Cover

vorsatz1.jpg
vorsatz2.jpg
nachsatz1.jpg
nachsatz2.jpg
seekers.jpg
Die Suche beginnt (Band 1)
Am Großen Bärensee (Band 2)
Auf dem Rauchberg (Band 3)
Die Letzte Große Wildnis (Band 4)
Feuer im Himmel (Band 5)
Sternengeister (Band 6)
Insel der Schatten (Band 7)
Das Schmelzende Meer (Band 8)
Der Fluss der Bärengeister (Band 9)
Wald der Wölfe (Band 10)
Brennender Himmel (Band 11)
Der Längste Tag (Band 12)
Alle Abenteuer auch als Hörbücher (bis Band 7) und E-Books bei Beltz & Gelberg

www.seekers-die-bären.de
titel.jpg
Über den Autor
Hinter dem Namen Erin Hunter verbirgt sich ein ganzes Team von Autorinnen. Gemeinsam konzipieren und schreiben sie die erfolgreichen Tierfantasy-Reihen WARRIOR CATS, SEEKERS und SURVIVOR DOGS.
Impressum
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-74922-2 Print
ISBN 978-3-407-74510-1 E-Book (EPUB)
© 2017 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz • Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2015 Beltz & Gelberg
© 2012 Working Partners Limited
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
Seekers, The Melting Sea bei HarperCollins Children´s Books, New York
Übersetzung: Karsten Singelmann
Lektorat: Ina Brandt
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, München
Gesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Printed in Germany
1 2 3 4 5 21 20 19 18 17
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de
Besonderer Dank an Tui Sutherland
baeren.jpg

1. KAPITEL
Toklo
Toklos dahinjagende Pfoten wirbelten den Schnee auf, an seinem Bauch bildeten sich bereits Eisklumpen. Er fühlte sein Herz heftig schlagen, sein Atem ging in heißen, keuchenden Stößen.
Ein kurzer Blick nach hinten verriet ihm, dass Kallik ihm dicht auf den Fersen war. Ein wildes Leuchten blitzte aus ihren Augen, während sie voranstürmte. Yakone hielt sich an ihrer Seite, weniger als eine Schnauzenlänge zurück. Toklo zwang seine schmerzenden Beine zu noch größerer Anstrengung. Ein steiler Felsvorsprung tauchte vor ihm auf.
Wenn ich’s nur bis dahin noch schaffe!
Dann hörte er, wie weiter hinten Lusa einen Schrei ausstieß, der jedoch sofort vom Schnee erstickt wurde. Mit Sicherheit war die kleine Schwarzbärin wieder einmal in einer Schneewehe gelandet, aber Toklo ließ sich davon nicht beirren und stürmte weiter.
Lusa wird selber sehen müssen, wie sie da wieder herauskommt. Ich kann jetzt keine Rücksicht auf sie nehmen.
Hinter Toklo nahm das Geräusch der trommelnden Pfoten etwas ab. Bestimmt war Yakone zurückgeblieben, um Lusa zu helfen.
Der Felsvorsprung war nun ganz nahe. Mit einem mächtigen Satz wollte Toklo sich auf den untersten Sims werfen, doch seine Tatzen rutschten auf der eisigen Oberfläche ab. Er verlor das Gleichgewicht und purzelte, mit allen vieren zappelnd, in den Schnee.
Kallik sprintete an ihm vorbei, sprang auf den Fels und schleuderte beim Hochklettern eine weitere Ladung Schnee auf Toklo.
»Sieger!«, brüllte sie.
Etwas mühsam kam Toklo auf die Pfoten und schüttelte sich. »Von wegen«, erwiderte er mürrisch. »Ich war als Erster beim Felsen. Ist nicht meine Schuld, dass ich abgerutscht bin.«
»Wer als Erster auf dem Felsen ist, haben wir gesagt, nicht beim Felsen.« Kallik sprang nach unten und gab ihm einen freundlichen Stups mit der Schnauze. »Du musst auch mal verlieren können.«
Toklo brummte nur. Er ärgerte sich mehr über sich selbst als über Kallik. Ich hätte ganz klar gewinnen können. Wenn ich nur etwas besser aufgepasst hätte …
»Gut gemacht, Kallik!«, rief Yakone, als er und Lusa schnaufend herankamen. »Du bist echt schnell. Du aber auch, Toklo.«
»Danke, dass du dich so nett um mich gekümmert hast!«, fügte Lusa beleidigt hinzu.
Toklo unterdrückte ein belustigtes Schnauben, als er die kleine Schwarzbärin näher in Augenschein nahm. Sie war über und über mit Schnee bedeckt, selbst die Ohren waren voll davon. »Ich weiß doch, wie gerne du in Schneewehen versinkst«, neckte er sie. »Außerdem hätte es ja auch ein Trick sein können, um mich aufzuhalten.«
Lusa warf mehrmals den Kopf hin und her, um sich den Schnee aus den Ohren zu schütteln. »Ich hatte doch überhaupt keine Chance, zu gewinnen«, murmelte sie geknickt. »Meine Beine sind einfach zu kurz.«
Als er sah, dass sie schlotterte, ging Toklo zu ihr und machte sich daran, ihr die Ohren freizulecken. »Kopf hoch«, tröstete er sie. »Bei einem Wettkampf im Bäumeklettern würdest garantiert du gewinnen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Lusas Augen blickten traurig. »Ich bin ja vollkommen aus der Übung. Ich weiß gar nicht mehr, wann wir das letzte Mal einen echten Baum gesehen haben.«
»Wohl wahr«, bestätigte Kallik. »Man bekommt überhaupt nicht viel zu sehen auf dieser Insel und dummerweise scheint sie sich unendlich hinzuziehen. Ob das hier wirklich der richtige Weg zum Meer ist?«
»Es ist der Weg, den Nanulaks Familie uns gewiesen hat«, erwiderte Toklo.
»Und darauf vertrauen wir?«, murmelte Yakone. »Nach dem, was Nanulak getan hat?«
Yakones Worte bohrten sich wie ein Stachel in Toklos Herz und ließen den Schmerz über Nanulaks Verrat wiederaufleben. Er hatte Nanulak für seinen Freund gehalten, hatte geglaubt, er könne ihm allerlei Nützliches beibringen und sich um ihn kümmern, genau wie früher um Ujurak.
Aber Nanulak wollte mich nur benutzen, um sich an seiner Familie zu rächen!
Die Erinnerung an Nanulaks Vater flammte so lebhaft in ihm auf, dass er den riesenhaften Eisbären für einen Moment vor sich zu sehen glaubte. Er erinnerte sich an die Blutspritzer auf seinem weißen Fell und dachte an die Wunden, die er selbst davongetragen hatte.
Ich hätte ihn beinahe getötet, nur weil Nanulak mich belogen hatte. Wie konnte ich mich so in ihm täuschen?
Mit einem sanften Stoß riss Kallik Toklo aus seinen schmerzlichen Gedanken. »Lass uns jagen gehen«, schlug sie vor. »Es wird nicht mehr lange hell sein.« Aus ihren Augen blitzte der Schalk, als sie hinzufügte: »Ich habe das Wettrennen gewonnen, also finde ich, solltet ihr mir alle etwas zu fressen bringen.«
»Aber nur im Traum!«, rief Toklo, der froh war, dass sie Nanulak nicht erwähnt hatte. »Da du ja so wahnsinnig schnell bist, solltest du diejenige sein, die sich um Beute kümmert!«
Toklo übernahm wieder die Führung, als die Bären weiterzogen. Sein Magen knurrte mächtig, aber von Beute gab es weit und breit keine Spur. Schneebedecktes Hügelgelände breitete sich gleichförmig nach allen Seiten aus, unterbrochen nur hier und da von einzeln aufragenden Felsen und einigen wenigen verkümmerten Dornenbäumen. Seit Tagen marschierten sie auf die untergehende Sonne zu, dabei waren sie bloß selten anderen Bären begegnet. Selbst auf Krallenlose gab es kaum Hinweise in dieser trostlosen Landschaft, nur gelegentlich eine kleine Höhle oder einen schmalen, in den Himmel ragenden Turm.
Alle Gedanken an Nanulak beiseiteschiebend, versuchte Toklo sich zu entspannen und die Gesellschaft seiner Freunde zu genießen. Das Wettrennen hatte Spaß gemacht, auch wenn er es verloren hatte. Yakone, der Eisbär mit dem rötlichen Fell, den sie auf der Sterneninsel kennengelernt hatten, fügte sich gut in die Gruppe ein. Und sie folgten einer Route, auf der sie zu einem schmalen Meeresarm gelangen würden, der diese Insel vom Festland trennte. Kurzum, die Aussichten waren nicht schlecht.
Doch die Trennung, die unvermeidlich bevorstand, bohrte sich wie ein Dorn in Toklos Brust. Der ganze Sinn dieser Reise lag darin, das Schmelzende Meer zu erreichen. Dann wollten sich Kallik und Yakone den anderen Eisbären anschließen, die dort lebten. Die kleine Familie, die sich im Laufe so vieler Abenteuer und Gefahren gebildet hatte, würde auseinandergerissen werden. Und es dauerte sicher nicht lange, bis auch Lusa auf Bären ihrer Art treffen und mit ihnen in den Wäldern leben würde, die ihre wahre Heimat waren.
Wenn nur Nanulak …
Einen Seufzer unterdrückend, verbot Toklo sich diesen Gedanken. Immer wieder schien alles zu Nanulak zurückzuführen. Eine Zeit lang hatte Toklo geglaubt, er könne sich gemeinsam mit dem jungen Mischlingsbären ein neues Leben aufbauen, in benachbarten Revieren, sodass er Nanulak alles beibringen konnte, was ein Braunbär wissen musste.
Das ist jetzt alles vorbei. Ich kann nicht glauben, dass dieser heimtückische Bär mich so lange zum Narren gehalten hat. Und angenommen, ein größerer, stärkerer Bär würde das Gleiche tun? Einer, der mich besiegen könnte, wenn es zum Kampf käme? Mit einem entschlossenen Kopfschütteln tat Toklo diese Sorge ab. Nein, diesen Fehler werde ich nicht noch einmal machen.
»Ich kann es gar nicht erwarten, diesen elenden Schnee endlich hinter mir zu lassen!«, erklang Lusas Stimme dicht hinter Toklo. Sie ging zwischen Kallik und Yakone und klang recht fröhlich. Als hätte sie die Probleme, die Nanulak ihnen bereitet hatte, bereits vergessen. »Ich sehne mich danach, wieder echte Bäume zu sehen und auf andere Schwarzbären zu treffen!«
»Das wirst du ganz bestimmt«, versicherte Kallik. »Jeder Schritt bringt dich ihnen näher.«
Die Zuversicht der Bärinnen führte Toklo erneut seine eigene ungewisse Zukunft vor Augen. Kallik hatte Yakone, und vielleicht würde sie sogar ihren Bruder Taqqiq wiedertreffen, wenn sie erst einmal am Schmelzenden Meer angekommen waren. Und Lusa war ein so freundliches Wesen, dass sie keine Probleme haben würde, von ihren Artgenossen wohlwollend aufgenommen zu werden.
Und was ist mit mir? Toklo wollte aufheulen wie ein verlassenes Junges, doch schon im nächsten Moment schämte er sich dafür.
Du suchst dir ein Revier und lebst allein. So wie Braunbären das eben machen.
Doch jetzt erschien ihm diese Vorstellung längst nicht mehr so verlockend, wie sie es einst gewesen war.
Inzwischen war der Hügelkamm, den sie anstrebten, nur noch wenige Bärenlängen entfernt. Im Näherkommen vernahm Toklo ein knackendes Geräusch, das ihm sehr bekannt vorkam, aber er brauchte kurz, bis ihm einfiel, was es war.
»Karibus!«, rief er.
»Oh, wunderbar!« Kallik preschte an ihm vorbei. Von der Anhöhe herab rief sie zurück: »Eine ganze Herde!«
Toklo setzte ihr eilig nach, Lusa und Yakone folgten dicht hinter ihm. Auf der anderen Seite des Hügels fiel das Gelände sanft ab. Die Karibuherde zog auf halber Höhe des Hangs an ihnen vorbei. Die Tiere wühlten mit ihren Nasen im Schnee, um an das Gras darunter zu gelangen. Dabei verursachten ihre Beine beim Gehen ein knackendes Geräusch, das die Bären bereits kannten.
In Toklo blitzte die Erinnerung an die Letzte Große Wildnis auf, wo sie zum ersten Mal auf Karibus getroffen waren. Er dachte daran, wie sie auf der Sterneninsel eine ganze Herde von ihnen vor sich hergetrieben hatten. Dabei hatten sie die grässliche Ölplattform der Flachgesichter, die die Wildnis zerstörte und die Seelen am Himmel vertrieb, niedergetrampelt und vernichtet.
Er schüttelte sich, um endlich alle Gedanken an die Vergangenheit zu vertreiben. Im Moment haben wir andere Probleme, ermahnte er sich, während er die Landschaft musterte und einen Überblick zu gewinnen versuchte.
Hinter den Karibus lief der Hang in einem schmalen Streifen aus flachem Eis aus. Auf der gegenüberliegenden Seite ragten dunkle, massige Berge empor.
»Das muss der Übergang sein.« Toklo deutete auf das Eis. »Das Schmelzende Meer müsste nun ganz in der Nähe sein.«
Kallik hielt erwartungsvoll die Nase in die Luft, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich kann nichts riechen, was mir bekannt vorkäme«, verkündete sie. »Wir sind noch zu weit weg, aber der Weg scheint der richtige zu sein.« Mit einem traurigen Schnauben fügte sie hinzu: »Es war alles so viel leichter, als Ujurak noch bei uns war.«
Toklo brummte zustimmend, während ihn der Schmerz des Verlusts erneut wie ein Stachel durchbohrte. Der kleine Braunbär hatte immer genau gewusst, in welche Richtung sie ziehen mussten, selbst wenn es keinerlei Hinweise gab. Jetzt konnten die Bären sich nur noch auf ihren eigenen Instinkt verlassen und gegebenenfalls auf Auskünfte von anderen Bären, falls sie überhaupt welche trafen. Und dann bleibt uns immer nur die Hoffnung, dass wir uns nicht getäuscht haben.
»Wenn dieser ewige Schnee nicht wäre, könnte man vielleicht auch mal erkennen, wo wir eigentlich hingehen«, grummelte er missmutig.
»Immerhin können wir die Stelle erkennen, wo der Übergang ist«, meinte Kallik. »Was ist denn jetzt mit den Karibus? Wir müssen uns überlegen, wie wir eins von ihnen von der Herde trennen und erlegen können.«
Vor Verblüffung blinzelnd, starrte Yakone sie an. »Ihr jagt Karibus?«, fragte er ungläubig. »Das ist doch kein Fressen für Eisbären!«
Toklo öffnete schon das Maul, um ihm gehörig die Meinung zu sagen: Hätten die Bären auf der Sterneninsel rechtzeitig gelernt, wie man Karibus jagt, hätten sie nicht hungern müssen, als die Robben krank wurden.
Aber Kallik kam ihm zuvor: »Es ist ganz großartiges Fressen. Du wirst sehen«, sagte sie und stieß ihn sanft mit der Schnauze in die Seite.
Toklo stapfte die Hügelkuppe entlang, um näher an die Karibus heranzukommen, wobei er darauf achtete, windabwärts von der Herde zu bleiben. Die riesigen Tiere schlängelten sich langsam voran und hatten offensichtlich keine Ahnung von der Gefahr, die auf sie lauerte.
Toklo entdeckte ein junges Männchen, das ganz am Rand ging und auf einem Huf lahmte. Er erinnerte sich an den Geschmack des Karibufleisches und schon lief ihm das Wasser im Maul zusammen.
»Der da«, murmelte er, während er mit der Schnauze auf das kranke Tier deutete. »Kallik, du schlägst einen Bogen und kommst von der anderen Seite. Achte darauf, dass sie dich nicht riechen.«
Kallik nickte und stapfte vorsichtig den Hang hinab, wobei ihr zugutekam, dass ihr weißes Fell inmitten des Schnees kaum zu sehen war.
»Yakone«, fuhr Toklo fort, »geh auch du langsam nach unten, aber bleib hinter der Herde, für den Fall, dass das Karibu, auf das wir es abgesehen haben, kehrtmacht.«
»Okay.« Yakone folgte Kallik ein Stück und versteckte sich dann hinter einem Felsvorsprung.
»Was ist mit mir?«, fragte Lusa mit glänzenden Augen.
Toklo zögerte. Lusa war viel kleiner als die anderen und daher viel mehr in Gefahr, von trampelnden Hufen verletzt zu werden. »Du bleibst hier«, entschied er. »Falls unsere Beute in diese Richtung ausbricht, brüll so laut du kannst und treib sie zurück.«
Für einen Moment schien Lusa enttäuscht. Womöglich hatte sie Toklo durchschaut und ärgerte sich über seine Sorge um sie. Doch dann nickte sie eifrig. »Alles klar.«
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass Kallik auf ihrem Posten war, erhob Toklo sich auf die Hinterbeine, streckte die Vordertatzen in die Luft und stieß ein mächtiges Brüllen aus. Die Karibus hielten inne, blickten auf und begannen sich dann unter lautem Hufgetrappel in Bewegung zu setzen.
Toklo ließ sich auf alle viere zurückfallen und stürmte den Hang hinab. Das hinkende Karibu konnte das Tempo der anderen nicht mithalten und fiel bereits zurück. Als es Toklo heranjagen sah, drehte es um und flüchtete in die andere Richtung. In dem rutschigen Schnee war es kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten.
Kallik war bereit. Aus einer flachen Senke heraus sprang sie dem Karibu entgegen. In heller Panik, den Kopf wild herumwerfend, machte es wiederum kehrt, nur um sich diesmal Yakone gegenüberzusehen, der mit weit aufgerissenem Maul und lautem Gebrüll herangestürmt kam. Umzingelt von den drei Bären, stieß das Karibu ein panisches Geheul aus. Toklo sprang es von hinten an, schlug seine Krallen in die feste Haut. Im selben Moment rammte Kallik es von der anderen Seite und brachte es aus dem Gleichgewicht.
»Hilf mit!«, rief sie Yakone zu.
Nach kurzem Zögern warf sich auch Yakone auf das Karibu, bohrte ihm die Krallen in den Rücken und zog es zu Boden.
Während Toklo sich mühte, die Beine des Karibus unter Kontrolle zu bekommen, bemerkte er, dass Lusa hinzugeeilt war und sich am Nacken des Tieres festklammerte. Verzweifelt versuchte es, sich wieder aufzurichten, und stemmte die kleine Schwarzbärin dabei fast mit hoch. Toklo richtete sich auf und schlug seine Krallen in den Hals des Karibus. Blut sprudelte in den Schnee und das Tier erschlaffte.
Keuchend erhoben sich alle vier Bären und blickten stolz auf ihre Beute.
»Gute Arbeit«, brummte Toklo anerkennend.
»Probier mal.« Kallik schob Yakone näher an das tote Karibu heran. »Nur zu. Es wird dir bestimmt schmecken.«
Etwas unsicher kauerte Yakone sich nieder, riss dann aber einen gewaltigen Bissen Fleisch aus der Beute. Während er kaute, gab er ein tiefes, genüssliches Brummen von sich.
»Das ist köstlich!«
»Sag ich doch«, erwiderte Kallik zufrieden und ließ sich neben ihm nieder. »Seid bedankt, ihr Seelen, für diese Beute.«
Lusa und Toklo schlossen sich den beiden an. Toklo seufzte vor Genugtuung, als er seine Zähne in das warme Karibufleisch schlug. Es war lange her, seit sie sich zuletzt hatten satt fressen können.
»Ihr seid wirklich alle richtig gut beim Jagen«, stellte Yakone bewundernd fest, sobald sein größter Hunger gestillt war. »Und ihr seid ein echtes Team.«
»Wir haben Übung«, entgegnete Toklo knapp.
»Du bist jetzt auch ein Teil des Teams.« Kallik rückte näher an den anderen Eisbären heran. »Es ist hilfreich, wenn man verschiedene Jagdmethoden kennt.«
Yakone nickte beeindruckt. »Offensichtlich.«
Lusa hatte nur einige wenige Bissen von dem Fleisch gefressen. Bald wandte sie sich von dem Kadaver ab und begann im Schnee herumzuscharren. »Nanulak hat mir gezeigt, wie man Pflanzen erschnuppert, die unter dem Schnee wachsen«, erläuterte sie, während sie einen dürren Busch freilegte, an dessen Zweigen einige gräuliche Blätter hingen. Sie nahm sich ein Maulvoll. »Das ist wahre Schwarzbärenkost«, gab sie mampfend zu verstehen.
Toklo, für den die Blätter ausgesprochen trocken und unappetitlich aussahen, starrte sie an. »Ja, alles klar«, murmelte er. »Lass es dir schmecken.«
Während sie mit Fressen beschäftigt waren, sank die Sonne bis knapp über den Horizont und färbte den Schnee rot. Als sie satt waren, wurden die Bären müde. Also rollten sie sich im Schutz des Felsens zusammen, hinter dem Yakone sich bei der Karibujagd versteckt hatte. Auf der einen Seite von Kallik, auf der anderen von Lusa gewärmt, machte Toklo es sich gemütlich, doch in seinem Innern quälte ihn die Trauer.
Viele solcher Nächte, wo wir alle zusammen sind, wird es nicht mehr geben. Kallik kehrt heim und das wird sie sicherlich glücklich machen. Ich will ihr nicht im Weg stehen. Sie gehört zu meiner Familie, und ich kümmere mich um sie, bis ich weiß, dass sie in Sicherheit ist. Aber was wird dann?
baeren.jpg

2. KAPITEL
Lusa
Das Flüstern eines kalten Windes weckte Lusa. Sie schlug die Augen auf und sah die schneebedeckte Landschaft im blassen Licht der Morgendämmerung schimmern. Als sie das Maul zu einem herzhaften Gähnen aufriss, bemerkte sie, dass ihre drei Gefährten bereits um den Karibukadaver versammelt waren.
Gut. Sie werden den Tag ordentlich gesättigt angehen können.
Trübe blinzelnd rappelte sie sich hoch und trat stolpernd aus dem Schutz des Felsens heraus.
»Hallo, Lusa.« Kallik blickte auf, das Maul voller Fleisch. »Komm, bedien dich.«
Lusa schüttelte den Kopf und scharrte stattdessen im Schnee, bis noch mehr von den gräulichen Blättern zum Vorschein kamen, die sie am Abend zuvor gefressen hatte. Neue Energie strömte in ihren Körper, während sie auf den Zweigen herumkaute.
»Also gut, gehen wir«, verkündete Toklo schließlich, hievte sich hoch und entfernte sich schweren Herzens von den Überresten des Karibus. »Ich wünschte, wir könnten das übrige Fleisch mitnehmen, aber das geht leider nicht.«
»Mach dir nichts draus.« Kallik erhob sich ebenfalls. »Für die Füchse wird es ein Festessen sein und wir hatten immerhin zwei anständige Mahlzeiten.«
Nachdem er einen letzten Bissen genommen hatte, schloss auch Yakone sich Toklo und Kallik an. Lusa sprang eilig hinterher, als die Gruppe den Hügel hinab auf die Eisfläche zumarschierte, die die Insel vom Festland trennte.
»Wenn wir da erst mal rüber sind, sind wir schon fast am Schmelzenden Meer!«, rief Kallik aufgeregt und wurde immer schneller, bis sie im Laufschritt den Hang hinunterstürmte. Ein freudiges Brüllen ausstoßend, jagte Yakone ihr nach.
Lusa folgte, aber sehr viel langsamer, denn sie konnte die Begeisterung ihrer Freunde nicht richtig teilen.
Ich hasse es, übers Eis zu gehen. Es ist so kalt, dass einem die Pfoten schmerzen, und für Schwarzbären gibt es dort absolut nichts zu fressen.
Sie erschauderte bei dem Gedanken daran, wie der bitterkalte Wind auf dem Eis ihr um die Ohren pfeifen und in die Knochen fahren würde. Aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich darüber zu beklagen. Dies war nun mal der Weg, den sie gehen mussten. Außerdem wirkte Kallik so glücklich, seit sie sich ihrer Heimat näherten, und Lusa wollte ihr diese Freude nicht verderben.
Immerhin scheint es keine allzu weite Strecke zu sein. Sicherlich wird es diesmal nicht so schlimm werden.
Als sie und Toklo am Rande der Eisfläche zu den Eisbären aufschlossen, bekamen sie noch einen Teil von deren Unterhaltung mit.
»… die Augen nach Robbenlöchern offen halten«, sagte Yakone gerade. »Es müsste jede Menge dort draußen geben.«
Igitt! Robbenfleisch!, dachte Lusa, sagte aber nichts. Ihr war klar, dass sie in den kommenden Tagen vielleicht irgendwann froh sein würde, ein Stück Robbenfleisch zu bekommen, auch wenn es ihr schwer im Magen liegen würde.
Ich werde die Zähne zusammenbeißen, nahm sie sich vor. Ich bin schließlich kein kleines Junges mehr!
Gleich darauf entdeckte sie einen Dornbusch, der im Schutze eines Felsens am Uferrand wuchs. Gierig machte sie sich über die Blätter her. Und es hingen sogar noch ein paar verschrumpelte Beeren an den Zweigen.
Kallik betrat als Erste das Eis. Nachdem sie ihr ein Stück gefolgt war, blieb Lusa noch einmal stehen, um einen letzten Blick auf die Insel zu werfen. Ihr dunkler Umriss erinnerte Lusa an ein riesiges Tier, zusammengekauert, wie zum Sprung bereit.
Ich wusste, dass es Probleme geben würde, noch bevor wir die Insel betraten, erinnerte sie sich mit einem erleichterten Seufzer, da dieses Abenteuer nun glücklich überstanden war. Niemals würde sie die Schrecken der unterirdischen Gänge vergessen, in denen Toklo sich verirrt hatte, oder den Schock und den Abscheu, als sie Nanulaks Verrat entdeckt hatten. Ich möchte nie wieder hierher zurückkehren.
Froh, der verwünschten Insel den Rücken kehren zu können, richtete Lusa ihren Blick auf die Hügel auf der anderen Seite des Eises. Sie schienen zum Greifen nahe. Aber im selben Moment wurde ihr klar, dass sie nicht so leicht zu erreichen sein würden. Die Oberfläche, auf der sie sich bewegten, war rauer als gewohnt, an vielen Stellen war es, als hätten aneinanderreibende Eisschollen Schwellen aufgeworfen, die schwer zu übersteigen waren und sich schmerzhaft in Lusas Pfoten bohrten.
»Seht euch das an!«, rief Kallik von vorn.
Nachdem sie sich ein weiteres Stück über das beschwerliche Eis geschleppt hatte, erblickte Lusa einen sehr viel glatteren Abschnitt, der sich weithin nach beiden Seiten zog und parallel zur Hügelkette am anderen Ufer verlief. An seinen Rändern jedoch war das Eis noch zerklüfteter und kam ihr vor wie eine winzige Berglandschaft mit lauter kleinen Gipfeln.
»Wie ist das entstanden?«, fragte sie.
»Vermutlich durch eins der speziellen Feuerbiester, die die Flachgesichter auf dem Meer benutzen«, antwortete Toklo nach kurzem Überlegen. »Es hat sich hier durchgezwängt und dabei das Eis zermalmt. Und als es weg war, ist das Wasser wieder zugefroren.«
Lusa erschauderte, als sie an das Feuerbiest dachte, dem sie nach Verlassen der Sterneninsel begegnet waren. Sie hatten durch das eiskalte Wasser schwimmen müssen, während Flachgesichter mit Feuerstöcken auf sie schossen. »Hoffentlich kommt es nicht zurück.«
Toklo nickte. »Diese Dinger sind gefährlich. Wir sollten schauen, dass wir weiterkommen.«
Voller Sorge blickte Lusa sich immer wieder um, während sie über das scharfkantige Eis am Rande der Feuerbiesterspur kletterte. Es war nichts zu sehen von dem riesigen Wesen mit seinen glitzernden, unnatürlichen Farben, aber sie wurde erst ruhiger, als sie die sonderbare Spur weit hinter sich gelassen hatten.
Ihre Pfoten schmerzten immer heftiger, als sie versuchte, einen Weg durch das zerfurchte Eis zu finden. Auch Toklo humpelte fürchterlich, wie sie bemerkte, und selbst Kallik und Yakone hatten Schwierigkeiten beim Gehen.
Ich wünschte, meine Beine wären länger, grummelte sie für sich, während sie sich eine Erhöhung hinaufquälte und sich auf der anderen Seite hinuntergleiten ließ. Bei diesem Tempo brauchen wir Tage für die Überquerung.
Sie bemerkte, dass sie zusehends zurückfiel. Manchmal, wenn sie die flachen Stücke zwischen den Erhöhungen durchquerten, verlor sie die anderen sogar ganz aus den Augen. Aber das zerborstene Eis stach ihr in die Pfoten, und sosehr sie sich auch bemühte, sie kam einfach nicht schneller voran.
Schließlich blieb Kallik stehen, um auf sie zu warten. »Komm«, sagte die Eisbärin, »steig auf meinen Rücken. Ich trage dich ein Stück.«
»Ich bin doch kein Junges!«, empörte sich Lusa. »Ich kann das allein.«
Kallik seufzte. »Ich weiß. Aber für dich ist es viel schwerer als für uns. Lass mich dir helfen.«
Eigentlich wollte Lusa das Angebot ausschlagen, aber sie war so erschöpft und ihre Pfoten schmerzten so sehr, dass sie am Ende doch auf den Rücken der Freundin kletterte. »Danke, Kallik«, murmelte sie, als sie sich in den dichten weißen Pelz schmiegte.
Selbst mit dem zusätzlichen Gewicht auf dem Rücken schritt Kallik viel zügiger über das Eis, als Lusa das gekonnt hätte. Fast ohne jedes Zögern stieg sie über die schartigen Anhöhen und bald hatte sie Toklo und Yakone eingeholt. Eine Weile kamen sie gut voran und die Hügel vor ihnen schienen langsam näher zu rücken. Doch dann begannen ihre Umrisse nach und nach zu verschwimmen, gleichzeitig wurde die Luft kälter.
»Nebel«, murmelte Toklo. »Das hat uns noch gefehlt.«
Während der Nebeldunst sie umschloss und mit jedem Schritt dichter zu werden schien, stellte Lusa fest, dass sie so etwas noch nie erlebt hatte. Die Luft war voller winziger Eiskristalle, die ihr in die Augen stachen oder sich wie gefrorene Dornen in ihren Pelz bohrten.
»Was ist das?«, wimmerte sie.
»Diese Art von Nebel habe ich schon einige Male auf der Sterneninsel erlebt«, erklärte Yakone. »Er tritt nur auf, wenn es ganz besonders kalt ist. Da kann kein Bär etwas dagegen tun, außer sich Schutz zu suchen, bis es vorbei ist.«
»Als wäre das hier draußen möglich«, knurrte Toklo.
Bald wurde der Nebel so dicht, dass die Berge, auf die sie zusteuerten, nicht mehr zu sehen waren. Lusa war sich nicht einmal sicher, ob sie noch in die richtige Richtung gingen, wenngleich Kallik und Yakone zielsicher voranschritten und ihnen das stechende Eis weniger zu schaffen machte als Lusa und Toklo.
Lusa hatte in ihrem ganzen Leben noch nie so gefroren. »Wenn das so weitergeht, bin ich auch bald ein Eisbär«, murmelte sie.
In der Hoffnung, weiter unten mehr Schutz zu finden, glitt sie von Kalliks Rücken herab und stapfte neben ihrer Freundin her. Für eine kleine Weile schien sie besser voranzukommen, aber bald verfingen sich Eiskristalle in Lusas Fell. Je mehr es wurden, desto mehr Gewicht hatte sie zu schleppen, und es kostete sie immer größere Mühe, eine Pfote vor die andere zu setzen.
Sie blieb kurz stehen, um Luft zu holen und sich einige Eiskristalle aus dem Fell zu klauben. Aber kaum hatte sie einen entfernt, setzte sich schon der nächste fest.
Ich sehe tatsächlich schon fast aus wie ein Eisbär.
Als sie aufblickte, konnte sie Kallik und die anderen nicht mehr erkennen, ihre Gestalten hatten sich im dichten Nebel verflüchtigt. Aufmerksam lauschend, glaubte sie Schritte zu hören, doch dann verklangen auch diese. Lusa war sich nicht einmal sicher, in welche Richtung sie sich fortbewegt hatten.
Sie riss das Maul auf, um ihre Freunde zu rufen, hielt dann aber inne.
Wenn ich das tue, ist klar, dass ich mich verlaufen habe. Dann wissen die anderen, dass ich Hilfe brauche. Sie halten mich jetzt schon für ein kleines Junges, aber das bin ich nicht!
Als sie daran dachte, wie oft sie schon die Hilfe anderer Bären benötigt hatte, fasste Lusa den Entschluss, dass sie sich diesmal selber helfen würde.
Sobald wir Kalliks Heimat am Schmelzenden Meer erreicht haben, werden wir getrennte Wege gehen. Aber bevor es so weit ist, muss ich beweisen, dass ich ihnen ebenbürtig bin.
Doch als Lusa losmarschierte, war der Nebel so dicht, dass sie kaum ihre eigenen Pfoten erkennen konnte. Jeder Atemzug fühlte sich an, als hätte sie Stacheln im Hals. Sie war sich nicht sicher, ob ihre Freunde überhaupt bemerkt hatten, dass sie zurückgefallen war. Wenn sie glauben, dass ich immer noch bei ihnen bin, dann könnten sie jetzt schon weit weg sein. Panik stieg in ihr auf.
Sie war erst einige Schritte vorangekommen, da stieß Lusa auf eine Eisschwelle mit einem tiefen Riss, der sich von oben nach unten zog. Das habe ich doch schon mal gesehen! Gehe ich etwa im Kreis? Sie war so erschrocken, dass sie sich kaum noch zu rühren wagte.
Während sie wie am Boden festgefroren verharrte, hörte Lusa ein klapperndes Geräusch. Ein riesenhaftes Karibu tauchte aus dem Nebel auf und blieb vor ihr stehen. Lusa war so in Panik, dass sie sich keine Gedanken darüber machte, wie seltsam es war, an diesem Ort auf ein Karibu zu stoßen.
Oh nein! Ist es gekommen, um sich zu rächen, weil ich mich an der Jagd beteiligt habe?
In der verzweifelten Hoffnung, es notfalls auch mit einem Karibu aufnehmen zu können, wartete Lusa auf den Angriff. Es hat weder scharfe Zähne noch Krallen. Wie gefährlich kann es schon sein?
Da sprach eine Stimme in ihrem Kopf: »Folge mir.«
Lusa mochte kaum glauben, was sie da hörte. Sie blinzelte sich Eiskristalle aus den Augen und starrte zu dem Karibu hinauf. »Ujurak?«, flüsterte sie.
Wieder sprach die Stimme: »Ja, ich bin hier. Folge mir, dann finden wir die anderen. Bleib dicht hinter mir.«
»Aber ich kann kaum etwas sehen in diesem Nebel«, wandte Lusa ein.
»Dann geh dem Geräusch meiner Schritte nach«, erwiderte Ujurak.
Er senkte den Kopf mit dem mächtigen Geweih und setzte sich in Bewegung. Obwohl sie seine massige Gestalt hin und wieder aus den Augen verlor, konnte Lusa ihm ohne Schwierigkeiten folgen, da das typische Knacken seiner Füße stets deutlich zu hören war.
»Ich möchte die anderen nicht aufhalten«, gestand Lusa laut, wobei sie versuchte, nicht wehleidig zu klingen. »Aber ich habe Angst, dass sie ohne mich weitermarschieren, wenn sie glauben, dass ich mich verirrt habe.«
»Sie würden dich niemals im Stich lassen.« Ujuraks Stimme hatte einen so beruhigenden Klang. »Sie sind deine Familie. Ihr gehört zusammen, das wissen sie alle.«
Ganz allmählich lichtete sich der Nebel. Schließlich gelangten sie an eine Stelle, wo er sich zu einem eisigen Dunst auflöste. Weiter vorn konnte Lusa Stimmen hören und Gestalten erkennen, die sich aufgeregt im Kreis bewegten.
»Lusa! Lusa, wo bist du?«
»Hier!« Lusa rannte auf ihre Freunde zu. »Ich habe euch plötzlich verloren, aber Ujurak hat mich gefunden. Er ist ein Karibu – da, seht!« Sie drehte sich um, doch außer der eisigen Nebelwand war nichts mehr zu erkennen. Das Karibu war verschwunden.
»Wenigstens bist du wieder da«, brummte Toklo.
»Und es ist gut zu wissen, dass Ujurak immer noch bei uns ist«, fügte Kallik mit glänzenden Augen hinzu.
»Er sollte nicht auf uns aufpassen müssen«, gab Toklo mit einiger Schärfe zurück. »Wir sollten in der Lage sein, das selbst zu tun.«
Während sie sich einerseits schuldig fühlte, weil sie diejenige war, die Ujuraks Hilfe benötigt hatte, fragte Lusa sich gleichzeitig, worüber Toklo so verärgert war. Er hätte doch eigentlich froh darüber sein müssen, dass Ujurak sich noch immer um sie kümmerte, obwohl er zu seinem Zuhause bei den Sternen zurückgekehrt war.
»Es ist zu mühsam hier draußen«, fuhr Toklo mit funkelndem Blick auf Kallik fort. »Vielleicht hätten wir den Übergang anderswo suchen sollen.«
»Aber anderswo fängt das Eis vielleicht schon an aufzubrechen«, entgegnete Kallik in leicht gereiztem Ton.
»Ja, das hier ist der Weg, den Nanulaks Familie uns empfohlen hat«, sprang Yakone der Eisbärin bei.
»Dann müssen wir schneller vorankommen«, erwiderte Toklo schroff. »Und aufpassen, dass wir Lusa nicht wieder verlieren.«
Mitten in der eiskalten Nebelluft wurde Lusa ganz heiß vor Verlegenheit darüber, dass Toklo vor allen durchblicken ließ, dass sie die Gruppe aufhielt.
»Ich kann durchaus mithalten«, versicherte sie.
»Am besten setzt du dich wieder auf meinen Rücken«, sagte Kallik und trat zu ihr.
Eigentlich hätte Lusa gern protestiert, aber die Blicke aller Bären waren auf sie gerichtet, und es war ihr zu peinlich, sich zu sträuben. Kaum war sie auf Kalliks Rücken geklettert, marschierte die Eisbärin los. Bereits nach wenigen Schritten wurde der Nebel wieder dichter. Dennoch bekam Lusa, als sie nach vorn blickte, einen Eindruck davon, wie viele Eisschwellen noch zu überqueren waren. Wie gut, dass Kallik sie trug.
Yakone übernahm die Führung und schlug ein Tempo an, mit dem Toklo sichtlich seine Probleme hatte.
»Wozu die Eile?«, keuchte der Braunbär.
»Wir müssen schnell hier wegkommen«, antwortete Yakone. »Hast du selbst gesagt.«
Toklo brummte ungehalten. »Das Eis wird uns nicht gerade jetzt unter den Pfoten wegbrechen.«
»Darum geht es nicht.« Yakone zögerte verlegen, dann fügte er hinzu: »Einige der älteren Bären auf der Sterneninsel behaupten, dass es nicht gesund ist, die Kristalle des Eisnebels einzuatmen.«
»Was? Im Ernst?«, fragte Kallik ungläubig.
»Allerdings habe ich selbst nie mitbekommen, dass jemand davon krank geworden wäre«, beruhigte sie Yakone. »Ich berichte nur, was diese Bären gesagt haben.«
Lusa konnte sich gut vorstellen, dass das stimmte. Sie alle hatten Probleme beim Atmen, auch ihr Magen machte ihr zu schaffen. Aber vielleicht liegt das daran, dass wir erschöpft sind, und hat gar nichts mit dem Nebel zu tun.
»Selbst wenn es wahr ist, können wir es nicht ändern«, erwiderte Toklo. »Wir müssen nun mal atmen.«
Sie machten sich wieder auf den Weg, aber Lusa konnte erkennen, dass alle drei mit jedem Schritt müder wurden und es ihnen immer schwerer fiel, die Eisschwellen zu überqueren. Kallik ließ zusehends den Kopf hängen, und das schlechte Gewissen darüber, dass sie es ihr noch zusätzlich schwer machte, drückte wie ein Stein in Lusas Magen.
»Es hat keinen Zweck«, verkündete Toklo schließlich, als sie sich einer besonders steilen Eisschwelle näherten. »Es wird schon dunkel und wir schaffen es sowieso nicht, heute noch vom Eis zu kommen.«
Yakone schien widersprechen zu wollen, aber bevor er das Maul öffnen konnte, ließ Kallik sich aufs Eis sinken, und Lusa glitt von ihrem Rücken. »Du hast recht, Toklo. Lasst uns hier übernachten.«
Der Nebel war so dicht, dass Lusa gar nicht bemerkt hatte, wie das Licht des kurzen Schneehimmeltages verschwunden war. Als sie sich umblickte, erkannte sie, dass bereits die Nacht anbrach. Gemeinsam mit ihren Freunden machte sie es sich im Schutz der Eisschwelle so bequem wie möglich und legte die Pfoten über ihre Nase, um die Eiskristalle abzuhalten. Für alle Fälle, dachte sie benommen. Ein Blick zur Seite zeigte ihr, dass die anderen das Gleiche taten. Bald war sie eingeschlafen.
Als sie in der Nacht einmal aufwachte, hatte sich der Nebel gelichtet. Der Mond tauchte das Eis in ein gespenstisch silbernes Licht und die Sterne strahlten mit frostigem Glanz am schwarzen Himmel.
Lusa reckte den Hals, um über Kalliks reglos daliegenden Körper hinweg nach Ujuraks Sternbild Ausschau zu halten. Er war der Jüngste von uns allen, dachte sie, aber dann hat er sich als stark und weise erwiesen. So stark war er, dass er sie aus dem Eisnebel gerettet hatte.
»Ich bin auch stark, Ujurak«, flüsterte sie.
Die tröstliche Gewissheit, dass der Sternenbär sie immer im Blick hatte, umhüllte sie wie ein dichter Pelz, und mit dem Glanz seines Sternenlichts in den Augen sank sie zurück in den Schlaf.
baeren.jpg

3. KAPITEL
Kallik
Kallik blickte zu den Hügeln hinüber und atmete tief ein.
»Ich kann das Land riechen!«, verkündete sie und die freudige Erregung sprudelte aus ihr heraus wie frisches Quellwasser.
Das Licht des anbrechenden Tages sickerte übers Eis und nach dem schrecklichen Nebel des Vortags war der Himmel jetzt völlig klar. Ihre Gefährten erhoben sich mühsam, noch steif vom Liegen auf dem harten Untergrund.
»Brechen wir auf!«, drängte Kallik. »Es ist nicht mehr weit.« Ohne abzuwarten, ob die anderen schon bereit waren, trabte sie los.
»He!«, rief Yakone ihr nach. »Wir sollten erst einmal jagen gehen.«
Kallik blieb stehen und wartete, dass der Bär mit dem rötlichen Fell zu ihr aufschloss. »Es wird hier keine Robbenlöcher geben«, entgegnete sie. »Bestimmt sind alle Robben von den Feuerbiestern der Flachgesichter vertrieben worden. Außerdem ist das Eis zu dick für Robbenlöcher.«
Yakone blickte sich mit Unbehagen um. »Das ist wirklich eine seltsame Art Eis hier«, murmelte er.
»Lasst uns einfach an Land gehen«, drängte Toklo, der soeben mit Lusa herankam. »Dort können wir genauso gut jagen.«
Die Sonne stieg am Horizont auf und ließ das Eis glitzern. Kalliks Erregung steigerte sich noch, während sie mit ihren Gefährten den letzten beschwerlichen Abschnitt des Eises überquerte, bevor sie dann endlich das mit Kieselsteinen und Schnee bedeckte Ufer erreichten.
»Den Seelen sei gedankt!«, rief Lusa. »Ich dachte schon, wir würden niemals ankommen.«
Kallik blieb am Rande des Eises stehen und hielt nochmals die Nase schnuppernd in die Luft. »Ich bin mir sicher, dass das Schmelzende Meer ganz in der Nähe ist!«, erklärte sie.
»Erst gehen wir jagen, dann machen wir uns auf den Weg«, entschied Toklo.
Es juckte Kallik in den Pfoten, sofort weiterzuziehen. Jetzt, wo sie dem Ziel so nahe waren, war ihr jeder Aufschub zuwider. Ich möchte Yakone meine Heimat zeigen! Und vielleicht werde ich Taqqiq dort finden!
Schmerzliche Erinnerungen stellten sich ein. Kalliks Bruder war zuerst ein Stück weit mit ihnen gezogen, hatte sie dann aber wieder verlassen, um zum Großen Bärensee zurückzukehren. Sie hatte nie ganz das Gefühl abschütteln können, ihn verraten zu haben, als sie sich entschieden hatte, bei ihren Freunden zu bleiben.
Was, wenn er es nicht geschafft hat, allein zu überleben? Was, wenn diese schrecklichen Bären, mit denen er zusammen war, ihn in ernste Schwierigkeiten gebracht haben? Sie könnten von größeren Bären angegriffen worden sein! Und vielleicht würde Taqqiq mir dafür die Schuld geben, weil ich ihn im Stich gelassen habe.
Kallik schreckte zusammen, als eine Schnauze sie in die Seite stupste. Es war Yakone, der sich unbemerkt genähert hatte. »Was ist los?«, fragte er sanft.
Als sie in sein freundliches Gesicht blickte, verloren Kalliks Sorgen plötzlich an Bedeutung. »Alles in Ordnung«, versicherte sie. »Ich versuche nur, mich an den Weg zum Schmelzenden Meer zu erinnern.«
»Ich kann Meereis riechen«, erklärte Yakone.
Kallik nickte. Auch sie hatte den Geruch in der Nase, und er kam nicht nur von dem Eis, das sie gerade überquert hatten. Ein Hauch von Salzwasser wehte zu ihnen, aus größerer Entfernung, wo das Eis bereits aufzubrechen begann. Aber irgendwie zogen ihre Pfoten sie in eine andere Richtung, vom Meer weg und über die Berge, die die Küste abschirmten.
»Wir können der Küstenlinie folgen«, fuhr Yakone fort. »Wir können Robben jagen und schwimmen. Das wird toll!«
Für einen Moment war Kallik in Versuchung, ihm zuzustimmen. Wie gern hätte sie ein Eisbärenleben zusammen mit Yakone geführt! Aber dann fiel ihr Blick auf Lusa.
»Sie ist nicht dafür geschaffen, übers Eis zu gehen«, murmelte sie, indem sie mit der Schnauze auf die kleine Schwarzbärin deutete. »Wir müssen an Land bleiben und eine Route über die Berge suchen. Das geht schneller, und es ist ein wesentlich kürzerer Weg, als wenn wir an der Küste entlanggehen.«
Noch während sie sprach, sah sie Ungeduld in Yakones Augen aufblitzen. »Ich finde es großartig, dass du an deine Freunde denkst«, begann er, »aber du selbst und das, was du willst, sollten an erster Stelle kommen. Es ist viel leichter, etwas zu fressen zu finden, wenn wir der Küste folgen, auch wenn es der längere Weg ist.«
Mit bangem Herzen fragte sich Kallik, ob Yakone je begreifen würde, wie eng und stark die Bande waren, die sich zwischen ihr, Lusa und Toklo entwickelt hatten. »Sie sind nicht nur meine Freunde, sie sind meine Familie«, erwiderte sie leise. »Wenn du das nicht verstehen kannst, dann … dann werden wir uns vermutlich ständig streiten.«
Yakone schien bestürzt. Vielleicht hatte er sich tatsächlich nicht klargemacht, wie stark Kalliks Gefühle für ihre Freunde waren. Er schwieg und Kallik sah ihn beklommen an. Würde er mich wirklich zwingen, zwischen ihm und den anderen zu wählen? Wie um alles in der Welt sollte ich mich da entscheiden?
Aber Yakones Augen blickten ihr mit Wärme und Zuneigung entgegen. »Ich möchte mit dir zusammen sein«, erklärte er. »Selbst wenn das bedeutet, dass ich über Berge klettern muss.« Er neigte den Kopf herüber und leckte ihr sanft über die Ohren. »Keine Sorge. Gemeinsam werden wir mit allem fertig.«
Trotz seiner Worte war Kallik unsicher, ob Yakone die Tiefe ihrer Beziehung zu den anderen Bären begriff. Wie sollte er auch?, fragte sie sich. Er ist unter Eisbären aufgewachsen. Er hatte keine Ahnung, dass es auch andere Bärenarten gibt, bis wir auf der Sterneninsel aufgetaucht sind.
Sie wusste, dass Yakone ein anständiger Bär war, gütig und ihr treu ergeben. Und sie wusste auch, dass er echte Freundschaft mit Lusa und Toklo geschlossen hatte. Aber ich komme immer an erster Stelle für ihn, und obwohl er mir sehr wichtig ist, empfinde ich umgekehrt nicht das Gleiche für ihn.
»Hey!« Toklos Ruf unterbrach Kalliks Grübeleien. »Wollt ihr fressen oder nicht?«