Über dieses Buch:
Haben sich die Götter gegen ihn verschworen? Nur knapp überlebt der Faustkämpfer Drakonides den Untergang des Schiffes, mit dem er sich auf die Reise seines Lebens gemacht hat: Noch einmal will er an den berühmten Spielen teilzunehmen und endlich, endlich den Siegerkranz tragen. Drakonides gelingt es tatsächlich, Olympia zu erreichen. Hier unterwirft er sich den strengen Regeln, taucht ein in die Welt aus Schweiß, Schmerz und höchster Freude, die jenen vorbehalten bleibt, die den anderen Athleten im Wettkampf überlegen sind. Aber wird Nike, die Göttin des Sieges, Drakonides hold sein – oder wird ihm eine ehrgeizige Frau zum Verhängnis, die ihren ganz eigenen olympischen Traum verwirklichen will?
Kenntnisreich und mitreißend schildert Robert Gordian den Ursprung jenes Sportereignisses, das uns noch heute begeistert: ein kraftvoller Roman, der seine Leser immer wieder überrascht.
Über den Autor:
Robert Gordian (1938–2017), geboren in Oebisfelde, studierte Journalistik und Geschichte und arbeitete als Fernsehredakteur, Theaterdramaturg, Hörspiel- und TV-Autor, vorwiegend mit historischen Themen. Seit den neunziger Jahren verfasste er historische Romane und Erzählungen.
Robert Gordian veröffentlichte bei dotbooks bereits die Romane ABGRÜNDE DER MACHT, MEIN JAHR IN GERMANIEN, XANTHIPPE – DIE FRAU DES SOKRATES, DIE EHRLOSE HERZOGIN und DIE GERMANIN sowie drei historische Romanserien:
ODO UND LUPUS, KOMMISSARE KARLS DES GROSSEN
Erster Roman: »Demetrias Rache«
Zweiter Roman: »Saxnot stirbt nie«
Dritter Roman: »Pater Diabolus«
Vierter Roman: »Die Witwe«
Fünfter Roman: »Pilger und Mörder«
Sechster Roman: »Tödliche Brautnacht«
Siebter Roman: »Giftpilze«
Achter Roman: »Familienfehde«
DIE MEROWINGER
Erster Roman: »Letzte Säule des Imperiums«
Zweiter Roman: »Schwerter der Barbaren«
Dritter Roman: »Familiengruft«
Vierter Roman: »Zorn der Götter«
Fünfter Roman: »Chlodwigs Vermächtnis«
Sechster Roman: »Tödliches Erbe«
Siebter Roman: »Dritte Flucht«
Achter Roman: »Mörderpaar«
Neunter Roman: »Zwei Todfeindinnen«
Zehnter Roman: »Die Liebenden von Rouen«
Elfter Roman: »Der Heimatlose«
Zwölfter Roman: »Rebellion der Nonnen«
Dreizehnter Roman: »Die Treulosen«
ROSAMUNDE, KÖNIGIN DER LANGOBARDEN
Erster Roman: »Der Waffensohn«
Zweiter Roman: »Der Pokal des Alboin«
Dritter Roman: »Die Verschwörung«
Vierter Roman: »Die Tragödie von Ravenna«
Ebenfalls erschien bei dotbooks die beiden Kurzgeschichtenbände EINE MORDNACHT IM TEMPEL und DAS MÄDCHEN MIT DEM SCHLANGENOHRRING sowie die Reihe WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN mit kontrafaktischen Erzählungen über berühmte historische Persönlichkeiten:
WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Caesar, Chlodwig, Otto I., Elisabeth I., Lincoln, Hitler
WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Napoleon, Paulus, Themistokles, Dschingis Khan, Bolívar, Chruschtschow
WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Karl der Große, Arminius, Gregor VII., Mark Aurel, Peter I., Friedrich II.
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Überarbeitete eBook-Neuausgabe April 2016
Dieses Buch erschien bereits 2000 unter dem Titel Tod in Olympia im Wunderlich Taschenbuch.
Copyright © der Originalausgabe 2000 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Fedorov Oleksiy
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-296-8
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Robert Gordian
Noch einmal nach Olympia
Roman
dotbooks.
Im Jahre 2016 werden sich die Athleten der Welt wieder zu Olympischen Spielen treffen. Uralt ist diese Institution, eines der größten und langlebigsten Monumente der Menschheitskultur. Seine Schöpfer sind die Griechen der Antike: Zum ersten Mal fanden im Jahre 776 vor unserer Zeitrechnung Spiele in Olympia statt. Nachdem sie über ein Jahrtausend jeweils im Abstand von vier Jahren gefeiert worden waren, wurden sie 394 nach Christus vom römischen Kaiser Theodosius I. als heidnisch verboten.
Im 19. Jahrhundert wiederbelebt, erfreuen sie sich weltweiter Popularität. An den ersten Spielen der Neuzeit nahmen 1896 in Athen gerade einmal 250 Athleten teil; 2012 waren es in London 10.520. Die modernen Olympischen Spiele sind – auch wegen des bombastischen Aufwands, mit dem sie heute betrieben werden – den antiken Spielen nicht mehr sehr ähnlich. Deren eher bescheidenes, im Laufe von Jahrhunderten kaum verändertes sportliches Programm und der kultische Rahmen, in dem es ablief, verdienen aber Interesse.
Robert Gordian verbrachte Jahre mit Recherchen, um dem Leser ein detailgetreues Bild vom Verlauf des antiken Ereignisses zu verschaffen. Als habe er als Sportreporter Olympischen Spielen im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beigewohnt, will der Autor über alles berichten, was in diesem Zusammenhang wissenswert ist: die Teilnahmebedingungen, die sportlichen Regeln, den zeitlichen Ablauf, die Zeremonien – und menschliche Geschichten, die untrennbar mit den Olympischen Spielen verbunden, aber heute vergessen sind.
Begleiten Sie gemeinsam mit Robert Gordian einen alternden Faustkämpfer »noch einmal nach Olympia«: Nach mehreren vergeblichen Versuchen hat Drakonides eine letzte Chance, die Siegestrophäe zu erringen, den Kranz vom heiligen Ölbaum ...
Wenige Tage nach der Sommersonnenwende verließ ein attisches Kriegsschiff den Hafen von Mytilene auf der ägäischen Insel Lesbos und nahm Kurs auf Korinth. Der leichte Dreidecker war bei einem Scharmützel beschädigt worden und musste im Hafen von Mytilene zurückgelassen werden. Dort nahm man sich mit der Behebung der Schäden viel Zeit. Erst nach dringenden Bitten der Athener, die neuerdings wieder in Plänkeleien verwickelt waren und jedes Schiff brauchten, entschloss man sich auf der Werft von Mytilene, die notwendigen Reparaturen vorzunehmen und die zurückzusenden. Um die wachsamen Feinde, die Spartaner zu täuschen, sollte sie zunächst nach Korinth gebracht werden, wo die Athener sie dann übernehmen wollten.
Im Augenblick lag die Zahl der Ruderer so weit unter der normalen Stärke, dass das Schiff bei Windstille nur mäßig schnell vorangebracht werden konnte. Zum Glück wehte seit Beginn der Reise eine kräftige Brise aus Nordost, man fuhr die meiste Zeit unter Segel. Schon am dritten Tag war die Enge zwischen Euböa und Andros passiert, Keos kam in Sicht und am Abend hoffte man, Kap Sunion zu erreichen.
Außer der Besatzung war eine kleine Reisegesellschaft an Bord, sechs Männer auf dem Weg nach Olympia.
Ein schlanker, quicklebendiger Alter mit weißem Haarkranz, der auf den Namen Dikon hörte, war Gymnastes und geleitete drei junge Männer, die als Läufer und Fünfkämpfer starten wollten, zum Festort. Zu ihnen gehörte als Fünfter der in ganz Hellas bekannte Faustkämpfer Drakonides, der als erfahrener Athlet gewöhnlich ohne Betreuer reiste, sich aber diesmal seinem früheren Übungsleiter und dessen Gruppe angeschlossen hatte. Die fünf wollten ihre Inselstadt Mytilene bei den Olympischen Spielen vertreten, die in etwa vierzig Tagen am heiligen Ort, im Tal des Flusses Alpheios, beginnen würden. Dass sie schon jetzt unterwegs waren, hatte seinen Grund in den strengen gesetzlichen Bestimmungen über die Teilnahme an den Spielen. Wer nicht einen Monat vor der Eröffnung in Elis, dem Hauptort des Veranstalterlandes zur Prüfung und zu den vorbereitenden Übungen erschienen war, wurde zum Wettkampf nicht zugelassen.
Der sechste Reisende war ein schöner, vornehmer Herr mit schwarzem Lockenhaar und prächtigen Zähnen, der sich Pherenikos nannte. Er war zwar in Mytilene an Bord gegangen, kam aber angeblich von Rhodos. Auch er wollte nach Olympia, wohin ihm ein junger Athlet, den er zu Hause betreute, vorausgereist war. Zu seinen Reisegefährten wahrte er Abstand, nur mit Drakonides knüpfte er ab und zu ein Gespräch an. Gewöhnlich aber stellte er seinen Klappstuhl neben dem des Kapitäns auf und saß dort im reich gefälteten Stutzermantel, den breitkrempigen Petasos auf dem Kopf, die langen Beine übereinander geschlagen, schweigend oder behaglich plaudernd.
Es war Mittag, die Sonne stand im Zenit. Der Himmel war klar, nur am Horizont zeigten sich einige Wolken. Auf den Bänken zu beiden Seiten des Oberdecks dösten die Ruderer. Einige der bärtigen und fast nackten Gestalten hockten im Kreis auf den Decksplanken und unterhielten sich beim Knöchelspiel.
Der Kapitän, ein beleibter Mann, saß träge neben dem Hauptmast auf seinem Klappstuhl und winkte immer wieder einem Sklaven, der dann sogleich unter Deck verschwand und mit einer Kanne gekühlten, stark mit Wasser verdünnten Weins wieder auftauchte. Von Zeit zu Zeit ließ sich auch Pherenikos den Becher füllen.
Für die Athleten hingegen gab es kein Ausruhen. Dikon war unermüdlich im Erfinden von Übungen, mit denen er die beiden Läufer auf dem schmalen Schiffsdeck beschäftigte. Sein dritter Schützling, der Fünfkämpfer, wartete dagegen nicht erst auf Anweisungen. Mehrmals schon hatte er den Hauptmast erklettert, um an der Rahe zu turnen. Dann wieder war er auf Händen über das Deck gelaufen. Einmal hatten alle erschrocken gesehen, wie er plötzlich mit einer Hand an dem eisernen Balken des Bugs gehangen hatte und in Gefahr geraten war, hinabzustürzen und von dem Rammsporn am Kiel der Triëre aufgespießt zu werden. Er war der Liebling der Schiffsbesatzung, weil er für Unterhaltung sorgte.
Auch jetzt hing er an der Rahe und machte Klimmzüge.
»Der Bursche hat Mut, das muss man ihm lassen«, sagte der behäbige Schiffsführer. »In seinem Alter war ich genauso.«
»Er könnte Olympiasieger werden«, bemerkte Pherenikos sachkundig, mit seiner hellen, klangvollen Stimme. »Zuzutrauen wäre es ihm.«
»Dieser Tollkopf!«, murmelte Dikon, der zu spät auf den jungen Fünfkämpfer aufmerksam wurde. Er formte die Hände zum Trichter und rief hinauf: »Komm herunter, Ephialtes! Ich hab das verboten!«
Doch der junge Mann hörte nichts oder wollte nichts hören. Er machte einen Aufschwung und setzte sich auf den Rahbalken, unter dem sich das Segel blähte.
Drakonides, der Faustkämpfer, war nicht so eifrig. Ein Mann wie er er konnte sich schon auf seine Erfahrung verlassen, die er in unzähligen Kämpfen auf den Festplätzen und in den Stadien erworben hatte. Er war von riesigem Wuchs, über sechs Fuß hoch, und an seinen langen, von Muskelbergen geschwellten Armen hingen Fäuste wie schwere Feldsteine. Sein Gesicht war eine zerklüftete Landschaft, das Haupthaar war noch schwarz, doch der Bart begann zu ergrauen. Narben spalteten seine wulstigen Lippen, sein Nasenbein war gebrochen, sein Gebiss hatte Lücken. Seine Augen aber waren die eines Jüngeren; scharfsichtig, heiter und feurig.
Zweimal am Tag befestigte er den Korykos, den mit Körnern gefüllten Ledersack, an dem kleineren, etwas nach vorn geneigten Bugmast und schlug mit den riemenbewehrten Fäusten auf ihn ein. Aber an diesem Tag war er lustlos und auch der Korykos schien nur widerwillig den Stößen und Schlägen zu weichen, zumal der seit einer Stunde stärker werdende Wind von der anderen Seite drückte.
Pherenikos erhob sich und kam langsam näher.
»Ich fürchte, du machst die Reise umsonst«, sagte er spöttisch. »Deine Schultern sind steif und deine Beine zu langsam.«
Drakonides ließ die Fäuste sinken und lachte. »Und du bist lästig und hartnäckig wie ein Fliegenschwarm. Willst du mir wieder deine Ratschläge aufdrängen?«
»Du tätest gut daran, sie dir anzuhören. Nicht jeder hat so viel Glück und bekommt sie umsonst.«
»Ah, ich vergaß … du bist ein berühmter Gymnastes.«
»Noch bin ich es nicht. Doch ich werde es sein. Wenn mein Zögling Olympiasieger geworden ist.«
»Erspar dir die Prahlerei.« Drakonides lachte wieder verächtlich. »Du willst Ausbilder eines Faustkämpfers sein? Wenn jemand ein so feines Gesicht hat wie du, dann hat er wohl niemals Bekanntschaft mit den Riemen gemacht.«
»Du hast Recht. Ich habe die Riemen niemals angelegt. Trotzdem verstehe ich mehr vom Faustkampf als mancher alte Palaistralöwe. Auch du könntest noch von mir lernen.«
»Es ist besser, du gehst mir aus den Augen. Ich hab genug von deinem Geschwätz.«
»Immerhin scheint dir ja mein Gesicht zu gefallen«, sagte Pherenikos, wobei er lächelnd die regelmäßigen Zähne entblößte und den Hut zurückschob.
Mit einem Ruck hob Drakonides das Kinn und starrte ihn an. »Du willst mir wohl noch etwas anderes anbieten«, knurrte er böse. »Nicht nur dein Wissen über den Faustkampf.«
Der Mann aus Rhodos lächelte immer noch. »Wenn du auf das andere Wert legst«, sagte er leise, mit einer lässigen Geste, »wäre ich nicht abgeneigt.«
»Genug. Verschwinde, lass mich in Frieden.«
Die Unterredung hatte den Faustkämpfer wütend gemacht. Er schlug wieder auf den Korykos ein.
Pherenikos trat ein paar Schritte beiseite, sah ihm aber weiterhin zu.
Drakonides spürte den spöttischen Blick und plötzlich empfand er das Bedürfnis, seinen Zorn an einem ebenbürtigen Gegner auszulassen. Er wandte sich den Seeleuten zu, die sich immer im Vorderteil des Schiffs versammelten, wenn er übte.
»Faules Gesindel!«, rief er. »Hat keiner den Mut, einen Kampf zu wagen? Ihr wollt Seeleute sein? Schwächlinge, Feiglinge seid ihr! Geht zu den Weibern in die Spinnkammer!«
Gelächter antwortete ihm.
Drakonides spie verächtlich aus und wollte sich wieder dem Korykos zuwenden. Er hatte schon mehrmals glücklos versucht, einen Übungspartner zu finden.
Zu seiner Überraschung erhob sich aber jetzt einer und sagte:
»Komm her, du Großmaul, ich werde es dir zeigen! Wollen doch mal sehen, wer in die Spinnkammer gehört.«
Drakonides war einen Augenblick starr vor Staunen über soviel Frechheit. Dann rief er: »So sprichst du mit einem Sieger der isthmischen Spiele? Bei Styx! Das sollst du bereuen. Wenn du nach Hause kommst, wird deine eigene Mutter dich nicht wiedererkennen. Beeile dich, lege die Riemen an!«
Er warf dem Matrosen zwei Bunde Faustkampfriemen hin, die er als Ersatz bei sich trug. Der Mann, den seine Kameraden heftig ermunterten, stieß sie jedoch mit dem Fuß weg.
»Nicht nötig. Ich erledige dich auch so.«
Er war ein untersetzter Bursche mit breiten Schultern und muskelbepackten Armen und Beinen, aber etwas einfältigen Zügen. Der Beifall der anderen, den er wohl sonst entbehren musste, machte ihn tollkühn.
Drakonides zögerte nicht, riss mit den Zähnen die Knoten an seinen Handgelenken auf und streifte die Riemen ab.
Die Nachricht, dass es einen Kampf geben würde, hüpfte von Ruderbank zu Ruderbank bis ans Heck. An die zwanzig Männer erhoben sich und schlenderten herbei. Sogar aus dem Innern des Schiffsraums kamen einige herauf. Der Keleustes, der die Ruderer kommandierte, trieb sie zurück, damit das Schiff nicht zu einseitig belastet wurde, und sie lagerten sich in einiger Entfernung.
Auch Dikon wurde aufmerksam. Er ließ seine beiden Athleten stehen und eilte herbei.
»Was machst du da, Drakonides?«
»Ich bereite mich vor. Auf einen Übungskampf.«
»Ohne Riemen? Bist du verrückt? Du wirst dir die Knöchel verletzen. Die Handgelenke verstauchen.«
»Ja, wenn der Bursche aus Eisen wäre.«
»Er will uns beweisen, dass er ein Heros ist«, sagte Pherenikos lachend zu Dikon. »Ratschläge sind an den verschwendet.«
Drakonides warf ihm nur einen finsteren Blick zu und dachte: Dir zeig ich’s, Kinäde! Wart’s ab, als Nächster kommst du selber dran. Dir verbläue ich so regelwidrig den Hintern, dass du mit dem nicht mehr locken kannst!
Der Matrose, der wie Drakonides nur einen Lendenschurz trug, kam näher. Er hatte eher den plumpen Körperbau eines Ringers, mit fleischigen Lenden und dicken Schenkeln. Kein Zweifel, dass er dem erfahrenen Faustkämpfer, der überdies einen Kopf größer war, unterlegen sein musste. Aber die Anfeuerungsrufe seiner Kameraden trieben ihn vorwärts, machten ihm Mut.
»Gib es ihm, Lykon!«
»Du bist der Stärkere!«
»Hau ihn platt! Mach aus ihm eine Decksplanke!«
»Das werd ich!«, schrie Lykon. »Passt auf, wie ich es mache. Ihr werdet es gleich sehen.«
Auch der Kapitän schob sich jetzt in den Kreis der dicht gedrängt sitzenden Zuschauer.
Dikon breitete verzweifelt die Arme aus.
Der Einzige, den der Kampf nicht zu interessieren schien, war Ephialtes. Er hatte nun fast die Spitze des Mastes erklommen. Am Himmel über ihm zogen grauschwarze Wolken heran. Noch verdeckten sie aber nicht die Sonne.
Drakonides streckte die Linke mit der geöffneten Handfläche zur Verteidigung vor und begann, auf der Stelle zu tänzeln.
»Na, komm schon, du Hundefloh«, rief er, »greif an!«
Auch Lykon streckte die Linke vor und trat auf ihn zu.
Drakonides wich aus und ging zurück. Der Raum war eng, schon hatte er den Bugmast im Rücken.
Lykon ging mit und schlug einen Haken, der aber ins Leere traf.
Drakonides machte nun eine Vierteldrehung und schwang plötzlich die Rechte heraus nach dem Kinn des Gegners. Lykon warf zwar den Kopf zur Seite, doch wäre der Kampf schon zu Ende gewesen, wenn Drakonides gewollt hätte. Der Matrose hatte auf seinen schweren Füßen die Vierteldrehung nicht mitgemacht und wäre gleich voll getroffen worden.
Aber der Faustkämpfer wollte den Kampf in die Länge ziehen, die Gelegenheit, einen Übungspartner zu haben, nicht so flüchtig vorbeigehen lassen.
So stoppte er kurz vor dem Ziel die Faust und ließ sie sinken.
Ein flüchtiger Blick überzeugte ihn, dass Pherenikos das Manöver durchschaut hatte. Doch das anerkennende Nicken des Schönlings ärgerte ihn und er spie durch eine Zahnlücke aus.
Die Seeleute gingen lebhaft mit, feuerten ihren Kameraden an.
»Vorwärts, Lykon!«
»Nicht nachlassen!«
»Gib es ihm!«
Die Kämpfer drehten sich jetzt im Kreise. Jeder deutete Schläge an, vermied aber Treffer.
Der Matrose, der keine Aussicht hatte, bei dem größeren Gegner einen Schwinger zu landen, versuchte mehrere Haken, streifte jedoch nur den Kopf. Doch da er selbst nichts einstecken musste, wurde er mutiger. Er wuchtete seine Faust auf den entgegengestreckten Arm des Gegners und versuchte mit aller Kraft, ihn herunterzudrücken.
Drakonides hielt stand.
Lykon nahm auch die Linke zu Hilfe, drückte mit dem ganzen Gewicht seines Körpers.
Da ließ Drakonides auf einmal den Arm fallen und sprang zur Seite.
Von der Wucht seines Körpers wurde der Matrose nach vorn geworfen. Er machte drei, vier taumelnde Schritte. Krachend schlug sein Kopf gegen den Mast.
Die Zuschauer schrien auf. Einige lachten. Sie sahen ein, dass Lykon ein Opfer seiner blinden Angriffswut war. Auch der Schiffsführer schlug sich die Schenkel. Nur Dikon blickte noch immer besorgt.
Auf den Turner an der Spitze des Hauptmastes achtete niemand. Unter ihm blähte sich das Segel, über ihm jagten Wolken heran. Doch der Wind schien ihn nicht zu stören. Er schickte sich an, einen Handstand zu machen.
Lykon rieb sich die schmerzende Stirn. Wütend starrte er Drakonides an, der wieder die Linke hochnahm und ihn mit spöttischem Grinsen lockte.
Der Matrose stürmte los, mit erhobenen Fäusten. Drakonides wollte abermals ausweichen, doch da spürte er plötzlich, wie der Boden unter ihm wegglitt. Er fiel hart auf die Planken und rutschte ein Stück zur Seite.
Bei dem stärker werdenden Wellengang hatte das Schiff zu schwanken begonnen. Doch das schien niemand zu bemerken. Die unerwartete Wendung des Kampfes nahm aller Aufmerksamkeit gefangen. Die Zuschauer interessierte jetzt nur, wie sich der Athlet aus seiner bedrohlichen Lage befreien würde.
»Jetzt hast du ihn, Lykon!«
»Los, weiter!«
»Die Rechte zum Kopf!«, schrie Pherenikos dem Faustkämpfer zu. »Links stütze dich auf!«
Schon war Lykon bei Drakonides und schlug auf ihn ein. Der folgte fast unbewusst der Weisung, schützte den Kopf mit der offenen Rechten und versuchte, sich mit der Linken aufzustützen. Es gelang nicht, er musste weitere Hiebe abwehren.
Die Seeleute waren jetzt wieder ganz auf der Seite ihres Mannes. Ihr Geschrei übertönte das Brausen des Windes und das Rauschen des Wassers.
Da rollte sich Drakonides herum und sprang auf. Ein durch die Bewegung des Schiffes verzogener Schwinger streifte nur den Kopf des Matrosen, der dennoch wie gefällt auf den Rücken fiel.
Einige Seeleute eilten hinzu und wollten, ohne sich um die Wettkampfregeln zu kümmern, dem Gestürzten aufhelfen. Der aber machte keine Anstalten, sich zu erheben.
Er blickte nur mit weit aufgerissenen Augen nach oben und stammelte:
»Seht doch mal … dort!«
Auf der Spitze des heftig schwankenden Hauptmastes erhob sich, auf einen gestreckten Arm gestützt, der schlanke Körper des Ephialtes. Der Kopf war dem Schiff zugewandt, die Füße schienen die Wolken zu pflügen.
Es waren graue, düstere Sturmwolken, die das Blau des Mittagshimmels schon fast verdeckten.
»Beim Zeus!«, schrie Dikon. »Er hat den Verstand verloren!«
Die beiden Faustkämpfer waren vergessen. Alle starrten gebannt nach oben.
Als sei er mit dem Mast verwachsen, schwankte der Jüngling vor dem wilden Gewölk hin und her.
»Er bringt sich um!«, rief Pherenikos. »Ihr Götter, helft ihm!«
Dikon stieß ein paar Männer beiseite und eilte mit stolpernden Schritten zum Hauptmast.
»Was willst du denn tun?«, schrie Drakonides ihm nach.
»Ich hol ihn herunter! Allein schafft er es nicht!«
In diesem Augenblick fuhr eine Bö in das Segel und blähte es so heftig, dass der Mast einen Stoß erhielt. Das Holz glitt unter der Hand des jungen Mannes hinweg und der Körper schien in der Luft zu stehen.
Dann fiel er steil herunter.
Doch mitten im Fall, auf halber Höhe des Mastes, krümmte er sich zusammen, drehte sich, streckte sich wieder, schnellte hart jenseits der Bordwand hinab und verschwand im Wellenschaum.
Der heftige Windstoß hatte an Bord beträchtliche Verwirrung angerichtet. Viele, die zu selbstvergessen hinaufgestarrt hatten, wurden umgerissen und kugelten über die Planken.
Aber noch immer schien man sich der Gefahr nicht bewusst zu sein. Die Gedanken waren jetzt auf die Rettung des jungen Athleten gerichtet, der in den drei Tagen zum Liebling aller geworden war.
»Ein Tau!«, schrie der Kapitän. »Werft ihm ein Tau zu!«
Der Jüngling tauchte auf und eine Woge trug ihn heran und schleuderte ihn fast auf das Deck.
Doch bevor er das Tau zu packen bekam, riss sie ihn fort, weit hinaus. Er verschwand und kam erst nach einer Weile wieder zum Vorschein. Aber nur noch für einen Augenblick.
»Unglücklicher!«, jammerte Dikon. »Zu sehr hast du das Schicksal herausgefordert!«
Wieder ergriff eine Sturmböe das Schiff. Eine mächtige Woge riss Dikon herum, spülte ihn über das Deck und warf ihn gegen eine Ruderbank. Mit ächzenden Spanten legte das Schiff sich auf die Seite.
Es war inzwischen fast dunkel geworden. Erst jetzt begriffen die Seeleute, dass sie von einem Unwetter überrascht worden waren. Als sie arglos dem Faustkampf zusahen und die akrobatische Glanzleistung bestaunten, hatte es sich wie ein tückisches Raubtier herangeschlichen. Nun fiel es brüllend und mit zerstörerischer Gewalt über sie her.
Es war zu spät, das Segel einzuziehen und den Hauptmast niederzulegen. Vergebens schrie der Kapitän seine Befehle, das Sturmgeheul übertönte seine Stimme. Jeder suchte nur seine Haut zu retten und auf dem schlingernden Deck einen Halt zu finden. An der rechten Bordwand splitterte krachend eines der Steuerruder. So war die Triëre den Elementen fast hilflos ausgeliefert. Mit geblähtem Segel trieb sie dahin.
Drakonides hatte sich auf eine Ruderbank geworfen. Er klammerte sich an den Scharten fest, die für die Riemen bestimmt waren. Nicht weit von ihm kauerte der Matrose, der mit ihm gekämpft hatte, an der Bordwand. Flehend hob er die Hände und betete laut. Eine Sturzwelle stieß wie ein Habicht auf ihn herab, packte ihn, riss ihn über Bord.
Der Sturm griff jetzt von der anderen Seite zu und schob die Triëre in östliche Richtung. Wenn sie aus einem Wellental in die Höhe getragen wurde, sahen die Männer mit Schrecken die schwarzen Umrisse des Eilands, auf das sie zutrieben. Das mussten die felsigen Küsten von Keos oder Andros sein.
Mit ohrenbetäubendem Krachen riss das Segel. Gleich darauf knickte der Hauptmast ein und stürzte auf das Achterdeck. Auf der Stelle erschlug er mehrere Männer.
Aus dem Dunkel der Woge, die die Getroffenen über Bord spülte, leuchtete flüchtig der weiße Haarkranz des Dikon.
»An die Riemen!«, schrie der Keleustes.
Die Männer ahnten den Befehl mehr als sie ihn hörten. Sie wussten, was zu tun war. Alle stürzten zu den Ruderbänken und fassten die Riemen.
Es war ein Glück, dass das Segel, mit dessen Hilfe der Sturm sie hätte ungehemmt forttragen können, gerissen war. Jetzt gab es Hoffnung, das Schiff unter Kontrolle zu bringen. Aber man musste aus dem Gefahrenbereich der Felsen und Klippen gelangen.
Der Trieraules, der Flötenspieler, klammerte sich mit einem Arm an den Maststumpf. Mit der freien Hand hielt er die Flöte, auf der er schrille, rhythmische Töne hervorstieß.
Die Männer begannen, nach Leibeskräften im Takt zu rudern. Auch Drakonides hatte einen Riemen ergriffen. Schaumspritzer trafen ihn in die Augen und machten ihn fast blind. Doch sein muskelbepackter Körper spannte sich und seine Arme zogen die langen Hölzer kraftvoll durch die Fluten.
In der Nähe, am Bugmast, hing noch der Korykos, schwang hin und her.
Die Triere stach durch die Wellengebirge. Auf jeder Seite schnitten Reihen langer Riemen die Flut. Die dunkle Masse des Eilands kam näher.
Auf die Ruderbank vor dem Faustkämpfer war Pherenikos geschleudert worden. Sein Petasos zerrte an den Bändern, mit denen er unter dem Kinn befestigt war, riss sich los, flog davon, tanzte weit hinten auf den Wellen.
Drakonides sah mit vom Schaum verschleierten Blicken den bloßen Rücken, an dem nur noch Fetzen des kostbaren Mantels hingen. Im Nacken klebten die schwarzen Löckchen.
Weit beugte sich Pherenikos beim Rudern vor und zurück, zog den Riemen durch.
Der Kerl hat ja Schneid, dachte Drakonides flüchtig. Das hätte ich ihm nicht zugetraut …
Plötzlich ein Krachen, Knirschen und Splittern. Die Triere streifte ein Felsenriff. Eine Reihe der Ruder wurde abgemäht. Holz wirbelte hoch in die Luft. Nun gab es keine Hoffnung mehr, das Schiff mit menschlicher Kraft zu retten. Es torkelte durch das Gebirge der Wellen, aus dem beutelüstern die schwarzen Klippen hervorstachen. Nur tollkühne Schwimmer hatten jetzt noch geringe Aussicht, das Land zu erreichen.
Drakonides sprang auf und warf sich über Bord in den Rachen der nächsten Woge. Mit ihren spitzen Schaumzähnen packte sie ihn und verschlang ihn gierig. Einige Seeleute folgten ihm.
Als der Faustkämpfer auftauchte, sah er, wie einer der Männer vom Wasser emporgehoben und gegen die Schiffswand geworfen wurde. Er bekam den Körper, der abprallte, zu packen. Über ihnen begann es Balken und Planken zu regnen. Das Schiff war auf einer Klippe zerborsten.
Drakonides spürte einen scharfen Schmerz, eines der hölzernen Geschosse hatte ihn getroffen. Aufbrüllend ließ er den Körper los, der in ein Wellental hinabfuhr. Bevor über ihm das Wasser zusammenschlug, erkannte Drakonides noch das entsetzte Gesicht.
Es war Pherenikos.
Das Land war jetzt nahe. Es zog die turmhohen Wogen an, die die Schiffbrüchigen mit sich fortrissen.
Drakonides spürte körnigen Grund. Er versuchte, sich aufzurichten und auf die Füße zu kommen. Aber die Gegenströmung packte ihn, wirbelte ihn herum. Spitze Steine schlugen ihm ins Gesicht, sein Mund füllte sich mit Sand, er war dem Ersticken nahe. Mit dem Rest seiner Kräfte suchte er sich aus dem Sog zu befreien und an die Oberfläche zu kommen.
Es gelang ihm und eine Welle trug ihn jetzt weit mit sich fort und warf ihn ans Ufer. Er kroch ein Stück weiter. Die nächste Welle sprühte noch ihren Schaumregen über ihn hin. Die übernächste leckte seine Füße.
Drakonides wälzte sich auf den Rücken, dehnte den mächtigen Brustkorb und stieß einen rauen, tierhaften Schrei aus.
Gerettet!
Als Drakonides erwachte, fand er sich in einer schmalen Grotte, deren Eingang den Blick auf das Meer freigab. Es war heller Tag. Friedliche weiße Wolken zogen am Himmel. Das eintönige Rauschen der Wellen war zu hören, die in der Nähe den Strand bespülten.
Er richtete sich auf und wollte wie immer beim Erwachen ein paar Geraden und Haken in die Luft schlagen. Aber ein zuckender Schmerz in der linken Schulter ließ ihn das Vorhaben aufgeben. Er starrte auf das geronnene Blut und erst allmählich begriff er, was geschehen und wie er an diesen Ort gekommen war.
Nachdem ihn die Wellen ans Ufer geworfen hatten, war er ein Stück den Strand hinauf gekrochen, um nicht zurückgerissen zu werden. Und später hatte er Schutz vor den Regenfluten gesucht und sich in diese Grotte geflüchtet.
Er war nackt. Der Lendenschurz, den er an Bord des Schiffes getragen hatte, war fortgerissen und verloren. Sein Körper war über und über mit Algen bedeckt.
Ächzend stand er auf und trat gebückt aus der Grotte.
Er blickte um sich und sah, dass er sich in einer Bucht befand, deren steiniger Strand zu spärlich bewaldeten Hügeln anstieg. Weit draußen im Meer ragten die Klippen, an denen das Schiff zerschellt war. Ringsum waren die Spuren des Unwetters zu sehen. Ein paar Bäume waren geknickt, unzählige Meerestiere ans Ufer geschleudert.
Drakonides stieg zum Wasser hinab. Er fand ein paar angeschwemmte Bretter und ein Stück vom Rahbalken, an dem noch ein Tauende und ein paar Leinwandfetzen hingen. Das waren die Reste des stolzen attischen Schiffes.
In diesem Augenblick verließ Drakonides die Hoffnung, er könnte noch etwas von seiner Habe wiederbekommen. Sein Festgewand, seine Faustkampfriemen, sein Geld, sein Empfehlungsschreiben – alles war verloren. Nackt und mittellos, wie er war, musste er eine menschliche Siedlung suchen und dort um Hilfe bitten. Vielleicht gelang es ihm dann, im nächsten Hafen ein Schiff zu finden, mit dem er die Reise fortsetzen konnte.
Allerdings war es unwahrscheinlich, dass er Elis noch pünktlich erreichen würde. Aber so weit mochte er jetzt nicht denken. Seine Lage war alles andere als rosig und dennoch überkam ihn plötzlich ein heißes Gefühl der Freude. Er war am Leben geblieben.
Er streckte die Arme aus, sog in tiefen Zügen die Luft ein und begann, mit heiserer Stimme ein Lied zu singen, irgendeines, das ihm gerade in den Sinn kam.
»Herz, mein Herz, vom Brandungsgischt heillosen Kummers überspült, tauch empor …«
Lange schweifte sein Blick über das Meer und den Strand.
Er erinnerte sich an den Faustkampf mit dem Matrosen, der ohne Sieger geblieben war. Sein Gegner lag jetzt wohl auf dem Meeresgrund. Aber was war aus seinen Freunden geworden? Dikon war tot, ohne Zweifel. Die anderen aber …
Er dachte auch an Pherenikos, diesen nicht mehr ganz jungen, vornehmen, eigenartigen Mann, der ihn mit Reden und Blicken herausgefordert hatte. Drakonides hatte ihn retten wollen und es wäre ihm vielleicht auch gelungen, wenn ihn nicht die Planke getroffen und das Meer ihm die Beute noch entrissen hätte. Nur eine vage Erinnerung hatte er an den winzigen Augenblick, als im Wasser der nackte Körper des Pherenikos gegen den seinen gepresst war. Fast schien es ihm, als hätte er da so etwas wie Lust empfunden. Aber das mochte nur eine Sinnestäuschung in Todesgefahr gewesen sein. Vielleicht war Pherenikos dabei auch schon nicht mehr am Leben, er war ja vorher gegen die Schiffswand geprallt. Was hätte Drakonides noch für ihn tun können? Die Moiren, die das Schicksal bestimmten, hatten nun einmal beschlossen, den Lebensfaden dieses Menschen abzuschneiden.
Aber es musste Überlebende geben. Vielleicht jenseits der Bucht, dachte Drakonides. Er beschloss, sich auf die Suche zu machen. Leichter und sicherer würde es sein, sich auf diesem fremden Eiland durchzuschlagen, wenn man in Gesellschaft war. Ein Mann allein und waffenlos konnte, auch wenn er stark und beherzt war, leicht in eine gefährliche Lage geraten. Überall auf den Inseln ringsum gab es Seeräubernester. Ein Umherirrender war schnell eingefangen und in Fesseln geschlagen, um später auf einem der Sklavenmärkte verkauft zu werden.
Wieder spürte er den Schmerz in der Schulter. Die Wunde war handbreit und tief ins Fleisch gerissen, aber sie war nicht gefährlich. Mit seinen harten, geübten Fingern tastend, stellte Drakonides fest, dass der Knochen unverletzt war. In acht bis zehn Tagen würde alles verheilt sein und er würde wieder seine Übungen aufnehmen können. Aber der Kranz vom heiligen Ölbaum war wohl verloren, unerreichbar auch diesmal.
Er machte sich von den Resten des Segels einen Schurz und befestigte ihn mit einem Strick, den er aus dem Tauende herausgelöst hatte. Das Stück Rahe war gerade so dick und so lang, dass es in der Hand des Faustkämpfers einen tüchtigen Knüppel hergab.
So ausgerüstet, machte sich Drakonides auf den Weg. Er ging in die Richtung, wo er nach der Lage der Klippen am ehesten Aussicht hatte, auf Überlebende zu stoßen.
Er hatte kaum zwei Stadien zurückgelegt, als er in einer Erdmulde einen Toten entdeckte. Das Gesicht war dem steinigen Boden zugewandt, der schmale Körper über und über mit grünlichem Schlamm bedeckt. Als Drakonides ihn umdrehte, erkannte er einen jungen Rudersklaven.
Lange betrachtete er die im Schrecken erstarrten Züge. Es war nur ein Unfreier, doch ihn so liegenzulassen, brachte Drakonides nicht fertig. Er kratzte mit den Händen noch etwas Sand aus der Grube, damit sie tiefer wurde, und warf ihn dann auf den Toten. Schließlich errichtete er einen kleinen Hügel aus Steinen.
»Ein Totenopfer kann ich dir leider nicht bringen«, murmelte er.
Es bedrückte ihn, dass er auch nicht die kleinste Münze besaß. So musste er diesen Armen begraben, ohne ihm Geld für Charon zu geben, den Fährmann der Unterwelt, der ihn über den Acheron bringen musste.
Vielleicht macht er es für ihn umsonst, dachte Drakonides, er wird wohl nicht der Einzige sein, der keinen Obolus im Munde hat, wenn er dort ankommt.
Nach weiteren vier Stadien erreichte der Faustkämpfer das Ende der Bucht. Sie lief in eine schmale Landzunge aus, hinter der sich eine zweite, kleinere Bucht auftat. Ein Fischerboot lag am Strand und eine einfache, schilfgedeckte Lehmhütte lehnte sich an einen Felsen.
Vor ihr hockte ein weißbärtiger Alter, mit dem Flicken eines Fangnetzes beschäftigt. Die Arbeit ruhte in seinen Händen. Misstrauisch und ängstlich blickte er dem riesenhaften, knüppelbewehrten Fremden entgegen, der vom Strand her auf ihn zukam.
Ein struppiger Knabe, acht, neun Jahre alt, der in der Nähe am Wasser gespielt hatte, lief von der anderen Seite herbei.
»Chaire, Großvater!«, sagte Drakonides.
»Chaire, Fremder.«
»Wo bin ich hier?«
»Auf Andros, in der Nähe von Gaurion. Du bist wohl von dem Schiff, das in die Klippen geraten ist? Jaja … das war ein Unwetter. So etwas erlebt man nur einmal im Jahr.«
»Hast du noch einen gesehen, der sich retten konnte?«
»Es war ja so finster und der Wind kam von Westen. Wer schwimmen musste, wurde in die andere Richtung getrieben. Aber du bist ja verletzt …«
»Nicht der Rede wert. Kannst du mich aufnehmen? Kurze Zeit nur, ich werde dir nicht viel Mühe machen. Bin Faustkämpfer. Will nach Elis und dann nach Olympia.«
»Götter!«, rief der Alte und sprang freudig auf. »Was für eine Ehre für mich und mein ärmliches Haus! In Olympia war ich noch nie und ich habe noch keinen gesehen, der dort um den Kranz kämpfen wollte. Poseidons Zorn, der dich stranden ließ, hat mir also Gutes gebracht. Komm, Myrrhinos«, sagte er zu dem Jungen indem er ins Haus eilte, »holen wir Fladen und Fisch herbei. Bewirten wir unseren Gast und richten wir ihm ein Lager!«
Drakonides musste sich beim Eintritt in die niedrige Hütte tief bücken. Auf einen Wink des Fischers brachte der Junge einen Krug Wasser. Der Gestrandete trank gierig. Dann verschlang er einige Fladen und Fische.
Der Alte, er hieß Battos, bemühte sich eifrig um den Gast, dessen Schicksal ihn neugierig machte. Er füllte auch einen Becher mit Wein, goss Wasser hinzu und begann ein Gespräch mit Drakonides, der währenddessen die Wunde säuberte.
Der Junge hielt sich respektvoll abseits, ließ aber keinen Blick von dem Fremden.
Drakonides rief ihn schließlich heran. »Du … komm her! Na komm schon, ich tu dir nichts.«
Zögernd näherte sich der Junge.
»Kennst du das Wollkraut?«
Der Junge nickte.
»Auch Felsenpfeffer? Und Brunnenkresse … kennst du das auch?«
Jedes Mal bejahrte der Junge.
»Myrrhinos kennt alle Pflanzen und Tiere«, sagte der Alte. »Er ist klug und weiß sehr viel für sein Alter.«
»Hol mir das alles«, befahl Drakonides und fügte, an Battos gewandt, hinzu: »Sonst hab ich das bei mir … für alle Fälle. Wenn du vielleicht etwas Honig hättest … Ich könnte mir eine Salbe kochen.«
Der Junge entfernte sich mit dem Korb.
»Bringe auch etwas Rinde vom wilden Feigenbaum!«, rief Drakonides ihm nach. Er nahm den Krug und goss nochmals Wasser auf die bereits gereinigte Wunde.
»Wenn du dich auf sowas verstehst … dann bist du wohl oft im Krieg?«, fragte der alte Fischer.
»Das war ich, Großvater«, erwiderte Drakonides. »Früher, als ich ein junger Raufbold und Schlagetot war. Da bin ich als Söldner umhergezogen. Unter Iphikrates. Hast du von dem mal gehört?«
Der Alte verneinte.
»Das war in Athen«, sagte Drakonides nachdenklich. »Ist lange her.«
»Und jetzt bist du also Faustkämpfer.«
»Ja. Und wenn ich nicht bald von hier fortkomme, dann wird es nichts … wird es nichts mit dem Olympiasieg.«
»Da müsstest du es wohl in vier Jahren noch einmal versuchen.«
»In vier Jahren?« Drakonides stieß ein bitteres Lachen aus. »In vier Jahren ist es zu spät.«
Dann aber hob sich seine Stimmung wieder. Er erfuhr, dass die kleine Hafenstadt Gaurion nur vierzig Stadien entfernt war. Wenn die Wunde, wie er hoffte, in ein paar Tagen verheilt sein würde, hätte er wohl Aussicht, dort ein Schiff zu finden, das die Reise nach Korinth in zwei Tagen schaffen würde. Vielleicht war es also doch noch möglich, zur rechten Zeit nach Elis zu kommen.
Drakonides bat seinen Gastgeber um ein paar Weihrauchkörner. Er trat draußen an den aus Feldsteinen errichteten Hausaltar und opferte Zeus. Lange stand er vor der dünnen Rauchsäule, die Arme erhoben, die Handflächen nach oben geöffnet. Dabei sprach er zu dem höchsten der Götter und dankte ihm für die glückliche Rettung.
Der Junge kam fröhlich und mit gefülltem Korb die Uferböschung herab. Er hatte alle gewünschten Kräuter gefunden.
Drakonides war so weit in der Heilkunst bewandert, dass er Verletzungen, die ihm in Kämpfen zugefügt wurden – und das kam jedes Mal vor – gewöhnlich selber behandeln konnte. Unter Zusatz von Weihrauch und etwas Honig gewann er aus den Kräutern einen Sud, mit dem er die Wunde bestrich. Er war sicher, sie würde in kurzer Zeit heilen.
Später trat er noch einmal ans Meeresufer und blickte nach den Klippen hinüber. Er dachte wieder an seine Gefährten und machte sich auf, um nach ihnen zu suchen. Lange wanderte er am Strand entlang, doch erst jenseits der großen Bucht fand er wieder Wrackteile. Dann entdeckte er kurz hintereinander drei tote Seeleute. Auch sie begrub er an Ort und Stelle. Alle anderen mussten ins Meer hinausgetrieben sein.
Drakonides stieß noch eine Zeitlang Rufe aus, doch als er keine Antwort erhielt, brach er die Suche ab und kehrte zurück in die Hütte.
Am Abend bekam er Fieber. Er streckte sich auf einer Matte aus, um zu schlafen. Aber nach einer Weile begann er zu stöhnen und seine Zähne schlugen aufeinander.
Neben ihm hockte der Knabe Myrrhinos mit dem Wasserkrug und blickte bestürzt auf den gewaltigen Mann, der sich halb ohnmächtig hin und her wälzte und immer wieder zu trinken verlangte. Battos stand neben dem Lager und seine Miene war sehr bekümmert.
»Wird er sterben, Großvater?«, fragte der Knabe leise.
»Wer kann das wissen?«, sagte der Alte. »Poseidon hat so viele Opfer bekommen. Aber er ist wohl unersättlich …«
Drakonides träumte von seinem Lieblingshelden, dem großen Dulder Odysseus.
Odysseus sitzt auf der Insel Ogygia und grämt sich, weil ihm Kalypso, die schöne Nymphe, die Weiterreise verwehrt. Hingestreckt auf einen flachen Felsen, blickt er düster auf das Meer. Er fühlt sich einsam und ist voller Schwermut. Sehnsüchtig blickt er hinüber zum Horizont, wo weit in der Ferne ein Streifen des Festlands zu sehen ist. Seine Augen füllen sich langsam mit Tränen, die in seinen Bart tropfen. Die Linie des Horizonts verschwimmt, löst sich auf. Ein Tränenschleier scheint sich herabzusenken.
Dabei liegt das Floß schon im Hafen, schaukelt einladend auf den Wellen. Der Wind bläht das gelbe Segel und in der Luft ist ein Brausen, das wie der Gesang eines himmlischen Chors klingt.
Ein schönes Weib von riesenhaftem Wuchs, bekleidet mit einem kunstvoll gewirkten Peplos, steht am Ufer. Ist das nicht die Nymphe Kalypso selbst? Sie wacht darüber, dass Wein und Wasser und Speisen und Zukost an Bord gebracht werden. In ihrer beringten Hand hält sie den Griffel, mit dem sie alles auf einer Wachstafel aufzeichnet.
Da nähert sich der Gestrandete. Er ist von starkem Körperbau, aber fast nackt. Er küsst Kalypso zum Abschied. Hoffnungsvoll will er das Floß besteigen.
Doch im letzten Augenblick stößt ihn das mächtige Weib ans Ufer zurück. Unter dem schrillen Gelächter ihrer Mädchen sticht die Nymphe sogar mit dem ehernen Griffel, der einer Lanze gleicht, auf Odysseus ein. Sie reißt ihm die Schulter auf. Blut schießt hervor.
Der große Mann taumelt und stürzt zu Boden. Er hebt die Augen zum Himmel, voller Sehnsucht und Hoffnung.
Plötzlich erscheint dort ein rosa Wölkchen. Es schwebt langsam herab, es landet am Meeresufer. Eine anmutige Gestalt entsteigt ihm. Geflügelter Hut, geflügelte Sohlen, ein Heroldsstab, um den sich züngelnde Schlangen winden.
Hermes, der Götterbote!
Leichtfüßig kommt er näher und macht der sich abwendenden Kalypso heftige Vorwürfe. Aus seinem Reisesack holt er eine Schriftrolle, sie enthält eine Botschaft des Zeus.
»Halte Odysseus nicht länger fest, Kalypso, denn es ist im göttlichen Rat beschlossen, dass er über das Meer reise, nach seinem fernen Ziel. Leiden und Prüfungen werden ihm auferlegt. Tapfer wird er sich bewähren müssen. Aber das ist das Schicksal, das ihm die Götter bestimmt haben. Was du auch tust, er wird ihm doch nicht entrinnen!«
Die schöne Nymphe steht immer noch starr und abgewandt, mit ungebrochenem Stolz. Sie will den Geliebten nicht hergeben, auch nicht auf allerhöchsten Befehl.
Da berührt sie der ungeduldige Gott mit dem Heroldsstab und schon zerfällt sie wie ein Bildwerk aus Marmor unter Hammerschlägen.
Die Arme fallen herunter, die Schulter bricht ab, der Kopf spaltet sich in zwei Hälften. Übrig bleibt nur ein Haufen behauener Steine. Obenauf liegt die riesige Hand, die den Griffel umkrampft.
Wieder ist das Brausen des Chors zu hören. Hermes dreht sich um und kommt näher. Seine Schritte sind leise, er beugt sich herab. Seltsam, seine Züge sind nicht von dem schönen Ebenmaß, wie die Künstler sie darstellen. Er ist auch nicht mehr der anmutige junge Mann, der er vorher war. Das Gesicht des Gottes ist klein und spitz und von einem weißen Bart umrahmt. Es ist ein gütiges, altes Gesicht. Jetzt ist es ganz nahe …
Drakonides riss die Augen auf, starrte in das Gesicht, das eben noch einem Gott gehört hatte, und stieß hervor: »Wer bist du, Alter?«
»Erkennst du mich nicht? Den Göttern sei Dank. Du hast es geschafft, du wirst leben!«
»Woher kommst du? Vom Olymp?«
»Was sollte ich auf dem Olymp?«, erwiderte Battos kichernd. »Die Götterversammlung würde sich freuen, wenn ein einfacher Fischer da mitreden wollte.«
»Ich hab geträumt … von Odysseus und … Aber sag mir, wie lange …?«
»Wie lange du hier gelegen hast? Neun Tage und Nächte.«
»Wie? Sprichst du die Wahrheit?«
Neun Tage und Nächte hatte er sich im Fieber gewälzt, gestöhnt, wirres Zeug geredet, manchmal sogar wie ein Stier gebrüllt und um sich geschlagen. Das war nun überstanden. Der Alte, der blass und müde war, hatte ihn gepflegt. Drakonides würde nun aufstehen und seine Reise fortsetzen können.
Später saß er vor der Hütte in der Sonne. Er steckte die Nase in den Wind, der sanft vom Meer herüberkam, und sog gierig die Luft ein. Von Augenblick zu Augenblick spürte er, wie Kraft und Festigkeit in seinen Körper zurückkehrten.
Auch die Schulterwunde war gut verheilt. Myrrhinos hatte sich das Rezept gemerkt und mehrmals neue Salbe gekocht, die er sorgsam auf die Wunde gestrichen hatte. Der Junge sah ebenfalls übernächtigt aus und war sichtlich abgemagert. Battos hatte nicht gewagt, vom Lager des Kranken zu weichen und so war er in diesen Tagen kein einziges Mal zum Fischen hinausgefahren. Sie hatten gewacht und von ihren kargen Vorräten gezehrt. Aber es hatte sich gelohnt.
Am nächsten Tag ging Drakonides hinunter zum Wasser. Bei Windstille und ruhiger See schwamm er von einem Ende der kleinen Bucht zum anderen.
Seine Genesung machte nun rasche Fortschritte. Manchmal empfand er noch Kopfschmerz und Schwindel, aber das waren nur die letzten Bosheiten der Krankheit, die den Körper verlassen musste.
Allerdings schlief Drakonides nicht gut. Er dachte viel nach, wurde von Zweifeln geplagt. Er träumte auch oft und immer wieder erschien ihm Hermes.
Wollte ihn der Gott der Palaistra, der Beschützer der Athleten und des gymnischen Agons, an seine Pflicht erinnern?
Einmal fuhr Drakonides mit Battos hinaus, um zu fischen. Nachdem sie einen mageren Fang gemacht hatten, überredete er den Fischer, in die Nähe der Klippen zu rudern. Als Battos sich schließlich weigerte, mit dem Boot weiter vorzudringen, sprang Drakonides ins Wasser und schwamm hinüber.
Zunächst fand er nichts als ein paar Reste von Leinwand, die an den Steinen klebten. Dann aber, nach mehreren Tauchversuchen, entdeckte er, etwa acht Fuß unter Wasser eingeklemmt, ein Stück vom Bugmast mit dem kleinen Rahsegel und daran hängend – zu seiner großen Überraschung – den Korykos, den er dort festgemacht hatte.
Er brachte ihn an die Oberfläche und ins Boot. An das Ufer zurückgekehrt, entleerte er seine faulig gewordene, stinkende Füllung aus Gerstenschrot, Gras und Feigensamen. Er ließ die leere Hülle in der Sonne trocknen und stopfte dann Sand hinein, um den Sack besonders hart zu machen. Schließlich suchte er einen geeigneten Baum, hängte den Korykos an einen Ast und begann zu üben.
Erstaunt, beinahe ehrfurchtsvoll sah Battos ihm zu. Myrrhinos sprang wie ein junger Hund um den Faustkämpfer herum, wobei er die Schlagbewegungen nachahmte. Aber der Alte rügte ihn streng. Der Junge wich ein wenig zurück, ließ jedoch kein Auge von dem Athleten. Das neue Spiel entzückte ihn.