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www.piper.de
ISBN 978-3-492-96920-8
November 2016
© 1982 The University of Chicago
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Lectures on Kant's Political Philosophie«, The University of Chicago Press, Chicago/Illinois, 1982
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 1985
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: Library of Congress/Corbis
Datenkonvertierung: abavo GmbH
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Hannah Arendt lebte nicht lang genug, um »Judging« (Das Urteilen), den dritten und abschließenden Teil ihres Werkes The Life of the Mind (Vom Leben des Geistes), zu schreiben. Für diejenigen freilich, die sich mit ihrem Denken eingehend befaßt haben, gibt es allen Grund zu glauben, daß »Judging« ihre Lebensleistung gekrönt hätte. Deshalb sind die wesentlichen Texte von Arendt, die zu diesem wichtigen Thema existieren, im vorliegenden Buch zusammengestellt worden. Natürlich können sie das ungeschrieben gebliebene Werk nicht ersetzen. Ich denke jedoch, daß sie, besonders wenn im Kontext des Gesamtwerkes betrachtet, die Richtung, welche Hannah Arendts Denken auf diesem Gebiet wahrscheinlich genommen hätte, anzeigen können. Zusätzlich hoffe ich in meiner interpretierenden Abhandlung aufzuweisen, daß durchaus etwas Zusammenhängendes aus diesen Texten herausgelesen werden kann, und ich möchte dazu beitragen, dem Leser ein Gefühl für ihre Bedeutung zu vermitteln. Dies und nicht mehr ist der Anspruch meiner spekulativen Rekonstruktion.
Der erste Text ist das Postscriptum, das Hannah Arendt dem Band Das Denken in ihrem Werk Vom Leben des Geistes angefügt hat. Hier kündigt sie an, daß »Das Wollen« und »Das Urteilen« die in Aussicht genommenen weiteren Hauptthemen sein werden. Das Postscriptum leitet also über zum zweiten Band unter dem Titel Das Wollen. Es kann darüber hinaus als Vorrede zu »Das Urteilen« gelesen werden, da es auch einen Abriß dieser geplanten Arbeit gibt, die grundlegenden Themen nennt und das Gesamtanliegen andeutet.
Bei der Vorlesung Über Kants Politische Philosophie, die den Kern des vorliegenden Buches bildet, handelt es sich um eine Darstellung von Kants ästhetischen und politischen Schriften, die zeigen soll, daß die Kritik der Urteilskraft die Umrisse einer großen und wichtigen Politischen Philosophie enthält – einer Philosophie, die Kant zwar selbst nicht explizit entwickelte (und derer er sich vielleicht nicht einmal voll bewußt war), die jedoch trotzdem sein bedeutendstes Vermächtnis an die politischen Philosophen darstellen mag. Hannah Arendt hielt diese Kant-Vorlesung im Herbstsemester 1970 an der New School for Social Research in New York. Eine frühere Fassung hatte sie 1964 an der Universität von Chicago vorgetragen, und Material zum Thema »Urteilen« läßt sich den Vorlesungen über die Moralphilosophie, die sie 1965 und 1966 an der Chicagoer Universität und der New School hielt, entnehmen. Für das Frühjahrssemester 1976 hatte Arendt an der New School wieder eine Vorlesung über die Kritik der Urteilskraft angekündigt. Doch dazu ist es nicht mehr gekommen; sie starb im Dezember 1975.
Die Aufzeichnungen zum Thema Die Einbildungskraft stammen aus einem Seminar über die Kritik der Urteilskraft, das Arendt 1970 an der New School for Social Research im gleichen Semester wie die Kant-Vorlesung gab. (Üblicherweise veranstaltete sie parallel zu den Vorlesungen Seminare über verwandte Themen, um bestimmte Ideen vertiefen zu können.) Die hier veröffentlichten Seminaraufzeichnungen helfen bei der Auslegung der Kant-Vorlesung. Sie zeigen, daß der Begriff der exemplarischen Gültigkeit, der in Kants dritter Kritik auftaucht, und die Lehre vom Schematismus in der ersten Kritik durch die Rolle der Einbildungskraft miteinander verbunden werden; denn diese ist für beide grundlegend, indem sie Schemata für die Erkenntnis ebenso bereitstellt wie Beispiele für das Urteilen.
Mein Ziel ist es, dem Leser eine Auswahl von Texten anzubieten, die vollständig genug ist, um eine ungefähre Vorstellung von Hannah Arendts Reflexionen über das Urteilen zu vermitteln. Andere verfügbare Vorlesungsmaterialien blieben unberücksichtigt, weil ihre Einbeziehung entweder zu Wiederholungen an Stellen, wo Arendts Ansichten sich nicht geändert haben, oder Inkonsistenzen dort, wo sie sich über die früher geäußerten Ansichten hinausentwickelten, geführt hätte. Ich habe allerdings diese Materialien, wenn sie relevant sind, in meinem Kommentar benutzt.
Die in diesen Band aufgenommenen Arbeiten sind in der Hauptsache Niederschriften für Vorlesungen, die niemals für eine Veröffentlichung vorgesehen waren. Bei der Bearbeitung für die posthume Herausgabe sind zwar an Stellen, an denen Satzbau oder Interpunktion grammatisch nicht korrekt oder nicht genügend klar war, Änderungen vorgenommen worden; doch die Substanz blieb unangetastet, und die ursprüngliche Form wurde beibehalten. Die hier veröffentlichten Texte sollten also keinesfalls als abgeschlossene Abhandlungen mißverstanden werden. Der Grund, sie verfügbar zu machen, liegt einfach darin, den Zugang zu Ideen mit signalhafter Bedeutung eröffnen zu wollen – zu Ideen, die Arendt selbst nicht mehr in der Weise entwickeln konnte, wie sie das beabsichtigt hatte.
Arendts Zitierweise in den Vorlesungs- und Seminaraufzeichnungen war oft recht flüchtig und manchmal einfach nicht akkurat. Deshalb habe ich die Anmerkungen bearbeitet und trage dafür die alleinige Verantwortung.
Ich bin Mary McCarthy zu tiefem Dank verpflichtet für ihre ständige Hilfe und unerschöpfliche Güte, ohne die dieser Band nicht möglich gewesen wäre. Ich danke ferner den Mitarbeitern der Handschriftenabteilung (Manuscript Division) der Library of Congress für die hilfreiche Zusammenarbeit.
Ronald Beiner
Texte von Hannah Arendt
Nachschrift im ersten Band des 1977/78 erschienenen Werkes »The Life of the Mind«[1]
Im zweiten Band dieses Werkes [Vom Leben des Geistes] werde ich mich mit den beiden anderen geistigen Tätigkeiten, dem Wollen und dem Urteilen, beschäftigen. Von den vorangehenden Spekulationen über die Zeit her gesehen [vgl. Kapitel 20 von Das Denken], beziehen sie sich auf Angelegenheiten, die abwesend sind – solche, die entweder noch nicht oder nicht mehr sind. Im Unterschied dagegen zur Denktätigkeit, die sich mit dem Unsichtbaren in der Erfahrung befaßt und immer zum Verallgemeinern neigt, behandeln Wollen und Urteilen das Besondere und stehen insofern der Welt der Erscheinungen sehr viel näher. Wenn wir unseren einfachen Menschenverstand, dem das Vernunftbedürfnis der zweckfreien Suche nach Sinn so sehr zuwiderläuft, günstig stimmen wollen, so ist es verlockend, dieses Bedürfnis nur mit der Behauptung zu rechtfertigen, daß das Denken als Vorbereitung für die Entscheidung darüber, was sein soll, sowie für die Einschätzung dessen, was nicht mehr ist, unentbehrlich ist. Da das Vergangene, wenn vergangen, von unserem Urteil abhängig ist, wäre folglich das Urteil eine bloße Vorbereitung für das Wollen. Das ist unleugbar der – in Grenzen auch legitime – Blickwinkel des Menschen, sofern er ein handelndes Wesen ist.
Doch mit diesem Versuch, die Denktätigkeit gegen den Vorwurf, unpraktisch und nutzlos zu sein, zu verteidigen, stimmt etwas nicht. Die Entscheidung, zu der der Wille gelangt, läßt sich niemals aus den Begehrungsmechanismen oder den Verstandesanstrengungen, die ihr vorausgehen mögen, ableiten. Der Wille ist entweder ein Organ freier Spontaneität, das alle kausalen, es gegebenenfalls bindenden Motivationsketten unterbricht, oder er ist nichts als eine Illusion. Im Hinblick auf das Begehren einerseits und die Vernunft andererseits handelt der Wille »wie ein Staatsstreich«, wie Bergson einmal gesagt hat, und das impliziert natürlich, daß »die freien Handlungen selten« sind. Weiter heißt es bei Bergson, »daß, wenn wir jedesmal dann frei sind, wo wir in uns selbst zurückgehen wollen, es doch nur selten geschieht, daß wir dies wollen«.[1] Mit anderen Worten: Es ist unmöglich, die Tätigkeit des Wollens zu behandeln, ohne das Problem der Freiheit zu berühren.
(Drei Absätze des Originals, die sich auf die Darstellung des Wollens im zweiten Band von Vom Leben des Geistes beziehen, wurden hier weggelassen. – Hrsg.)
Ich werde den zweiten Band mit einer Analyse des Vermögens der Urteilskraft abschließen. Dabei wird die Hauptschwierigkeit darin liegen, daß eigenartigerweise Quellen mit autoritativen Aussagen nur spärlich fließen. Erst mit Kants Kritik der Urteilskraft wurde dieses Vermögen zu einem bedeutenden Thema eines bedeutenden Denkers.
Ich werde zeigen, daß meine Hauptannahme für das Herausstellen der Urteilskraft als einer sich von anderen deutlich unterscheidenden Fähigkeit unseres Geistes darin liegt, daß Urteile weder durch Deduktion noch durch Induktion zustande kommen. Kurz gesagt, mit logischen Operationen – etwa in der Art der folgenden: Alle Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also ist Sokrates sterblich – haben Urteile nichts gemein. Wir werden uns auf die Suche nach dem »stummen Sinn« machen, der – wenn er überhaupt behandelt wurde – stets, selbst bei Kant, als »Geschmack« und daher als der Ästhetik zugehörig gedacht wurde. In praktischen und moralischen Angelegenheiten nannte man ihn »Gewissen«, und das Gewissen urteilte nicht; als die himmlische Stimme entweder Gottes oder der Vernunft sagte es einem, was zu tun, was nicht zu tun und was zu bereuen war. Doch was auch immer die Stimme des Gewissens sein mag, als »stumm« kann sie nicht bezeichnet werden, und ihre Geltung hängt völlig von einer Autorität ab, die sich über und jenseits aller rein menschlichen Gesetze und Regeln befindet.
Bei Kant tritt die Urteilskraft als »ein besonderes Talent« hervor, »welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will«. Die Urteilskraft hat mit Besonderem zu tun. Wenn das denkende, sich im Allgemeinen bewegende Ich aus seiner Zurückgezogenheit heraus- und in die Welt der besonderen Erscheinungen eintritt, erweist es sich, daß der Geist einer neuen »Gabe« bedarf, um mit diesen umzugehen. »Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf«, meint Kant, »ist durch Erlernung sehr wohl, so gar bis zur Gelehrsamkeit, auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdenn auch an … [der Urteilskraft] zu fehlen pflegt, so ist es nichts Ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die, im Gebrauche der Wissenschaft, jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen.«[2] Bei Kant ist es die Vernunft mit ihren »regulativen Ideen«, die der Urteilskraft zu Hilfe kommt. Wenn das Vermögen der Urteilskraft jedoch von anderen Vermögen des Geistes getrennt ist, dann werden wir ihm seinen eigenen modus operandi, seine eigene Vorgehensweise zuschreiben müssen.
Dies ist von einiger Bedeutung für eine ganze Reihe von Problemen, mit denen sich das moderne Denken abzuplagen hat, besonders für das Problem von Theorie und Praxis und für alle Versuche, zu einer halbwegs einleuchtenden Theorie der Ethik zu gelangen. Seit Hegel und Marx sind diese Fragen aus der Perspektive der Geschichte und unter der Annahme, daß es so etwas wie den Fortschritt der menschlichen Rasse gäbe, behandelt worden. Schließlich werden wir vor die einzige Alternative, die es in diesen Fragen gibt, gestellt. Wir können entweder mit Hegel sagen: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht«, und das letzte Urteil dem Erfolg überlassen; oder wir können mit Kant an der Autonomie der geistigen Kräfte des Menschen und ihrer möglichen Unabhängigkeit von den Dingen, wie sie sind und wie sie geworden sind, festhalten.
Nicht zum erstenmal[3] werden wir uns in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der Geschichte zu befassen haben; aber wir mögen in der Lage sein, über dessen älteste Bedeutung nachzudenken. Wie so viele andere Begriffe unserer politischen und philosophischen Sprache ist »Geschichte« griechischen Ursprungs und leitet sich von »historein« her. »Erkunden, um zu erzählen, wie es war« – »legein ta eonta«, heißt es bei Herodot. Doch der Ursprung des Verbs liegt, wenn wir der Reihe nach vorgehen, bei Homer (Ilias, XVIII), wo das Substantiv »histōr« (Historiker gewissermaßen) vorkommt, und dieser Historiker Homers ist der Richter. Ist die Urteilskraft unser Vermögen, das sich mit der Vergangenheit befaßt, so ist der Historiker der Mensch, der sie erkundet und, indem er sie erzählt, über sie zu Gericht sitzt. Wenn das so ist, können wir unsere menschliche Würde von der Pseudogottheit der Neuzeit, Geschichte mit Namen, zurückfordern, gewissermaßen zurückgewinnen. Die Bedeutung der Geschichte leugnen wir dabei nicht, aber wir verweigern ihr das Recht, der letzte Richter zu sein. Der alte Cato – mit dessen Ausspruch ich diese Betrachtungen begann: Nie bin ich weniger allein, als wenn ich für mich allein bin, und nie bin ich tätiger, als wenn ich nichts tue – hat uns einen seltsamen Satz hinterlassen, in dem das politische, im Unternehmen des Zurückforderns enthaltene Prinzip in kluge Worte gefaßt ist. Er sagte: »Victrix causa deis placuit, sed victa Catoni« (die siegreiche Sache gefiel den Göttern, die unterlegene aber gefällt Cato).
[1]Deutsch: Vom Leben des Geistes, 2 Bände, München 1979.
Dreizehnstündige Vorlesung, gehalten an der New School for Social Research, New York, im Herbstsemester 1970
Über Kants Politische Philosophie zu sprechen und sie zu erkunden hat seine Schwierigkeiten. Im Unterschied zu so vielen Philosophen – Platon, Aristoteles, Augustin, Thomas, Spinoza, Hegel und anderen – hat Kant niemals eine Politische Philosophie geschrieben. Die Literatur über Kant hat einen gewaltigen Umfang, doch gibt es sehr wenige Bücher über seine Politische Philosophie und unter ihnen nur eines, das es wert ist, gelesen zu werden: Hans Saners Kants Weg vom Krieg zum Frieden[1]. In Frankreich ist vor kurzem eine Aufsatzsammlung[2] erschienen, die sich Kants Politischer Philosophie widmet. Einige Beiträge darin sind interessant, aber auch hier werden Sie bald merken, daß, soweit es sich um Kant selbst handelt, die Fragestellung ihrerseits als ein am Rande liegendes Thema behandelt wird. Unter allen Büchern, die Kants Philosophie im ganzen darstellen, hat nur das von Jaspers wenigstens ein Viertel seines Umfangs diesem spezifischen Gegenstand gewidmet. (Jaspers, der einzige Schüler, den Kant je besaß – Saner der einzige, den Jaspers je hatte.) Die Abhandlungen, die der Band On History[3] oder der neue Sammelband unter dem Titel Kant’s Political Writings[4] enthalten, sind in Qualität und Tiefe nicht mit den anderen Werken Kants zu vergleichen. Auch stellen sie sicherlich nicht eine »vierte Kritik« dar, wie ein Autor[5] meinte, der für sie diesen Rang beanspruchte, weil sie zufälligerweise sein Thema waren. Kant selbst hat einige dieser Abhandlungen ein Spiel mit Ideen oder »eine bloße Lustreise« genannt.[6] Und der ironische Ton in Zum ewigen Frieden, der bei weitem bedeutendsten Schrift unter ihnen, zeigt deutlich, daß Kant selbst sie nicht zu ernst nahm. In einem Brief an Kiesewetter (15. Oktober 1795) schreibt er von seinen »reveries ›zum ewigen Frieden‹« (als ob er hierbei an seinen frühen Spaß mit Schwedenberg, seine Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik [1766], gedacht hätte). Was die Rechtslehre (oder Gesetzeslehre) [Erster Teil von Die Metaphysik der Sitten] angeht – die Sie nur in dem von Reiss herausgegebenen Buch finden und die Sie, wenn Sie sie lesen, vermutlich recht langweilig und pedantisch finden werden –, so ist es schwer, Schopenhauer nicht beizupflichten, der über sie sagte: Es ist, »als wäre sie nicht das Werk dieses großen Mannes, sondern das Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohnes«. Der Begriff des Gesetzes ist von großer Bedeutung in Kants praktischer Philosophie, wo der Mensch als gesetzgebendes Wesen verstanden wird. Doch wenn wir die Rechtsphilosophie im allgemeinen studieren wollen, werden wir uns sicherlich nicht Kant zuwenden, sondern Pufendorff oder Grotius oder Montesquieu.
Wenn Sie sich schließlich die anderen Abhandlungen im Buch von Reiss oder dem Sammelband On History ansehen, werden Sie feststellen, daß viele von ihnen sich mit der Geschichte befassen, so daß es zunächst fast so aussieht, als ob Kant, wie so viele nach ihm, eine Geschichtsphilosophie an die Stelle einer Politischen Philosophie gesetzt hätte. Doch bei näherem Hinsehen steht Kants Geschichtsbegriff, auch wenn er für sich genommen durchaus wichtig ist, nicht im Mittelpunkt seiner Philosophie. Wir würden uns Vico oder Hegel und Marx zuwenden, wenn wir etwas über die Geschichte erfahren wollten. Bei Kant ist die Geschichte Teil der Natur; das historische Subjekt ist die menschliche Gattung, verstanden als Teil der Schöpfung, zugleich allerdings als deren Endzweck, als Krone der Schöpfung sozusagen. Worauf es in der Geschichte ankommt, deren zufällige, kontingente Melancholie Kant niemals vergaß, sind nicht die Geschichten, nicht die historischen Individuen, ist nichts, was Menschen an Gutem oder Schlechtem getan haben. Worauf es ankommt, ist vielmehr die verborgene List der Natur, die den Fortschritt der Gattung und die Entwicklung aller ihrer Möglichkeiten in der Abfolge der Generationen ermöglichte. Die Lebensdauer des Menschen als eines Individuums ist zu kurz, um alle menschlichen Anlagen und Möglichkeiten zu entwickeln; die Geschichte der Menschengattung ist deshalb der Prozeß, in dem »alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllet werden«.[7] Das ist »Weltgeschichte«, gesehen in Analogie zur organischen Entwicklung des Individuums: Kindheit, Jugend, Reife. Kant ist niemals an der Vergangenheit interessiert; was ihn interessiert, ist die Zukunft der Gattung. Der Mensch ist aus dem Paradies vertrieben worden nicht der Sünde wegen und nicht von einem rächenden Gott, sondern von der Natur, die ihn aus ihrem Mutterschoße entließ und ihn aus dem Garten Eden, »dem harmlosen und sicheren Zustande der Kindespflege«,[8] verjagte. Das ist der Anfang der Geschichte; ihr Verlauf ist der Fortschritt, und das Produkt dieses Prozesses wird manchmal »Kultur«[9], manchmal »Freiheit« (»aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit«)[10] genannt; und nur ein einziges Mal, fast beiläufig in einer Parenthese, behauptet Kant, daß es sich dabei darum handelt, den »größten Zweck der menschlichen Bestimmung«, nämlich »Geselligkeit«, hervorzubringen.[11] (Wir werden später sehen, welche Bedeutung die Geselligkeit hat.) Der Fortschritt selbst, das tonangebende Konzept des 18. Jahrhunderts, wird von Kant eher mit Melancholie gesehen. Er betont wiederholt dessen beklagenswerte Bedeutung für das Leben des Individuums.
»Wenn wir den moralisch-physischen Zustand des Menschen hier im Leben auch auf dem besten Fuß annehmen, nämlich eines beständigen Fortschreitens und Annäherns zum höchsten (ihm zum Ziel ausgesteckten) Gut: so kann er doch … mit der Aussicht in eine ewig dauernde Veränderung seines Zustandes … die Zufriedenheit nicht verbinden. Denn der Zustand, in welchem er itzt ist, bleibt immer doch ein Übel, vergleichungsweise gegen den bessern, in den zu treten er in Bereitschaft steht; und die Vorstellung eines unendlichen Fortschreitens zum Endzweck ist doch zugleich ein Prospekt in eine unendliche Reihe von Übeln, die … doch die Zufriedenheit nicht Statt finden lassen …«[12]
Eine andere, etwas unziemliche, aber sicherlich nicht völlig ungerechtfertigte Art, Einwände gegen meine Themenwahl vorzubringen, besteht darin, darauf hinzuweisen, daß alle Schriften, die üblicherweise zur Darstellung von Kants Politischer Philosophie ausgewählt werden (und die auch ich herausgegriffen habe), aus Kants späten Jahren stammen und daß der Verfall seiner geistigen Kräfte bis hin zum Altersschwachsinn eine Tatsache ist. Um diesem Argument zu begegnen, habe ich Sie gebeten, die sehr frühen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen[13] zu lesen. Ich will meine eigene Meinung in dieser Sache vorwegnehmen und hoffe, sie im Laufe dieses Semesters zu begründen: Wenn man Kants Werk kennt und seine biographischen Umstände berücksichtigt, ist man leicht versucht, das Argument umzudrehen und zu sagen, Kant hätte das Politische im Unterschied zum Sozialen als wesentlichen Bestandteil der menschlichen Bestimmung in der Welt erst ziemlich spät in seinem Leben erkannt – und zwar, als er nicht länger Kraft noch Zeit hatte, seine eigene Philosophie zu diesem speziellen Thema auszuarbeiten. Hiermit meine ich nicht, Kant hätte es wegen der Kürze seines Lebens versäumt, die »vierte Kritik« zu schreiben. Vielmehr denke ich, daß die »dritte Kritik«, die Kritik der Urteilskraft – die im Unterschied zur Kritik der praktischen Vernunft spontan und nicht als Antwort auf kritische Anmerkungen, Fragen und Herausforderungen niedergeschrieben wurde –, in Wirklichkeit das Buch hätte werden sollen, das in Kants großem Werk nun fehlt.
Nachdem er das Geschäft der Kritik beendet hatte, waren aus seiner Sicht zwei Fragen übrig geblieben – Fragen, die ihn sein Leben lang beschäftigt hatten und deren Beantwortung er aufschob, um zunächst das voll zu klären, was er den »Skandal« der Vernunft nannte: die Tatsache, daß die Vernunft sich selbst widerspricht[14] oder daß das Denken die Grenzen dessen, was wir wissen können, übersteigt und sich dann in seinen eigenen Antinomien verfängt. Wir wissen durch Kants Selbstzeugnis, daß der Wendepunkt in seinem Leben (im Jahre 1770) die Entdeckung der Erkenntnisfähigkeiten des menschlichen Geistes und deren Grenzen gewesen ist – eine Entdeckung, zu deren Ausarbeitung und Veröffentlichung als Kritik der reinen Vernunft er mehr als zehn Jahre brauchte. Wir wissen aus seinen Briefen auch, was diese immense, jahrelange Arbeit für seine anderen Pläne und Ideen bedeutete. Er schreibt über den »Hauptgegenstand«, dieser habe alle anderen Gegenstände, die er zu beenden und zu veröffentlichen gehofft hätte, wie »ein Damm« zurückgehalten und behindert; wie ein »Stein« habe er »im Wege« gelegen, und erst nach dessen »Wegschaffung« sei ein Weitergehen möglich gewesen.[15] Als Kant dann zu den Themen seiner vorkritischen Zeit zurückkehrte, hatten sich diese natürlich im Lichte dessen, was er jetzt wußte, etwas verändert. Aber sie hatten sich nicht so stark gewandelt, daß sie nicht mehr wiederzuerkennen gewesen wären. Wir können auch nicht behaupten, daß sie für ihn ihre Dringlichkeit verloren hätten.
Die wichtigste Veränderung kann in folgender Weise kurz angedeutet werden. Vor dem Ereignis des Jahres 1770 hatte Kant beabsichtigt, die Metaphysik der Sitten zu schreiben und zu veröffentlichen. Dieses Werk hat er in der Tat geschrieben und veröffentlicht, aber erst dreißig Jahre später. Zu dem frühen Zeitpunkt wurde das Buch unter dem Titel »Kritik des moralischen Geschmacks« angekündigt,[16] und als Kant sich schließlich seiner dritten Kritik zuwandte, nannte er diese, anfänglich, immer noch »Kritik des Geschmacks«. Es geschah also zweierlei: Hinter »Geschmack«, einem Lieblingsthema des ganzen 18. Jahrhunderts, hatte Kant ein völlig neues menschliches Vermögen entdeckt, nämlich die Urteilskraft. Doch gleichermaßen entzog er diesem neuen Vermögen die Zuständigkeit für moralische Aussagen. Mit anderen Worten: Jetzt ist es mehr als Geschmack, was über das Schöne und Häßliche entscheiden wird, während andererseits die Frage nach Recht und Unrecht weder vom Geschmack noch vom Urteil, sondern allein von der Vernunft entschieden werden soll.
In der ersten Vorlesung sagte ich, daß für Kant am Ende seines Lebens zwei Fragen übrig geblieben waren. Die erste könnte unter dem Stichwort »Geselligkeit« des Menschen zusammengefaßt oder, besser, angezeigt werden. Gemeint ist die Tatsache, daß kein Mensch alleine leben kann, daß Menschen nicht nur in ihren Bedürfnissen und Sorgen voneinander abhängig sind, sondern auch hinsichtlich ihres höchsten Vermögens, des menschlichen Geistes, der außerhalb der menschlichen Gesellschaft nicht tätig werden kann. »Gute Gesellschaft« ist für »den Denkenden unentbehrlich«.[17] Diese Vorstellung ist ein Schlüssel zum ersten Teil der Kritik der Urteilskraft. Daß die Kritik der Urteilskraft oder des »Geschmacks« in Beantwortung einer offen gebliebenen Frage aus der vorkritischen Periode geschrieben worden war, ist offensichtlich. Wie die Beobachtungen ist auch die Kritik in das »Schöne« und das »Erhabene« unterteilt. Ferner war in dem früheren Werk, das sich so liest, als wenn es einer der französischen Moralisten geschrieben hätte, die Frage der »Geselligkeit«, der »guten Gesellschaft«, bereits – wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie im späteren Werk – eine Schlüsselfrage. Kant berichtet dort über die tatsächliche Erfahrung, die hinter dem »Problem« liegt. Diese Erfahrung war – abgesehen vom tatsächlichen gesellschaftlichen Leben des jungen Kant – eine Art Denkexperiment. Das Experiment liest sich wie folgt:
Carazans Traum: »Dieser karge Reiche hatte, nach dem Maße als seine Reichtümer zunahmen, sein Herz dem Mitleiden und der Liebe gegen jeden andern verschlossen. Indessen, so wie die Menschenliebe in ihm erkaltete, nahm die Emsigkeit seiner Gebete und der Religionshandlungen zu. Nach diesem Geständnisse fährt er also fort zu reden: An einem Abende, da ich bei meiner Lampe meine Rechnungen zog und den Handlungsvorteil überschlug, überwältigte mich der Schlaf. In diesem Zustande sah ich den Engel des Todes wie einen Wirbelwind über mich kommen, er schlug mich, ehe ich den schrecklichen Streich abbitten konnte. Ich erstarrete als ich gewahr ward, daß mein Los vor die Ewigkeit geworfen sei, und daß zu allem Guten das ich verübt nichts konnte hinzugetan, und von allem Bösen das ich getan nichts konnte hinweggenommen werden. Ich ward vor den Thron dessen, der in dem dritten Himmel wohnet, geführet. Der Glanz, der vor mir flammete, redete mich also an: Carazan, dein Gottesdienst ist verworfen. Du hast dein Herz der Menschenliebe verschlossen und deine Schätze mit einer eisernen Hand gehalten. Du hast nur vor dich selbst gelebt, und darum sollst du auch künftig in Ewigkeit allein und von aller Gemeinschaft mit der ganzen Schöpfung ausgestoßen leben. In diesem Augenblicke ward ich durch eine unsichtbare Gewalt fortgerissen und durch das glänzende Gebäude der Schöpfung getrieben. Ich ließ bald unzählige Welten hinter mir. Als ich mich dem äußersten Ende der Natur näherte, merkte ich, daß die Schatten des grenzenlosen Leeren sich in die Tiefe vor mich herabsenkten. Ein fürchterliches Reich von ewiger Stille, Einsamkeit und Finsternis. Unaussprechliches Grausen überfiel mich bei diesem Anblick. Ich verlor allgemach die letzten Sterne aus dem Gesichte, und endlich erlosch der letzte glimmernde Schein des Lichts in der äußersten Finsternis. Die Todesängste der Verzweiflung nahmen mit jedem Augenblicke zu, so wie jeder Augenblick meine Entfernung von der letzten bewohnten Welt vermehrte. Ich bedachte mit unleidlicher Herzensangst, daß, wenn zehntausendmal tausend Jahre mich jenseits den Grenzen alles Erschaffenen würden weiter gebracht haben, ich doch immerhin in den unermeßlichen Abgrund der Finsternis vorwärts schauen würde, ohne Hülfe oder Hoffnung einiger Rückkehr. – In dieser Betäubung streckte ich meine Hände mit solcher Heftigkeit nach Gegenständen der Wirklichkeit aus, daß ich darüber erwachte.
Und nun bin ich belehrt worden, Menschen hochzuschätzen; denn auch der Geringste von denenjenigen, die ich im Stolze meines Glücks von meiner Türe gewiesen hatte, würde in jener erschrecklichen Einöde von mir allen Schätzen von Golkonda weit sein vorgezogen worden. –«[18]
Die zweite Frage, die übrig geblieben war, ist zentral für den zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft, der sich von dem ersten so stark unterscheidet, daß die fehlende Einheitlichkeit des Buches immer wieder Anlaß zu Kommentierungen gegeben hat (Baeumler z. B. fragte, ob es überhaupt mehr als eine »Greisenschrulle«[19] darstelle). Diese zweite Frage, wie sie im § 67 der Kritik der Urteilskraft aufgenommen wird, lautet: »Warum denn ist es nötig, daß Menschen existieren?« Auch sie nimmt ein Anliegen auf, das sozusagen übrig geblieben ist. Sie alle kennen die berühmten drei Fragen, deren Beantwortung, nach Kant, das eigentliche Geschäft der Philosophie ausmacht: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? In seinen Vorlesungen hat er gewöhnlich diesen drei Fragen eine vierte hinzugefügt: Was ist der Mensch? Erläuternd stellt er fest: »Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.«[20] Diese letzte Frage kann offensichtlich zu einer anderen, die Leibniz, Schelling, Heidegger gestellt haben, in Beziehung gesetzt werden: Warum sollte es etwas geben und nicht vielmehr nichts? Leibniz nennt dies die erste Frage, die zu stellen wir ein Recht haben, und fügt hinzu: »Car le rien est plus simple et plus facile que quelque chose.«[21] Dabei sollte offensichtlich sein, daß – wie immer Sie diese Warum-Fragen auch formulieren – jede Antwort, die mit einem Weil beginnt, nur lächerlich klingen und auch lächerlich sein würde. Denn das Warum fragt in Wirklichkeit nicht nach einer Ursache, wie z. B.: Wie hat sich das Leben entwickelt, oder: Wie entstand das Universum (mit oder ohne Knall)? Vielmehr fragt es danach, zu welchem Zweck all dies geschah, und »der Zweck der Existenz der Natur selbst muß über die Natur hinaus gesucht werden«[22], der Zweck des Lebens jenseits des Lebens, der des Universums jenseits des Universums. Wie jeder Zweck muß dieser Zweck mehr sein als die Natur, das Leben oder das Universum, die ihrerseits durch diese Fragestellung zu Mitteln für etwas, das höher als sie ist, degradiert werden. (Wenn Heidegger in seiner späten Philosophie immer wieder versucht, den Menschen und das Sein in eine Art von Beziehung zu setzen, in der sich beide gegenseitig voraussetzen und bedingen – das Sein, das nach dem Menschen ruft; der Mensch, der der Hüter oder »Hirt« des Seins wird; das Sein, das den Menschen für seine eigene Erscheinung benötigt; der Mensch, der nicht nur das Sein benötigt, um überhaupt zu existieren, sondern der mit seinem eigenen Sein befaßt ist, da keine andere Ganzheit [Seiendes], kein anderes lebendes Ding existiert[23] usw. –, so tut er dies, um dieser Art von gegenseitiger Degradierung, wie sie in solch allgemeinen Warum-Fragen enthalten ist, und nicht um den Paradoxa aller Gedanken über das Nichts zu entgehen.)
Zu diesem schwierigen und verwirrenden Problem wäre, gemäß dem zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft, Kants eigene Ansicht die folgende gewesen: Wir stellen solche Fragen wie »Was ist der Zweck der Natur?« nur deshalb, weil wir selbst Zweck-Wesen sind, d. h. Wesen, die ständig Ziele und Zwecke ersinnen und die, absichtsbestimmt wie sie sind, zur Natur gehören. In diesem Sinne könnte man auf die Frage, warum wir uns mit solch offensichtlich unbeantwortbaren Fragen wie »Hat die Welt oder das Universum einen Anfang, oder existiert sie, wie Gott selbst, von Ewigkeit zu Ewigkeit?« belasten, mit folgendem Hinweis eingehen: Es gehört zu unserer ureigensten Natur, Anfangende zu sein und deshalb während unseres ganzen Lebens Anfänge zu schaffen.[24]
Doch zurück zur Kritik der Urteilskraft. Die Bindeglieder zwischen ihren beiden Teilen sind schwach, aber so wie sie sind – d. h. wie man annehmen kann, daß sie in Kants Vorstellung existiert haben –, sind sie enger an das Politische gekoppelt als an irgend etwas anderes in den anderen »Kritiken«. Es gibt zwei wichtige Bindeglieder. Das erste ist, daß Kant in keinem der beiden Teile vom Menschen als einem verstandbegabten oder erkennenden Wesen spricht. Das Wort »Wahrheit« kommt nicht vor – nur einmal in einem spezifischen Zusammenhang. Der erste Teil handelt von den Menschen im Plural, davon, wie sie wirklich sind und in Gesellschaften leben; der zweite Teil sagt etwas über die Menschengattung aus. (Kant unterstreicht dies, indem er zu der von mir vorhin zitierten Frage »Warum denn ist es nötig, daß Menschen existieren?« hinzufügt, daß diese, »wenn man etwa die Neuholländer oder [andere primitive Stämme] in Gedanken hat, so leicht nicht zu beantworten sein möchte«[25].) Der entscheidende Unterschied zwischen der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft ist, daß die moralischen Gesetze der ersteren für alle mit Verstand ausgestatteten Wesen gelten, während die Gültigkeit der Regeln der letzteren eindeutig eingeschränkt ist, nur für die menschlichen Wesen auf der Erde gilt. Das zweite Bindeglied liegt in der Tatsache, daß die Urteilskraft sich mit dem Besonderen befaßt, das »als ein solches, in Ansehung des Allgemeinen [womit sich normalerweise das Denken abgibt] etwas Zufälliges enthält«[26]. Dieses Besondere hat seinerseits zwei Aspekte. Der erste Teil der Kritik der Urteilskraft befaßt sich mit den eigentlichen Gegenständen des Urteils, beispielsweise mit einem Gegenstand, den wir »schön« nennen, ohne in der Lage zu sein, ihn unter eine allgemeine Kategorie der Schönheit als solcher zu subsumieren. Wir haben keine Regel, die hier angewandt werden könnte. (Wenn Sie sagen: »Was für eine schöne Rose«, so kommen Sie zu diesem Urteil nicht, indem Sie zunächst einmal sagen: »Alle Rosen sind schön, diese Blume ist eine Rose, deshalb ist diese Rose schön.« Oder umgekehrt: »Schönheit gehört zu den Rosen, diese Blume ist eine Rose, also ist sie schön.«) Der andere Aspekt des Besonderen, der im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft behandelt wird, liegt in der Unmöglichkeit, irgendein besonderes Produkt der Natur aus allgemeinen Ursachen abzuleiten. »… schlechterdings kann keine menschliche Vernunft (auch keine endliche, die der Qualität nach der unsrigen ähnlich wäre, sie aber dem Grade nach noch so sehr überstiege) die Erzeugung auch nur eines Gräschens aus bloß mechanischen Ursachen zu verstehen hoffen.«[27] (»Mechanisch« verweist in Kants Sprache auf die »natürlichen« Ursachen – im Gegensatz zu »technisch«, das für ihn die Bedeutung von »künstlich«, d. h. mit einer Absicht, einem Zweck hergestellt, hat. Es handelt sich um den Unterschied zwischen Dingen, die aus sich selbst heraus entstehen, und solchen, die für ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Zweck hergestellt werden.) Die Betonung in dem Zitat liegt auf »verstehen«: Wie kann ich verstehen (und nicht nur erklären), daß es Gras überhaupt und, darüber hinaus, diesen besonderen Grashalm gibt? Kants Lösung besteht darin, das teleologische Prinzip, »das Prinzip der Zwecke an den Produkten der Natur« als ein »heuristisches Prinzip«, um »den besonderen Gesetzen der Natur nachzuforschen«, einzuführen – auch wenn es die »Entstehungsart« der Produkte der Natur »eben nicht begreiflicher macht«.[28] Wir beschäftigen uns hier nicht mit diesem Teilstück von Kants Philosophie, das, genaugenommen, nicht vom Urteil über das Besondere handelt, dessen Thema vielmehr die Natur ist. Zwar versteht Kant, wie wir sehen werden, die Geschichte auch als einen Teil der Natur: die Geschichte der Menschengattung als Bestandteil der Geschichte der Tiergattungen auf der Erde. Doch bemüht er sich eher darum, ein Prinzip der Erkenntnis zu finden als eines des Urteils. Nichtsdestoweniger sollte Ihnen klar sein, daß Sie – ebenso wie Sie die Frage stellen können: »Warum denn ist es nötig, daß Menschen überhaupt existieren?« – auch weiterfragen können, warum es nötig sei, daß Bäume überhaupt existieren, oder Grashalme etc.
Mit anderen Worten, die Themen der Kritik der Urteilskraft: das Besondere, sei es eine Tatsache der Natur oder ein Ereignis in der Geschichte; die Urteilskraft als das Vermögen des menschlichen Geistes, sich mit dem Besonderen zu befassen; die Geselligkeit der Menschen als Bedingung des Funktionierens dieses Vermögens, d. h. die Einsicht, daß die Menschen von ihren Mitmenschen abhängig sind, nicht nur weil sie einen Körper und physische Bedürfnisse haben, sondern gerade wegen ihrer geistigen Fähigkeiten – diese Themen, die alle von herausragender politischer Bedeutung, d. h. wichtig für das Politische sind, beschäftigten Kant lange Zeit, bevor er sich ihnen schließlich im Alter, nach Beendigung des »kritischen Geschäfts«, zuwandte. Um ihretwillen hat er den »doktrinalen« Teil seines Werkes, den er hatte in Angriff nehmen wollen, »um, wo möglich, meinem zunehmenden Alter die dazu noch einigermaßen günstige Zeit noch abzugewinnen«,[29] aufgeschoben. Dieser »doktrinale« Teil sollte »die Metaphysik der Natur und der Sitten« enthalten; es hätte hier jedoch keinen Platz, »keinen besonderen Teil« für die Urteilskraft gegeben. Denn das Urteil über Besonderes – Dies ist schön; Dies ist häßlich; Dies ist richtig; Dies ist falsch – hat keinen Platz in Kants Moralphilosophie. Die Urteilskraft ist keine praktische Vernunft; praktische Vernunft »räsonniert« und sagt mir, was zu tun und zu unterlassen ist; sie schreibt das Gesetz vor und ist identisch mit dem Willen, und der Wille gibt Befehle; er spricht in Imperativen. Das Urteil entsteht demgegenüber aus einer »bloß kontemplativen Lust« oder aus »untätigem Wohlgefallen«.[30]
»Das Gefühl« der kontemplativen Lust »nennen wir Geschmack«, und die Kritik der Urteilskraft sollte ursprünglich »Kritik des Geschmacks« heißen. Vom Geschmack »wird … in einer praktischen Philosophie, nicht als von einem einheimischen Begriffe, sondern allenfalls nur episodisch die Rede sein«.[31] Klingt das nicht einleuchtend? Wie könnten »kontemplative Lust« und »untätiges Wohlgefallen« etwas mit der Praxis zu tun haben? Beweist dies nicht überzeugend, daß Kant, als er sich dem doktrinalen Geschäft zuwandte, entschieden hatte, seine Beschäftigung mit dem Besonderen und Zufälligen wäre eine Sache der Vergangenheit und eine einigermaßen marginale Angelegenheit dazu? Und doch werden wir sehen, daß Kants letztendliche Stellungnahme zur Französischen Revolution – zu einem Ereignis, das in seinen späten Jahren eine zentrale Rolle spielte, als er Tag für Tag mit großer Ungeduld auf die Zeitungen wartete – durch diese Haltung des reinen Zuschauers bestimmt wurde. Gemeint ist die Haltung derjenigen, »die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind«, sondern ihm nur mit einer »Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt«, folgen, was sicherlich nicht bedeutete (und schon gar nicht für Kant), daß sie nun ihrerseits eine Revolution machen wollten. Ihre Anteilnahme entsprang »bloß kontemplativer Lust« und »untätigem Wohlgefallen«.
Nur ein Element in Kants späten Schriften zu diesen Themen können wir nicht bis zur vorkritischen Periode zurückverfolgen. Nirgends finden wir einen Hinweis darauf, daß er sich in der frühen Zeit für eindeutig verfassungsrechtliche und institutionelle Fragen interessierte. Aber gerade dieses Interesse war in den letzten Jahren seines Lebens, in denen er fast alle seiner im eigentlichen Sinne politischen Abhandlungen geschrieben hatte, vorherrschend. Jene waren nach 1790, als die Kritik der Urteilskraft erschien, verfaßt worden, ja, noch bezeichnender, nach 1789, dem Jahr des Ausbruchs der Französischen Revolution, als Kant 65 Jahre alt war. Von da an richtete sich sein Interesse nicht länger ausschließlich auf das Besondere, die Geschichte oder die menschliche Geselligkeit. Im Mittelpunkt stand vielmehr das, was wir heute »constitutional law«, Staats- und Verfassungsrecht, nennen würden, d. h. die Art und Weise, wie ein politisches System organisiert und verfaßt sein soll, das Konzept der »republikanischen«, d. h. verfassungsmäßigen Regierung, die Frage der internationalen Beziehungen usw. Das erste Anzeichen für diese Veränderung kann vielleicht in der Anmerkung zu § 65 der Kritik der Urteilskraft ausgemacht werden. Dort bezieht sich Kant auf die Amerikanische Revolution, an der er bereits sehr interessiert gewesen war. Er schreibt:
»So hat man sich, bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat, des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen u.s.w. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck, und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und Funktion nach, bestimmt sein.«
Man würde vermuten, daß Kants Problem in der späten Zeit seines Lebens – als die Amerikanische und, mehr noch, die Französische Revolution ihn sozusagen aus seinem politischen Schlummer erweckt hatten (wie ihn in seiner Jugend Hume aus dem dogmatischen Schlaf gerissen hatte und in seinen Mannesjahren Rousseau aus dem moralischen) – darin bestanden hätte, wie er die Frage der Organisation des Staates mit seiner Moralphilosophie, d. h. mit dem Diktat der praktischen Vernunft, in Einklang bringt. Das trifft aber nicht zu. Und die erstaunliche Tatsache ist, daß Kant wußte, daß seine Moralphilosophie hier nicht helfen konnte. Deshalb hielt er sich von allem Moralisieren fern und erkannte, daß das Problem darin lag, wie man den Menschen zwingen kann, »ein guter Bürger zu sein«, selbst wenn er nicht ein »moralisch-guter Mensch« ist, und daß nicht von der Moralität »die gute Staatsverfassung, sondern vielmehr, umgekehrt, von der letzteren allererst die gute moralische Bildung eines Volks zu erwarten ist«.[32] Das mag Sie an die Bemerkung des Aristoteles erinnern, daß ein guter Mann nur in einem guten Staat ein guter Bürger sein kann – wobei davon abzusehen ist, daß Kant (und das ist so überraschend und geht in der Trennung von Moralität und guter Staatsbürgerschaft weit über Aristoteles hinaus) zu dem Schluß kommt:
»Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar und lautet so: ›Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnnungen hätten.‹«[33]
Diese Sätze sind entscheidend. Was Kant sagte, ist – in Abwandlung der Aristotelischen Formel –, daß ein böser Mann in einem guten Staat ein guter Bürger sein kann. Seine Definition von »böse« entspricht in diesem Zusammenhang der in seiner Moralphilosophie. Der kategorische Imperativ sagt Ihnen: Handle stets so, daß die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden kann, d. h.: »… ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden«[34]. Der Kerngedanke hier ist sehr einfach. In Kants eigenen Worten: Ich kann zwar eine besondere Lüge wollen, aber »ein allgemeines Gesetz zu lügen« kann ich auf keinen Fall wollen; »denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben«[35]. Oder: Ich kann zu stehlen wünschen; aber ich kann nicht wollen, daß Stehlen ein allgemeines Gesetz werde; denn bei einem solchen Gesetz gäbe es kein Eigentum. Der schlechte Mensch ist für Kant derjenige, der eine Ausnahme für sich macht, und nicht derjenige, der das Böse will; denn das ist, laut Kant, unmöglich. So besteht das »Volk von Teufeln«2 hier nicht aus Teufeln im gewöhnlichen Sinne, sondern aus Wesen, die »in Geheim« sich »auszunehmen geneigt« sind. Das Wichtige liegt im Wort »geheim«: Sie können es nicht öffentlich tun, weil sie sich dann augenscheinlich gegen das allgemeine Interesse stellen würden, weil sie Feinde des Volkes wären – eben auch wenn dieses Volk ein »Volk von Teufeln« wäre. Und im Unterschied zur Moral hängt in der Politik alles vom »öffentlichen Betragen« ab.