Bärenreiter BasiswissenHerausgegeben vonSilke Leopold und Jutta Schmoll-Barthel
Marie-Agnes DittrichGrundwortschatz Musik55 Begrie, die man kennen sollteBärenreiter Kassel Basel London New York Praha
Gefördert durch die Landgraf-Moritz-Stiftung, KasselBibliograsche Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograe; detaillierte bibliograsche Daten sind im Internet über www.dnb.deabrufbar.eBook-Version 20142. Auflage 2011© 2008 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, KasselUmschlaggestaltung:+  Lektorat: Jutta Schmoll-BarthelRedaktion: Christiana NobachKorrektur: Caren Benischek, HeidelbergNotensatz: Joachim Linckelmann, MerzhausenInnengestaltung und Satz: Dorothea Willerding978-3-7618-7002-0102-03www.baerenreiter.comeBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, FreiburgDie Bände dieser Reihe: Grundwortschatz Musik · 55 Begriffe, die man kennen solltevon Marie-Agnes DittrichMusikalische Meilensteine · 111 Werke, die man kennen sollte2 Bände · vonSilke Leopold, Dorothea Redepenning und Joachim SteinheuerMusik und Bibel · 111 Figuren und Motive, Themen und Texte Band 1: Altes Testament· Band 2: Neues Testament· von omas SchippergesMusikalische Formen · 20 Möglichkeiten, die man kennen solltevon Marie-Agnes DittrichKlaviermusik · 55 Begriffe, die man kennen solltevon Annegret Huber
In dem Meer der Informationen, die das Internet,die Enzy -klopädien, die wissenschaliche Spezialliteratur bereitstel len, fehlt vorallem eines: Orientierung. Woanfangen,woraufaufbauen? Welche Begrie muss ich kennen, um zu nden, wonach ich suche? Welche historischen und kulturellenGrund-lagen helfen mir, das schier unendliche Universum der Musik besser zu verstehen? Was muss ich wissen und kennen,um zu neuen, unbekannten Ufern aufbrechen zu können? Bärenreiter Basiswissengibt auf diese Fragen Antworten.Die Bände sind Navigationsinstrumente: Sie helfen, sich in der Flut der verfügbaren Materialien zurechtzunden und Pöcke einzuschlagen,auf denen später Wissensgebäude errichtet wer den können. Sie vermitteln Grundlagenwissen und geben Tipps für die Erweiterungdes Bildungshorizonts. Komplexes Wissen wird knapp, aber fundiert zusammengefasst. Die Bände sind für Musikinteressierte jeden Alters geschrie-ben, vor allem aber für Schüler und Studierende, die trotz verkürzter Ausbildungszeiten solidesBasiswissen erwerben wollen. Sie erleichterndas Hören, Lesen, Studieren und Ver-stehen von Musik.Bärenreiter BasiswissenEin Navigator durch die Wissenslandschaft
Einleitung 81 Akkord 102 Arie 123 Atonalität144 Chor 165 Choral 186 Dur und Moll 207 Fantasien 228 Form 249 Fuge 2610 Funktionsharmonik 2811 Generalbass 3012 Harmonik 3213 Improvisation3414 Instrumentation 3615 Instrumente 3816 Interpretation 4017 Isorhythmie 4218 Kadenz 4419 Kammermusik 4620 Kantate4821 Kirchentonarten 5022 Kontrapunkt 5223 Konzert 5424 Lied 5625 Madrigal 5826 Melodie 6027 Mensuralnotation 6228 Messe 6429 Metrum 6630 Modulation 6831 Motette 70Inhalt
32 Motiv 7233 Notation 7434 Oper 7635 Oratorium 7836 Orchester 8037 Ouvertüre 8238 Partitur 8439 Programmmusik 8640 Rezitativ 8841 Rhythmus 9042 Satztechnik 9243 Sinfonie 9444 Sonate 9645 Sonatensatz 9846 Stil 10047 Stimme und Stimmführung 10248 Stimmung 10449 Suite 10650 Takt 10851 Tempo 11052 Thema 11253 Tonalität 11454 Variation 11655 Zwölftontechnik 118Über die Autorin 120
8»Grau,teurer Freund,ist alle eorie« – dieses Wort wirdgern mit Beifall zitiert, o mitder Quellenangabe, dieQualität verbürgt: Goethes Faust. Aber bei Goethe spricht der Teufel.Mephisto verkleidet sich als Professor, um einen Studenten in den Ruin zu treiben. Und der fällt,wie Tausende nach ihm, auf den Spruch herein. Nicht einmal der unsinnige Satz danach (»und grün des Lebens goldner Baum«) macht ihn misstrauisch. Und so vertraut er auch dem Ratdes falschen Professors: Man solle immer nur einer einzigen Lehrmeinung glauben und sich mit Begrien »nicht allzu ängstlich quälen«: »Denn eben wo Begrie fehlen, / Da stellt ein Wort zur rech-ten Zeit sich ein. / MitWorten lässt sich trelich streiten, / Mit Worten ein System bereiten,/ An Worte lässtsich tre lich glauben, / Von einem Wort lässt sich kein Jota rauben.«Wenn der Teufel behauptet, Theorie und Leben seien Gegensätzeund durchdachte Begrie durch leereWorte zu ersetzen, will erdem Studenten das Begreifen und den Zwei-fel verleiden.Heute würde er zum selben Zweck vielleicht auf gut gefüllteBibliotheken und das Internet verweisen, um Wissensdurstige in Informationsuten zu ertränken.Wer in diesen reichen Gewässern stattdessen Wissenssche fangen will, braucht ein Netz: die Vernetzung von Worten zu Vorstellungen und Begriffen, die Verdichtung von Fak ten und Informationen zu Wissen. 55 Grundbegriezur musikalischen eorie und Praxis spannen zwar noch kein engmaschigesNetz,aber sie zeigen, wie Fäden verknüp und weitergesponnen werdenkönnen: von elementaren Materia-lien (Dur und Moll) zu komplexeren (Zwölftontechnik, Kir-chentonarten); von großen Gattungen (Messe, Oper, Sinfonie) zu intimeren (Lied)und winzigen (Battaglia, im Artikel Pro-grammmusik); vom Allgemeinen (Form) zumSpeziellen (Fuge, Sonatensatz); von der eorie zum Baum des Lebens, Einleitung
9der übrigens,wenigstens fürBauern,weder grün noch golden war (siehe dazu, unter Metrum, Mozarts Don Giovanni).Das Zentrum des in diesem Buch ausgeworfenen Wissens-netzes liegt in Europa. Man sollte dies allerdings nicht als eurozentrisch in dem Sinne auffassen, dass die europäische Musikanderen Musikkulturen überlegen wäre (vgl. dazu den Artikel Rhythmus). Im Rahmen der vielen Musikarten Euro-pas konzentriert sich dieser »Grundwortschatz« auf ein Reper-toire,das Liebhaber Alter Musik, »klassischer« und Neuer Musikinteressiert und das Studienanfänger in künstlerischen und geisteswissenschalichen Fächernin deutschsprachigen Ländern kennen sollten – erstens,weil diese Musikganz be-sonders auf ein Verständnis angewiesen ist, das heute nichtmehr vorausgesetzt werden kann, und zweitens,weil sie welt-weit verbreitet ist.Alle erwähnten Kompositionen sind auf CDs erhältlich, die meisten liegen in leichterreichbaren Edi-tionen vor, und über alle genannten KomponistInnen gibt es weitere Literatur.Die Auswahl der Stichworte wird durch die Metapher vom Wissensnetzam besten begründet. Es werden wichtige Be-grie erklärt, aber sicher nicht alle wichtigen oder die zweifel-los wichtigsten. Eine solche Hierarchie lässt sich heutenicht mehr vorgeben, denn ein verbindlicher Kanonvon Meister-werken, hinter denen alles andereverblasst,existiert nicht mehr. Und jedes Detail ist interessant,wenn es sich mitanderen verknüpfen lässt (z. B.Musik und Mathematik oder Architek-tur,siehe Isorhythmie bzw.Sinfonie) und zu weiteren Fragen anregt.Da in diesem Sinne im »Grundwortschatz« fast alles mit allem vernetzt ist – viele Stile, Gattungen,handwerkliche Techniken oder die Umstände, unter denen Musik gedeihtund sich ver ändert,müssen in mehreren Artikeln genannt werden –, wäre ein Register nicht praktikabel. Links bilden ein Verweissystem, welches das Auffinden wichtiger Informa-tionen auch über den einzelnen Artikel hinaus leicht macht.
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10Akkordesind Zusammenklänge,die nicht nur als kurzes Zusammentreen von Tönen, sondern als Einheit empfun-den werden. Ob und wann das geschieht,hängt von ihrer In ter pretation im Kontext ab; daher gibtes verschiedeneBe-zeichnungssysteme für Akkorde und ihre Funktion.Viele Akkordbezeichnungen entstanden mit der Generalbass-praxis seitdem späten 16. Jh.und basieren auf der Voraus-setzung,dass Akkorde normalerweise Dreiklänge in Terz-schichtungüber einem Basston sind.Über cist also, wenn keine Vorzeichen gegeben sind,der C-Dur-Dreiklang zu er-warten. Nur Abweichungen wurden eigens beziert und gaben den Akkorden Namen wie Sextakkord(Sexte statt Quint;über dem Basston calso c–e–a) oder Quartsextakkord (Quart statt Terz und Sexte statt Quint; über calso c–f–a).Eine neue Hörhaltung, die vomGeneralbassabwich, wurde im 18. Jh. vonRameaubeschrieben. Er meinte, dass Ak- korde als Gesamtklang eineIdentität hätten, die nicht allein vom Basstonabhinge,sodass sie auch bei Umkehrungen bewahrt werden könne. Der Sextakkord e–g–cist demnach nicht unbedingt eine Abweichung von e–g–h(Basston =Grund tone), sondernkann auch eine andereVersion vonC-Dur sein (Grundtonc, aber Basston e). Wenn Grundtöne nicht mitden Basstönen identisch sein müssen, sind viele Akkorde ambivalent.Neue Klänge konnten auch durch wiederholten Gebrauch erst allmählich zu Akkorden gleichsam erstarren.In Caris simis Oratorium Jephteerscheintdie kleine Sext als dissonanter Der Quartsextakkord g–c–ekann, je nach Kontext, entweder konsonant als Umkehrung von C-Dur (Grundton c) oder als Akkordüber dem Basston = Grundton ggehört werden. Über gist er eine spannungsgeladene Dissonanz, oft sind die Töne cund eVorhalte, z. B. wenn er sich als Dominantquartsextakkord in die Dominante (G-Dur) auflöst.AkkordKontrapunktFunktionsharmonikDreiklänge sind in vielen Musikkulturen wichtig, weil sie als Obertöne gut zu hören sind.
11Vorhalt auf dem Wort »ululate« (heult, jammert). Später wurde diese Dissonanz nicht mehr als Vorhalt empfunden; es ent stand der sogenannte neapolitanische Sextakkord.Er wurde als Varianteder Sub dominante komponiert (z.B. e–g–cüber dem Basston e in h-Moll). Im 19. Jh. konnte der Klang als verselbstständig-ter Neapolitaner sogar umgekehrt – und folglich mit C-Dur verwechselt –werden. Er eignet sich daher auch gut für Mo-dulationen.Symmetrische Akkorde(die aus gleichen Intervallen be-stehen)sind ebenfalls vieldeutig. Der verminderte Dreiklang h–d–f kann als Sextakkordd–f–h mit d-Moll assoziiertwer-den (dann wäreer Subdominante in a), aber auch mit dem G-Dur-Septakkord (also als Dominante in C/c). Der vermin-derte Septakkord (h–d–f–asoder h–d–f–gis) kann in meh-reren Tonarten vorkommen. Berühmte Klängedes 19.Jh.s sind Wagners »Tristan- Akkord« und der »mystische« Quartenakkord c–s–b–e–a–din Skrja-bins Prometheus, der auf wichtige Töne der Obertonreihe anspielt.In der Neuen Musik wurden mitder Emanzipation der Dissonanzkonsonante Akkorde selten, sie waren gerade zu verpönt. Als Alfred Schnittke 1968 in Quasi una sonataeinen g-Moll-Akkordgleichberechtigt mit typischen Gesten der musikalischen Avantgardeeinsetzte (scharf dissonanten Klän-gen, abgerissenen Tönen in extremen Lagen), war dies eine Provokation, mit der er,wie er selbst sagte, demonstrierte, dass für ihn alles Material in gleicher Weise abgenutzt war.Verminderte Akkorde waren bis ins 19. Jh. Schreckens symbole.Der »Tristan-Akkord« f–h–dis–gislöst sich in a-Moll nach einer chromatischen Fortschreitung in der Oberstimme (gis–a–ais–h) in den E-Dur-Septakkord auf.Er wird unterschiedlich gedeutet; wesentlich ist, dass der Septakkord nach dem starken Klangreiz etwas weniger dissonant wirkt. Auf eine Auflösung der Dissonanzen muss man – entsprechend der unstillbaren Sehnsucht in dieser Oper – sehr lang warten.TristanVorspiel, T.1–3Der neapolitanische Sextakkord wirkt oft klagend.
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12Arien sind Sologesangsstückemit Instrumentalbegleitungin Opern, Oratorien und Kantaten. Die Texte sind meist ly-risch (sie schildern Stimmungen) in Strophenform mit Rei-men und gleichmäßigem Metrum, unterscheiden sich damitalso von der rhythmisch freieren, erzählenden Prosa des Rezitativs. Auch musikalisch sind Arien in sichgeschlossen, etwa durch strophische oder dreiteilige (ABA-) Formen,Ron-dos oder Sonatensätze; zum Eindruck der Geschlossenheit können auch wiederkehrende oder variierteInstrumental-ritornelle als Zwischenspiele und wiederholte Basslinien oder Rhythmen beitragen. Da-capo-Arien, die im 18. Jh. besonders okomponiert wur-den, hatten zwei Gedichtstrophen. Die zweite konnte die erste musikalisch variieren oder einen Kontrast zu ihr bilden; dann wurde die erste Strophe wiederholt, aber nicht wörtlich, sondern mitimprovisiertenVeränderungen.Dieses Da-capo-Prinzip ließ formal ganz verschiedene Möglichkeiten der Ge-staltungzu, etwa durch unterschiedliche harmonische Wege, durch mehr oder weniger starke Kontraste, Wiederholungen einzelner Strophenteile usw.All dies richtete sich nach der dramatischen Situation. Denn die Arie ist der Moment,in dem Handlung oder Erzäh-lung gleichsam stehen bleiben, während die Protagonisten die Situation reektieren. InOratorien oder Kantatendrü-cken sie die Emotionen aus,die im Publikum oder der Ge-meinde erzeugt werden sollen, z. B. Dankbarkeit oder Reue. In der Oper des 18. Jh.svergleichen die Sänger ihr Inneres o mit einem Naturbild wie einem tröstlich murmelnden Bach oder einem Schi in tobenden Wellen, oder die Musik spiegelttypische Gefühle wie Kummer,Eifersucht, Rache oder Irr-sinn mit Mitteln wie abgerissenen Seufzern, gehetzten Tempi, ungewohnten Modulationen oder wahnwitzigen Koloraturen. Die Gesangsausbildung musste früher auch musikalisch kompositorische Stilsicherheit vermitteln.Die Arie der Königin der Nacht in Mozarts Zauberöte gibt uns noch einen Eindruck von der Gesangskunst des 18. Jh.s.ArieInterpretation
13O geht es dabei um Gefühle, die auchdem Publikum ver-traut waren, aber bei Hofe nicht ausgelebt werden konnten.Dadurch symbolisierten die Arien auch die in der höschen Gesellscha so wichtige Selbstbeherrschung. Denn gerade bei der Schilderung extremer Gefühle waren viele Arien außer-ordentlich virtuos. Sängerinnenund Sänger, die sie dennoch bewältigten – was natürlich nur bei äußerster Disziplin ge-lingen konnte –, lösten mit ihrer Gesangskunst ungeheure Begeisterung aus, nichtzuletzt, weil die größten Virtuosen Kastratenwaren, deren Stimmen die Kra und Resonanz einer Männerstimme mit der Höhe einer Frauenstimme, aber in schier unwirklichem Glanz, verbanden. Sie unddie großen Primadonnen waren in ganz Europaberühmt undo von ea terdirektoren und Komponisten gefürchtet,denn sie konnten sich einige Marotten leisten. Der umschwärmte Kas-trat Marchesini hatte eine besondersbravouröse Verzierung erfunden und für sich ameater in Florenz reserviert. Weil seine jungeKollegin Nancy Storace es wagte,sie nachzu-ahmen, setzte er ihre Entlassung durch. Später, in Wien, als sie zur Favoritin des Kaisers geworden war,amüsierte Salieri den Hof mit Prima la musica– einer musikalischen Komödie über diese und andere bekannte Rivalitätenund Eifersüch-teleien bei der Produktion einer Oper.Arien waren soselbstständig, dasssie in andere Opern über-nommen werdenkonnten, wenn ein Sänger mit ihnen mehr-mals brillieren wollte. Sie konnten aber auch mit der dazu- gehörigen Szene verschmelzen. Typisch für italienische Opern des 19. Jh.s sindSteigerungen, in denen die Spannung nach überraschenden Geschehnissen in einer schnellen Arie, der Cabaletta, explodiert.Arioso:zwischen orchesterbegleitetem Rezitativ und Arie,lockererals eine Arie, aber im Unter-schied zum Rezitativ mit TextwiederholungenAriette oder Cavatina: kürzere, einfachere Arie oder LiedKonzertarie: eigenständige Arie für den Vortrag im KonzertKastraten: Männer, deren Hoden vor Einbruch des Stimmbruchs be schnitten worden waren. Ende des 18. Jh.s kamen Kastratenstimmen in der Oper allmäh lich aus der Mode, nur in der päpstlichen Kapelle gab es sie noch bis ins frühe 20. Jh.Am Anfang einer Szene steht im 19. Jh. oft eine innige Cavatina.Händels Tamerlano (1724) gipfelt in einer dramatischen Szene mit raschem Wechsel zwischen arienhaften Passagen und anderen Stilen.
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14Atonalitätist eine Bezeichnung, deren Brauchbarkeit davon abhängt,wie man Tonalitätdeniert und ob man einen prin-zipiellen Unterschied zwischen tonaler und atonaler Musik macht.Im Allgemeinen verstehtman unteratonaleine Mu-sik ohne tonale Konventionen. Dass in dem Wort o die Nebenbedeutung »missklingend« (oder,wie Berg kritisierte, »Unmusik«) mitschwingt, istproblematisch, denn Sinn und Schönheit kann es auch ohne Konventionen geben; aber es ist nicht zufällig, denn »atonal« war zunächst als polemische Verurteilung gemeint.Schönberg meinte,jede Musik mit Tonbeziehungen »auf einen einzigen Grundton oder durch kompliziertere Bindungen« sei tonal,und lehnteden Begri atonal ab. Bartók verwen-dete ihn zwar, wollte das atonale aber nichtals Gegensatz zu einem tonalen Prinzip ansehen. Er verstand Tonalität in einem engerenSinn als Schönberg,nämlich als System kon- ventioneller Tonbeziehungen mit begrenzter historischer Gül-tigkeit;die Atonalität sei »die Konsequenz einer allmählich aus dem tonalen entstandenen Entwicklung,welche durch-aus graduell vor sichgeht und keinerlei Lücken oder ge-waltsame Sprüngeaufweist«. (An anderer Stelle beschrieb aber auch Schönberg seineeigene Musik als eine,in der die »Beziehung auf einen Grundton – die Tonalität« nichtmehr existiere. Er zog die Begrie »schwebende« oder »aufgeho-bene« Tonalität vor.)Im Umkreis vonSchönberg empfand man die neue Musik,die andere atonal nannten,als logische Fortsetzung der hoch-chromatischen Musik des späteren 19. Jh.s, in der die Kra des Grundtons und der Funktionsharmonik ohnehin schon sehr geschwächt worden sei. Demnach spiele es kaum noch eine Rolle, obzwischen den Klängen ein Verwandtschas-grad bestehe.Bereits mit der Aufsung von Wagners Tristan- AtonalitätSchon Debussy wurde als Komponist »atonaler« Musik kritisiert.Scharfe Gegensätze wie tonal atonal oder konsonant –dissonant werden den reichen Klangschattierungen nicht gerecht.
15Akkordin einen (dissonanten) Septakkord sei die Emanzi-pation der Dissonanz erreicht worden.Mit diesen Überlegungen stand Schönberg keineswegs allein. AuchÄsthetiker und eoretiker sahen in den linearen Tonbe-ziehungen und in den starken Klangreizen der romanti schen Harmonik eine Schwächung oder Krise der harmonischen Tonalität.Allerdings gingen Schönberg und seine Schüler viel weiter.Sie führten das Zurücktreten der konventionellen Harmoniever-bindungen bewusst herbei, indem sie typische Klänge– etwa konsonante Akkorde – vermieden und neue suchten, z.B. Quarten-Akkorde,die keine Erinnerungen an traditionelle Bedeutungen auslösten. Auch in der Melodiebildung ging man neue Wege, z.B. indem man dissonante Intervalle und große Sprünge bevorzugte.Sie können hochexpressive Ges-ten erzeugen, wie in Weberns Bagatellenfür Streich quartett, in denen sich in wenigen Augenblicken emotionsgeladene Miniaturdramen abspielen.Da Musik ohne die formbildende Kra der Funktionsharmo-nik Konstruktionsprobleme aufwarf, führteSchönberg nach einer Phase der »freien Atonalität« die Zwölftontechnikein, die ebenfalls alsatonalgilt,obwohlsie, wie alle seriellen Ver-fahren, mit organisierten Tonbeziehungen arbeitet.llig andereImpulse für Musik gingen von den italienischen Futuristenaus. Sie wollten Töne durch Geräusche ersetzen und erfanden Instrumente wie Kracher, Knaller und Heuler,die die von ihnen sobewunderten Motor- und Industrie-geräusche imitierten (und schnell an Reiz verloren, weil sie von der Wirklichkeit überholt wurden).Wien, . März , Großer Saal des Musikvereins (während der Aufführung von Bergs Altenberg-Liedern): »Das Toben und Johlen im Saale hörte nun nicht mehr auf. Es war gar kein seltener Anblick, daß irgend ein Herr aus dem Publikum in atemloser Hast und mit af-fenartiger Behendigkeit über etliche Parkettreihen kletterte, um das Objekt seines Zornes zu ohrfeigen.«Musik kann mit nicht traditionellen Mitteln, etwa computergenerier ten und Natur lauten (Kaija Saariaho, OiseauxStücke), Stimmungen erzeugen, die die alte Polemik um tonal – atonal oder Klang – Geräusch weit hinter sich lassen.
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16Chor bezeichnet eine Gruppe von Singenden, einenhomoge-nen Klangkörper, eine Komposition für diese Besetzung oder auch in der Kirche den dafür bestimmten Ort.Im frühen Christentum nahm die gesamte Gemeinde an den liturgischen Gesängen teil. Als in der katholischen Kirche der Klerus (der Stand der Priester und anderer geweihter Amtsträger) auch für die Liturgieimmer bedeutender wurde, gingen die Gemeindegesänge auf eine geschulte Gruppe von Klerikern und Sängerknaben unter der Leitung einesKantors über.Dass die Kirchenmusik ausgebildeten Sängern(in den Nonnenklöstern auch Sängerinnen) übertragen wurde, ermöglichte die Entstehung komplexer Werke wie der poly-phonen Mess- und Oziumsvertonungen oder Motetten, die seit dem 16. Jh. größer,teilweise auch mehrchörig, besetzt waren. Obwohl Luther mit der Reformation (seit 1517) den Gemeindegesang wieder im Gottesdienst etablierte, bliebendie Chöre auf Männer und Knaben beschränkt;in Deutsch-land sangen 1791 zumersten MalFrauen und Männerder Berliner Sing-Akademie gemeinsamin einem Chor in einer Kirche. Berühmte Frauenchöre gab es in den vier großen »Ospedali«(ursprünglich Kranken-, Armen- und Waisen-häuser) in Venedig, in denen seit dem 17.Jh. jungeMädchen zu professionellen Musikerinnen und Komponistinnen aus-gebildet wurden.Lange warmehrstimmige Musikvorwiegend solistisch be-setzt, denn Chöre waren teuer;im 17. Jh. standen wegen des Bürgerkrieges in England und des 30jährigen Krieges in Deutschland auch zu wenige Männer zur Verfügung. Einen großen Aufschwungerlebte die Chormusikseit dem 18.Jh., zunächst durch den ungeheuren Erfolg vonHändels Ora-torien, die bald in riesigen Besetzungen aufgeführt wurden (z.B.1784mit 251 Instrumentalisten und 275 ngern), andere ChorFür den Chor gab es in der Kirche einen räumlich oft abgetrennten Platz um den Altar oder in der Apsis, später eine oder mehrereEmporen.Nonnen sangen nicht nur, sondern unterrichteten auch Musik und komponierten, wie Hildegard von Bingen oder Birgitta von Schweden.Choral
17Komponisten (z. B. Haydn) zur Nachahmung und im 19. Jh. in Deutschland schließlichdie Wiederentdeckung der Bach-schen Werke mit Chor, etwa der Matthäuspassion, anregten,und auch durch die Französische Revolution,die ganz be-wusst auf die Massenwirksamkeit der Chormusik setzte.In vielen Ländern engagierte man sich inVereinen, Salons oder Kränzchen, aus Bildungshunger und zu geselligen, karitativen und politischen Zwecken; Chöre waren ein Ausdruck die-ses neuen bürgerlichen Gemeinschas- (und in Deutschland auch neuen National-)Gefühls. Überall wurden Kirchenchöre wieder belebt oder neu gegründet. Die neue Institution des Männergesangvereinswar politischer Umtriebeverdäch-tig, in Österreich sogar einige Zeit verboten, und tatsächlich wäre die Revolution von 1848ohne sie kaum zustande ge-kommen. Seit der zweiten Häle des 19.Jh.s waren Männer-gesangvereine eher staatstragend. Brahms und Bruckner komponierten patriotische Werke. Da sich Arbeiter politisch kaum engagieren durften, ginges in Arbeiterchören vorwie-gend um die Hebung ihres Bildungsstandes.Das Repertoire beschränkte sich nichtnur auf neue und wieder entdeckte ältere Chormusik, auchsolistische Vokalensembles (z. B. von Schubert)wurden nun für Chormusik gehalten. Die Begeiste-rung für die Chormusik dämpfte in Deutschland erst der Missbrauch durch die Nationalsozialisten.Chorische Besetzung: Jede Stimme ist mehrfach (nicht solistisch) besetzt.Da »Chor« aber auch eine homogene Klang-gruppe bedeuten konnte, muss ein Chor nicht immer chorisch besetzt sein. In jüngeren Auf-nahmen in historischer Aufführungspraxis sind heute auch solistisch besetzte Chorpar-tien zu hören.Ensemble: Gruppe von SolistenA cappella: ohne Instrumentalbegleitung:Stimme mit. . Wechselgesang zwischen ischen zwei Chöisches Gesangsstück, das als elgesang aufgeführtonnte zwei ertit chowirkung feierliche geistliche oder weltliche Gossecs auf das Höchste (1794): 00 Sänger + rden Chor: »VerVolksmajestät«ten land seit 1908 chöre nahmen .