Aiken, G. A.

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michaela Link

 

© Shelly Laurenston 2019
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»In a Badger Way« bei Kensington, New York 2019
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Guter Punkt, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

 

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Prolog

»Meine Schwestern sollen kommen!«

Der General schaute auf das elfjährige Kind hinab, das ihn und seine Soldaten anschrie.

Er wusste nicht, was passiert war. Sie war zu Anfang so eine liebenswürdige Bereicherung gewesen. Ruhig. Bescheiden. Sie hatte sich nicht zur Wehr gesetzt, als sie sie abgeholt hatten. Nur ihre Schwestern. Dem seltsamen Haufen von Leuten, die in einer kleinen Häusergruppe mitten in Wisconsin wohnten, war es kaum möglich gewesen, die beiden älteren Mädchen zurückzuhalten.

Eigentlich hatten sie gar nicht wie richtige Schwestern ausgesehen. Eine war schwarz und hochgewachsen, die andere eine zierliche Asiatin mit kräftigen Schultern – er hatte angenommen, dass sie Turnerin war. Die Tochter seiner Schwester hatte auch solche Schultern und sie würde zur Sommerolympiade fahren.

Am liebsten hätte er den beiden Mädchen die Nummer eines Musterungsoffiziers gegeben. Jeder, der so unnachgiebig kämpfte, sollte eine Karriere beim Militär in Betracht ziehen.

Ihre kleine Schwester hatte sich jedoch nicht gewehrt. Sie hatte nur den Kopf gesenkt, sich einen Rucksack voller Notizbücher geschnappt und dann war sie seinen Männern nach draußen zum Wagen gefolgt. Während der ersten beiden Wochen war sie ruhig geblieben.

Dann hatte sich etwas verändert. Sie hatte sich verändert. Und zwar drastisch. Einer der Psychiater, die sie mit der Aufgabe betraut hatten, die Gefühle des Kindes zu überwachen, meinte, sie leide an »Depressionen« und brauche Medikamente.

Zuerst hatte der General nichts von Medikamenten wissen wollen. Einem elf Jahre alten Mädchen Medikamente zu geben, war seiner Einschätzung nach völlig unangemessen, und niemand wollte schließlich die Funktionsweise des Gehirns dieses Wunderkindes beeinträchtigen. Er hatte angenommen, dass sie lediglich etwas Disziplin brauchte. Sie musste in ihm die Vaterfigur sehen, die sie nie gehabt hatte. Also war er zu ihr gegangen und hatte versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln.

Das hatte nicht geholfen. Sie hatte ihn bloß mit säuerlicher Miene angeschaut, bis sie – nach einer Woche, in der er sie regelmäßig besucht hatte – plötzlich ein schweres Laborinstrument aus Metall nach ihm geworfen hatte. Beinahe hätte sie ihn am Kopf erwischt, doch er war rechtzeitig in die Hocke gegangen. Dann hatte sie zu schreien begonnen: »Meine Schwestern sollen kommen!«, und seither hatte sie nicht mehr damit aufgehört.

Ganz gleich, was sie zu ihr sagten oder womit sie sie zu bestechen versuchten, sie wollte es nicht hören. Sie wollte, dass ihre Schwestern kamen, und das anscheinend sofort.

Trotz seiner besten Absichten hatte er dem Psychiater schließlich nachgegeben und sich von seinen Vorgesetzten die Zustimmung geholt, dem Mädchen Medikamente zu verabreichen.

Vor dem Labor wartete in diesem Moment medizinisches Personal mit einer Spritze mit dem Medikament, das sie ausgewählt hatten, weil das Fräulein ihnen seine Tabletten ins Gesicht spuckte, wenn sie versuchten, sie dazu zu zwingen, diese einzunehmen.

Der General versuchte es noch einmal: »Also, Miss Stasiuk …«

Sie schlug mit der Hand auf die Granittheke. »MacKilligan. Ich bin eine MacKilligan!«, schrie sie. »Und meine Schwestern sollen kommen!«

»Ich habe es versucht«, sagte er zu ihr, bevor er einen Schritt nach hinten machte. »Schwester?«

Die Privatkrankenschwester des Psychiaters kam mit einem Edelstahltablett herein, auf dem eine aufgezogene Spritze lag.

Sobald das Kind die Spritze sah, bekam es richtig Angst. Seine Augen weiteten sich und es wich zurück, bis es gegen den Labortisch hinter sich stieß.

»Bleiben Sie weg von mir«, wimmerte das Mädchen. »Bleiben Sie weg von mir.«

»Es ist alles gut, Miss Sta… ähm … MacKilligan«, redete er besänftigend auf sie ein. »Wir wollen nur, dass Sie sich besser fühlen. Habe ich recht, Schwester?«

Die Krankenschwester nickte und trat vor. »So ist es.«

Das Mädchen starrte die Krankenschwester eindringlich an, bevor sie sie unvermittelt beschuldigte: »Sie versuchen, mich umzubringen.«

Die Feststellung wurde ruhig, aber so entschieden vorgebracht, dass alle im Raum erstarrten und sie ansahen.

»Was?«, fragte der General.

»Sie versuchen, mich umzubringen«, wiederholte sie.

Der General blinzelte schockiert. »Natürlich tun wir das nicht. Miss MacKilligan …«

»Sie wollen meinen Tod! Sie arbeiten für die andere Seite!«

»Welche andere Seite? Wovon redest du? Niemand versucht, dich umzubringen. Wir versuchen nur, dir zu helfen!«

Das Gesicht der kleinen Schlange war rot und sie ballte die Hände zu festen kleinen Fäusten. Alle Muskeln ihres Körpers waren angespannt, als sie kreischte: »Sie versuchen, mich uuuuuumzubringen!«

Ihre Stimme war so laut, dass es dem General vorkam, als würden die Fenster im Labor klirren, doch er war sich sicher, dass das lediglich seine Fantasie war, die unter solch seltsamen Umständen Amok lief.

»Niemand versucht, dich umzubringen!«, überschrie er das Gebrüll des Kindes. »Wir haben diesen ganzen Stützpunkt für dich gebaut. Also beruhig dich und lass dir deine Medizin geben!«

Die Krankenschwester stand jetzt neben ihm und rief mit einem Seufzen nach zwei Pflegern. Die Männer kamen herein, gingen zu dem Mädchen und versuchten, es an den Armen zu packen und festzuhalten. Jetzt sah der General den Widerstand, den er nicht gesehen hatte, als sie sie hergebracht hatten.

Wie ein wirbelnder Derwisch in Panik trat und schlug das Kind um sich, sprang von den Männern weg und schrie wild, bevor es flüchtete.

»Haltet sie fest!«, befahl die Krankenschwester, und die Pfleger jagten dem Kind durch das große Labor hinterher. Aber wann immer sie in seine Nähe kamen, duckte es sich unter ihren Beinen hindurch, sprang über ihre greifenden Hände hinweg oder warf irgendetwas nach ihnen, sodass es ihnen immer wieder entwischte.

Der General verdrehte die Augen und nickte einem seiner Männer zu. Der Soldat schloss die Tür und schnitt dem Kind den Fluchtweg ab. Der General gab zwei anderen Männern ein Zeichen.

Mit präzisen Bewegungen näherten die Soldaten sich dem Mädchen. Einer riss das Kind hoch und drückte es sich mit dem Rücken an die Brust.

»Wenn Sie so freundlich wären«, forderte der General die Krankenschwester auf.

Sie stellte das Tablett auf einen Labortisch und zog die Kappe von der Injektionsnadel. Dann ging sie auf das Kind zu.

Zappelnd und schreiend tat das Mädchen sein Bestes, sich gegen den Mann zu wehren, der es umklammerte, während ein anderer Soldat ihm den den Arm festhielt. Doch die ausgebildeten Männer bezähmten das Mädchen mühelos, ohne ihm Schaden zuzufügen.

Dankbar, dass dieses Desaster fast vorüber war, stieß der General den Atem aus und ließ den Blick durch den Raum wandern. In diesem Moment wurde ein Metallgitter in der Decke von einem in einem Turnschuh steckenden Fuß weggetreten, sodass es einem Pfleger auf den Kopf krachte und ihn mit einer ernsten Kopfverletzung zu Boden gehen ließ.

Die asiatische Halbschwester des Wunderkindes sprang aus dem Schacht auf den Boden. Die andere Schwester folgte ihr. Sobald ihre Füße auf dem Boden aufkamen, packte sie den zweiten Pfleger und schleuderte ihn mit erstaunlicher Leichtigkeit quer durch den Raum, während das andere Mädchen auf den Soldaten zustürmte, der ihre Schwester festhielt. Als sie sich ihm näherte, hob sie plötzlich einen Fuß und stemmte ihn gegen den Labortisch. Sie stieß sich in Richtung des anderen Laborarbeitsplatzes ab, drückte den anderen Fuß gegen den Granit und warf sich auf den Soldaten.

Sie schlang ihren Körper um dessen Kopf, doch der Soldat ließ seine Gefangene nicht los. Der zweite Soldat ging auf die älteste Schwester zu, aber sie packte seinen ausgestreckten Arm und schwang ihn gegen den Labortisch. Dann legte sie ihm einen Arm um den Hals und drückte ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch. Sie hob ein Bein, trat kräftig gegen den Unterschenkel des Soldaten und brach ihm das Knie. Sein Schrei hallte durch den Raum.

Der General seufzte verärgert. Wenn dieser Auftrag abgewickelt war, hatte er sich eine Medaille verdient. Denn das hier war verdammt noch mal lächerlich!

Der Soldat weiter vorn im Raum riss die Tür auf und schrie den Männern, die im Gang Wache standen, zu: »Ich brauche Hilfe hier drin!« Sie kamen mit gezogenen Pistolen hereingelaufen, doch sobald sie im Raum waren, blieben sie stehen und senkten sofort ihre Waffen.

Der General wusste nicht, warum, bis er den kalten Lauf eines Revolvers an der Schläfe spürte.

»Lassen Sie meine Schwester gehen, oder ich blase diesem Hurensohn das Gehirn weg«, verlangte die Älteste gelassen und ohne Panik in der Stimme, die man bei ihrer kleinen Schwester heraushörte.

Es war ein trauriger Tag, an dem ausgebildetes Militär nicht mit drei kleinen Mädchen fertigwurde, von denen die Älteste noch keine achtzehn war.

Der Soldat, um dessen Kopf sich noch immer die mittlere Schwester gewickelt hatte, ließ das kleine Mädchen los. Stevie MacKilligan trat von ihm weg und strich sich das blonde Haar aus dem Gesicht.

Dann richtete sie ihren Blick auf die Krankenschwester, die immer noch die Spritze in der Hand hielt.

»Sie waren ja wirklich wild darauf, mir das da zu verabreichen«, sagte sie.

»Es ist nur etwas, das dir helfen soll«, beteuerte die Krankenschwester sanft und vernünftig. »Damit du ruhig bleibst.«

»Wirklich?« Das Kind riss der Schwester die Spritze weg. »Dann versuchen Sie es doch selbst mal.«

Das psychotische kleine Miststück stellte sich auf die Zehenspitzen, rammte der Krankenschwester die Spritze in den Hals und drückte den Kolben herunter, sobald die Nadel ins Fleisch drang.

Kreischend fiel die Krankenschwester gegen den Labortisch. Der General konnte es verstehen, denn das tat mit Sicherheit weh.

Dann kreischte die Krankenschwester jedoch weiter, fiel zu Boden und rollte sich auf den Rücken, und plötzlich hatte sie Schaum vorm Mund und ihr ganzer Körper verfiel in heftige Zuckungen.

Bis sie aufhörte. Mit allem.

Bewegen, atmen … leben.

Der General schaute langsam von der toten Krankenschwester zu dem Mädchen.

Mit selbstgefälliger Miene verkündete es: »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass sie mich umbringen wollte.«

 

Charles Taylor ignorierte die Klagen der Wölfinnen in seinem Rudel. Sie wollten, dass er die Cops rief. Das FBI. Das Weiße Haus. Irgendjemanden! »Tu etwas!«, hatten sie verlangt, um die kleine Stevie zurückzubekommen.

Aber Charles wusste es besser.

Manche Dinge mussten sich in ihrer eigenen Zeit entwickeln. Und das hier war eine dieser Zeiten.

Genau zweieinhalb Wochen, nachdem die US-Regierung auf Rudelterritorium aufgetaucht war, waren seine Enkelin und ihre Halbschwester verschwunden.

Und Charles wusste, wohin sie gegangen waren: ihre kleine Schwester zurückholen.

Seine Enkelin und ihre Halbschwestern waren nicht wie andere Kinder. Sie waren auch nicht wie die Welpen des Rudels. Also hatte er sie die Sache selbst regeln lassen, statt einzugreifen.

Während die Frauen des Rudels sich ans Telefon hängten und versuchten, an Informationen heranzukommen, hatten seine Enkelin und ihre Halbschwester sich in ihren Zimmern verbarrikadiert und waren still geworden. Sehr still.

Es war etwas so Beunruhigendes, dass Charles seinem Rudel befohlen hatte, sich zurückzuhalten. Mit dem aufzuhören, was sie gerade taten, was immer es war. Sie hatten gedacht, er hätte die Kleine aufgegeben, weil sie nicht seine leibliche Enkelin war, aber das war weit gefehlt. Er hatte einfach gelernt, dass ein Wolf sich manchmal unter den Bäumen verstecken musste, bis Gras über eine Sache gewachsen war.

So überlebte man.

Eine Limousine mit zwei Militärfahrzeugen davor und dahinter bog in seine Straße ein.

Er saß auf der Veranda und schnitzte gerade ein kleines Einhorn aus einem Holzklotz, den er im Garten gefunden hatte. Er rührte sich nicht von der Stelle, bis die Limousine vor seinem Haus anhielt.

Er stand auf und klopfte sich die Holzspäne von der Jeans und dem Jimi-Hendrix-T-Shirt.

Die Tür der Limousine wurde geöffnet und seine Enkelin stieg aus. Sie hatte so große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, dass ihm das Herz wehtat, aber das erzählte er ihr nicht. Sie hatte schon genug Sorgen.

Das mittlere Mädchen folgte. Sie hatte eine blutige Nase und ein blaues Auge. Vielleicht hatte sie es sich zugezogen, als sie mit ein paar Militärtypen in eine Rauferei geraten war, doch irgendetwas sagte Charles, dass sie es von ihrer älteren Schwester hatte. Dieser kleine Honigdachs bedeutete nichts als Ärger und war sehr schwer zu kontrollieren.

Und dann kam endlich die Jüngste. Sie hatte ihren großen Rucksack auf den Schultern und musste rennen, um mit ihren größeren Schwestern Schritt zu halten.

»Pop«, sagte seine Enkelin, als sie vorbeiging.

»Pop-Pop«, sagte die kleine Asiatin.

»Hallo Großvater«, sagte die Jüngste.

»Willkommen zurück.«

Sie hielt inne, um ihn anzulächeln, und er erwiderte ihr Lächeln. Sie hatte einmal geweint, als er ihr Lächeln nicht erwidert hatte, daher lächelte er immer zurück. Wirklich immer.

Er drückte ihr das Einhorn in die Hand und sie grinste. »Wunderschön«, murmelte sie und studierte es, bevor sie im Haus verschwand.

Noch bevor er sich wieder umdrehte, wusste er, dass zehn Schritte von ihm entfernt ein Wolf stand.

Charles ließ sich Zeit und schaute über seine Schulter, bis er jemandem in die Augen sah, der ein Van Holtz sein musste. Nur ein alter Van Holtz, aber Charles’ Rudel hatte die Van-Holtz-Wölfe immer gemieden.

»Was?«, fragte Charles.

»Edgar Van Holtz.«

»Das interessiert mich nicht.«

Er feixte. »Sollte es aber. Ich bin der Grund, warum deine Enkelin und ihre Schwester wieder bei deinem Rudel sind und nicht in irgendeinem Armeestützpunkt in strengem Gewahrsam. Sie haben einigen Schaden angerichtet. Viele Leute finden, dass zumindest gegen die Älteste Anklage erhoben werden sollte.«

Jetzt feixte Charles. »Bitte. Als könnten die eine von ihnen festhalten.«

Van Holtz nickte grinsend. »Gutes Argument.« Er schaute zu der Tür, hinter der die drei Mädchen verschwunden waren. »Mein Vorschlag …«

»Um den ich nicht gebeten habe.«

»Du kriegst ihn trotzdem. Lass die Kleinste an die Öffentlichkeit gehen. Wie damals, als sie noch auf Musik stand. Aber jetzt auf naturwissenschaftlichem Gebiet.« Er reichte Charles einen Ordner. »Gib den hier der Ältesten. Bring Stevie dazu, sich für diese naturwissenschaftlichen Wettbewerbe und speziellen Stipendien einzuschreiben. Das wird ihren Namen bekannt machen.«

»Und was bewirken? Dass sie zu einer noch größeren Zielscheibe wird?«

»Unsere Regierung ist nicht in der Lage, sie sich einfach zu schnappen, ohne dass jeder Nachrichtendienst des Universums sich ihnen an die Fersen heftet und sich fragt, was aus Stevie MacKilligan geworden ist. Und andere Regierungen werden es mit den USA zu tun bekommen, wenn sie versuchen, sie sich noch einmal zu greifen.«

»Noch einmal?«

»Als man herausfand, dass sie auf dem Stützpunkt zu gut bewacht wurde, haben ausländische Interessen Agenten hingeschickt, um sie zu erledigen.«

Charles’ zorniges Stirnrunzeln war so grimmig, dass Van Holtz die Hände hob. »Immer mit der Ruhe. Das wurde geregelt.«

»Von euch? Oder von meinen Mädchen?«

Dieses Feixen. »Viel Glück, Provinzwolf«, wünschte ihm Van Holtz und kehrte zu seiner Limo zurück. »Bei den drei Mädchen wirst du es brauchen.«

Charles grinste höhnisch angesichts des maßgeschneiderten Anzugs, der an dem Mann herunterhing. Er hasste snobistische Wölfe.

Seine älteste Enkelin kam aus dem Haus, trat neben ihn und sie sahen zu, wie die Wagen abfuhren.

»Geht es allen gut?«, fragte er.

»Jepp.«

Er reichte ihr den Ordner mit den Informationen, den der Wolf für sie dagelassen hatte.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Wettbewerbe, Stipendien, solche Sachen. Du musst deine Schwester dazu bringen, da mitzumachen.«

»Wegen des Geldes?«

»Für ihre Sicherheit. Damit ihr Name da draußen bekannt wird. Damit sie bekannt wird. Wir wollen nicht, dass irgendjemand das noch einmal tut.«

Seine Enkelin nickte. »Ich werde mich darum kümmern.«

Das wusste er. Sie kümmerte sich immer um alles. Die Last der Welt ruhte auf ihren Schultern.

»Hör mal«, sagte er und drehte sich zu ihr um, sodass sie einander gegenüberstanden. »Tu, was immer du tun musst, um deine Schwester zu beschützen. Ich gebe dir volle Rückendeckung.«

»Das weiß ich. Ich bin nur …«

Die Schreie geschwisterlicher Zwistigkeiten drangen aus dem Inneren des Hauses und seine älteste Enkelin schloss die Augen und stieß einen mächtigen Seufzer aus. Sie hasste es, wenn ihre Schwestern sich stritten, aber Charles machte das nicht so viel aus. Es war das einzig Normale an den Dreien.

Sie drehte sich um, um ins Haus zu gehen, hielt jedoch lange genug inne, um sich auf die Zehenspitzen zu stellen und ihn auf die Wange zu küssen.

Ohne ein Wort entfernte sie sich und er wandte sich wieder dem Garten zu und starrte geradeaus. Er hörte, wie die vordere Fliegengittertür geöffnet wurde, dann blaffte seine älteste Enkelin: »Max! Mach sofort den Knoten aus Stevies Zunge! Es ist mir egal, was sie zu dir gesagt hat – hey! Das bedeutet nicht, dass du sie an der Kehle packen sollst! Lass sofort Stevies Hals los. In dieser Sekunde, oder ich schwöre bei allem, was heilig ist …«

Charles lächelte. Obwohl er wusste, dass er das nicht tun sollte. Er sollte ihr Verhalten nicht gutheißen, aber wie konnte er das nicht niedlich finden?

Kapitel 1

Dreizehn Jahre später …

Doreen glaubte zu träumen. Dachte, es sei alles nur Einbildung. Etwas Trauriges und Krankes aus ihrem Unterbewusstsein. Doch als sie sich umdrehte …

Die kleine, aber kräftig gebaute Frau saß rittlings auf ihrem schon älteren Ehemann, drückte mit den Knien seine Arme aufs Bett und presste ihm ein Kissen aufs Gesicht. Ihr Mann, Peter MacKilligan, versuchte mit aller Kraft, die auf ihm sitzende Frau abzuschütteln. Doch nichts, was er tat, funktionierte.

Ihr Mann war alt. Fast fünfundachtzig. Seinem Körper sah man sein wahres Alter nicht an. Er sah aus, als sei er immer noch in den Fünfzigern. Er war stark. Boxte noch immer, stemmte Gewichte und schwamm jeden Tag in ihrem Indoorpool. Er hatte ihr erklärt, das sei genetisch. »Die Männer in meiner Familie waren alle so«, pflegte er zu sagen.

Und doch … bekam er diese Frau nicht von sich runter.

Doreen drehte sich um und griff nach ihrem Handy, doch in dem Moment begann die Frau zu sprechen.

»Ich an deiner Stelle würde das nicht tun«, bemerkte sie. Sie hatte denselben Akzent wie die Halbgeschwister ihres Mannes aus Schottland.

Doreen sah die Frau über ihre Schulter hinweg an. Sie saß immer noch auf Pete. Drückte ihn immer noch aufs Bett. Versuchte immer noch, ihn mit einem Kissen zu ersticken.

»Folgendes, Schätzchen«, erklärte die Frau gelassen während der Ermordung eines Mannes. Sie lächelte dabei sogar. Es war ein breites, strahlendes Lächeln. »Du kannst Hilfe rufen. Benutz dein Telefon oder schrei nach einem von Petes Jungs. Es wird Hilfe kommen. Ich würde natürlich wegrennen. Sie würden mich nicht kriegen. Ich bin nämlich schnell, weißt du. Ich wäre über alle Berge, und du hättest das hier aufgehalten. Du wärst sicher stolz auf dich. Aber dann … eines Nachts … wenn alle dich vergessen haben, würde ich zurückkommen.«

Petes Gegenwehr erlahmte und hörte nach einer Weile ganz auf.

Die Frau lehnte sich zurück, nahm das Kissen weg und legte Pete zwei Finger an den Hals. Zufrieden glitt sie von ihm herunter, ging um das Bett herum und setzte sich neben Doreen.

Sie klopfte sich die Hände ab, als wolle sie Mehl nach dem Brotbacken abstreifen, und fuhr fort: »Und wenn ich zurückkomme, werde ich dir das hübsche Gesicht direkt vom Schädel schälen. Das würde dir nicht gefallen, oder? Natürlich nicht.« Sie tätschelte Doreen das Knie durch die Bettdecke. »Ich bin mir sicher, das würde dir ganz und gar nicht gefallen. Mein Großonkel Pete hatte immer einen Blick für schöne Frauen. Was bist du? Ehefrau Nummer sechs?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe das nie verstanden. Man heiratet einmal, das verstehe ich. Man heiratet zweimal … sicher. Die erste Ehe könnte durchaus ein Fehler gewesen sein. Aber danach … ist man einfach ein Idiot.«

Sie schlug die Beine übereinander und zupfte sich einen Fussel von der Jeans.

»Also«, fuhr sie fort, »Wie gesagt, du könntest schreien und weinen und um Hilfe rufen. Oder du könntest klugerweise den Mund halten. Warten, bis ich über alle Berge bin und dann einen von Petes Jungs rufen. Sie werden denken, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Lass sie das denken. Es wird keine Autopsie geben. MacKilligans mögen derartige Dinge nicht.« Sie seufzte und klang dabei enttäuscht. »Deshalb musste ich es auf diese Weise tun, verstehst du. Ich hätte es bei Weitem vorgezogen, ihm einen Lederriemen um die Kehle zu legen und das Leben aus ihm herauszupressen. Es hätte eine Ewigkeit gedauert, aber es hätte ihm zur Ehre gereicht – und mir auch. Denn unsereiner … es gehört ziemlich viel dazu, uns zu töten. Ich schätze, davon weißt du allerdings nicht viel.« Sie schnupperte. »Ja genau, ein Vollmensch … also weißt du gar nichts von alledem. Doch du kannst dich glücklich schätzen. Du wirst ein hübsches Sümmchen von dem Vermögen bekommen und kannst dein Leben weiterleben, solange der Allmächtige es erlaubt. Ist das nicht nett? Statt wieder aufzuwachen … und mich über dir stehen zu sehen?«

Doreen zwang sich zu nicken.

»Braves Mädchen.« Wieder tätschelt sie ihr das Knie, und Doreen kämpfte gegen den Drang zurückzuzucken. Schreiend aus dem Raum zu rennen, aus dem Gebäude … aus dem Staat.

Die Frau stand auf und reckte sich. Das Knacken von Knochen ließ Doreen schaudern.

Sie sah zu, wie die Frau durch den Raum zum offenen Fenster ging, durch das sie wahrscheinlich hereingekommen war.

»Also, nicht vergessen«, fügte sie hinzu, bevor sie genauso lautlos hinausschlüpfte, wie sie hereingeschlüpft war. »Viele Tränen für seine Söhne und viele Wiederholungen von ›Er kann nicht tot sein. Er kann nicht tot sein.‹ Das wird die Familie beeindrucken. Und die Familie verdient das, findest du nicht auch?«

Mit diesem beunruhigenden Grinsen auf dem Gesicht war sie zum Fenster hinaus und aus Doreens Leben verschwunden.

Doreen, die vor Angst zitterte wie noch nie zuvor, schlüpfte unter die Decke neben ihren toten Ehemann und wartete, bis der Wecker losging. Dann stand sie auf und ging zu dem Zimmern ihres Stiefsohns. Während die Familie sich versammelte, rief sie den Arzt an und den Rechtsanwalt, der sie alle aus dem Gefängnis heraushielt, und sie schluchzte und schluchzte und sagte immer wieder: »Er kann nicht tot sein. Er kann nicht tot sein.«

 

Als er spät in dieser Nacht zu Bett ging, dachte er, sie würde dort auf ihn warten, um sich über seine langen Arbeitszeiten zu beschweren, doch dann fiel es ihm ein … er hatte keine Frau wie alle anderen. Er hatte Irene Conridge. Das Genie.

Niles Van Holtz – »Van« für seine Freunde und das Rudel, aber »Holtz« für seine Gefährtin – fand seine vollmenschliche Frau in ihrem sehr chaotischen Büro, wo sie immer noch ihrer eigenen Arbeit nachging. Ihr Blick war auf den Computerbildschirm gerichtet, und ihre Finger flogen über die Tastatur und versuchten verzweifelt, mit ihrem noch schnelleren Gehirn Schritt zu halten.

Er wartete nicht ab, bis sie ihn bemerkte. Sie würde ihn nie bemerken. Stattdessen beugte er sich vor und küsste sie in den Nacken.

»Ich bin gleich bei dir«, sagte sie, ohne mit der Arbeit aufzuhören. »Geh schon mal mittagessen und wir treffen uns dann unten.«

»Es ist drei Uhr morgens.«

Ihre Hände kamen auf der Tastatur zum Stillstand. »Oh. In Ordnung.«

Van setzte sich auf den Boden, den Rücken an ihren Schreibtisch gelehnt. »Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?«

»Ich habe gefrühstückt.« Als er sie weiter anstarrte, fügte sie hinzu: »Es war ein sehr großes Frühstück. Gibt es irgendeinen Grund, warum du hier bist?«

Van stützte die Arme auf seine angewinkelten Knie. »Sie haben noch drei gefunden.«

Irene ließ sich auf ihrem Stuhl nach hinten sinken und öffnete leicht die Lippen. Es gehörte eine Menge dazu, sie zu verblüffen, aber jetzt war es passiert.

»Verbrannt?«

»Ja.«

»Die gleichen anderen Probleme?«

»Ja. Hybriden, die gerade dabei waren, ihre menschliche Gestalt anzunehmen oder in ihre andere Gestalt zu wechseln, als sie getötet wurden. Aus welchem Grund auch immer ist jedoch keiner wieder ganz zum Menschen geworden, was sie hätten tun sollen, als sie gestorben sind. Wir verwandeln uns alle nach unserem Tod in Menschen zurück.«

Irene schüttelte den Kopf. »Faszinierend. Er treibt seine Pläne wirklich voran.«

»Weißt du, wir haben keine Ahnung, ob er es ist.«

»Er ist es«, blaffte sie. »Vertrau mir, er ist es.«

»Weil du ihn nicht magst?«

»Ich mag die meisten Leute nicht, aber er ist der Einzige mit den wissenschaftlichen Mitteln, um sich so etwas einfallen zu lassen.«

»Das liegt daran, dass er an Möglichkeiten gearbeitet hat, die DNA zu verändern, um tödliche Krankheiten auszurotten. Wie Krebs und Diabetes.«

»Ich wünschte, du würdest einfach zugeben, dass du nicht glaubst, dass er es ist, weil er einer von euch ist. Ein Gestaltwandler wie ihr.«

»Du hast recht, es fällt mir sehr schwer zu glauben, dass ein Gestaltwandler einem anderen so etwas antun würde.«

»Weil du dich weigerst zu glauben, dass manche Gestaltwandler menschlicher sind als andere. Er ist auch Wissenschaftler und ich kenne meinesgleichen. Wir können fast alles rationalisieren, solange es nicht unsere Arbeit berührt. Wir können dir sehr logische Gründe nennen, warum wir es tun – selbst wenn wir wissen, dass es falsch ist. Glaub mir, er ist da nicht anders. Zumindest«, fügte sie hinzu, »müssen wir gründlich gegen ihn ermitteln.«

»Meine Leute haben bereits damit angefangen, es wäre jedoch toll, wenn wir intern jemanden hätten.«

»Ich habe dir bereits erklärt, dass ich nicht infrage komme … er verabscheut mich.«

»Hast du eine Ahnung, wie oft du mir das schon über echt viele Leute gesagt hast?«

»Ich könnte es ausrechnen, aber ich bin mir sicher, dass die Zahl, die dabei herauskäme, ziemlich groß ist.« Sie hob einen Finger. »Es gibt eine Option, die …«

»Nein«, unterbrach er sie entschieden. »Wir werden nicht noch einmal darüber diskutieren. Die drei sind zu labil.«

»Erstens amüsiert es mich, dass du glaubst, du könntest mir Redeverbote wie: ›Wir diskutieren das nicht noch einmal‹ erteilen. Natürlich diskutieren wir das noch einmal, und wir werden es so oft diskutieren, wie es mir gefällt.«

Und das war der Grund, warum er seiner Frau zu Füßen lag. Sie ließ sich nie irgendeinen Scheiß von ihm gefallen.

»Zweitens, ich rede nicht von allen dreien. Sie hat Verbindungen zu ihm, die wir zu unserem Nutzen einsetzen könnten.«

»Aber verabscheut sie dich nicht ebenfalls?«

»Oh, ja. Absolut. Ich bezweifle, dass sie mir jemals verzeihen wird, was ich getan habe. Der Unterschied ist jedoch, dass ich bei ihr über einen Türöffner verfüge.«

»Nennt man so einen siebzehnjährigen Jungen?«

Irene lächelte. »Er ist besser als nichts.«

Kapitel 2

Drei Tage später …

Shen Li öffnete die Schranktür über dem Kühlschrank und dort fand er sie: keuchend und schwitzend, die Beine fest an die Brust gezogen, die Augen groß und leuchtend golden.

Ihre Augen waren normalerweise blau, daher spürte er, dass golden in diesem Moment keine gute Sache war.

Sie war außerdem nackt. Sehr, sehr nackt. Warum zur Hölle war sie nackt?

»Es geht mir gut«, verkündete sie, bevor er etwas sagen konnte. »Es geht mir gut, es geht mir gut, es geht mir gut.«

»Willst du, dass ich die Tür zumache?«, fragte er.

Sie schloss die Augen, drehte den Kopf zur Seite und nickte. Verzweifelt.

Shen schloss die Tür und drehte sich um. Er wusste sofort, was das Problem war.

Es waren die Bären.

Ein ganzer Raum voller Bären.

Das würde auch die normalsten Leute verängstigen, aber Stevie MacKilligan war nicht normal. Nicht einmal nach seinen Maßstäben. Und seine Maßstäbe waren ziemlich liberal, da er schließlich ebenfalls nicht normal war.

Wie sollte er auch, wenn er in der Lage war, sich in einen Großen Panda zu verwandeln? Eine Fähigkeit, die in seine DNA eingebaut war, wie die braunen Augen seiner Mutter und die seltsamen Knöchel seines Vaters. Doch selbst nach Gestaltwandler-Maßstäben war Stevie nicht normal.

Süß. Interessant. Aber definitiv nicht normal.

Deshalb wusste Shen, dass sie bis in alle Ewigkeit in diesem Schrank bleiben würde, wenn er ihr nicht half.

»Also gut«, richtete er das Wort an die Bären. »Ihr müsst verschwinden.«

Sie sahen ihn an … und machten sich dann wieder über das Gebäck her, das Charlie, Stevies älteste Schwester, dort hingestellt hatte, bevor sie aus dem Haus gegangen war. Vor Sonnenaufgang hatte er gehört, wie sie die Treppe hinuntergegangen war, um in der Küche zu backen. Dies konnte nur eines bedeuten: Sie war gestresst.

Und wenn Charlie backte, kamen die Bären zum Essen. Eine Situation, mit der Charlie kein Problem hatte, die die arme Stevie jedoch in Panik versetzte.

Die Bären ignorierten Shen auch weiterhin, was ihn nicht überraschte. Er hatte es mit einem Raum voller Grizzlybären, Eisbären und Schwarzbären zu tun. Bärenrassen, die einen Panda nicht wirklich als einen von ihnen betrachteten. Pandas waren nicht Furcht einflößend genug, weil Pandas sich nicht an Kleinigkeiten störten. Sie wurden auch nicht furchtbar zornig, wenn jemand sie erschreckte. Und Pandamütter rissen niemals jemandem den Kopf ab, nur weil er ihren Kindern zu nah kam. Pandaväter bekamen zudem keine von Hunger ausgelösten Wutanfälle, weil sie ein oder zwei Mahlzeiten ausgelassen hatten.

Sie waren Pandas. Rollten einfach so durchs Leben. Glücklich darüber, glücklich zu sein.

Und genau wie bei seinen Brüdern gehörte eine Menge dazu, Shens Zorn zu entfachen. Er hatte schon immer eine sehr hohe Toleranz für allen möglichen Mist gehabt.

Trotzdem, er wusste, dass Stevie diese Toleranz nicht besaß. Weder eine hohe noch sonst irgendeine. Obwohl er es noch nie selbst miterlebt hatte, schienen Stevies Schwestern eine tief verwurzelte Angst davor zu haben, dass ihre kleine Schwester »ausrastete«, wie sie es nannten. Anscheinend ging dieses Ausrasten über bloßes wildtierhaftes Wüten deutlich hinaus.

Da er nicht in der Stimmung war, Aufräumarbeiten zu verrichten, die etwas Derartiges mit sich brachten, beschloss Shen die Sache zu beenden, bevor sie unangenehm wurde.

Er verließ die Küche und ging durch das Esszimmer direkt ins Wohnzimmer. Dort schnappte er sich die Reisetasche, die er hinter der Chaiselongue aufbewahrte, kehrte in die Küche zurück, warf die Tasche auf den Boden und zog seine liebste Waffe heraus. Dann lehnte er sich an den Kühlschrank und begann mit seinem Angriff.

Zuerst fuhr er seine Reißzähne aus und zog mit einem davon die Blätter ab, um sie später zu essen. Anschließend knackte er mit den Backenzähnen den grünen Bambusspross und brach ein Stück davon ab, auf dem er dann herumkauen konnte. Das tat er immer wieder. Und wieder. Und wieder.

Das Geräusch ließ er durch den Raum klingen, bis er sah, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Bären – insbesondere Grizzlybären – hassten diese »seltsamen Geräusche«. Sie fanden das ständige Herumkauen auf Bambus überaus nervtötend. Vor allem deshalb, weil Pandabären selten damit aufhörten.

Es dauerte drei Minuten, aber als sie ihn nach einem weiteren Bambusstängel greifen sahen, sammelten sie alles ein, was von ihren Leckerbissen übrig geblieben war, schnappten sich ihre Kaffeetassen und verschwanden durch die Hintertür.

Grinsend warf Shen den Bambus zurück in seine Reisetasche und klopfte an die Schranktür.

»Du kannst jetzt rauskommen. Sie sind alle weg.«

Er öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Wasser heraus. Gerade als er den ersten Schluck nehmen wollte, wurde ihm jedoch klar, dass Stevie immer noch nicht herausgekommen war.

Stirnrunzelnd öffnete er mit seiner freien Hand erneut die Schranktür. Stevie lag immer noch zusammengerollt in der Ecke, die Hände in ihr Haar gekrallt, ihr dünner, nackter Körper verkrampft und zitternd.

»Stevie? Du …«

Dann stürzte sie sich auf ihn. Sie explodierte förmlich aus dem Schrank heraus, die obere Hälfte ihres Körpers neigte sich ihm zu, und extrem große Reißzähne näherten sich seinem Gesicht.

Shen machte einen Satz rückwärts und spürte, wie der Zahnschmelz ihrer Reißzähne seine Lippen streifte, bevor sie ins Leere schnappten.

Als Nächstes brüllte sie. Wirklich laut. Die Fenster im Haus klirrten, bevor sie wieder im Schrank verschwand und die Tür hinter sich zuschlug.

»Nun … das war nicht normal«, bemerkte Shen zu niemand Bestimmtem.

 

Charlie MacKilligan massierte sich die Schläfen und betrachtete den zum Anbeißen attraktiven Mann an ihrer Seite. Eine Migräne begann hinter ihren Augen zu pochen und das war nie gut. Migräne verkrampfte sie, und wenn sie verkrampft war, neigte sie dazu, Dinge zu sagen, die sie nicht mehr zurücknehmen konnte.

Aber sie wusste, was hier passierte. Sie machten sich für irgendetwas bereit. Versuchten, ihr durch unbekümmertes Geplapper ein falsches Gefühl von Sicherheit zu geben, bevor sie loslegten.

Ihr Vater machte oft das Gleiche, daher war sie daran gewöhnt. Dass ihr wertloser Vater bei ihr oft dieselbe Taktik anwendete, erfüllte Charlie mit Zorn und Misstrauen gegenüber den Leuten, die gelobt hatten, sie und ihre Schwestern zu beschützen.

Anscheinend hatte die Gestaltwandler-Welt beschlossen, dass Hybriden zu schützen waren. Das war das erste Mal, dass Charlie von so etwas hörte. Die meisten Reinblüter wussten nicht, was sie mit ihr und Stevie anfangen sollten. Ihre DNA gehörte nicht nur zwei verschiedenen Spezies an, sie waren auch noch die verkorksten Sprösslinge von Freddy MacKilligan, den alle noch viel abstoßender fanden als die Vermischung verschiedener Spezies.

Es war wirklich nicht fair, dass sie auf doppelte Weise geschlagen worden waren. Durch die Fehlentscheidungen ihrer Mütter in puncto Männern und die … Nutzlosigkeit ihres Vaters.

Große Finger streichelten sanft Charlies Wange und lächelnd schaute sie zu Berg Dunn auf. Ihrem großen Grizzlybären. Und das war keine Redensart. Er konnte sich in einen Grizzlybären verwandeln. Am Morgen nach der Hochzeit ihrer Cousine vor ein paar Wochen hatte sie beim Aufwachen festgestellt, dass sie auf seinem Rücken geschlafen hatte und Bärenfell sie in der Nase kitzelte. Er hatte sich in der Nacht verwandelt, und schockiert war ihr der seltsame Umstand bewusst geworden, dass ihr Kopf auf einem Grizzlybuckel ruhte wie auf einem harten Kissen. Dann, als sie sich aufgesetzt und versucht hatte, sich wach zu schütteln, hatte sie beobachtet, wie ein dicker Bärenhintern an der offenen Schlafzimmertür vorbeigegangen war, Sekunden später gefolgt von einem weiteren Bären. Das waren Bergs vorbeitrottende Geschwister gewesen, sein Bruder und seine Schwester – sie waren Drillinge. Sie hatten sich an jenem Morgen ebenfalls verwandelt und tapsten in Bärengestalt durch ihr Haus. Anscheinend etwas, das sie taten, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Etwas, das Charlie nicht konnte, denn im Gegensatz zu ihren Schwestern war sie keine Gestaltwandlerin. Noch etwas, woran sie ihrem Vater die Schuld gab.

»Kopfschmerzen?«, fragte Berg leise.

Sie machte sich nicht die Mühe, ihn anzulügen. Sie hielt nichts davon, still zu leiden, wenn es nicht sein musste. »Ja, aber das wird schon wieder.«

Das sobald sie hier verschwunden sind war unausgesprochen darin enthalten.

Charlie schaute zu ihrer jüngeren Schwester hinüber, um festzustellen, wie sie sich hielt. Wie gewöhnlich klebte Max an ihrem Handy. Ihre Existenz hing von diesem Ding ab, und Charlie fragte sich, ob ihre Schwester noch ein komplettes anderes Leben hatte, von dem sie nichts wusste. Andererseits … wahrscheinlich wollte sie es so oder so gar nicht wissen.

Max hörte lange genug mit dem Nachrichten tippen auf, um sich die rechte Seite ihres Gesichtes zu kratzen, wo sich frische Schrammen von ihrem Auge bis hinunter zur Wange zogen.

»Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«, fragte sie aus reiner Langeweile.

»Gar nichts«, log Max.

»Hast du dich wieder mit dieser Katze abgegeben? Lass sie doch in Ruhe.«

Max ließ ihr Telefon sinken. »Ich will sie nicht mehr auf unserem Grundstück haben. Sie sprüht ihre Pisse überall hin. Es treibt mich in den Wahnsinn. Außerdem …«, fügte sie plötzlich hinzu, »kann ich es mit ihr aufnehmen.«

»Mann. Diese Katze ist tollkühn genug, in einem Viertel voller Bären zu leben. Das ist nicht mutig. Das ist verrückt. Sie ist eine verrückte Katze und wird dir noch die Augen auskratzen. Also, hör auf damit!«

Max setzte zu einer Antwort an – weil sie nie etwas einfach auf sich beruhen lassen konnte –, aber ein Räuspern lenkte sie ab.

Charlie schaute über den riesigen Schreibtisch, vor dem sie und ihre Schwester saßen. Der Wolf auf der anderen Seite zog eine Augenbraue hoch. »Können wir jetzt?«, fragte er.

»Nun …« begann Max, doch Charlie legte ihrer Schwester eine Hand auf den Unterarm, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Selbstverständlich«, sagte Charlie freundlich. »Bitte. Nur zu.«

»Danke.«

Das war Niles Van Holtz. Oberköter des Van-Holtz-Rudels. Oder Alphatyp oder … wie immer sie sich nannten.

Charlie hatte das Gefühl, dass Van Holtz dachte, sie würde so auf ihn reagieren, wie der Rest der Wölfe auf der Welt es zu tun schien, weil sie halb Wölfin war. Aber das tat sie nicht. Weil sie auch zur Hälfte Honigdachs war und weil ihr wölfischer Großvater das Van-Holtz-Rudel hasste. »Reiche Mistkerle«, lautete seine Beschreibung dieser Wölfe.

Und Van Holtz war reich. Seine Familie besaß eine Kette sehr teurer Restaurants rund um die Welt und er hatte private Büros in fast allen größeren Städten in den Staaten und in Europa, komplett mit vollständigem Personal. Doch all diese Büros dienten nicht dem Restaurantgeschäft. Van Holtz hatte außerdem das Sagen in einer Organisation namens Die Gruppe. Sie kümmerten sich um Gestaltwandler-Probleme, und für Die Gruppe gehörten die Hybriden zu diesen Problemen. In der Zeit, in der er jetzt zuständig gewesen war, war es Van Holtz gelungen, sich auch mit Katzenhaus, das die Katzennation beschützte, und dem Bear Protection Council, kurz BPC, zusammenzutun. Diese beiden Organisationen beschützten ihre eigenen Spezies weltweit und hatten sich bis vor Kurzem nicht wirklich mit Hybriden abgegeben, wenn es sich irgendwie hatte vermeiden lassen.

Aber einem sehr selbstgefälligen Van Holtz zufolge sah das jetzt anders aus: »Das hat sich alles geändert. Wir beschützen jetzt jeden, nicht wahr, meine Damen?«

Und damals hatte er seine Wolfsaugen auf Mary-Ellen Kozlowski von Katzenhaus und Bayla Ben-Zeev vom BPC gerichtet, und was er zurückbekam, war ein nicht besonders enthusiastisches »Ja klar« und »Sicher« gewesen.

Natürlich war es nicht der Schutz der MacKilligan-Schwestern, der Charlie veranlasste, Umgang mit diesen Leuten aus Gestaltwandler-Welten zu pflegen, von denen sie nur sehr wenig wusste. Vielmehr war es das Problem, das Charlie und ihre Schwestern nicht loswurden. Dasselbe Problem, das ihnen das Leben zum Albtraum gemacht hatte, seit sie auf der Welt waren: ihr Vater. Immer ihr Vater. Aber diesmal hatte er Gesellschaft mitgebracht. Die Guerra-Zwillinge aus Italien: Caterina und Celestina. Zwei sehr rachsüchtige, zornige Flittchen, die nicht nur Freddy MacKilligans Halbschwestern waren – was Freddy und dem Rest der Familie für den größten Teil des Lebens der Zwillinge nicht bekannt gewesen war –, sondern die obendrein ebenfalls gerade erst herausgefunden hatten, dass sie Gestaltwandler-Honigdachse waren.

Zornige, rachsüchtige, gehässige Gestaltwandler-Honigdachse.

Abgesehen von einem Krieg, in dem Nuklearwaffen zum Einsatz kamen, gab es keine schlimmere Kombination im Universum.

Man füge hinzu, dass sie sehr wohlhabende Frauen ohne echte Beschränkungen waren, und alle in diesem Raum wussten, dass das Problem der Guerra-Zwillinge gelöst werden musste. Und zwar schnell.

Seit man sie jedoch zuletzt auf der Hochzeit von Charlies Cousine gesehen hatte, hatten die Zwillinge sich gut versteckt und waren sehr still gewesen, womit sie Charlie und ihren Schwestern absolut nichts vormachen konnten.

Diese Miststücke waren nicht für immer verschwunden; sie waren damit beschäftigt, Ränke zu schmieden.

»Es gibt da noch etwas, das wir mit euch besprechen müssen«, sagte Van Holtz und legte die gefalteten Hände auf seinen riesigen Schreibtisch.

Ahhh, jetzt kommt es.

»Wegen eures Onkels Pete …«

Charlie schaute Van Holtz an; dann sah sie zu Max hinüber.

»Haben wir einen Onkel Pete?«, fragte Charlie ihre Schwester.

»Wir haben mehrere Petes. Einige Petes. Die meisten stammen aus Glasgow.«

»Hier geht es um euren Onkel Pete in New Jersey.«

Charlie sah noch einmal Van Holtz an, bevor sie ihre Schwester fragte: »Wir haben einen Onkel Pete in New Jersey?«

»Vielleicht. Die MacKilligans haben eine Menge Petes.«

»Eigentlich ist er der Onkel eures Vaters«, erklärte Van Holtz.

»Also ist er unser Großonkel Pete«, sagte Charlie. »Ja, den kennen wir nicht.«

»Nun, traurigerweise ist er gestorben.«

»Aha.«

»Und wir glauben, dass er ermordet wurde.«

»Hat man ihm irgendwo in Brooklyn in den Kopf geschossen?«, fragte Charlie. »Wir haben im Laufe der Jahre nämlich einige MacKilligan-Männer auf diese Weise verloren.«

»Nein. Er ist in seinem Bett gestorben.«

»Ein MacKilligan stirbt in seinem Bett, und ihr glaubt, er sei ermordet worden? MacKilligan-Männer enden normalerweise nicht so.«

»Was bringt euch auf die Idee, es sei Mord gewesen?«, fragte Max. »Wenn er unser Großonkel ist, ist er dann nicht tausend Jahre alt?«

»Nicht ganz.«

»Wenn man MacKilligan-Männern nicht in den Kopf schießt«, erklärte Charlie, »neigen sie dazu, ein sehr langes Leben zu haben. Leider«, fügte sie in Gedanken an ihren Vater hinzu. Der Mann, der einfach nicht sterben wollte.

»Es gibt Beweise dafür, dass man ihn erstickt hat. Vielleicht mit einem Kissen …«

Charlie runzelte die Stirn. »Seid ihr euch sicher, dass er ein MacKilligan ist? Denn das klingt irgendwie nicht danach.«

»Meine Schwester hat recht«, warf Max ein. »Die meisten MacKilligan-Geschwister fangen schon im Krabbelalter an zu versuchen, sich gegenseitig mit Kissen umzubringen.«

»Das stimmt«, pflichtete Charlie ihr bei, als sie den Ausdruck wachsenden Entsetzens auf Van Holtz’ attraktiven Zügen bemerkte. »Meine Schwestern und ich haben das natürlich nicht getan. Aber wir waren als Babys ja auch nicht zusammen. Also haben wir die ganze Säuglingsmordperiode der Honigdachskindheit verpasst. Wie dem auch sei, all das bedeutet, dass der größte Teil unserer Familie eine Toleranz für solche Dinge entwickelt hat. Ich behaupte nicht, man könne einen Dachs nicht auf diese Weise töten, doch es würde eine Ewigkeit dauern, einen mit einem Kissen zu erledigen. Und es würde eine Menge Kraft kosten, das Opfer aufs Bett zu drücken.«

»Es geht wirklich schneller, ihnen von hinten in den Kopf zu schießen«, sagte Max. »Wir haben uns auf Kopfschüsse von hinten spezialisiert, weil Schüsse in die Stirn zwar Schaden anrichten, aber nicht immer töten. Wir haben sehr harte Köpfe. Also, je nach Pistolenkugel würde sie vielleicht nicht durch den Schädel ins Gehirn eindringen.«

»Und wir haben eine Menge Cousins, bei denen wir uns, wenn eine Kugel sie im Gehirn treffen würde, trotzdem nicht sicher wären, ob das wirklich Schaden anrichten würde, weil sie so dumm sind.« Charlie sah Max an. »Richtig?«

»Absolut. Ich habe mal einen meiner Cousins mit einem Baseballschläger verhauen … das hatte keinen Effekt. Der Schläger war aus Holz. Er ist zerbrochen … auf seinem Kopf

»Und Max hat wirklich kräftig zugeschlagen …«

»Okay!«, blaffte Van Holtz und hob die Hand. »Bitte, hört auf. Ich kann mir das nicht länger anhören. Ich wollte euch nur mitteilen, dass wir davon überzeugt sind, dass euer Großonkel ermordet wurde. Das ist alles, was ihr wissen müsst.«

»Und das müssen wir warum wissen? Warum genau?«

»Einfach deshalb. Es wird eine Beerdigung geben. Eine große. Wir haben gehört, dass eure Verwandten aus Schottland kommen werden.«

Charlie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verkündete sachlich: »Wir werden nicht für euch unsere Cousins töten.«

Van Holtz’ Augen wurden lächerlich groß. »Das war damit nicht gemeint!«

»Nicht?«, fragte Max. »Denn es ergibt Sinn. Sie wären alle an einem Ort, und wir könnten sie so ziemlich alle einfach niedermähen. Frauen und Kinder zuerst!«

»Nein!«, heulte Van Holtz auf, bevor er wegschaute und mehrmals tief durchatmete. »Das ist es nicht, worum wir bitten.«

»Oh«, sagte Charlie. »Ihr wollt also nur, dass wir zu der Beerdigung gehen, damit wir unsere Familie ausspionieren können. Richtig?«

Van Holtz schaute zu seinem jüngeren Cousin Ulrich Van Holtz hinüber, den alle Ric nannten.

»Ich verstehe.« Charlie klopfte sich nicht existente Fusseln von ihren Jeans. »Weil eine Honigdachsfamilie nicht annähernd so wichtig ist wie ein Wolfs- oder Löwenrudel oder ein Teddybärenpicknick.«

»Ich glaube nicht, dass Bären sich … so nennen.«

»Hört mal«, schaltete Ric sich ein, »wir versuchen nicht, euch dazu zu bringen, etwas zu tun, das ihr nicht tun wollt. Und wir interessieren uns nicht für Informationen über Familienangelegenheiten. Aber wir hatten gehofft, ihr könntet uns Informationen geben über …«

»Unseren Onkel Will«, beendete Charlie den Satz für den ebenfalls gut aussehenden jüngeren Van Holtz. Waren all ihre Männer so attraktiv?

»Euer Onkel ist ein sehr gefährlicher Mann«, fuhr Ric fort. »Wir sind uns nicht einmal sicher, ob er überhaupt in die Staaten einreisen darf, aber er hat es getan, und wir wollen wissen, warum er gekommen ist.«

»Ich weiß, warum er gekommen ist«, antwortete Charlie und sah ihre Schwester an. Max lächelte, weil sie es jetzt ebenfalls begriffen hatte. »Wenn Will herkommt, gibt es dafür nur einen einzigen Grund. Nämlich, um meine Träume wahr werden zu lassen. Er kommt her, um meinen Vater zu töten.« Sie klatschte in die Hände. »Ist das nicht großartig?«

Van Holtz sah sie sekundenlang an, bevor er zugab: »Manchmal habe ich keine Ahnung, wie ich auf euch reagieren soll.«

 

Shen starrte weiter auf die geschlossene Schranktür, bis ihm klar wurde, dass jemand hinter ihm stand.

»Habe ich Geschrei gehört?«, fragte der Junge neben ihm.

Shen betrachtete den Jugendlichen, für dessen Schutz er sehr gut bezahlt wurde. Das war der Grund, warum Shen mit drei Frauen, mit denen er weder verwandt war noch eine Beziehung hatte, in diesem Haus lebte. Denn selbst seine Familie brauchte Abstand zu dem Siebzehnjährigen. Doch Stevie mochte den Jungen und zu Shens Überraschung mochte Kyle Jean-Louis Parker Stevie. Shen hätte nicht gedacht, dass der Junge, ein Wunderkind, irgendjemanden mochte.

»Ja«, bestätigte Shen, »du hast Geschrei gehört.«

Der Junge fragte: »Stevie?«

»Stevie.«

»Puh. Was hast du getan?«

»Nichts. Ich habe sogar die Bären hinausgeworfen, die in der Küche gesessen und süße Teilchen gegessen haben.«

»Oh. Es waren noch andere Bären hier?« Er nickte. »Ja, bei so was kriegt sie Panik. Sie fühlt sich nur in der Nähe von euch Großen Pandas und den Dunn-Drillingen wohl.«

»Deshalb habe ich zugesehen, dass sie verschwinden. Sie wollte jedoch immer noch nicht aus dem Schrank kommen. Und als ich noch einmal nach ihr geschaut habe, habe ich Reißzähne gesehen, die wirklich keiner auf diesem Planeten haben sollte.«

»Reißzähne?« Kyle runzelte die Stirn. »Sie hat dir ihre Reißzähne gezeigt?«

»Sie hat nichts gezeigt. Sie hat versucht, mir das Gesicht herunterzureißen.«

»Das ist nicht gut. Das ist wirklich nicht gut.«

»Schon klar, aber ich bin mir nicht ganz sicher, was wir tun sollen, wenn sie nicht rauskommt.« Er hob die Schultern. »Ich schätze, wir könnten warten, bis ihre Schwestern zurückkommen.«

»Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten.«

»Warum nicht?«

Kyle griff nach Shens Arm und zog ihn ins Wohnzimmer. »Wir haben ein kleines Problem.«