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Mit 36 farbigen Fotos
ISBN 978-3-492-97289-5
August 2017
© Piper Verlag GmbH, München 2016
Redaktion: Matthias Teiting, Dresden
Fotos im Bildteil: Privatarchiv Gela Allmann, wenn nicht anders vermerkt.
Baschi Bender: Nr. 1, 18, 20, 25; Martin Erd Photographer: Nr. 36; Nina Justa Fotodesign: Nr. 34, 35; Michael Müller/KME Studios für Dynafit: Nr. 12; Michael Müller/KME Studios für LIV: Nr. 11; Sedcard: Nr. 10 (Heinz Kettler GmbH & Co. KG: links und unten zweites von rechts; Holger Thalmann für Nike Instructor Club: oben zweites von rechts; Stefan Schmalzgruber Photographer: oben rechts und unten drittes von rechts); Sportograf: Nr. 14, 15
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de
Covermotiv: Sonja Mueller/Bauerfeind
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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Cover & Impressum
Motto
GEBROCHENE FLÜGEL
DER STURZ
MORPHIUMTRÄUME
KINDHEIT
MEIN ERSTER PRIVATJET
KRAFTQUELLEN
MARATHON DER ANDEREN ART
GEBURTSTAG IM KRANKENHAUS
EINMAL WETTKAMPF, IMMER WETTKAMPF
STEHEN UND DREHEN
KLEINE SCHRITTE
NACH DEM SPRINT DIE LANGSTRECKE
EIN TRAUM WIRD WIRKLICHKEIT
GET READY FOR SPORT
RÜCKSCHLAG UND GIPFELGLÜCK
NOCH NERVT DER NERV
ZURÜCK AUF TOURENSKIERN
SINN DES LEBENS
DANK
NACHWORT
FILMTRAILER
Bildteil
Willensstärke.
Leidenschaft.
Mut.
Akzeptanz.
Selbstvertrauen.
Optimismus.
Respekt.
Verantwortung.
Dankbarkeit.
Liebe.
Schmetterlinge haben etwas Wunderbares an sich. Sie wirken unendlich frei, anmutig und zufrieden, wie sie so durch die Lüfte schweben. Mein Freund hat mich immer mit einem Schmetterling verglichen, auch jetzt behauptet er noch, dass ich ein Schmetterling sei. Nur eben einer mit gebrochenen Flügeln. Wichtig sei vor allem, dass die Flügel noch dran sind, dann könne ich eines Tages auch wieder fliegen. Es braucht nur Zeit. Irgendwann werde ich noch leichter und glücklicher als alle anderen durch die Lüfte flattern, weil ich zu schätzen weiß, wie schön das Fliegen ist!
Meine Freunde schreiben mir aus Deutschland, dass ich eine Kämpferin sei. Alle glauben an mich, und das ist meine Motivation! Meine Krankenschwester hier in Island nennt mich sogar Superwoman, weil meine Muskeln trotz der langen Sauerstoffunterversorgung die Venentransplantation überlebt haben und ich selbst im Krankenbett, sagt sie, noch eine immense Kraft ausstrahle. Meine Eltern und Verwandten sind in Gedanken bei mir. Sie sind einfach nur unfassbar dankbar, dass es mich noch gibt.
Unterm Strich weiß ich, dass ich die Herausforderung meines Lebens vor mir habe und es unsagbar hart werden wird. Aber es geht im Leben nicht darum, dass man möglichst nie auf die Schnauze fällt. Es geht darum, immer wieder mit erhobenem Haupt aufzustehen. Und ich bin dazu bereit.
Die Uhr tickt leise, aber unaufhörlich vor sich hin und gibt mir ihren Rhythmus vor. Ich bin ans Bett gefesselt und muss warten, dass mein Körper sich erholt. Ich atme tief ein, schließe die Augen. Meine Lunge füllt sich mit Luft. Ich lebe! Ich atme aus und öffne meine Augen. Zwar sauge ich nicht die klare und energiegeladene Luft ein, die es für mich nur auf einem Berggipfel gibt, aber in Gedanken sehe ich mich wieder dort oben stehen. Ich spüre, wie mit jedem Atemzug das Leben durch meinen Körper fließt und mir Kraft gibt für meinen langen Weg.
Ich schaue nach rechts zu meinem Freund Marcel. Er erwidert meinen Blick mit einem Lächeln. Ich weiß, dass er mich unterstützen wird, dass ich zu hundert Prozent auf ihn zählen kann. Auf ihn, auf meine Familie, auf meine Freunde. Aus diesem Wissen ziehe ich meine ganze Kraft. Ich bin nicht allein. Ich werde kämpfen, für jeden Einzelnen von ihnen und für mich selbst – so lange, bis ich wieder die Alte bin.
Verdammt noch mal! Ich bin so weit weg von meinem Leben, dabei war ich eben noch so nah dran wie nie zuvor.
Die Sonne strahlt auf uns herab. Alles, was man sehen kann, ist das Blau des Himmels und das Glitzern des weißen Schnees. Ich sauge gierig die frische Luft ein, während sich unsere kleine Dreiergruppe dem Berggipfel nähert. Die Skifelle gleiten auf dem harten Schnee rhythmisch dahin, nur noch wenige Meter trennen uns vom höchsten Punkt und vom Ausblick über die prächtige Fjordlandschaft. Wir sind auf Island, weit im Norden dieser außergewöhnlichen Insel.
Ich ziehe das Tempo weiter an, beflügelt wie ein kleines Kind, das neugierig die Welt entdecken will. Es ist ein perfekter Tag im April 2014. Die meisten Skitourenfotos, die wir heute schießen wollen, haben wir eigentlich schon im Kasten. Der Redakteur, der Fotograf und ich bilden ein eingespieltes Team, und die Landschaft ist atemberaubend. Ich empfinde es als unglaubliches Privileg, hier als Sportmodel arbeiten zu dürfen.
Nach einem letzten Schritt stoße ich mich mit den Stöcken auf das Gipfelplateau. Als wir am Morgen losmarschiert sind, lag das gesamte Tal noch in einer Nebelsuppe. Dann hat sich der Dunst langsam zurückgezogen, mittlerweile ist die Luft klar und der Fernblick überwältigend.
Der Fjord schlängelt sich durch die verschneiten Bergkuppen, und die Sonne lässt das Wasser funkeln. Der Himmel spiegelt sich im tiefen Blau des Fjords. Überall sieht man schneebedeckte Hänge, die zu Tourenabenteuern und fantastischen Abfahrten einladen. Für einen skibegeisterten Menschen wie mich eine paradiesische Aussicht.
Da wir alle das beste Ergebnis abliefern wollen, entscheiden wir uns nach einer entspannten Brotzeit am Gipfel, noch ein Stück weit nach Norden zu laufen, um die letzten Fotos zu schießen, mit den Skiern auf dem Rücken. Dabei entfernen wir uns etwa dreihundert Meter von unserer Aufstiegsroute und machen ein paar Aufnahmen am Grat, der bereits zur Mittagszeit in der Sonne liegt. Im Hintergrund glitzern die Wellen des Atlantiks.
Die Skier sind sicher auf den Rucksack geschnallt. Meine zwei Stöcke in der Hand, setze ich einen Fuß vorsichtig mit der Schuhspitze weiter rechts in den Steilhang. Bevor ich den zweiten sicher platzieren kann, rutsche ich weg. Der Hang ist hier viel vereister, als er es beim Aufstieg auf der Südseite gewesen ist, und das habe ich nicht bedacht. Mein Schuh findet in dem betonharten Schnee überhaupt keinen Grip. Ungebremst schlittere ich den etwa vierzig Grad steilen Hang hinunter. Zunächst denke ich mir nicht viel dabei. Ich bewahre die Ruhe und versuche in Bauchlage zu bleiben, die Füße voraus. Es wird sicherlich bald eine flachere Stelle kommen oder ein Fels, an dem ich mich mit den Beinen stoppen kann.
Ein Eispickel wäre in dieser Situation ideal, aber nun gut, so ein Sturz ist natürlich kein Wunschkonzert. Bevor ich richtig begreife, wie mir geschieht, nehme ich immer mehr Fahrt auf. Es fällt mir zunehmend schwer, meine Gedanken zu sortieren. Dann kommt der ersehnte Felsen, aber ich habe nicht den Hauch einer Chance, mich daran zu halten. Im Gegenteil, mein Körper verliert das Gleichgewicht, ich beginne mich zu überschlagen und spüre, wie mein rechtes Knie beim Aufprall bricht. Der Unterschenkel fliegt meinem Gesicht entgegen, als wäre er nicht mehr fest mit meinem Körper verbunden. Panik überfällt mich, während ich weiter über Schnee, Eis und Fels bergab schieße. Für einen kurzen Moment kann ich mich noch einmal in Position bringen, aber schon bei der nächsten Eis- oder Felskante überschlage ich mich erneut und verliere vollends die Kontrolle über meinen Körper. Wieder rast mir das rechte Knie entgegen und prallt mit voller Wucht gegen meine linke Schulter. Ich registriere, dass auch diese nun gebrochen ist. Mein linker Arm ist unnatürlich verdreht und schleudert mir mehrmals ins Gesicht. Dann liege ich auf dem Rücken und sause mit dem Kopf voraus bergab. Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich die Felsen auf mich zurasen. Blitzartig durchfährt mich der Gedanke, dass ich ja gar keinen Helm trage, aber bei normalen Skitouren ist das auch nicht üblich. Gleichzeitig spüre ich, wie mein Hintern und meine Hüfte von der Reibung brennen – die Hose ist mir fast bis in die Kniekehlen hinuntergerutscht. Der Schnee und das Eis reißen meine Haut auf. Ich werde schneller und schneller.
Mit einem Schlag wird mir klar: Das hier ist kein Albtraum, aus dem ich gleich wieder aufwachen werde. Das hier ist mein Leben, und es ist jetzt gleich vorbei! Ich denke an meinen Freund Marcel, der mir immer wieder gesagt hat, er habe Angst davor, dass mir in meiner Unbekümmertheit, in meinem Leichtsinn irgendwann etwas Schlimmes zustoßen könnte. Er hat mir schon oft vorgehalten, dass ich die Gefahren nicht wahrnehme und zu blauäugig durch die Welt spaziere. Für ihn gebe es keine schlimmere Vorstellung, als mich irgendwann einmal in den Bergen zu verlieren. Nun ist es wohl so weit, und ich wünschte, ich könnte Marcel noch einmal in den Arm nehmen und ihm sagen, wie leid es mir tut und dass ich ihm nie wehtun wollte. Ich erinnere mich daran, wie er immer darauf bestanden hat, dass wir niemals im Streit auseinandergehen. Weder am Morgen, wenn wir uns für den Tag verabschieden, noch am Telefon oder in einer Nachricht, da es immer das letzte Mal sein könnte, dass wir uns sehen oder miteinander sprechen. In diesem Moment spüre ich keinen Schmerz außer meinem Herzschmerz.
Ich rase weiter über die vereiste Landschaft und merke, dass auch mein linkes Knie sich inzwischen unnatürlich verdreht hat. Ich bin ein funktionierender Geist, gefangen in einem kaputten Körper. In einem Matschkörper. Die Vorstellung ist so grausam, dass ich es nicht länger ertragen kann. Ich will nichts mehr davon mitbekommen. Wieso werde ich nicht endlich bewusstlos? In den Filmen werden sie doch immer alle bewusstlos.
Es ist, als würde man auf mich schießen. Erst ein Streifschuss, dann der erste Treffer. Ein, zwei Schüsse kann wahrscheinlich jeder ganz gut wegstecken. Aber die Pistole hält gnadenlos weiter auf mich drauf. Peng, peng, peng! Mit jedem Schuss sacke ich innerlich weiter zusammen und bekomme weniger Luft. Gleich wird der letzte, alles entscheidende Schuss kommen und mein Leben auslöschen.
In Gedanken sehe ich den Garten meines Elternhauses vor mir. Es ist Frühling, alles blüht. Es duftet nach Flieder. Wann bin ich eigentlich das letzte Mal zu Hause bei meiner Familie gewesen? Der Gedanke, dass ich sie nie wiedersehen werde, zerreißt mir das Herz.
Ich bin immer noch nicht bewusstlos – aber auch noch nicht tot. Es beutelt mich weiter den Hang hinunter. Mit der letzten Sensibilität, die mein Körper aufbringt, spüre ich, dass das Gelände etwas flacher wird, dass sich der Schnee plötzlich etwas weicher anfühlt. Die Sonne, die hier unten über den Grat scheint, hat ihn etwas angeschmolzen und dann luftig vereisen lassen. In diesem Moment befinde ich mich wieder in einer guten Sturzposition, sofern man das sagen kann: Füße voraus in Bauchlage. Mit letzter Kraft wage ich noch einen Selbstrettungsversuch, hacke meine linke Fußspitze in den Schnee, versuche mich mit der rechten Hand im Schnee festzukrallen und kann mich tatsächlich mit einem Mal stoppen. Erst einige Sekunden später realisiere ich, dass ich aufgehört habe zu fallen und nun, auf meine linke Fußspitze gestützt, unnatürlich verrenkt zum Liegen gekommen bin. Etwa achthundert Höhenmeter unterhalb der Stelle, an der ich ins Straucheln gekommen bin – wie sich später herausstellen wird.
Hatte ich mir eben noch gewünscht, bewusstlos zu werden, setzt nun mein Überlebensinstinkt wieder ein. In Gedanken sage ich mir: »Ich lebe – ich lebe – ich lebe! Oh mein Gott – ja, ich lebe!« Ich habe es so weit geschafft, ich darf jetzt auf keinen Fall aufgeben, ich muss um jeden Preis weiter durchhalten.
Erst am Wochenende zuvor habe ich an einem großen Skitourenrennen in Italien teilgenommen, der Tour du Rutor. Dieses sogenannte Grande-Course-Rennen erstreckt sich über drei Tage, und man bestreitet es im Zweierteam. Meine Teamkollegin Sylvia und ich haben an dem Wochenende gekämpft, was das Zeug hält. Bei einem so langen alpinen Rennen geht man durch Himmel und Hölle, und genau diese Bilder tauchen nun plötzlich vor meinen Augen auf. Während des Rennens habe ich einige Male gedacht, dass es nicht mehr weitergehen könnte; ich war leer und völlig abgekämpft. Nach dem Rennen begriff ich dann aber wieder, dass man sich nicht auf das große Ziel konzentrieren darf, sondern in Etappen denken muss, um sich bis zum Ende motivieren zu können: der erste Steilhang, dann eine Kuppe, eine kurze Abfahrt, der zweite lange Aufstieg, eine kurze Gratpassage und immer so weiter, bis man schließlich im Ziel einläuft.
Und deshalb nehme ich mir jetzt vor, alles wie ein Rennen zu sehen und mich von Zwischenziel zu Zwischenziel zu hangeln. Tobi und Baschi, meine beiden Begleiter, werden sicher bald kommen. Sie haben bestimmt Hilfe gerufen, alles wird gut werden. Der Helikopter wird kommen, ich werde es auf die deutlich bequemere Trage schaffen, bevor es dann ins Krankenhaus geht. Schritt für Schritt für Schritt. Ich muss nur noch ein ganz klein wenig durchhalten …
Leider geht es dann nicht ganz so schnell.
Röchelnd liege ich vollkommen bewegungsunfähig in exakt derselben Position, in der ich eben zum Stillstand gekommen bin. Ich habe ein bisschen Angst, dass ich weiter abrutschen könnte, versuche aber, diesen Gedanken zu verdrängen. Ein erneutes Absacken wäre in der Tat fatal. Die senkrechte Abbruchkante zum Fjord ist keine hundert Meter von mir entfernt. Ein Sturz von der mindestens fünfzig Meter hohen Felsklippe ins Wasser würde meinen sicheren Tod bedeuten. Schwimmbewegungen wären in meinem Zustand undenkbar, und das eiskalte Wasser würde mir ohnehin den Rest geben.
Ein Brennen steigt jetzt langsam, aber unaufhaltsam in jede Zelle meines Körpers. Während des Sturzes habe ich nichts wahrgenommen, aber jetzt kommen die Schmerzen. Und was für welche! Ich kann gar nicht genau sagen, wo sie anfangen und wo sie aufhören. Mein Körper fühlt sich an, als hätte er Feuer gefangen und als würde ich lebendig verbrennen. Zudem bekomme ich schlecht Luft. Das Atmen fällt mir immer schwerer, selbst mein lautes Röcheln wird schwächer. Es kommt mir vor, als würden sämtliche Organe offen liegen. Die Jacke ist mir am Bauch und am Rücken nach oben gerutscht, die Hose hängt auf Halbmast und ist an den Beinen aufgerissen. Die Jackenärmel sind ebenfalls bis zu den Ellenbogen hochgerutscht und geben den Blick auf meine stark blutenden Unterarme frei. Auch mein Kinn blutet wie verrückt, mein Gesicht brennt. Ich liege in einer kleinen Blutlache.
Wann kommen endlich die anderen? Mir wird unglaublich kalt, schließlich liege ich halb nackt im Schnee. Panisch bin ich allerdings nicht. Ich habe gar keine Kraft mehr für einen Panikanfall, nach diesem Sturz kann mir wahrscheinlich ohnehin nichts Schlimmeres mehr passieren. Ich werde innerlich ganz ruhig. Es ist irgendwie schön, hier zu liegen und nicht mehr weiter zu fallen. Mein Atem geht wieder gleichmäßiger, Müdigkeit überfällt mich, ich bin vollkommen kraftlos. Sollte ich ein bisschen schlafen? Schlafen wäre eigentlich ganz wunderbar …
Dann höre ich das Geräusch von nahenden Skiern auf hartem Schnee. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit seit dem Sturz vergangen sein mag, ich habe jegliches Gefühl dafür verloren. Wie ich im Nachhinein erfahren werde, sind es bisher nicht einmal zehn Minuten gewesen, die mir allerdings wie eine Ewigkeit vorkommen. Tobi und Baschi sind meine Absturzstrecke mit Skiern abgefahren oder vielmehr abgerutscht. Ein Skischwung ist vor allem im oberen Teil des Geländes nicht möglich gewesen. Tobi fährt ganz nah an mich heran und hockt sich hinter mich in den Schnee, damit ich nicht weiter abrutschen kann. Ich sehe ihn nicht, da ich mich nicht bewegen kann, höre ihn aber dicht hinter mir. »Gela?«, flüstert er. »Geht’s dir gut?«
Und ja, in diesem Moment geht es mir tatsächlich gut. Es ist so schön, nicht mehr allein zu sein. Ich spüre eine große Erleichterung in mir. »Ich hole Hilfe! Alles wird gut!«, sagt er entschieden, nachdem er realisiert hat, dass ich noch lebe. Ich bemerke, wie aufgewühlt er ist. Baschi und er haben eigentlich nicht damit gerechnet, mich lebend vorzufinden. Hektisch legt Tobi seinen Rucksack ab und zieht das Funkgerät aus seiner Tasche. In diesem Moment verliere ich meinen neu entfachten Lebenswillen.
Verdammt, denke ich mir, er hat noch nicht einmal den Notruf abgesetzt! Wie soll ich das so lange durchhalten, bis Hilfe kommt? Mein Körper gibt mir zu verstehen, dass er nicht mehr kann. Mittlerweile zittere ich so heftig, dass meine Bewegungsamplitude locker fünf Zentimeter betragen muss. Ich bin unendlich leer. Wie eine Trinkflasche, aus der man nach einem langen Marathon versucht, noch einen letzten Tropfen herauszubekommen. Aber es ist kein Tropfen mehr übrig.
»Beeil dich bitte, ich kann nicht mehr lange!«, kommt es mir mühsam über die Lippen. Allein das Sprechen fällt mir schwer.
»Alles wird gut, Gela, die sind sicher gleich da! Alles wird gut!«, versucht Tobi mich zu beschwichtigen und macht sich dann sofort daran, den Notruf via Funk an die Heliskiing Lodge in der Nähe von Dalvík abzusetzen.
In der Lodge sind wir seit zwei Tagen zu Gast. Sie hat uns als Ausgangspunkt für unsere bisherigen Skitouren gedient und hätte eigentlich auch die nächsten zwei bis drei Tage unser Startpunkt sein sollen, bevor wir auf unserer Shootingreise dann weiter in den Süden Islands fahren wollten. Die Skitourenbilder im Norden mit dem Blick auf die atemberaubende Fjordlandschaft und die vielen weiten Schneekuppen sollten nur den Auftakt für unsere Islandreportage bilden.
Bisher war es hervorragend gelaufen; die Bilder waren aufgrund des guten Wetters eigentlich schon im Kasten. Nach unserem ersten Skitourentag saßen wir im Außenwhirlpool der Lodge und gönnten uns nebenbei ein Bierchen. Mit Baschi und Tobi lässt es sich einfach sehr gut aushalten. Tobi ist Zeitschriftenredakteur; ich kenne ihn bereits von einem anderen Shooting. Wir haben uns damals so gut verstanden, dass ich nicht lange überlegen musste, als er mich fragte, ob ich mit nach Island kommen wollte. Er ist ein waschechter Hamburger um die fünfzig, mit sportlicher Statur und einem kräftigen, herzhaften Lachen. Obwohl er ein Flachlandbewohner ist, faszinieren ihn die Berge. Seit über fünfundzwanzig Jahren unternimmt er Skitouren auf der ganzen Welt, und nicht nur privat, auch beruflich verbringt er seine Zeit gern auf Reisen und in luftigen Höhen.
Baschi, unseren Fotografen, habe ich hingegen erst auf Island kennengelernt. Er saß mit einem Dreitagebart, Basecap, in weiten Jeans und einem Karohemd bei einem Drink an der Bar, als wir ihn direkt nach unserer Ankunft in Reykjavík mit dem Auto aufgegabelt haben, um gemeinsam gen Norden zu fahren. Er begrüßte uns mit Handschlag und musterte uns mit seinen wachen, freundlichen Augen. Baschi hatte ein paar Tage zuvor für einen anderen Kunden Fotos gemacht und konnte seinen Aufenthalt in Island nun ideal mit unserem Vorhaben verbinden. Ich mochte ihn sofort. Er ist ein lockerer, sportlicher Typ Ende dreißig, der das Fotografieren ganz offensichtlich lebt und liebt.
Unser Islandshooting ist nicht seine erste Sport- und Outdoorproduktion, und so konnten wir drei Abenteurer eine Menge Geschichten und Erfahrungen austauschen. Als wir an jenem Abend im warmen Wasser des Whirlpools saßen, hatten wir die Weite Islands und die eisige Luft um uns, und beim Blick nach oben präsentierte sich uns ein Meer aus Sternen. Wir kamen sogar in den Genuss, das Spiel der Polarlichter verfolgen zu dürfen. Ein faszinierendes Spektakel, bei dem ich mich sofort in dieses mystische und geheimnisvolle Land verliebte.
Die Leute aus der Lodge wissen in etwa, wo wir uns während unserer Tagestouren aufhalten. Tobi, Baschi sowie der Bergführer und Lodge-Inhaber »JB« haben die Route für den zweiten Tag am Vorabend des Shootings gemeinsam ausgewählt. Die Jungs haben vereinbart, dass wir am nächsten Tag auf alle Fälle ein Funkgerät mitnehmen sollen. Dass Tobi am Morgen daran gedacht hat, es auch wirklich einzustecken, könnte mir nun das Leben retten. Allerdings scheint das Gerät nicht zu reagieren. Der Empfang ist schlecht hier unten im Nirgendwo, und Tobi gibt immer und immer wieder mit zittriger Stimme den Notruf ab: »Hallo, hier Tobi. Wir hatten einen Unfall. Bitte sofort kommen. Hört ihr uns? JB, bitte kommen! Wir brauchen Hilfe! Bitte kommen!«
Keine Antwort.
Es ist unfassbar frustrierend, derart hilflos im Schnee zu liegen, während Tobi neben mir versucht, mit dem Funkgerät Kontakt herzustellen. Er gibt nicht auf und setzt erneut zum Notruf an. »Scheiße, kein Empfang!«, schimpft er lautstark. Meine Gemütslage kann man sich vorstellen. Ich liege schwer verletzt und um mein Leben kämpfend auf dem eisigen Boden, während neben mir jemand minutenlang vergeblich versucht, einen Notruf abzugeben. So etwas gibt einem wirklich den Rest. Tobi steht selbst unter Schock, versucht aber trotzdem, die Lage in den Griff zu bekommen, und fischt sein Handy aus der Tasche. Auch das zeigt keinen Empfang. Fluchend versucht er es weiter mit dem Funkgerät.
Dann kommt Baschi hinzu. Vielleicht sind noch einmal fünf Minuten vergangen. Das ist normalerweise kein großer Zeitraum, aber in meinem kleinen Kosmos ist es eine gefühlte Ewigkeit. Er hat unterwegs noch ein paar Utensilien aufgesammelt, die mir beim Sturz abhandengekommen sind: meine Skier, meine Stöcke, meine Handschuhe, mein Stirnband und auch meinen rechten Skistiefel. Die Kräfte, die auf mein rechtes Bein eingewirkt haben, müssen so stark gewesen sein, dass es mir tatsächlich den Skistiefel vom Fuß gerissen hat. In diesem Moment denke ich noch nicht an das mögliche Ausmaß der Verletzungen, es geht einzig und allein ums Überleben.
Baschis Handy hat zum Glück Empfang, und er kann endlich Hilfe anfordern. Später wird JB uns erzählen, dass er zwar auf Tobis Funksprüche nicht antworten konnte, aber seinen Hilferuf trotzdem empfangen hat. JB reagierte auf die Aufregung in Tobis Stimme: Er flog sofort mit einem Helikopter los, der eigentlich ein paar Urlauber zum Heliskiing hätte transportieren sollen.
Mit Baschis Ankunft wird alles ein wenig leichter für mich. Selbstverständlich steht auch er unter Schock. Ich denke, jeder kann sich vorstellen, was den beiden Männern beim Abfahren meiner Falllinie durch den Kopf gegangen sein muss, vor allem als sie nach den Skiern und Stöcken plötzlich auch auf meinen Skistiefel stießen. Ich bin mir sicher, beide haben spätestens ab da mit dem Schlimmsten gerechnet. Trotzdem sind sie nun für mich da.
Tobi sitzt immer noch an meiner Rückseite. Baschi selbst kommt direkt vor mich. Er hat sich auf den Boden gekniet, um sich mit seinem Gesicht ganz weit zu mir herunterbeugen zu können. Er ist vielleicht noch zwanzig Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ich glaube, er hat seinen Kopf seitlich auf den Schnee gelegt, sodass ich ihm direkt in die Augen blicken kann. Sacht nimmt er meinen Kopf zwischen seine Hände. Mit seinen Fingern umfasst er vorsichtig meine Wangenknochen. Diese Aktion ist so unbeschreiblich wichtig für mich. Ich fühle mich plötzlich nicht mehr so allein. Beruhigend und aufmunternd redet Baschi auf mich ein. Er informiert mich über alle weiteren Schritte. »Gela, alles wird gut. Du musst jetzt noch ein bisschen tapfer sein. Der Heli kommt gleich, dann wird dir geholfen. Alles wird gut, halt noch ein bisschen durch. Wir sind ja jetzt da!«
Ich starre ihm lange in die Augen. Ich bin so dankbar, dass ich nicht mehr allein bin – zeigen kann ich das jedoch nicht. Ich werde von heftigen Zitteranfällen geschüttelt. »Mir ist so kalt!«, bringe ich leise hervor. Tobi macht den Vorschlag, mich zuzudecken oder auf eine Jacke zu heben. Immer noch liege ich mit den nackten Körperstellen auf dem blanken Eis. Der Versuch muss allerdings nach einem lauten Aufschrei von mir sofort abgebrochen werden. Man kann mich nicht einen Millimeter bewegen oder auch nur mit dem kleinen Finger berühren, ohne dass ich vor Schmerz aufjaule. Es hilft nichts, ich muss auf dem Schneefeld liegen bleiben. Die beiden Männer haben ohnehin keine Rettungsdecke oder Ähnliches dabei. Sie ziehen ihre Jacken und Westen aus und decken mich, so gut es geht, von allen Seiten zu. Ich denke kurz an die Rettungsdecke in meinem Rucksack, aber daran würden sie nicht kommen, ohne mich zu bewegen.
Am Tag zuvor haben wir uns vor unserem Aufbruch noch unterhalten, wie wir das mit dem Erste-Hilfe-Kit machen sollten. Wir einigten uns darauf, dass es genüge, wenn ich eines dabeihätte. Dass wir das nicht benutzen könnten, wenn es mich treffen würde, haben wir nicht bedacht. In Zukunft werde ich grundsätzlich dafür plädieren, dass jeder in der Gruppe ein eigenes Set mitnimmt. Es bringt ja auch nichts, wenn nur ein oder zwei Leute einen Lawinenpiepser dabeihaben und die dritte Person ohne Piepser verschüttet wird. Ebenso muss man es mit dem Erste-Hilfe-Kit halten. Ob ich allerdings jemals wieder eines für eine Tour einpacken werde, ist in diesem Moment eher fraglich.
Meine Augen werden ganz schwer, ich kann sie kaum mehr offen halten. »Gela, mach die Augen auf, wir brauchen dich doch noch!« Baschi gibt wirklich alles. Ich würde ihm am liebsten um den Hals fallen, weil er sich so sehr ins Zeug legt. Sachte tätschelt er mir die Wangen, wann immer ich einzunicken drohe.
»2404«, sage ich mit müder Stimme zu ihm. Mit fragendem Blick schaut er mich an. Er lauscht aufmerksam, ob ich noch etwas sage; er weiß, dass es für mich sehr anstrengend ist zu sprechen. »Das ist der Code von meinem Handy«, flüstere ich. »Ruf Marcel an und sag ihm, dass es mir leidtut und ich ihn liebe!«
Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich Marcel jemals wieder selbst werde anrufen können. Der Heli kommt einfach nicht, und meine Kräfte lassen immer mehr nach. Baschi flüstert meinen Handycode ein paarmal vor sich hin, um ihn sich einzuprägen. Ich glaube, er ist sich ebenfalls nicht sicher, ob ich je wieder ein Telefonat führen werde. Ich weise auf das Handy in meiner Brusttasche, später wird er es dort herauskramen.
Hätte man mir vorher gesagt, dass der ersehnte Heli mit dem Arzt so lange auf sich warten lassen würde, hätte ich vermutlich gleich aufgegeben. Zum Glück weiß man aber nie, was im Leben passieren wird, und so hämmere ich mir gemeinsam mit Baschi und Tobi unentwegt ein, dass ich durchhalten muss und der Heli jede Sekunde landen wird. Schließlich kommt tatsächlich ein Hubschrauber, aber es ist noch nicht der Arzt mit dem ersehnten Schmerzmittel, sondern unser Bergführer JB. Er springt aus dem Heli, der gleich wieder abhebt und weiterfliegt.
Da es hier auf Island keine offiziellen Rettungshelikopter gibt, stellt uns JB seinen zur Verfügung und lässt damit nun, nachdem er uns geortet hat, einen Arzt und Sanitäter, die Bereitschaftsdienst haben, schnellstmöglich auf den Berg fliegen. Ich muss also weiter durchhalten. JB ist der perfekte Organisator. Ihm verdanke ich die gesamte Bergungsaktion. Mit einer Rettungsdecke bewaffnet, kommt er zu uns und kümmert sich darum, dass ich nicht noch mehr auskühle. Die psychische Betreuung überlässt er weiter Baschi. Wir sind mittlerweile ein eingespieltes Team, und ich glaube, wenn er in diesem Moment aus meinem Blickfeld verschwinden würde, bräche ich endgültig in Panik aus.
Für isländische Verhältnisse verläuft die Bergung extrem schnell. Ich habe unfassbares Glück. Hätten wir die Unterstützung durch JB und die Lodge nicht gehabt, hätte mich wohl gar kein Heli geholt, und der Weg ins Krankenhaus hätte zu lange gedauert. Trotzdem ist die Situation nicht vergleichbar mit beispielsweise einer Bergrettung in Sulden oder dem Berchtesgadener Land, wo die Helikopter auf derartige Aktionen spezialisiert sind.
Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit Motorengeräusche in der Stille Islands hören, ist das wie Weihnachten, Geburtstag und Ostern zusammen. Jetzt kann ich es wirklich schaffen! Professionelle Mediziner werden gleich bei mir sein, man wird mir helfen, mir hoffentlich möglichst schnell ein Schmerzmittel geben und mich von hier wegbringen.
Normalerweise hasse ich Krankenhäuser, und bisher habe ich Glück gehabt, ich bin erst einmal im Alter von zwölf Jahren in einem gewesen. Damals hatte ich mir beim Reiten ohne Sattel nach einem Sturz vom Pferd die linke Schulter gebrochen. Die Heilung verlief unkompliziert; die Knochen wuchsen gut wieder zusammen, sodass ich keine Probleme bekam. Jetzt klingt die Aussicht, in ein Krankenhaus zu kommen, wie eine Erlösung für mich. Heligeräusche – Arzt – Trage – Heli – Krankenwagen – Krankenhaus. Langsam kommt meine übliche Etappenplanung wieder ins Rollen. Das gibt mir neue Kraft.
Der Helikopter landet etwa fünfzig Meter rechts von uns. Einige Gestalten springen heraus, und es kommen sogar noch ein zweiter Hubschrauber und mehrere Einsatzwagen hinzu, die unten an der Küstenstraße halten. Weitere Helfer bahnen sich den Weg von der Straße zu uns herauf. Es müssen an die fünfzehn Leute sein, die nun bei uns sind.
Meine Euphorie erhält einen Dämpfer, da die junge Ärztin extreme Schwierigkeiten hat, mir per Spritze ein Medikament zu verabreichen. Mein Arm zittert so stark, dass er um sich schlägt; die Venen sind durch den Schock offenbar extrem zusammengezogen. Die Ärztin gibt sicherlich ihr Bestes, scheint aber leider mit der Situation überfordert zu sein. Nachdem Tobi mir schließlich mit einem Gurt den Oberarm abgebunden hat, versucht sie fünf bis zehn Mal, eine Nadel in meinen Arm zu legen, ohne Erfolg. Ich bin zu diesem Zeitpunkt schon wieder kurz davor aufzugeben. In so einer Situation erträgt man einfach keinen Rückschlag, auch wenn er noch so unerheblich scheint.
Dann verspüre ich einen unglaublichen Schmerz in meinem linken Knie. Ich heule laut auf und japse nach Luft. Einer der Sanitäter hat mir eine riesige Nadel hineingerammt. Es ist vermutlich Adrenalin oder Morphium, das mich wieder von den Toten aufwecken soll. Ich beruhige mich rasch, denn so bekomme ich endlich mein Schmerzmittel.
Auch heute erinnere ich mich noch an diese brutale Kälte, die mich damals einhüllte. Die Sanitäter und die Ärztin wickeln mich bis zum Hals in Rettungsdecken und legen mich auf eine Trage, trotzdem zittere ich weiter. Mein ganzer Körper bebt, und ich sehne mich nach einem warmen Tee, um mich von innen zu wärmen. Mir ist noch nie im Leben so kalt gewesen.
Ich liege inzwischen ausgestreckt auf dem Rücken, zugedeckt mit einer weiteren Schicht Rettungs- und Daunendecken. »Ich erfriere«, wispere ich Baschi zu, der immer noch ganz nah bei mir ist. Ich bin völlig auf ihn fixiert. Besonders jetzt, da die vielen Isländisch sprechenden Helfer hektisch um mich herumwuseln, brauche ich ihn als Anhaltspunkt. Es ist eine Extremsituation – es ist, als hätte ich mich für diesen einen Moment in ihn verliebt. Er ist mein Retter, mein Anker. Er ist alles, was ich in diesen Minuten habe, alles, was mir Hoffnung gibt.
»Da ist noch ganz viel Eis, kannst du es rausnehmen?«, bitte ich ihn und blicke an mir herab. Meine Hände sind unter den Decken fest mit meinem Körper verbunden. Baschi versteht und greift mit seiner Hand in die Öffnung zwischen Hals und Decken. Tatsächlich zieht er zwei fast faustgroße Eisbrocken heraus. »Da sind noch viel mehr drin!«, schluchze ich, wohl wissend, dass weder er noch ich in diesem Moment etwas daran ändern können. Er würde unmöglich herankommen, dafür bin ich viel zu fest eingepackt. Ich sehe ihn fragend an und kämpfte mit den Tränen.
»Alles wird gut, sie bringen dich jetzt ins Krankenhaus. Ich werde mitkommen, Tobi kommt mit dem Auto nach«, beruhigt er mich.
Mit in den Helikopter darf Baschi dann allerdings nicht – nicht einmal ich selbst habe wirklich Platz darin. Es handelt sich ja um keinen Rettungshubschrauber, sondern um einen viel kleineren Helikopter, der normalerweise für das Heliskiing genutzt wird. Während die Ärztin mich notdürftig versorgt, bauen die restlichen Sanitäter und die Helfer von der Lodge die Sitze aus, damit ich auf der Trage überhaupt hineinpasse. Ich werde durch die Seitentür hineingeschoben, auf dem Sitz neben meinem Kopf nimmt die Ärztin Platz. Meine Füße hängen immer noch aus der Tür heraus. Der Heli hebt ab. Kann das wirklich wahr sein? Ist die Tür noch offen, und sind meine Füße, die unten über die Trage ragen, der kalten Luft ausgesetzt? Es fühlt sich zumindest so an. Der rechte Fuß, an dem ich keinen Skischuh mehr trage, ist eiskalt. Es ist unerträglich, als würde er abfrieren.
Die Ärztin beugt sich weit über mich und fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich bin mittlerweile an eine Sauerstoffversorgung angeschlossen. Es ist unfassbar laut wegen der Propellergeräusche, und zum Reden fehlt mir die Kraft. Ich kann ihr also ohnehin nicht mitteilen, dass mein rechter Fuß gerade vor Kälte abstirbt. Ich nicke deshalb, soweit das möglich ist, und hoffe, dass der Flug bald zu Ende ist.
Aber es dauert. Wieder liege ich da, bei vollem Bewusstsein, und wünsche mir nichts sehnlicher, als dass wir das Krankenhaus endlich erreichen, bevor ich meinen Fuß verliere. Die Minuten scheinen endlos langsam zu vergehen, und ich empfinde eine enorme Erleichterung, als wir nach etwa zwanzig Minuten auf dem Krankenhausparkplatz in Akureyri landen.
Die Isländer sind extrem gut organisiert. Auf dem Parkplatz wartet bereits ein Rettungswagen, und es vergeht kaum Zeit, bis wir direkt in die Notambulanz einfahren. Immer noch schlottere ich am ganzen Körper. In der Notaufnahme werde ich sofort in den Kernspintomografen geschoben. Zuvor hat man mir die nassen und kalten Klamotten vom Körper geschnitten, doch es wird trotzdem nicht besser. Ich zittere und zittere und habe keine meiner Extremitäten auch nur ansatzweise unter Kontrolle. Ein Arzt deckt mich mit einer Wärmedecke zu und fragt mich auf Englisch: »Alles okay? Dir wird bald wieder wärmer.« Er sieht mich mit freundlichen Augen an.
»Kann ich vielleicht einen heißen Tee bekommen?«, entgegne ich.
Der Arzt lacht. »Tut mir leid, zu trinken dürfen wir dir jetzt nichts geben. Aber dir wird gleich wärmer werden, versprochen!«
Ich schlottere weiter. Vielleicht ist das auch gut so, weil die Kälte all meine Gedanken einnimmt. Die vielen Verletzungen interessieren mich in diesem Moment gar nicht. Ich kann an nichts anderes denken als an diese verfluchte Kälte, die von mir Besitz ergriffen hat.
Sehr schnell stellt sich dann heraus, dass ich nicht in Akureyri bleiben kann, sondern auf direktem Weg nach Reykjavík ins Hauptstadtkrankenhaus muss. Der genaue Grund wird mir nicht genannt. Ich denke, Baschi und Tobi, die schrecklich verstört und besorgt im Wartebereich sitzen, sind besser informiert. Gegen die Schmerzen hat man mir den feinsten Stoff gegeben, ich bin nun völlig zugedröhnt und will nur noch schlafen. Wenn ich später aufwache, ist sicher alles wieder gut.
»Gela, sie fliegen dich jetzt mit dem Jet ins Krankenhaus nach Reykjavík. Dort wirst du gleich operiert. Ich werde mitkommen. Tobi kommt mit dem Auto nach!«, erklärt mir Baschi. Dass die Zeit mehr als drängt, weil die Hauptarterie in meinem rechten Bein gerissen ist und mein Unterschenkel schon seit Stunden nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird, sagt mir niemand. Dass aus diesem Grund eine Amputation des Beins inzwischen recht wahrscheinlich scheint, erst recht nicht.
An den Flug im Jet werde ich später kaum noch Erinnerungen haben. Baschi ist bei mir, die Schmerzen sind okay. Der Flug ist um einiges angenehmer als der Trip im Heli. Ich friere nicht mehr so stark. Trotzdem frage ich im Krankenhaus in Reykjavík wieder als Erstes nach einem heißen Tee. Keine Ahnung, was mich da reitet. Ich stelle mir einfach vor, wie der heiße Tee mich von innen durchströmt, wie er für ein wohliges Gefühl sorgt. Wenn ich bei mir zu Hause auf der Couch eine Tasse Tee trinke, wird mir immer so warm ums Herz, und die Welt scheint in Ordnung. Aber natürlich darf ich kurz vor der langen Operation nichts mehr trinken.
Als es für mich in Richtung OP geht, muss ich mich von Baschi verabschieden. Ich bitte ihn darum, Marcel über die Ereignisse zu informieren. Baschi verspricht, dass er ihn sofort anrufen wird. Mittlerweile ist es vielleicht zehn oder elf Uhr abends. Mein Unterschenkel ist seit sieben bis acht Stunden von der Blutbahn abgeschnitten. Nach der OP werde ich erfahren, dass die Muskeln so etwas in der Regel fünf bis sechs Stunden aushalten – bevor sie dann absterben.
Als ich auf der Trage liege und für die Operation vorbereitet werde, schießt es mir plötzlich durch den Kopf: Mein rechter Fuß – ich spüre ihn nicht mehr, überhaupt nicht. Und bewegen kann ich ihn auch nicht. Ist der überhaupt noch dran? Hat mir nur niemand Bescheid gesagt, dass ich ihn schon verloren habe? Der Skischuh ist ja weggeschleudert worden … Grauenvolle Bilder spielen sich vor meinem inneren Auge ab. Panik überfällt mich. Ich liege kerzengerade auf der Trage, den Blick direkt zur Decke gerichtet und so vollkommen bewegungsunfähig, dass ich nicht eigenständig nach unten zu meinen Beinen schauen kann. Ich will jedoch jetzt, noch vor der OP, Gewissheit. Ich muss den Arzt fragen! Anscheinend bemerkt er meine Unruhe, denn er kommt auf mich zu und erkundigt sich, ob alles in Ordnung sei.
»Mein rechter Fuß … ist der noch dran?«, frage ich mit wackeliger Stimme.
Sein Blick wird weich: »Keine Sorge, der ist noch dran.«
Ich entspanne mich augenblicklich, und meine Erinnerung verschwimmt. Die neunstündige Notoperation beginnt.