde ab den 1950er-Jahren populär. Ob Ballins »Lustfahrt« nun wirklich die weltweit erste kommerziell vermarktete Vergnügungsreise auf See und er damit tatsächlich der Vater der modernen Kreuzfahrt war, oder ob dieses Lorbeerkränzchen nicht eher dem britischen Schiffseigner John L. Clark zusteht, der 1882 den umgebauten P&O-Postdampfer Ceylon losschickte, ist umstritten – und sei dahingestellt: Albert Ballin veranstaltete jedenfalls die erste Luxuskreuzfahrt im heutigen Sinne.

Wilhelm II. höchstpersönlich, von seinem Volk »Reisekaiser« tituliert, weil er gewöhnlich mehr als die Hälfte des Jahres unterwegs war und von 1889 an jeden Sommer auf Nordlandfahrt ging, verabschiedete am 22. Januar 1891 in Cux­haven das Hapag-Flaggschiff Augusta Victoria. Dass die Kaisergattin und Namenspatin eigentlich Auguste Victoria hieß, war keinem der Verantwortlichen aufgefallen; 1897 wurde der Irrtum stillschweigend berichtigt. An Bord des 1888 in Dienst gestellten, 144,80 Meter langen und 16,62 Meter breiten Doppelschrauben-Schnelldampfers befanden sich 241 »kühne Passagiere«, wie Albert Ballin sie nannte, aus dem In- und Ausland, darunter 67 Damen vornehmlich aus England – in Deutschland galten längere Touren damals als körperlich und geistig zu anspruchsvoll für Frauen. Bezahlt hatten die elitären Gäste für die Reise zwischen 1600 und 2400 Goldmark, das doppelte bis dreifache Jahreseinkommen eines Arbeiterhaushalts. Umsorgt wurden sie von 245 Crewmitgliedern – auf den ersten Blick ein luxuriöses Passagier-Crew-Verhältnis. Doch über die Hälfte der Besatzungsmitglieder arbeitete als Maschinisten, Heizer oder Kohlenzieher. Überhaupt hielt sich, gemessen am heutigen Standard, der Komfort in Grenzen. Sechs Quadratmeter maßen die in der Regel mit zwei Passagieren belegten Kabinen der ersten Klasse; Bäder und Toiletten waren Gemeinschaftseinrichtungen.

»Nicht nur für das leibliche Wohl ist auf das Umfassendste gesorgt, sondern auch Musik und Spiel werden die Stunden beflügeln, während der schwimmende Palast immer neuen Zielen entgegenfliegt«, versprach die erste Ausgabe der an Bord gedruckten »Augusta-Victoria Zeitung«. Über Southampton, Gibraltar und Genua fuhr die Augusta Victoria nach Alexandria, wo sie fünf Tage blieb, damit die Gäste Zeit hatten, Kairo und die Pyramiden zu besichtigen. Von Jaffa aus besuchte man Jerusalem, von Beirut aus erkundete man Damaskus. In Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, machte der türkische Sultan seine Aufwartung, in Piräus wurde das Schiff auf Anordnung des griechischen Königs mit 15 Schuss Salut begrüßt. Auf Malta folgten Palermo und Neapel, Lissabon und Southampton; nach exakt 57 Tagen, 11 Stunden und 3 Minuten kehrte man zurück nach Cuxhaven.

Nach zwei ähnlichen Reisen in den folgenden Jahren lief die Augusta Victoria 1894 zur ersten Nordlandreise aus, 1896 ging ihr Schwesterschiff Columbia auf »Westindien«-Fahrt, die in 65 Tagen von Genua unter anderem über New York, Haiti, Antigua, Martinique, St. Lucia, Barbados, Jamaika und Kuba nach Hamburg führte. »Der Comfort und die Eleganz, die auf den Schiffen zur Geltung gebracht sind, stellen Alles in den Schatten, was bisher auf Oceanschiffen geleistet wurde. Die großen und prächtigen Salons, Damen-, Musik- und Rauchzimmer u.s.w. sind im reichsten Style ausgestattet worden; die besten Künstler wurden herangezogen, sie durch Gemälde, Schnitzereien und Decorationen zu schmücken«, warb man vollmundig und reklamierte stolz »die Abwesenheit schlechter Dünste und lästigen Geräusches«. Die Vergnügungsreisen wurden neben dem Linienverkehr zum unverzichtbaren Bestandteil des Hapag-Angebots, und 1900 lief mit der 192 Passagiere fassenden Prinzessin Victoria Luise, benannt nach der einzigen Tochter des Kaisers, das erste eigens für Kreuzfahrten gebaute Luxusschiff vom Stapel, mit großzügigen Gesellschaftsräumen, einem »Lesezimmer mit reichhaltiger Bibliothek«, einer »Halle für schwedische Heilgymnastik« und sogar einer »Dunkelkammer für Amateur-Photographen«. Die Betten standen in den sechs bis zwölf Quadratmeter großen Kabinen nicht mehr übereinander, wie üblich, sondern einander gegenüber; über ein eigenes Bad und WC verfügten allerdings nur die beiden Suiten. 1906 setzte Kapitän Brunswig die »Lustyacht« an der jamaikanischen Küste auf eine Sandbank, suchte seine Kabine auf und erschoss sich, die Passagiere konnten samt Gepäck an Land gebracht werden.

Der Begeisterung für die Kreuzfahrt tat dies keinen Abbruch, und Hapag, seit 1970 mit dem Norddeutschen Lloyd fusioniert, veranstaltet nach wie vor Luxusreisen – genauer gesagt: Hapag-Lloyd Cruises, eine Tochter der TUI AG; ihre Schiffe MS Europa und MS Europa 2 gelten als die besten weltweit. Andere Veranstalter bedienen, wie es im Jargon der Branche heißt, den Volumenmarkt. Längst ist die Kreuzfahrt keine Extravaganz mehr für eine betuchte und betagte Klientel, die elitäre Urlaubsform hat sich zum Massenphänomen entwickelt. Schon in den 1960er-Jahren, als der interkontinentale Flugverkehr die transatlantischen Schiffspassagen ablöste, boten Reedereien Fahrten in sonnige Gefilde an, die sich auch Lieschen und Otto hätten leisten können. Dennoch blieb die Kreuzfahrt zunächst ein Distinktionsmerkmal privilegierter Silver Ager; 1993 buchten gerade einmal 183 000 Deutsche eine mehrtägige Seereise mit Rundumversorgung. Die Indienststellung der AIDA drei Jahre später markierte auf dem deutschen Markt den Beginn zwangloserer, auf jüngere Aktivurlauber und Familien mit Kindern ausgerichteter Kreuzfahrten ohne die traditionellen Bordrituale – eine überfällige Ergänzung zum betreuten Wohnen in maritimen Seniorenresidenzen, gemeinhin »Mumienschlepper« genannt, die sich dank der demografischen Entwicklung nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen.

Bald darauf schwappte aus den USA der Trend zu immer gigantischeren schwimmenden Freizeitparks über, und mittlerweile gibt es auf internationalen Megalinern nahezu nichts, was sich nicht unternehmen ließe. Wer mag, kann surfen oder Schlittschuh laufen, sich die Zähne bleichen oder die Stirn durch Botox-Injektionen glätten lassen, sein Geld für Designerhandtaschen oder am Roulettetisch verprassen, vormittags einen Gottesdienst oder ein original bayerisches Bierfest und abends ein Broadway-Musical oder ein Klassikkonzert besuchen. Seefahrerromantik sucht man freilich vergebens, die mobilen Erlebniswelten lassen einen allzu leicht vergessen, dass man sich auf dem Meer befindet. Eingehüllt in einen komfortablen Kokon, sieht man die Landschaften wie unwirklich vorbeiziehen. Doch für viele ist das eigentliche Ziel ohnehin der Aufenthalt auf dem Schiff; sie wollen sich entspannen und amüsieren. Dass verschiedene Häfen angelaufen werden, dient, wie es der Autor Andreas Lukoschik formulierte, allenfalls »der folkloristischen Ergänzung des Bordprogramms«.

Neben dem Mainstream- erfreuen sich auch das Luxus- und das Expeditionssegment steten Wachstums, Themen- und Eventreisen sind gefragt wie nie. Zielgruppenorientiert vermarktet man die unterschiedlichsten Schiffe als perfekt inszenierte Ferienwelten für jeglichen Geschmack, verkauft Reisen für jedes Portemonnaie und spricht damit alle Milieus und Altersgruppen an, amüsierwütige Thirtysomethings aus der tätowierten Mittelschicht ebenso wie zobelbepelzte Wilmersdorfer Witwen mit ausgeprägtem Geltungsbedürfnis. 50,1 Jahre betrug, nicht zuletzt dank der zahlreichen Kinder auf See, das Durchschnittsalter der bundesrepublikanischen Kreuzfahrer im Jahr 2015, auf internationalen Schiffen lag der Schnitt der deutschen Reisenden mit 52,2 Jahren etwas höher als auf denen deutscher Reedereien – Erika und Max Mustermann waren dort gerade mal 49,2 Jahre alt.

Auch mit körperlichen Einschränkungen wie etwa einer Geh- oder Sehbehinderung kann man prinzipiell in See stechen, sollte aber sämtliche Aspekte vorab mit dem Reiseveranstalter oder der Reederei klären. 2015 machte der Fall eines gesundheitlich angeschlagenen 86-Jährigen Schlagzeilen, der, noch bevor die AIDAcara ablegte, vom Kapitän wieder nach Hause geschickt wurde; AIDA Cruises verwies auf die Geschäftsbedingungen, laut derer »der geistige oder körperliche Zustand« eines Passagiers keine »Gefahr für den Kunden selbst oder jemanden sonst an Bord« darstellen dürfe. Babys lässt man in der Regel erst ab einem Alter von sechs Monaten mitreisen; Schwangere müssen nicht selten eine ärztliche Reisefähigkeitsbestätigung vorlegen, nicht befördert werden sie zum Beispiel bei MSC Kreuzfahrten ab der 23., bei AIDA Cruises, Costa Crociere und TUI Cruises ab der 24. Woche – bei allfälligen Komplikationen ist die medizinische Versorgung an Bord nicht sichergestellt.

Im Mittelalter standen die geistlichen Vorteile einer Kreuzfahrt außer Frage, etwa die Anrechnung als Bußleistung oder die Möglichkeit, damit einen Ablass zu erwerben. Die Teilnehmer riskierten allerdings ihr Leben nicht allein auf dem Schlachtfeld, rund 15 bis 20 Prozent gingen an Mangelernährung zugrunde. Die Chance eines modernen Kreuzfahrers zu verhungern dürfte gleich null sein, gilt doch eine Gewichtszunahme von zwei, drei Pfund pro Woche als üblich. Aber abgesehen vom nur bei viel Willensstärke vermeidbaren Verlust der Strandfigur, von der ich mich ohnehin bereits vor Jahren verabschieden musste, liegen für mich die Vorteile auf der Hand: Innerhalb weniger Tage erhalten Sie einen risikoarmen, wenn auch flüchtigen Eindruck von touristischen Highlights in mehreren Ländern, und das ohne lästiges andauerndes Ein- und Auspacken der Koffer. Ihr schwimmendes Hotel mit Vollpension und vielfältigem Freizeit- und Wellnessangebot bringt Sie im Schlaf, während Sie einem Streichquartett lauschen oder in der Disco abtanzen, von Insel zu Insel oder von Stadt zu Stadt – wesentlich komfortabler als ein landestypischer Fernbus oder ein Flugzeug, in dessen engen Sitzen Sie eine Thrombose riskieren. Ohne sich um Einreiseformalitäten kümmern zu müssen, können Sie fremdes Terrain erkunden, lernen fremdartiges und vielleicht befremdliches Brauchtum kennen, bleiben aber dank Ihres Zuhauses auf Zeit geborgen in Ihrer vertrauten Kultur – zumindest auf deutschsprachigen Schiffen: Sie kommunizieren in Ihrer Muttersprache, verzehren gesundheitlich unbedenkliche Gerichte, unter denen sich neben kulinarischen Kapriolen garantiert solche befinden, die auch der sprichwörtliche Bauer ohne zu zögern verspeist, finden stets serviceorientierte Ansprechpartner für alle Fragen – und können im Notfall umgehend einen Arzt konsultieren. Auch das Preis-Leistungs-Verhältnis lässt sich im Vergleich mit Hotelferien durchaus sehen.

Kreuzfahrtskeptiker führen nicht zuletzt die Umweltbelastung ins Feld. Angesichts eines Touristikmarktsegments, dessen Zuwachsrate schneller steigt als der Meeresspiegel, sind ökologische Bedenken zweifelsohne angebracht; Kreuzfahrtschiffe gehören, deutlich gesagt, zu den größten Dreckschleudern der Welt. Als problematisch gelten nicht nur Abwässer (pro Person und Tag fallen 32 Liter Schmutzwasser und 350 Liter fäkalienfreies Grauwasser an), feste Abfallstoffe, Klärschlamm und mit Öl- und Kraftstoffresten kontaminiertes Bilgenwasser sowie die Emissionen der Müllverbrennungsanlagen, sondern vor allem die Schadstoffe, die bei der Verbrennung des Treibstoffs entstehen. Feinstaub, Ruß, Stickoxide und Schwefeloxide gefährden Gesundheit, Klima und Biodiversität. Schon lange fordern Umweltaktivisten deshalb den Umstieg vom giftigen Schweröl auf umweltfreundlicheren Marinediesel und den Einbau von Abgastechnik.

Erst nach langer Trägheit hat sich die unter ihrem schlechten Öko-Image leidende Branche um schrittweise Verbesserungen bemüht – notgedrungen verwenden viele Reedereien mittlerweile nicht nur LED-Lampen und verbauen ökozertifiziertes Holz, sondern rüsten allmählich auf umweltverträglichere Techniken um und geben energieeffizientere und emissionsärmere Schiffe in Auftrag. Strömungsoptimierte Rümpfe mit speziellen Anstrichen verringern den Treibstoffverbrauch, zudem berechnen verantwortungsbewusste Reedereien die Strecken ihrer Schiffe mit einer ökonomischen Durchschnittsgeschwindigkeit, die weit unter der Höchstleistung liegt. Umkehrosmose-Anlagen dienen der Aufbereitung von Meerwasser, und der Einsatz biologischer Kläranlagen führt dazu, dass das Abwasser nahezu Trinkwasserqualität erreicht, bevor es entsorgt wird – im Prinzip könnte man aus diesem Grauwasser tatsächlich Trinkwasser gewinnen, doch ist das passagierpsychologisch heikel.

Auf Deck 2 der Mein Schiff 4 konnte ich sehen, wie sorgfältig man Glas, Metall, Blechdosen, Plastik, Papier und anderen Restmüll sortiert und presst, einige weitere Abfälle werden entwässert und geschreddert, Wertstoffe, Aschenreste und Klärschlämme (die entstehen, wenn stark verschmutztes Schwarzwasser entkeimt und gefiltert wird), wenn möglich, an Land abgegeben und recycelt oder entsorgt. Durch eine ansonsten für Passagiere ebenfalls verschlossene Tür auf Deck 15 durfte ich einen stickig-heißen Raum betreten und stand unmittelbar vor dem dick in Isoliermaterial verpackten Scrubber, in diesem Fall einem kombinierten Entschwefelungs-Stickoxidkatalysator-System, das sich über sämtliche Decks erstreckt. Der bei der Verbrennung des Schweröls entstehende Qualm wird mit Wasser besprüht, so reduziert man den Schwefelausstoß um bis zu 99 Prozent, die Rußpartikel um 60 Prozent; zugleich filtert ein Katalysator 75 Prozent der Stickoxide heraus; übrig bleibt ein Schlamm, der an Land entsorgt wird.

Der Naturschutzbund Deutschland hält indes die Scrubber lediglich für eine Übergangslösung, zumal sie die nicht sichtbaren, potenziell krebserregenden Feinststäube durchlassen. Er fordert den völligen Verzicht auf Schweröl. Immerhin konnte der NABU, der Jahr für Jahr die geplanten europäischen Schiffe hinsichtlich ihrer Umweltfreundlichkeit untersucht, 2015 konstatierten, dass die Modelle der führenden Anbieter sauberer würden. Die AIDAprima und ihr Schwesterschiff stufte der NABU im Vorfeld als die Neubauten mit der besten Abgastechnik ein; zwei weitere AIDA-Neuzugänge sollen mit umweltfreundlicherem Flüssigerdgas (LNG) betrieben werden, das nahezu ohne die Entstehung von Schadstoffen verbrannt werden kann. Ganz ohne ökologische Bedenken wird man zwar nie kreuzfahren, zumal schon die Anreise per Flugzeug problematisch ist, doch wer will, kann zumindest mit der Wahl eines umweltgerechteren Schiffes einen Beitrag leisten. Hapag-Lloyd Cruises beispielsweise, deren Europa 2 Marinediesel mit nur 0,1 Prozent Schwefelgehalt und als erstes Kreuzfahrtschiff SCR-Katalysatoren, die den Stickoxidausstoß um fast 95 Prozent reduzieren, verwendet, bietet in Zusammenarbeit mit der Klimaschutzorganisation atmosfair die Kompensation des CO2-Ausstoßes für die Seepassage an. Passagiere können sich vorab über den entsprechenden Klimaschutzbeitrag ihrer Reise informieren und deren unvermeidbare Emissionsbelastung ausgleichen; ein Viertel der Summe wird dabei von Hapag-Lloyd Cruises übernommen.

Wer will, findet also Möglichkeiten, ohne schlechtes Gewissen auf Kreuzfahrt zu gehen – zum Glück! Schließlich ist keine andere Art des Reisens so bequem, so erholsam und so vergnüglich. Und so hat es, obwohl ich gewöhnlich meine Vorurteile liebevoll pflege, nicht lange gedauert, bis ich vom eingeschworenen Individualreisenden zum passionierten Kreuzfahrer wurde. Wobei ich noch immer ein blutiger Anfänger bin verglichen mit jenen leidenschaftlichen Cruise Junkies, die auf zwei- oder gar dreitausend Nächte an Bord zurückblicken, und, anders als mancher Kenner der Branche, dem ich auf hoher See begegnet bin, nur einen Bruchteil der rund dreihundert hochseetauglichen Kreuzfahrtschiffe gesehen habe, die derzeit auf den Weltmeeren unterwegs sind.

Kennenlernen würde ich sie am liebsten alle – Hauptsache ich bin unterwegs. Oder wie Graf Platen es formulierte: »Es scheint, dass das Reisen für mich eigentlich die zuträglichste Lebensart ist.« Der mir zuträglichste Platz an Bord ist überall der gleiche: Achtern, am Heck, blicke ich auf all das zurück, was hinter uns liegt. Ich lasse los. Mein ganzes Sein ist in dem einen Augenblick. Und wenn uns dann noch Delfine ein Stück auf dem Weg zum nächsten Sehnsuchtsort begleiten, ist mein Glück beinahe vollkommen.

Leise rieselt der Schnee

Auf der AIDAaura in der Karibik

»Für dich ist das nichts«, erklärte Neffi bestimmt. Es war der 12. Oktober 2008, meine ach so gewichtige vormittägliche Buchvorstellung im Berliner Ensemble hatte er verschlafen, und so trafen wir uns – ich leicht verstimmt, er schwer verkatert – Stunden später am Potsdamer Platz. Ich hatte Neffi fünf Jahre zuvor am Schlosstheater Celle kennengelernt, wo er mir bei zwei Inszenierungen assistiert hatte, seither tratschten wir sporadisch über Kollegen, diesmal aber berichtete er Spektakuläres: Eben hatte er am Theater Bielefeld gekündigt, um in Berlin die erste gemeinsame Wohnung mit seiner Freundin zu beziehen, als diese ihn unversehens wegen eines Anderen sitzen gelassen hatte. So war er, ohne Frau, ohne Bleibe, ohne Job und ohne Geld, frei nach Lolitas Schlager zur Erkenntnis gekommen, dass allenfalls die Fremde auf ihn warte: »Deine Heimat ist das Meer, deine Freunde sind die Sterne, [ …] deine Liebe ist dein Schiff, deine Sehnsucht ist die Ferne.« Das zumindest war meine romantisierende Interpretation seines Entschlusses, bei der Rostocker Reederei AIDA Cruises als Theatermanager anzuheuern. So bedauernswert sein Schicksal gewesen sein mag, meine Augen glänzten, als säße ich dem »Traumschiff«-Kapitän persönlich gegenüber. Vor meinem geistigen Auge stand er in strahlend weißer Montur im Sonnenuntergang an der Reling, einen Mojito in der Hand und eine Blondine im Arm. Zwei Einsätze auf See habe er bereits hinter sich, auf der AIDAdiva in der Karibik und auf der AIDAaura entlang der norwegischen Küste. Er schwärmte von den Schiffen, von den Shows, dem Essen, den Partys, der entspannten Atmosphäre und nicht zuletzt von der Begeisterung der Gäste, die oftmals gleich an Bord die nächste Reise buchten. In wenigen Tagen werde er abermals auf die AIDAaura aufsteigen, um drei Monate lang – diesmal auf einer anderen Route – durch die Karibik zu schippern. Durch die Karibik 

»Dir würde es nicht gefallen«, riss mich Neffi insistierend aus meinem Tagtraum, und meine Gesichtszüge entgleisten: »Warum denn nicht?«

»Kreuzfahrten sind Gruppenreisen.«

»Und?«

»Du bist, nun ja, wie soll ich sagen … vielleicht eher ein Mensch, der für sich sein will. Möchtest du wirklich am Buffet Schlange stehen, um dann mit völlig Fremden an einem 6er- oder 8er-Tisch zu essen?«

»Ich mag Menschen, das weißt du!«

»Ja, so wie Einstein: ›Ich liebe die Menschheit, ich kann nur Leute nicht ausstehen.‹ Du bist ein typischer Individualist. Geführte Ausflüge sind sicher nicht dein Ding.«

»Aber ich könnte doch auf eigene Faust an Land unterwegs sein, oder?«

»An Seetagen liegen tausend eingeölte Sonnenhungrige auf Tuchfühlung am Pool. Zum Sardinengrillen muss man geboren sein, glaub mir. Und das Poolradio würde dich nur nerven.«

»Da dudelt Musik am Pool?«

»Musik läuft fast immer und überall auf dem Schiff, aber beim nachmittäglichen Poolradio wird sie moderiert. Zwischen den Schlagern animiert man die Gäste zu Spielchen oder veranstaltet ein Quiz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet du animiert werden möchtest.«

»Werde ich zu Wet-T-Shirt-Contests oder Schlimmerem gezwungen?«

»Natürlich nicht, wenn jemand in Ruhe lesen will, wird das respektiert.«

»Lesen kann man auf diesem Pooldeck ja wohl schwerlich …«

»Weiter unten, auf Deck 6, findet man immer ein ungestörtes Plätzchen im Schatten.«

»Ich fahr doch nicht für zwei Wochen in die Karibik, um blass wie ein Grottenolm nach Hause zu kommen!«

»Theoretisch gäbe es noch den FKK-Bereich auf Deck 12: wenige Gäste, keine Musik. Aber du …«

»Wenn ich auf einige Quadratzentimeter Stoff verzichte, bekomme ich im Gegenzug ein paar Quadratmeter Platz? Ich fahre mit!«

Ich erinnere mich nicht mehr daran, ob der Schlagabtausch noch lange dauerte, bis Neffi aufgab. Mit Sicherheit aber weiß ich, dass ich keine acht Wochen später auf Deck 10 der AIDAaura an der Reling stand und zusah, wie die schweren Trossen über die Poller gehoben und die Taue an Bord gezogen wurden. Das Typhon, die mit Druckluft betriebene Schiffssirene, gab drei lange, tiefe Töne von sich, und wir setzten uns in Bewegung, über uns den Sternenhimmel, hinter uns den immer kleiner werdenden Hafen von La Romana und vor uns irgendwo in der schier unendlichen Weite des Ozeans puderzuckerweiße Strände, bunte Korallen in glasklarem Wasser, mit üppigem Tropengrün bewachsene Vulkanhänge 

Aus den Lautsprechern schallte eine Coverversion des Enya-Titels »Orinoco Flow«, gefolgt von »Sail Away«. Es ist beim Kreuzfahren wie beim Sex. Das erste Mal bleibt unvergesslich. Und so wird mich keine Auslaufmusik jemals so berühren wie dieses von Martin Lingnau für AIDA komponierte Instrumentalstück, da können Thomas Borchert und Sabrina Weckerlin noch so inbrünstig »Sehnsucht nach Meer und volle Fahrt voraus! Ich liebe Dich sehr, Mein Schiff ist mein Zuhaus!« intonieren, und auch der Schauer, der mir über den Rücken läuft, wenn Andrea Bocelli auf einem Costa-Kahn verkündet, es sei »Time to Say Goodbye«, ist kein wohliger. Bei »Sail Away« aber bekomme ich, konditioniert wie ein pawlowscher Köter, bis heute einen glasigen Blick und Sehnsucht nach Meer 

Doch der Reihe nach. Neffi und ich verständigten uns also an jenem Nachmittag in Berlin auf den gemeinsamen Nenner, dass ich mit einer Buchung kein großes Risiko einginge: Schlimmstenfalls würde das meine erste und letzte Kreuzfahrt werden, doch bräuchte ich nicht all zu tief ins Portemonnaie greifen. Wie bei den meisten Reedereien können auch bei AIDA Cruises Lebenspartner und Familienangehörige der Mitarbeiter Restplätze zu günstigen Konditionen belegen. Nun war ich zwar nicht verwandt, geschweige denn verpartnert mit Neffi, doch ließ er mich – unter lautstarken Bekundungen, dass er keine persönliche Verantwortung für mein Urlaubsglück oder, wie er befürchte, -unglück übernehme – für das »Freunde und Partner«-Programm akkreditieren, heute polyglott »Family & Friends« genannt.

Noch bevor ich wusste, ob es mit einer Mitreise klappen würde, begann ich, mich intensiver mit der Kreuzfahrt zu beschäftigen. Als treuer »Traumschiff«-Zuschauer war ich darauf vorbereitet, an Bord einer vor Jahrzehnten in der Antarktis verschollenen Jugendliebe, einem mir unbekannten Zwillingsbruder oder meiner soeben volljährig gewordenen Tochter, von deren Existenz ich nicht das Geringste geahnt hatte, zu begegnen. Auch, dass Spontanheilungen letaler Krankheiten im Endstadium zum Schiffsalltag gehören, war mir bewusst.

Nun ergänzte ich diese profunden Kenntnisse durch die Visionierung cineastischer Meisterwerke wie »Poseidon Inferno«, »Titanic« und »Speed 2 – Cruise Control«, die mein Vertrauen in die Personenschifffahrt erheblich zu stärken vermochten; lediglich »Cruising« mit Al Pacino erwies sich unter maritimen Aspekten als unergiebig. Ich las Thomas Manns »Meerfahrt mit Don Quijote« (»Unausbleiblich der Nervenschock der ersten Stunden nach Vertauschung der gewohnten stabilen Grundlage mit einer labilen«, erfuhr ich mit Besorgnis) und »Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich« des so genialen wie depressiven Autors David Foster Wallace, der sich erst wenige Wochen zuvor erhängt hatte. Damit war ich gewappnet für das »Unterdruck-Abwasser-System« von Schiffstoiletten, die indes auch nicht anders funktionieren, als man das aus dem Flugzeug oder dem ICE kennt, und darüber im Klaren, dass ich mich mit Fragen wie »Schläft die Crew auch an Bord?« keineswegs als originell profilieren würde.

Schließlich erhielt ich nach wenigen Wochen des Wartens die Nachricht, dass auf der Karibiktour vom 6. bis 20. Dezember Kabinen frei seien. Leider, so fuhr die freundliche Dame im Rostocker Büro fort, seien sämtliche Flüge ausgebucht, abgesehen von einigen Plätzen in der »Comfort Class« einer Vollchartermaschine ab München; alternativ könne ich mich selbst um die Anreise kümmern. Ich überlegte nur kurz, ob ich mich auf die Internetsuche machen sollte, wusste ich doch aus Erfahrung, dass ich allenfalls Umsteigeverbindungen mit stundenlangen Aufenthalten finden würde. Zudem müsste ich den Transfer zum Schiff organisieren. Taxis würden wahrscheinlich zur Verfügung stehen, doch zu welchem Preis? Wichtiger aber war die Frage, was ich tun sollte, wenn sich einer der Flüge verspätete oder gar storniert würde? Dem Schiff hinterherschwimmen?

Bucht man ein An- und Abreisepaket, bezahlt man zwar unter Umständen etwas mehr als bei einer individuellen Flugbuchung, ist jedoch solcher Sorgen ledig: Hat der Flieger Verspätung, wartet das Schiff auf die Pauschalgäste. Tatsächlich war ich in den folgenden Jahren einige Male froh, nicht für die Anreise verantwortlich zu sein, vor allem bei einer weiteren Karibikreise. Im Oktober 2012 sollte ich von München nach New York fliegen, um auf der AIDAluna nach Barbados zu schippern. AIDA informierte mich mitten in der Nacht per SMS, ich möge nicht zum Flughafen fahren, der Hurrikan »Sandy« zwinge das Schiff zum vorzeitigen Ablegen. Man bemühte sich um einen Flug nach Miami, wo ich entspannt wartete, bis das Schiff Florida erreicht hatte und ich an Bord gehen konnte. Doch es bedarf keiner Katastrophen, es genügt, dass der starke Wellengang das Anlegen des Schiffes um ein paar Stunden verzögert – was gar nicht selten vorkommt –, und schon hat man den Heimflug verpasst 

Kurz und gut, der Aufpreis für die »Comfort Class« war erschwinglich, die Entscheidung somit einfach, und so saß ich zwei Wochen später champagnerschlürfend in der Maschine nach La Romana. Passenderweise, wie ich fand, am Nikolaustag, denn der vielfältig einsatzfähige Heilige ist nicht nur der Schutzpatron der Bankiers und der Diebe, der Prostituierten und der unschuldigen Kinder, der Metzger, Bäcker, Schnapsbrenner und allerlei anderer Berufsgruppen, sondern auch der der Reisenden und Seeleute. Doch war auch der Schiffsname ein gutes Omen? Aura, die griechische Göttin der Morgenbrise, wurde nach der Vergewaltigung durch Dionysos mit Zwillingen schwanger und verfiel dem Wahnsinn. In der Medizin bezeichnet der Begriff Aura psychische Erlebnisse kurz vor einem epileptischen Anfall. Überdies ist Aura der Name eines finnischen Blauschimmelkäses. Notzucht, Krampfanfall und Käse – was mag das bedeuten? Sind Kreuzfahrten denn keine fröhliche Angelegenheit?

Über diesen und ähnlich bedeutsamen Reflexionen verging mein Flug tatsächlich wie im solchen. Unmittelbar nach der Landung bestiegen wir noch auf dem Rollfeld, ohne zeitraubende Personen- oder Zollkontrolle, den Transferbus zum eingezäunten Hafengelände, wo das Schiff mit dem charakteristischen Kussmund am Kai lag. In einer offenen Halle lächelten hinter einer ganzen Reihe von Check-in-Schaltern hübsche AIDA-Mitarbeiter beiderlei Geschlechts jenes »Professional Smile«, das Servicelächeln der Crew, das David Foster Wallace beschrieben hatte. Zügig erledigten sie die Formalitäten.

Das Schiffsmanifest, auch »Bordmanifest« oder »Einschiffungsformular« genannt, hatte ich gleich nach erfolgter Buchung online ausgefüllt: Es enthält alle persönlichen Daten, die der Veranstalter bei den für die Einreise zuständigen Behörden einreichen muss, also Geburtsdatum und -ort, Wohnadresse, die Nummer des Reisepasses, dessen Ausstellungsort, Ausstellungs- und Ablaufdatum. Für den Notfall soll eine Kontaktperson an Land angegeben werden. Viele Reedereien eruieren zugleich besondere Essenswünsche, wie zum Beispiel vegetarische oder glutenfreie Kost, und fragen nach einer allfälligen Einschränkung der Mobilität. Beim Check-in musste ich nur noch meinen Voucher vorzeigen und meinen Pass für die Dauer der Reise abgeben, wurde ohne größere künstlerische Ambitionen fotografiert und erhielt eine scheckkartengroße Plastikkarte mit dem eben geschossenen Porträt darauf, dem man auch bei flüchtiger Betrachtung ansah, dass mich die Anreise doch etwas ermüdet hatte – mittlerweile werden diese vorteilhaften Fotos nicht mehr aufgedruckt, sondern nur noch im Computer abgespeichert.

Die Bordkarte, die auf manchen Schiffen mit Magnetstreifen versehen ist, auf anderen mit einem Barcode, ermöglicht den Zugang zum Schiff und wird jeweils beim Verlassen und beim Betreten gescannt, damit nachvollziehbar ist, wer sich auf einem Landgang und wer an Bord befindet. Zudem dient sie als Kabinenschlüssel und als Zahlungsmittel: Bequemerweise benötigt man kein Bargeld, da alle Nebenkosten, also beispielsweise die Auslagen für Getränke, aufpreispflichtige Restaurants oder Ausflüge, dem sogenannten Bordkonto belastet werden, dessen aktuellen Stand man auf vielen Schiffen bequem über das interaktive Fernsehen einsehen kann. Eine detaillierte Endabrechnung findet man dann am Vorabend oder am Morgen der Abreise an der Kabinentür. Die Kontrolle ist übrigens unerlässlich, denn Fehler passieren immer wieder, nicht nur, weil das menschlich ist, sondern gelegentlich auch, weil ein Computer sich irrt (ich weiß, dass das aus Sicht des Informatikers nicht korrekt formuliert ist). Den extremsten Fall habe ich auf einem amerikanischen Megaschiff erlebt, wo ein österreichischer Gast 12 276 Dollar bezahlen sollte. Als er an der Rezeption reklamierte, beschied man ihm, annähernd der gesamte Betrag stamme von einem einzigen Abend im Buffetrestaurant, er habe wohl eine großzügige Lokalrunde geschmissen? Völlig konsterniert bestand er auf genauerer Überprüfung, und nach einiger Zeit hatte man immerhin ermittelt, dass er die Summe nicht etwa für Premiumalkoholika hatte springen lassen, sondern, erstaunlich spendabel, als Trinkgeld. Nach längeren Diskussionen fiel einem Mitarbeiter ins Auge, dass die Höhe dieses Trinkgelds zufällig der Kabinennummer entsprach 

Beglichen wird das Bordkonto über die beim Check-in oder später an Bord registrierte Kreditkarte, Maestro-Karte oder Girocard – bei manchen Reedereien können Sie auch eine Baranzahlung leisten. Während AIDA in Euro und aus Deutschland abrechnet, lassen einem einige Gesellschaften die Wahl, ob die Kreditkarte in Dollar oder Euro belastet werden soll. Ersteres ist in der Regel günstiger, nicht nur wegen des zugrunde gelegten Wechselkurses, sondern auch, weil mitunter Umrechnungsgebühren anfallen; dazu kommen, falls die Abwicklung über einen Firmensitz beispielsweise in den USA erfolgt, ohnehin die Gebühren für den Auslandseinsatz der Karte.

Mit meiner Bordkarte in der Hand – meinem Koffer begegnete ich erst vor der Kabinentür wieder – bestieg ich also in La Romana die Gangway der AIDAaura und damit zum ersten Mal in meinem Leben ein Schiff, sieht man einmal von den Ausflugsdampfern auf diversen Schweizer Seen ab. Meine Außenkabine mit der Nr. 4141 hatte ich schnell gefunden. Auf 17 Quadratmetern strahlten mir freundliches Orange, Gelb und Blau entgegen (überhaupt leuchtete und glänzte alles auf diesem Schiff, als hätte Hundertwasser zum Pinsel gegriffen), die Schränke aus rotbraunem Holz boten ausreichend Stauraum, auf dem Doppelbett begrüßte mich Neffis Willkommensgeschenk, ein praktisches Lanyard, mit dem ich meine Bordkarte um den Hals tragen konnte. Es gab einen kleinen Schreibtisch, einen Korbsessel und unter dem Fenster ein Sofa. Die Nasszelle war kompakt, aber nicht beengend, die Dusche konnte man mit einer Glastür verschließen – auf anderen Schiffen sollte ich mich mit hygienisch zweifelhaften Plastikvorhängen plagen, die am Körper kleben, sobald die Brause rauscht. Ich fühlte mich sogleich wohl in meinem Zuhause auf Zeit. Nach nur einer Viertelstunde konnte ich meinen Koffer auspacken und mich freuen, dass er sich unter dem Bett verstauen ließ.

Viel Zeit, das Schiff zu erkunden, blieb mir nicht, wenn ich vor dem Auslaufen meinen Hunger stillen wollte. Wo das möglich war, verriet mir ein gefaltetes DIN-A4-Blatt, das »AIDAheute« betitelte Tagesprogramm, das ich während der Reise jeweils am Vorabend an der Außenseite der Kabinentür vorfinden sollte. Ich fuhr mit dem Lift vier Decks nach oben zum »Markt-Restaurant« (ein zweites Buffetrestaurant, das »Calypso«, liegt auf Deck 9), quälte mich nicht lange mit der opulenten Auswahl, sondern entschied mich für ein Rindersteak mit Salat und trank dazu entgegen der Konvention den portugiesischen Weißwein, der in einer Glaskaraffe auf dem Tisch stand – nichtssagende Hausweine sowie Bier und Softdrinks zu den Mahlzeiten sind bei AIDA inkludiert.

Mittlerweile war es Zeit für die offizielle Begrüßung auf dem Pooldeck, wo sich der Welcome-Sekt, eingefärbt in den AIDA-Farben Blau, Rot, Gelb und Grün, bereits den Temperaturen karibischer Nächte angeglichen hatte. Pünktlich um 21.30 Uhr erschienen zum bombastischen Action-Sound des Blockbusters »Fluch der Karibik« zwei Herren mittleren Alters, optisch Johnny Depp allerdings keineswegs ebenbürtig: der Entertainment Manager und sein Vorgesetzter, der Clubdirektor, der für alles verantwortlich zeichnet, was nichts mit Nautik oder Technik zu tun hat, und der auf anderen Schiffen General Manager genannt wird. Wie wichtig er ist, kann man unschwer an den dreieinhalb Streifen seiner Uniform erkennen; vier gleich breite Streifen trägt nur der Kapitän. Dessen rechter Hand, dem Staff-Kapitän, auch Erster Offizier genannt, stehen ebenfalls drei und ein etwas schmalerer vierter Streifen zu, ebenso dem Chief, dem für alle technischen Angelegenheiten zuständigen Leiter der Maschinenanlage (nicht zu verwechseln mit dem Chef, dem ranghöchsten Koch). Die direkten Untergebenen des erwähnten Clubdirektors müssen sich mit drei Streifen bescheiden: der Hotelmanager, dem Proviant, Küche, Housekeeping, Service, Rezeption und Zahlmeisterei unterstehen und der selbst bei mäßiger körperlicher Attraktivität »Hotman« genannt wird, der Shore Excursion Manager, der die Landausflüge organisiert, und eben der »Entman«. Auf anderen Schiffen werden Sie möglicherweise andere Rangabzeichen sehen, bei TUI Cruises etwa tragen der Kapitän drei normale und einen breiten goldenen und der General Manager vier gleich breite silberne Streifen; es gibt aber auch Reedereien, deren Hoteldirektor sich mit vier schmalen Streifen am Ärmel schmückt, während die Uniform des ihm unterstellten »CD«, also des Cruise Directors beziehungsweise Kreuzfahrtdirektors, zuständig für das Unterhaltungsprogramm an Bord, die Ausflugsabteilung, die Kinderbetreuung und den Sportbereich, mit drei Streifen verziert ist 

Die beiden Streifenhörnchen auf der AIDAaura erhoben ihre Sektgläser und verkündeten, hiermit sei es »offiziell«: »Ihr habt Urlaub! Stößchen!« Das Showensemble gab ein paar Disconummern der vor drei Jahrzehnten populären Retortenformation Boney M. zum Besten, dann begann nach einer Lasershow die erste Poolparty der Reise. Nach zwei, drei Bierchen mit Neffi floh ich in meine Kabine. Hatte er recht gehabt, und dieses Spaßschiff war nicht das Richtige für mich, obgleich es so viele begeisterte, und das mittlerweile im sechsten Jahr? Getauft worden war die in Wismar gebaute, bei Doppelbelegung 1261, maximal 1582 Passagiere fassende AIDAaura im April 2003 von Heidi Klum, die sich ansonsten als Vorführdame der anspruchsvollen Aufgabe der Bekleidungspräsentation widmet. Damals war sie (die AIDAaura, nicht Frau Klum) mit ihrer ein Jahr älteren, baugleichen Schwester AIDAvita und der etwas kleineren, 1996 in Dienst gestellten AIDA (seit 2001 AIDAcara) eines von erst drei Schiffen der Flotte gewesen, zu denen indes bis zu meinem Aufstieg 2008 schon zwei weitere gestoßen waren: die AIDAdiva und die AIDAbella, konzipiert für jeweils 2500 Passagiere.

Das neuartige Konzept hatte die deutsche Kreuzfahrt geradezu revolutioniert, man könnte auch sagen: demokratisiert. Der aktive, legere Cluburlaub zu einigermaßen erschwinglichen Preisen war aufs Wasser gegangen und kam ohne feste Tischzeiten und Sitzordnung aus, ohne Abendgarderobe und festliches Captain’s Dinner. Eine Minibar in der Kabine suchte der Gast vergebens, es gab weder Room- noch abendlichen Turndownservice, dafür üppige Sport- und Wellnessangebote und professionelle Bespaßung, nicht zuletzt für Kinder unterschiedlicher Altersstufen. Damit hatte man sich klar vom klassischen Markt abgegrenzt und deutlich jüngere Zielgruppen erschlossen – bei meiner Karibikreise bewegte sich der Altersdurchschnitt der fast ausnahmslos deutschsprachigen Gäste knapp unter 40, und das, wohlgemerkt, Mitte Dezember, also außerhalb der Ferien und ohne schulpflichtige Kinder an Bord.

Begonnen hatte die AIDA-Erfolgsgeschichte, durch die das Wachstum der ganzen Branche angestoßen worden war, im Jahr 1993, als die privatisierte Deutsche Seereederei, einst volkseigener Betrieb im »Feriendienst« der DDR, den Bau eines neuen Kreuzfahrtschiffes beschlossen hatte, das 1996 unter dem Namen AIDA in Dienst gestellt worden war. Im Jahr darauf hatte die DSR es an Norwegian Cruise Line veräußert, aber zugleich von dieser gechartert und durch eine Tochtergesellschaft betrieben: die Deutsche Seetouristik, ab 1998 Arkona Touristik. Kurz darauf hatte man das Kreuzfahrtgeschäft der britischen Reederei P&O übertragen, die die AIDA zurückerworben und zwei weitere Schiffe in Auftrag gegeben hatte … Kurz: AIDAAIDAprimaAIDAperlaAIDATUITUIAGMein SchiffMein Schiff 5Mein Schiff 6Mein Schiff 7Mein Schiff8