Ruhelos

Über William Boyd

Foto: © Trevor Leighton

 

WILLIAM BOYD, 1952 als Sohn schottischer Eltern in Ghana geboren, ist dort und in Nigeria aufgewachsen, bevor er in Großbritannien zur Schule ging und studierte. Dass er sich in keiner Kultur ganz zu Hause fühle, sei für einen Schriftsteller eine gute Voraussetzung, sagt Boyd. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 1981, heute gilt er als einer der bedeutendsten Erzähler der zeitgenössischen Literatur. William Boyd lebt mit seiner Frau in London und Bergerac, wo er auch Wein anbaut. Zuletzt erschien im Kampa Verlag sein Roman Trio.

Marcel Proust, Guermantes

Ins Herz von England

Wenn ich als Kind frech war, widersprach oder mich irgendwie schlecht benahm, wies mich meine Mutter zurecht, indem sie sagte: »Eines Tages kommt jemand und bringt mich um. Dann wird es dir leidtun.« Oder: »Sie kommen aus heiterem Himmel und holen mich ab – was sagst du dann?« Oder: »Eines Morgens wachst du auf, und ich bin weg. Einfach verschwunden. Wart’s nur ab!«

Es ist merkwürdig, aber man denkt nicht ernsthaft nach über diese Drohungen, wenn man jung ist. Doch wenn ich heute auf die Ereignisse des Sommers 1976 zurückblicke, als England unter einer nicht enden wollenden Hitzewelle ächzte und stöhnte, weiß ich genau, wovon meine Mutter sprach: Heute kenne ich die dunkle Unterströmung der Angst unter der glatten Oberfläche ihres Alltags, die auch nach vielen Jahren friedlichen Dahinlebens nicht versiegte. Heute weiß ich, dass sie ständig Angst hatte, umgebracht zu werden. Und das aus gutem Grund.

Es begann, wie ich mich erinnere, in den ersten Junitagen. Den genauen Tag weiß ich nicht mehr, aber es muss ein Samstag gewesen sein, weil Jochen nicht in der Vorschule war und wir beide wie gewöhnlich nach Middle Ashton fuhren. Auf der Fernstraße von Oxford nach Stratford bogen wir in Chipping Norton nach Evesham ab, dann noch einmal und noch einmal, als wollten wir die Rangordnung der Straßen in abfallender Folge durchfahren; Fernstraße, Provinzstraße, Landstraße, Verbindungsstraße, bis wir uns auf dem befestigten Feldweg befanden, der durch den

Middle Ashton war vor Jahrhunderten um Ashton House herum entstanden, ein jakobinisches Landhaus, das noch immer von einem entfernten Verwandten der einstigen Eigentümer bewohnt wurde. Deren Vorfahr, Trefor Parry, ein zu Wohlstand gekommener walisischer Wollhändler des siebzehnten Jahrhunderts, hatte, um mit seinem Reichtum zu protzen, seine großartige Domäne ausgerechnet im tiefsten England errichtet. Jetzt, nach vielen Generationen verschwenderischer Parrys und beharrlicher Vernachlässigung, fiel das Gutshaus, nur noch von ein paar wurmstichigen Balken gestützt, in sich zusammen und überantwortete seine ausgedörrte Seele der Entropie. Durchhängende Planen bedeckten das Dach des Ostflügels, rostende Gerüste kündeten von vergeblichen, längst aufgegebenen Sanierungsvorhaben, und der weiche gelbe Cotswold-Sandstein der Außenmauern blieb, wenn man ihn berührte, an den Händen kleben wie nasser Toast. Nahebei befanden sich die kleine Kirche, ein feuchtes, düsteres Bauwerk, beinahe erdrückt von dichten schwarzgrünen Eiben, die das Tageslicht aufzusaugen schienen; dann der trübsinnige Pub, The Peace and Plenty, wo man mit dem Kopf die fettige, nikotingebeizte Decke streifte, wenn man an die Bar ging; sowie das Postamt mit Lebensmittel- und Spirituosenverkauf; schließlich die verstreuten Cottages, manche strohgedeckt und grün bemoost, aber es gab auch ansehnliche alte Häuser mit großen Gärten. Die Dorfstraßen waren von mannshohen wilden Hecken gesäumt, die zu beiden

Ich freute mich auf das wunderbar schattige Middle Ashton, denn es war wieder ein brütend heißer Tag – jeder Tag kam einem heiß vor in jenem Sommer –, aber die Hitze ging uns noch nicht so auf die Nerven wie später. Jochen saß hinten und blickte aus dem Rückfenster – er sah gern zu, wie sich die Straße »abspulte« –, und ich hörte Musik im Radio, als er mir eine Frage stellte.

»Wenn du zum Fenster sprichst, kann ich dich nicht hören«, sagte ich.

»Entschuldige, Mummy.«

Er drehte sich nach vorn, stützte die Ellbogen auf meine Schulter und sprach mir leise ins Ohr.

»Ist Granny deine richtige Mummy?«

»Natürlich. Warum fragst du?«

»Ich weiß nicht … Sie ist so seltsam.«

»Jeder ist seltsam, bei Lichte besehen«, sagte ich. »Ich bin seltsam, du bist seltsam …«

»Das stimmt«, sagte er. »Ich weiß.« Er legte den Kopf auf meine Schulter, bearbeitete den Nackenmuskel über meinem rechten Schlüsselbein mit seinem spitzen kleinen Kinn, und mir kamen sofort die Tränen. Ab und zu machte er so etwas mit mir, Jochen, mein seltsamer Sohn – und brachte mich damit fast zum Heulen, aus Gründen, die ich mir selber nicht richtig erklären konnte.

 

»Hippo kriegt Schrammen«, warnte mich Jochen. Mein Auto war ein Renault 5 aus siebter Hand, himmelblau mit karminroter (weil ausgetauschter) Motorhaube. Jochen hatte ihn taufen wollen, und ich schlug Hippolyte vor, weil ein französisches Auto meiner Meinung nach einen französischen Namen brauchte (aus irgendeinem Grund hatte ich gerade Taine gelesen), und so wurde Hippo daraus – zumindest für Jochen. Ich persönlich kann Leute nicht ausstehen, die ihren Autos Namen geben.

»Nein«, sagte ich. »Ich passe schon auf.«

Ich hatte mich beinahe durchmanövriert, Zentimeter um Zentimeter, als der Bierfahrer aus dem Pub kam, sich in den Weg stellte und mich mit theatralischem Gefuchtel vorwärts dirigierte – ein ziemlich junger Kerl noch. Sein dicker Bauch zerdehnte das Morrell-Logo auf seinem Sweatshirt, und seine rot glänzende Biervisage wurde von breiten Koteletten eingerahmt, die einem viktorianischen Dragoner alle Ehre gemacht hätten.

»Weiter, weiter, ja, gut so, du kriegst es hin, Schätzchen.« Genervt winkte er mich durch und knurrte abschätzig: »Ist ja wohl kein Sherman-Panzer.«

Als ich neben ihm war, kurbelte ich lächelnd die Scheibe herunter und sagte: »Wenn Sie Ihre Wampe einziehen würden, wäre es ein ganzes Stück leichter, Sie dummes Arschloch.«

Ich gab Gas, bevor er wusste, wie ihm geschah, und beim Hochkurbeln des Fensters spürte ich, dass meine Wut verflog, so schnell, wie sie gekommen war – ein köstlich kribbelndes Gefühl. Ich war nicht gerade in Hochstimmung, wohl wahr, weil ich mir an dem Morgen bei dem Versuch, ein Poster im Arbeitszimmer aufzuhängen, mit

»Mummy, du hast ein schlimmes Wort benutzt«, sagte Jochen sanft, aber unnachsichtig.

»Tut mir leid, der Mann hat mich echt aufgeregt.«

»Er wollte doch nur helfen.«

»Nein, er wollte mich bevormunden.«

Jochen saß da und kaute eine Weile an dem neuen Wort, dann gab er auf.

»Endlich sind wir da«, sagte er aufatmend.

Das Cottage meiner Mutter stand inmitten dichter, üppiger Vegetation und wurde von einer unbeschnittenen, ausufernden Buchsbaumhecke umgeben, die von Kletterrosen und Klematis durchwuchert war. Der büschelige und handgeschnittene Rasen war von einem geradezu unanständigen Sattgrün, das der gnadenlosen Sonne hohnsprach. Aus der Luft, dachte ich, mussten Cottage und Garten aussehen wie eine grüne, wild wuchernde Oase – wie eine Aufforderung an die Behörden, sofort ein Rasensprengverbot zu erlassen. Meine Mutter war eine passionierte, aber eigensinnige Gärtnerin: Sie pflanzte eng und schnitt kurz. Wenn ein Busch gut gedieh, ließ sie ihn gewähren und scherte sich nicht darum, ob er andere Pflanzen erstickte oder zu viel Schatten erzeugte. Ihr Garten, verkündete sie, sollte eine

Wir nannten es Cottage, aber in Wirklichkeit war es ein kleines zweigeschossiges Haus aus Cotswold-Sandsteinquadern und Feuersteindachziegeln, das im achtzehnten Jahrhundert umgebaut worden war. Im Obergeschoss gab es noch die alten Flügelfenster, und die Zimmer waren dunkel und niedrig, während das Erdgeschoss Schiebefenster und einen hübsch geschnitzten Eingang mit ionischem Ziergiebel und gekehlten Halbsäulen besaß. Irgendwie hatte sie Huw Parry-Jones, dem dipsomanischen Eigentümer von Ashton House, das Cottage abgeluchst, als er noch betrunkener gewesen war als sonst, und die Rückseite grenzte an die bescheidenen Überreste von Ashton House Park – nun eine ungemähte und unbeweidete Wiese und alles, was den Parrys von den Hunderten Hektar Hügelland, die sie in diesem Teil von Oxfordshire besessen hatten, geblieben war. Seitlich stand ein Holzschuppen mit Garage, der fast vollkommen von Efeu und wildem Wein überwachsen war. Ich sah ihr Auto dort stehen, einen weißen Austin Allegro, also war sie zu Hause.

Jochen und ich öffneten die Pforte und hielten Ausschau nach ihr. Jochens Ruf »Granny, wir sind da« wurde sofort von einem lauten »Hip-hip, hurra!« erwidert, das hinter dem Haus hervorkam. Und dann kam sie selbst, im Rollstuhl über den Plattenweg. Sie hielt an und streckte die

»Warum in aller Welt sitzt du im Rollstuhl?«, fragte ich.

»Schieb mich rein, Liebes«, sagte sie, »und alles klärt sich auf.«

Als ich sie mit Jochen ins Haus schob, sah ich, dass eine kleine Holzrampe zur Türschwelle hinaufführte.

»Wie lange sitzt du da schon drin, Sal?«, fragte ich. »Du hättest mich anrufen sollen.«

»Oh, zwei, drei Tage«, sagte sie. »Nicht der Rede wert.«

Weil meine Mutter so auffallend gesund aussah, spürte ich nicht die Betroffenheit, die ich vielleicht hätte empfinden müssen. Ihr Gesicht war leicht gebräunt, ihr dichtes graublondes Haar glänzte und war frisch geschnitten. Und wie um diese Schnelldiagnose zu bestätigen, entstieg sie, kaum hatten wir sie hineingeschoben, dem Rollstuhl, beugte sich mühelos vor und gab Jochen einen Kuss.

»Ich bin gestürzt«, sagte sie und zeigte auf die Treppe. »Die letzten zwei oder drei Stufen – gestolpert, gefallen, und hab mir am Rücken wehgetan. Der Rollstuhl ist eine Empfehlung von Doktor Thorne, damit ich nicht so viel herumlaufe. Vom Laufen wird es nämlich schlimmer.«

»Wer ist Doktor Thorne? Was ist mit Doktor Brotherton?«

»Der hat Ferien. Doktor Thorne ist die Vertretung – war die Vertretung … Netter junger Mann«, fügte sie hinzu. »Jetzt bin ich ihn wieder los.«

Sie ging voraus zur Küche. Ich suchte in ihrer Haltung, ihrem Gang nach Anzeichen für einen schmerzenden Rücken, konnte aber nichts entdecken.

»Er ist wirklich nützlich«, sagte sie, als spürte sie meine wachsende Verunsicherung, meine Ungläubigkeit. »Der Rollstuhl, meine ich, beim Wirtschaften. Nicht zu glauben, wie viele Stunden am Tag man auf den Beinen ist.«

»Salat«, sagte sie. »Zum Kochen ist es zu heiß. Gieß dir was zu trinken ein, mein Schatz.«

»Salat ess ich gern«, sagte Jochen und nahm sich eine Dose Coca-Cola. »Was Kaltes hab ich am liebsten.«

»Guter Junge.« Meine Mutter zog mich beiseite. »Ich fürchte, heute kann er nicht bleiben. Das wird mir zu viel, wegen des Rollstuhls und überhaupt.«

Ich unterdrückte meine Enttäuschung und meine egoistischen Regungen – die Samstagnachmittage für mich zu haben, während Jochen den halben Tag in Middle Ashton verbrachte, war mir zur lieben Gewohnheit geworden. Meine Mutter ging ans Fenster und spähte unter vorgehaltener Hand hinaus. Von der Essecke sah man in den Garten, und der Garten grenzte an die Wiese, die nur sporadisch gemäht wurde, manchmal in Abständen von zwei oder drei Jahren, daher war sie voller Wildblumen und bestand aus unzähligen Grassorten und Unkraut. Und jenseits der Wiese begann der Wald, der aus irgendeinem vergessenen Grund Witch Wood hieß – ein uralter Bestand aus Eichen, Buchen und Kastanien, nur die Ulmen fehlten natürlich oder gingen gerade ein. Ich fand es merkwürdig, dass sie so angestrengt hinausblickte. Das passt nicht zu ihren üblichen Marotten und Eigenheiten, sagte ich mir. Ich legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.

»Ist alles in Ordnung, altes Haus?«

»Hmm. Es war nur ein Sturz. Ein Schock für den Organismus, wie es heißt. In ein, zwei Wochen bin ich wieder auf dem Posten.«

»Sonst ist nichts? Du würdest es mir doch sagen, oder?«

Sie wandte mir ihr hübsches Gesicht zu und bedachte mich mit dem offenherzigen Blick, den ich so gut kannte – große blassblaue Augen. Aber inzwischen, nach allem, was

»Was soll denn sein, meine Liebe? Glaubst du, ich werde senil?«

Ungeachtet dessen bat sie mich, sie im Rollstuhl durchs Dorf bis zur Post zu fahren, um unnötigerweise eine Flasche Milch und eine Zeitung zu kaufen. Mit Mrs Cumber, der Postfrau, redete sie ausführlich über ihren schlimmen Rücken, und auf der Rückfahrt ließ sie mich halten, um über den Steinwall hinweg mit dem jungen Bauunternehmer Percy Fleet und seiner langjährigen Freundin (Melinda? Melissa?) zu plaudern, während die ihren Gartengrill anheizten – eine Ziegelkonstruktion mit Schornstein, die sich stolz auf der Betonfläche vor dem neuen Wintergarten erhob. Sie bedauerten meine Mutter: Ein Sturz, das war wirklich das Schlimmste. Melinda führte das Beispiel ihres alten, von Schlaganfällen heimgesuchten Onkels an, der nach einem Sturz im Badezimmer wochenlang verwirrt gewesen war.

»So was will ich auch, Percy«, sagte meine Mutter und zeigte auf den Wintergarten. »Sehr schön.«

»Ein Voranschlag kostet nichts, Mrs Gilmartin.«

»Wie hat es Ihrer Tante hier gefallen? Hat sie sich amüsiert?«

»Meiner Schwiegermutter«, berichtigte Percy.

»Ach ja, natürlich. Ihrer Schwiegermutter.«

Wir verabschiedeten uns, und ich schob sie unwillig die holprige Straße entlang, während in mir Ärger darüber hochstieg, dass sie mich zur Mitwirkenden in dieser Theatervorstellung gemacht hatte. Überhaupt kommentierte sie ständig das Kommen und Gehen der Leute, als würde sie alle überwachen und jedes Mal die Stechuhr betätigen wie ein übereifriger Vorarbeiter, der seine Untergebenen schikaniert – das machte sie schon, solange ich denken konnte.

»Du darfst mir nicht böse sein, Ruth.« Sie blickte über die Schulter zu mir auf.

Ich hörte auf zu schieben und zündete mir eine Zigarette an. »Ich bin dir nicht böse.«

»O doch, das bist du. Lass mich einfach sehen, wie ich zurechtkomme. Nächsten Samstag ist vielleicht alles wieder in Ordnung.«

Als wir zurück waren, sagte Jochen mit Grabesstimme: »Vom Rauchen kann man Krebs kriegen.« Ich fuhr ihn an, und wir aßen unsere Mahlzeit in ziemlich angespannter Stimmung mit langen Schweigephasen, die meine Mutter ab und zu mit heiter-banalen Bemerkungen über das Dorf unterbrach. Sie überredete mich zu einem Glas Wein, und ich wurde etwas lockerer. Ich half ihr beim Abwasch und trocknete ab, während sie die Gläser im heißen Wasser spülte. Mutter-Tochter, Tochter-Mutter, sucht die Tochter in der Butter, reimte ich vor mich hin, plötzlich froh, dass Wochenende war, ohne Unterricht, ohne Studenten, und dachte mir, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, einmal ein wenig Zeit mit meinem Sohn zu verbringen. Da sagte meine Mutter etwas Merkwürdiges.

Sie hielt wieder die Hand über die Augen und blickte zum Wald hinüber.

»Was ist?«

»Siehst du jemanden? Ist da jemand im Wald?«

Ich schaute. »Niemand, den ich sehen würde. Warum?«

»Mir war, als hätte ich jemanden gesehen.«

»Wanderer, Spaziergänger – heute ist Samstag, die Sonne scheint.«

»Na klar: Die Sonne scheint, und die Welt ist in bester Ordnung.«

Ich ignorierte ihren Sarkasmus, machte mich auf die Suche nach Jochen, damit wir losfahren konnten. Demonstrativ setzte sich meine Mutter in den Rollstuhl und fuhr zur Haustür. Jochen erzählte ihr vom Bierfahrer und meinem schamlosen Gebrauch von Schimpfwörtern. Meine Mutter nahm sein Gesicht in die Hände und lächelte ihn liebevoll an.

»Deine Mutter kann sehr wütend werden, wenn sie will, und dieser Mann war ganz bestimmt sehr dumm«, sagte sie. »Deine Mutter ist eine zornige junge Frau.«

»Na, vielen Dank auch, Sal«, sagte ich und beugte mich über sie, um sie auf die Stirn zu küssen. »Ich ruf dich heute Abend an.«

»Tust du mir einen kleinen Gefallen?«, sagte sie, und dann bat sie mich, es in Zukunft zweimal klingeln zu lassen, aufzulegen und neu zu wählen. »Dann weiß ich, dass du’s bist«, erklärte sie. »Mit dem Rollstuhl komm ich nicht so schnell durchs Haus.«

Jetzt machte ich mir zum ersten Mal wirklich Sorgen. Waren das nicht schon Wahnvorstellungen oder Anzeichen geistiger Zerrüttung? Aber sie sah den Blick in meinen Augen.

»Ich weiß, was du denkst, Ruth«, sagte sie. »Du liegst falsch, völlig falsch.« Sie erhob sich aus dem Rollstuhl und stand plötzlich hoch aufgereckt und starr da. »Warte einen Augenblick«, sagte sie und stieg die Treppe hinauf.

»Hast du Granny wieder geärgert?«, fragte Jochen mit leisem Vorwurf.

»Nein.«

Meine Mutter kam die Treppe herunter – ohne Anstrengung, wie mir schien – und trug einen dicken gelbbraunen Schnellhefter unter dem Arm. Sie hielt ihn mir hin.

Ich nahm ihr den Hefter ab. Er schien etliche Dutzend Seiten zu enthalten – verschiedene Papiersorten und Formate. Ich schlug ihn auf. Es gab eine Titelseite: DIE GESCHICHTE DER EVA DELEKTORSKAJA.

»Eva Delektorskaja«, sagte ich verdutzt. »Wer ist das?«

»Ich«, erwiderte sie. »Ich bin Eva Delektorskaja.«

Paris 1939

Zum ersten Mal hatte Eva Delektorskaja den Mann bei der Beerdigung ihres Bruders Kolja gesehen. Auf dem Friedhof stand er ein wenig abseits der Trauergemeinde. Er trug einen Hut – einen alten braunen Schlapphut, was ihr seltsam vorkam. Sie hielt sich an diesem Detail fest: Welche Sorte Mann würde mit einem braunen Schlapphut zur Beerdigung gehen? Was war das für eine Art von Pietät? Und sie hing dem Gedanken weiter nach, um das übermächtige Gefühl der Trauer halbwegs im Zaum zu halten, um nicht vollends die Fassung zu verlieren.

Aber danach zu Hause, bevor die Trauergäste eintrafen, fing ihr Vater zu schluchzen an, und da konnte auch Eva die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr Vater hielt ein gerahmtes Foto von Kolja in den Händen, umklammerte es krampfhaft – wie ein rechteckiges Lenkrad. Eva legte ihm die Hand auf die Schulter, und mit der anderen wischte sie sich schnell die Tränen ab. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Irène, ihre Stiefmutter, kam mit einem klirrenden Tablett herein, darauf eine Karaffe Brandy und ein paar winzige Gläschen, nicht größer als Fingerhüte. Sie setzte es ab und ging in die Küche zurück, um einen Teller mit Zuckermandeln zu holen. Eva beugte sich über ihren Vater und bot ihm ein Glas an.

»Papa«, sagte sie mit versagender Stimme, »nimm einen kleinen Schluck – hier, siehst du, ich trinke auch etwas.« Sie

Seine dicken Tränen fielen auf das Bild. Er blickte zu ihr auf, zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn.

»Er war erst vierundzwanzig … vierundzwanzig …«, flüsterte er, als wäre Koljas Alter etwas Unglaubliches, als hätte jemand zu ihm gesagt: Ihr Sohn hat sich in Luft aufgelöst, oder: Ihr Sohn hat Flügel bekommen und ist davongeflogen.

Irène kam herüber, bog sanft seine Finger auseinander und nahm ihm behutsam das Bild weg.

»Mange, Serge«, sagte sie, »bois – il faut boire.«

Sie stellte das Bild auf dem Tischchen ab und begann die kleinen Gläser auf dem Tablett zu füllen. Eva hielt ihrem Vater den Teller mit den Zuckermandeln hin. Achtlos nahm er sich eine Handvoll und ließ ein paar zu Boden fallen. Sie schlürften ihren Brandy, knabberten Mandeln und tauschten Banalitäten aus: wie froh sie waren, dass der Tag trübe und windstill war, dass Sonnenschein unpassend gewesen wäre; wie schön es war, dass Monsieur Dieudonné die weite Reise von Neuilly gewagt hatte, und wie schäbig und geschmacklos, dass die Lussipows mit einem Trockenstrauß gekommen waren. Getrocknete Blumen! Allen Ernstes! Eva schaute immer wieder zum Bild von Kolja hinüber, der in seinem grauen Anzug lächelte, als würde er ihnen amüsiert zuhören, mit einem schelmischen Glitzern in den Augen, bis das Unfassbare des Verlusts, der Affront seiner Abwesenheit, über ihr zusammenschlug wie eine Flutwelle und sie wegschauen musste. Zum Glück klingelte es, und Irène stand auf, um die ersten Gäste zu empfangen. Eva blieb bei ihrem Vater sitzen, hörte, während Mäntel und Hüte abgelegt wurden, das gedämpfte Geräusch taktvoller Worte und sogar ein ersticktes Lachen als Anzeichen jener seltsamen Mischung aus Trauer und unbändiger Erleichterung, welche die Menschen nach einer Beerdigung zu befallen pflegt.

»Nur noch du und ich, Eva«, sagte er. Sie wusste, dass er an Marja dachte, seine erste Frau, seine Mascha, ihre Mutter – und an ihren Tod vor vielen Jahren am anderen Ende der Welt. Eva war vierzehn gewesen, Kolja zehn, und zu dritt hatten sie Hand in Hand auf dem Ausländerfriedhof von Tientsin gestanden, umweht von den Blütenblättern der riesigen weißen Glyzinie, die auf der Friedhofsmauer wuchs – wie von Schneeflocken, wie von dickem, weichem Konfetti. »Nur noch wir drei«, hatte er damals gesagt, als sie am Grab der Mutter standen und sich fest bei den Händen hielten.

»Wer war der Mann mit dem braunen Schlapphut?«, fragte Eva. Er war ihr gerade wieder eingefallen, und sie wollte das Thema wechseln.

»Ein Mann mit einem braunen Schlapphut?«, fragte ihr Vater.

Da schoben sich die Lussipows schüchtern und vage lächelnd ins Zimmer, gefolgt von Evas molliger Cousine Tanja und ihrem neuen, sehr kleinen Mann, und ihre seltsame Frage nach dem Mann mit dem braunen Schlapphut war vergessen.

 

Aber sie sah ihn wieder, drei Tage später, am Montag – ihrem ersten Arbeitstag nach der Beerdigung –, als sie mittags das Büro verließ, um essen zu gehen. Er stand unter der Markise der Épicerie auf der anderen Straßenseite, trug einen langen Tweedmantel – dunkelgrün – und seinen unpassenden Schlapphut. Er fing ihren Blick auf, nickte, lächelte, überquerte die Straße und nahm den Hut, um sie zu begrüßen.

Er sprach ein hervorragendes, akzentfreies Französisch:

»Ich wusste nicht, dass Sie Kolja kannten.« Diese Tatsache warf sie schon aus der Bahn; in ihrem Kopf rumorte es, leichte Panik erfasste sie – etwas stimmte nicht.

»Aber ja. Nicht direkt befreundet, aber gute Bekannte, könnte man sagen.« Er machte eine leichte Verbeugung und fuhr fort, diesmal in fehlerlosem Englisch: »Verzeihen Sie, mein Name ist Lucas Romer.«

Der Akzent war Upperclass, aristokratisch, aber Eva dachte sofort, dass dieser Mr Lucas Romer überhaupt nicht aussah wie ein Engländer. Er hatte welliges schwarzes Haar, zurückgekämmt und vorn schon dünner werdend, und seine Gesichtsfarbe war geradezu – sie suchte nach dem treffenden Wort – schwärzlich, mit dichten Augenbrauen, die aussahen wie zwei horizontale Striche zwischen der hohen Stirn und den Augen, die von einem schlammigen Blaugrau waren (sie achtete immer auf die Augenfarbe der Leute). Sein Kinn wirkte metallisch hart und zeigte, obwohl frisch rasiert, einen Anflug von Bart.

Er spürte, dass sie ihn musterte, und strich unwillkürlich über sein dünnes Haar. »Hat Kolja nie mit Ihnen über mich gesprochen?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Eva, nun ebenfalls auf Englisch. »Nein, einen Lucas Romer hat er mir gegenüber nie erwähnt.«

Aus irgendwelchen Gründen lächelte er über ihre Feststellung und zeigte seine sehr weißen, ebenmäßigen Zähne.

»Sehr gut«, sagte er nachdenklich und nickte, um seine Zufriedenheit zu signalisieren, dann fügte er hinzu: »Das ist übrigens mein wirklicher Name.«

»Etwas anderes hätte ich auch nicht vermutet«, sagte Eva und reichte ihm die Hand. »Es war mir ein Vergnügen,

»Nein. Sie haben zwei Stunden Zeit. Ich habe Monsieur Frellon gesagt, dass ich Sie in ein Restaurant führe.«

Monsieur Frellon war ihr pünktlichkeitsbesessener Chef.

»Warum sollte Monsieur Frellon das erlauben?«

»Weil er glaubt, dass ich vier Dampfschiffe bei ihm chartern werde, und da ich kein Wort Französisch spreche, muss ich die Details mit seiner Dolmetscherin aushandeln.« Er deutete mit dem Hut in die andere Richtung. »In der Rue du Cherche-Midi kenne ich ein kleines Lokal. Vorzügliche Fischgerichte. Mögen Sie Austern?«

»Ich hasse Austern.«

Er lächelte nachsichtig wie über ein launisches Kind, aber diesmal waren seine weißen Zähne nicht zu sehen.

»Dann werde ich Ihnen mal zeigen, wie man Austern genießbar macht.«

 

Das Restaurant hieß Le Tire Bouchon, und Lucas Romer zeigte ihr tatsächlich, wie man Austern genießbar machte (mit Rotweinessig, gehackten Schalotten, schwarzem Pfeffer und Zitronensaft, gefolgt von einem Happen gebutterten Schwarzbrots). Eigentlich aß sie Austern ab und zu ganz gern, aber sie wollte der maßlosen Selbstsicherheit dieses seltsamen Mannes die Spitze abbrechen.

Beim Essen (Seezunge bonne femme nach den Austern, Käse, Tarte tatin, eine halbe Flasche Chablis und eine ganze Flasche Morgon) sprachen sie über Kolja. Eva wurde klar, dass Romer über alles, was Kolja betraf, Bescheid wusste – über sein Alter, seine Erziehung, die Flucht der Familie aus Russland nach der Revolution von 1917, den Tod der Mutter in China, über die Irrfahrt der Delektorskis von St. Petersburg über Wladiwostok, Tientsin, Schanghai nach Tokio, bis sie 1924 in Berlin landeten und von dort 1928 schließlich

Er hatte zweimal Kaffee bestellt und für sich einen Schnaps. Aus einem zerbeulten silbernen Etui bot er ihr eine Zigarette an – sie nahm eine, er gab ihr Feuer.

»Sie sprechen ein exzellentes Englisch«, sagte er.

»Ich bin ja auch halb englisch«, erklärte sie, als wüsste er das nicht. »Meine Mutter war Engländerin.«

»Also sprechen Sie Russisch, Englisch und Französisch. Noch etwas?«

»Ein wenig Deutsch. Mäßig, nicht fließend.«

»Gut … Wie geht es übrigens Ihrem Vater?«, fragte er, während er seine Zigarette anzündete und den Rauch mit dramatischer Geste zur Decke blies.

Eva zögerte. Was sollte sie diesem wildfremden Menschen erzählen, der sich wie ein Vertrauter benahm, wie ein Cousin, ein besorgter Onkel, der sich nach der Familie erkundigte? »Es geht ihm nicht gut. Er ist untröstlich – wie wir alle. Dieser Schock – Sie können sich nicht vorstellen … Ich fürchte, Koljas Tod bringt ihn noch um. Meine Stiefmutter macht sich große Sorgen.«

»Ah ja. Kolja hat Ihre Stiefmutter bewundert.«

Eva wusste nur zu gut, dass Koljas Verhältnis zu Irène bestenfalls ein angespanntes gewesen war. Madame Argenton hatte in ihm so etwas wie einen Taugenichts gesehen, einen Träumer der irritierenden Art.

»Der Sohn, den sie nie hatte«, fügte Romer hinzu.

»Nein. Ich vermute es.«

Eva drückte ihre Zigarette aus. »Ich werde jetzt besser gehen«, sagte sie und stand auf. Romer lächelte unangenehm. Sie spürte, dass er sich über ihre plötzliche Kälte, ihre Abruptheit freute – als hätte sie irgendeine kleine Prüfung bestanden.

»Haben Sie nicht etwas vergessen?«, sagte er.

»Ich glaube nicht.«

»Ich wollte doch vier Dampfschiffe bei Frellon, Gonzales & Cie. chartern. Nehmen Sie noch einen Kaffee, und wir besprechen die Details.«

Wieder im Büro, konnte Eva plausibel darlegen, welche Tonnagen, Zeiträume und Zielhäfen Romer im Sinn hatte. Monsieur Frellon zeigte sich hocherfreut über den Ertrag ihrer verlängerten Mittagspause. Romer sei ein »dicker Fisch«, wiederholte er ständig, »den müssen wir an Land ziehen«. Eva fiel auf, dass Romer ihr, obwohl sie zwei- oder dreimal das Gespräch darauf gebracht hatte, nicht erzählt hatte, wann, wo und wie er mit Kolja zusammengetroffen war.

Zwei Tage später, als sie mit der Metro zur Arbeit fuhr, stieg Romer an der Place Clichy in ihren Wagen ein. Er stand ein paar Fahrgäste entfernt und winkte ihr freundlich zu. Eva wusste sofort, dass es kein Zufall war, und glaubte ohnehin nicht, dass der Zufall eine besondere Rolle im Leben Lucas Romers spielte. Am Bahnhof Sèvres-Babylone stiegen sie aus und machten sich zusammen auf den Weg zu ihrem Büro, nachdem Romer ihr erklärt hatte, er habe einen Termin bei Monsieur Frellon. Es war ein trüber Tag, der Himmel war von Wölkchen überzogen, nur ab und zu brach die Sonne durch; ein plötzlicher Windstoß zerrte an ihrem Rock und dem blauvioletten Halstuch. Als sie das kleine Café an der Ecke Rue de Varenne und Boulevard Raspail erreichten, schlug Romer eine Pause vor.

»Ich sagte, dass ich irgendwann am Vormittag vorbeikomme.«

»Aber ich komme zu spät«, wandte sie ein.

»Er wird nichts dagegen haben. Wir reden geschäftlich. Ich rufe ihn an.« Er ging zur Theke, um Telefonmünzen zu kaufen. Eva setzte sich ans Fenster und musterte ihn – nicht mit Abscheu, eher mit Neugier. Welches Spiel spielen Sie, Mr Lucas Romer?, dachte sie. Geht es um Sex mit mir oder um Geschäfte mit Frellon, Gonzales & Cie.? Wenn es um Sex ging, verschwendete er seine Zeit. Sie fand Lucas Romer nicht attraktiv. Zu viele Männer begehrten sie, während sie, im Gegenzug, nur sehr wenige begehrenswert fand. Das war der Preis, den die Schönheit manchmal forderte: Wir machen dich schön, entscheiden die Götter, aber zugleich sorgen wir dafür, dass du unglaublich schwer zufriedenzustellen bist. So früh am Morgen wollte sie nicht an ihre wenigen komplizierten und unglücklichen Liebesaffären denken, also nahm sie eine Zeitung vom Haken. Erotische Absichten schieden wohl doch aus, dachte sie sich – aber irgendetwas führte er im Schilde. Die Schlagzeilen handelten vom Spanischen Bürgerkrieg, dem Anschluss, Bucharins Hinrichtung in der Sowjetunion. Die Vokabeln starrten von Aggressivität: Aufrüstung, Territorium, Reparationen, Waffen, Drohungen, Warnungen, Krieg und zukünftige Kriege. Ja, dachte sie, er hat andere Absichten, aber sie musste abwarten, um herauszubekommen, welche es waren.

»Überhaupt kein Problem.« Er stand über ihr, auf seinem Gesicht spielte ein Lächeln. »Ich habe Ihnen Kaffee bestellt.«

Sie fragte nach Monsieur Frellons Reaktion, und Romer versicherte ihr, Monsieur Frellon sei hocherfreut gewesen über diese vielversprechende Begegnung. Der Kaffee kam, Romer lehnte sich entspannt zurück, tat reichlich Zucker in seinen express und rührte hingebungsvoll um. Eva

»Seit wann kannten Sie Kolja?« Sie nahm eine Zigarette aus der Packung in ihrer Handtasche, ohne ihm eine anzubieten.

»Seit etwa einem Jahr. Wir trafen uns auf einer Party … Jemand feierte das Erscheinen eines Buches. Wir kamen ins Gespräch … Ich fand ihn sehr sympathisch …«

»Welches Buch war das?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

Sie setzte ihr Kreuzverhör fort – zu seinem wachsenden Vergnügen, wie sie nun bemerkte. Es machte ihm offensichtlich Spaß, und das ärgerte sie. Sie saß nicht zu ihrem Zeitvertreib hier oder zum Flirten – ihr Bruder war tot, und sie vermutete, dass Romer weit mehr über seinen Tod wusste, als er zuzugeben bereit war.

»Warum ist er zu der Kundgebung gegangen?«, fragte sie. »Action Française ausgerechnet! Kolja war doch kein Faschist!«

»Natürlich nicht.«

»Warum war er also dort?«

»Weil ich ihn darum gebeten hatte.«

Das war ein Schock für sie. Warum, fragte sie sich, hätte Lucas Romer Kolja Delektorski bitten sollen, zu einer Kundgebung der Action Française zu gehen, und warum, fragte sie sich weiter, hätte Kolja dieser Bitte entsprechen sollen? Aber sie fand keine schnelle oder einfache Antwort.

»Weil er für mich gearbeitet hat.«

 

Den ganzen Tag im Büro dachte Eva an Romer und seine verblüffenden Antworten. Nach der Behauptung, Kolja habe für ihn gearbeitet, hatte er abrupt das Gespräch beendet, in vorgebeugter Haltung, fest in ihre Augen blickend, womit er zu bekräftigen schien: Jawohl, Kolja hat für mich, Lucas Romer, gearbeitet. Er müsse jetzt gehen, sagte er unvermittelt, er habe Termine, meine Güte, es ist ja schon spät.

Nach Feierabend, während der Heimfahrt in der Metro, versuchte Eva methodisch vorzugehen, die losen Bruchstücke zu einem Puzzle zusammenzufügen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Lucas Romer hatte Kolja auf einer Party getroffen, sie waren Freunde geworden – mehr als Freunde offenbar –, Kollegen gewissermaßen, und Kolja hatte in irgendeiner unbekannten Eigenschaft für Romer gearbeitet … Welche Art von Arbeit war das, die ihn zum Besuch einer Kundgebung der Action Française in Nanterre veranlasst hatte? Während dieser Kundgebung war Kolja laut den Ermittlungen der Polizei ans Telefon gerufen worden. Zeugen erinnerten sich, dass er mitten im Hauptreferat von Charles Maurras, man bedenke, hinausgegangen war, dass ihm einer der Ordner einen Zettel gebracht hatte, dass mit seinem Aufbruch einige Unruhe verbunden gewesen war. Und dann das Zeitloch von fünfundvierzig Minuten – die letzten fünfundvierzig Minuten seines Lebens –, für die es keine Zeugen gab. Leute, die den Saal durch die Seitenausgänge (es war ein großes Kino) verließen, fanden seine Leiche in der Gasse hinterm Kino, er lag verdreht in einer glänzenden Blutlache auf dem Kopfsteinpflaster, getötet durch mehrere Schläge auf den Hinterkopf. Was war in den letzten fünfundvierzig Minuten seines Lebens

Eva ging die Rue des Fleurs hinauf und fragte sich, was Kolja dazu bewogen haben mochte, für einen Mann wie Romer zu »arbeiten«, und warum er nie über diesen sogenannten Job gesprochen hatte. Und wer war Romer, dass er Kolja, einem Musiklehrer, einen Job antrug, der lebensgefährlich war? Einen Job, der ihn das Leben gekostet hatte? In welcher Eigenschaft und aus welchem Grund? Wegen Romers Schiffsfirma? Wegen seiner internationalen Geschäfte? Sie musste grinsen über die Absurdität dieser Vorstellung, während sie ihre üblichen zwei Baguettes kaufte, und ignorierte Benoîts leutseliges Lächeln, der ihr Grinsen als Entgegenkommen missverstand. Sofort wurde sie wieder ernst. Benoît – auch einer, der scharf auf sie war.

»Wie geht’s, Mademoiselle Eva?«, fragte er und nahm das Geld in Empfang.

»Nicht so gut«, erwiderte sie. »Der Tod meines Bruders … Sie wissen schon.«

Sein Gesicht veränderte sich, zog sich vor lauter Mitgefühl in die Länge. »Eine schreckliche Geschichte«, sagte er. »Was sind das nur für Zeiten!«

Wenigstens lässt er mich jetzt eine Weile in Ruhe und stellt mir keine Fragen, dachte Eva im Gehen. Sie bog in den kleinen Vorhof des Mietshauses ein, öffnete im großen Hof die kleine Tür und nickte der Concierge, Madame Roisanssac, zu. Sie stieg die zwei Treppen hoch, schloss auf, ließ die Brote in der Küche, ging weiter zum Salon und dachte: Nein, heute bleibe ich nicht schon wieder zu Hause, nicht mit Papa und Irène; ich sehe mir einen Film an, den Film, der im Rex gezeigt wird, Je suis partout. Ich brauche ein bisschen Abwechslung, dachte sie, ein bisschen Raum, ein bisschen Zeit für mich selbst.

»Ich habe nicht gedacht, dass es von Bedeutung ist«, erwiderte Eva, ohne den Blick von Romer abzuwenden, und versuchte, absolut neutral, absolut unbeeindruckt zu wirken. Romer lächelte und lächelte – er wirkte sehr entspannt und war eleganter gekleidet, wie sie jetzt sah, in dunkelblauem Anzug mit weißem Hemd und einer anderen englischen Streifenkrawatte.

Ihr Vater war ganz aufgeregt, er zog ihr einen Stuhl heran und sagte im Plauderton: »Mr Romer hat Kolja gekannt, hält man das für möglich?« Aber Eva hörte nur die empörten Fragen und Ausrufe, die ihr durch den Kopf fuhren. Wie können Sie es wagen, hier aufzutauchen! Was haben Sie Papa erzählt? Diese Unverschämtheit! Was ich davon halte, ist Ihnen wohl egal? Sie sah die Gläser und die Portflasche auf dem Silbertablett, sah den Teller mit Zuckermandeln und wusste, dass Romer sich diesen Empfang mühelos verschafft hatte, ganz im Vertrauen auf den Trost, den er mit seinem Besuch spenden würde. Wie lange ist er schon da?, fragte sie sich und schaute, wie viel noch in der Flasche war. Die Stimmung ihres Vaters ließ vermuten, dass sie schon mehr als ein Glas getrunken hatten.

Ihr Vater zwang sie förmlich auf den Stuhl; sie lehnte das Glas Portwein ab, nach dem es sie so dringend gelüstete. Sie sah, dass sich Romer diskret zurücklehnte, mit übergeschlagenen Beinen, sie sah dieses feine, berechnende Lächeln in seinem Gesicht. Das Lächeln eines Mannes, dachte sie, der genau zu wissen glaubt, was als Nächstes passiert.

Entschlossen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu

Irgendwie gelangte Romer vor ihr zur Tür, seine Finger ergriffen ihren rechten Ellbogen.

»Mr Delektorski«, sagte er zu ihrem Vater, »kann ich irgendwo unter vier Augen mit Eva sprechen?«

Sie wurden in sein Arbeitszimmer geleitet, eine kleine Kammer am Ende des Flurs, die mit steif wirkenden Porträtfotos der Familie Delektorski ausgestattet war, einem Schreibtisch, einem Diwan und einem Regal voller Bücher seiner russischen Lieblingsautoren: Lermontow, Puschkin, Turgenjew, Gogol, Tschechow. Es roch nach Zigarren und der Pomade, die sich ihr Vater ins Haar rieb. Sie trat ans Fenster und sah Madame Roisanssac beim Wäscheaufhängen. Plötzlich war ihr mulmig zumute. Sie hatte geglaubt, spielend mit Romer fertigzuwerden, aber nun, allein mit ihm im Zimmer ihres Vaters, sah alles ganz anders aus.

Und als hätte er das gespürt, veränderte sich auch Romer: Seine maßlose Selbstsicherheit wich einer direkteren, verbindlicheren Art. Er drängte sie, sich zu setzen, und zog einen Stuhl für sich hinter dem Schreibtisch hervor, setzte sich ihr gegenüber, als wollte er mit ihr so etwas wie ein Verhör beginnen. Er hielt ihr sein verbeultes Zigarettenetui hin, sie nahm eine Zigarette, sagte gleich darauf: Nein, lieber nicht, und gab sie zurück. Sie verfolgte, wie er sie wieder einsteckte, offensichtlich ein wenig irritiert. Wenigstens ein winziger Sieg, dachte sie – alles zählte, wenn es galt, diese Fassade aus lässiger Arroganz zu durchbrechen, und sei es nur für einen Augenblick.

»Kolja hat für mich gearbeitet, als er umkam«, begann Romer.

»Das sagten Sie schon.«

»Er wurde von den Faschisten ermordet, den Nazis.«

»Ich dachte, es sei Raubmord gewesen.«

Eva wollte etwas sagen, entschied sich aber dagegen. In der jetzt entstehenden Stille holte Romer sein Etui erneut heraus und durchlief das ganze Ritual – er steckte die Zigarette in den Mund, klopfte die Taschen nach dem Feuerzeug ab, nahm die Zigarette aus dem Mund, stauchte sie an beiden Enden auf das Etui, zog den Aschenbecher auf dem Schreibtisch ihres Vaters näher heran, zündete die Zigarette an, inhalierte und stieß energisch den Rauch aus. Eva verfolgte den ganzen Vorgang und versuchte, völlig unbeteiligt zu wirken.

»Ich arbeite für die britische Regierung«, sagte er. »Sie verstehen, was ich meine …«

»Ja«, sagte Eva. »Ich glaube.«

»Auch Kolja hat für die britische Regierung gearbeitet. Auf meine Anweisung hat er versucht, die Action Française zu infiltrieren. Er hat sich der Bewegung angeschlossen und mir über alle Entwicklungen berichtet, die für uns von Bedeutung sein könnten.« Er wartete ab, ob sie nachfragen würde, beugte sich vor und erklärte mit ruhiger Stimme: »Es wird Krieg geben in Europa, in sechs Monaten oder einem Jahr – zwischen Nazideutschland und etlichen europäischen Ländern, so viel ist sicher. Ihr Bruder war Teil des Kampfes gegen diesen bevorstehenden Krieg.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass er ein tapferer Mann war. Dass er nicht umsonst gestorben ist.«

Eva unterdrückte das sarkastische Lachen, das ihr in der Kehle saß, und fast im selben Augenblick spürte sie Tränen in sich aufsteigen.

»Ich wünschte, er wäre ein Feigling gewesen«, sagte sie und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken, »dann wäre er noch am Leben. Dann könnte er im nächsten Moment durch diese Tür kommen.«

»Ich möchte Ihnen Koljas Job anbieten«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie für uns arbeiten.«

»Ich habe einen Job.«

»Sie bekommen fünfhundert Pfund pro Jahr. Sie werden britische Bürgerin mit britischem Pass.«

»Nein, danke.«

»Sie werden in Großbritannien ausgebildet und arbeiten in verschiedenen Eigenschaften für die britische Regierung – genauso wie Kolja.«

»Danke, nein. Ich bin sehr zufrieden mit meiner jetzigen Arbeit.«

Plötzlich wollte sie nur noch, dass Kolja hereinkam, was ja ganz unmöglich war – Kolja mit seinem ironischen Lächeln und seinem müden Charme –, und ihr sagte, was sie tun sollte, was sie dem Mann mit dem beharrlichen Blick und den beharrlichen Forderungen sagen sollte. Was soll ich machen, Kolja? Sie hörte die Frage in ihrem Kopf. Sag mir, was ich tun soll, und ich tu’s.

Romer stand auf. »Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen und schlage vor, dass Sie es auch tun.« Er ging zur Tür, tippte mit zwei Fingern an seine Stirn, als hätte er etwas vergessen. »Ich sehe Sie morgen – oder übermorgen. Denken Sie ernsthaft über meinen Vorschlag nach, Eva, und was das für Sie und Ihre Familie bedeutet.« Dann schien seine Stimmung abrupt zu wechseln, als hätte ihn eine plötzliche Erregung gepackt, als würde er seine Maske für einen Moment fallen lassen. »Zum Teufel noch mal, Eva«, sagte er. »Ihr Bruder ist von diesen Gangstern ermordet worden, diesem widerwärtigen Pack – Sie kriegen die Chance, ihn zu rächen, sie büßen zu lassen.«

 

Eva schaute aus dem Zugfenster, draußen zog die schottische Landschaft vorüber. Es war Sommer, doch ihr schien, als wäre die Landschaft unter dem niedrigen weißen Himmel von den Spuren harter Winter gezeichnet – die kleinen, zähen, von einem beständigen Wind gekrümmten und deformierten Bäume, das büschelige Gras, die sanften grünen Hügel mit ihrem dunklen Schorf aus Heidekraut. Es mag ja Sommer sein, schien das Land zu sagen, aber ich bleibe lieber auf der Hut. Sie dachte an andere Landschaften, die sie aus dem Zug gesehen hatte, und tatsächlich war ihr manchmal so, als wäre ihr Leben aus vielen Zugfahrten zusammengesetzt, aus einer Abfolge fremder Gegenden, die an ihrem Fenster vorübergehuscht waren – von Moskau nach Wladiwostok, von Wladiwostok nach China … Luxuriöse wagons lits