Viola Harnach

Auftrag Teilhabe

Die Hilfen des Jugendamtes für psychisch kranke Kinder und Jugendliche

Die Autorin

Viola Harnach, Dr. phil., Diplom-Psychologin, lehrte und forschte als Professorin für Psychologie an der Hochschule Mannheim mit den Schwerpunkten Kinder- und Jugendpsychologie, Psychosoziale Diagnostik, Erziehungsberatung und Klinische Psychologie. Ihr besonderes Interesse gilt der Frage, wie sich die rechtlichen und die verhaltenswissenschaftlichen Grundlagen der Sozialen Arbeit am besten verbinden lassen.

Für meine Enkel Lilly und Julius

Inhalt

Vorwort

Das Jugendamt als Ansprechpartner für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung

Eine Familie sucht Hilfe

Was heißt „Behinderung“?

Gesetzgebung zur Verbesserung der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen

3.1 Geschichte

3.2 Die UN-Behindertenrechtskonvention als Motor für Bemühungen um Inklusion

3.3 Das Bundesteilhabegesetz – Artikel 1 – SGB IX

3.3.1 Zielsetzungen

3.3.2 Aufbau des SGB IX

3.3.3 Gesamteinschätzung und Ausblick

Rechtliche Vorgaben für die Leistungsbewilligung

4.1 Was sagt das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII)?

4.2 Wer besitzt einen Anspruch auf Leistungen?

4.3 An wen richtet sich der Anspruch? – Träger der Eingliederungshilfe

4.4 Wie erfolgt die Antragstellung? – Formale Erfordernisse

4.5 Welche Voraussetzungen müssen vorliegen?

4.5.1 Chronische oder langanhaltende psychische Krankheit gemäß ICD-10

4.5.2 Teilhabebeeinträchtigung gemäß ICF

4.5.3 Drohende Behinderung

4.6 Die Stellungnahme des Psychiaters/Psychotherapeuten

Zum Inhalt der Stellungnahme

II Psychische Störungen von Kindern und Jugendlichen

Grundlagen

1.1 Was heißt „psychische Störung“/„psychische Krankheit“?

1.2 Klassifikation

1.3 Entstehungsbedingungen

1.4 Epidemiologie

Die Störungsgruppen

2.1 Überblick

2.2 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F00–F09)

Chronische Erkrankungen und körperliche Beeinträchtigungen ohne Hirnbeteiligung als (Mit-)Ursache psychischer Störungen (4. Achse des MAS)

2.3 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10–F19)

2.4 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F20–F29)

2.5 Affektive Störungen (F30–F39)

2.6 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40–F48)

2.6.1 Überblick

2.6.2 Angststörungen (F93 und F40/41)

2.6.3 Zwangsstörungen (F42)

2.6.4 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43)

2.6.5 Dissoziative und somatoforme Störungen (F44 und F45)

2.6.6 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (F50–F59)

2.7 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60–F69)

2.8 Intelligenzminderung (F70–F79)

2.9 Entwicklungsstörungen (F80–F89)

2.9.1 Überblick

2.9.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80)

2.9.3 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81)

2.9.4 Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (F82)

2.9.5 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84.-)

2.10 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F90–F98)

2.10.1 Hyperkinetische Störungen (F90)

2.10.2 Störungen des Sozialverhaltens (F91)

2.10.3 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F94)

2.10.4 Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F98)

III Die Hilfeplanung im Jugendamt

Beratung und frühzeitige Bedarfserkennung

1.1 Information als Voraussetzung für Partizipation

1.2 Fristen für die Klärung der Zuständigkeit und des Rehabilitationsbedarfs

1.3 Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger

Ermittlung des individuellen Leistungsbedarfs und Entscheidung über die Hilfe

2.1 Diagnostik als kooperatives Verfahren

2.2 Standardisierte Arbeitsprozesse und Arbeitsmittel

2.3 Bestandteile des Sachverhalts

2.4 Auswahl der erforderlichen Leistungen

2.5 Erstellung des Hilfeplans und des Teilhabeplans

2.5.1 Funktion und Inhalt

2.5.2 Aufbau des Hilfeplans bei Eingliederungshilfe

2.5.3 Besonderheiten des Teilhabeplans

IV Die Gestaltung der Leistung

Ziele und Auswahlkriterien

Möglichkeiten der Durchführung

Leistungsformen

3.1 Hilfe in ambulanter Form

3.2 Hilfe in Tageseinrichtungen und anderen teilstationären Einrichtungen

3.3 Hilfe durch Pflegepersonen

3.4 Hilfe in Einrichtungen über Tag und Nacht und sonstigen Wohnformen

Leistungsarten

4.1 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation

4.1.1 Merkmale

4.1.2 Maßnahmen der Früherkennung und Frühförderung

4.2 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

4.3 Leistungen zur Teilhabe an Bildung

4.3.1 Allgemeines

4.3.2 Hilfen zu einer Schulbildung

4.3.3 Hilfen zur schulischen oder hochschulischen Ausbildung oder Weiterbildung für einen Beruf

4.4 Leistungen zur Sozialen Teilhabe

4.5 Persönliches Budget

Weitere Vorschriften

Kostenerstattung für selbstbeschaffte Leistungen

Kombination von Eingliederungshilfe mit Hilfe zur Erziehung

Ergänzenden Leistungen

3.1 Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen

3.2 Krankenhilfe

Kostenbeteiligung der Leistungsberechtigten

Datenschutz

Qualitätsentwicklung und -sicherung

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Sachverzeichnis

Vorwort

Jeder junge Mensch besitzt das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§ 1 SGB VIII) unabhängig davon, ob er in seinem körperlichen, geistigen oder psychischen Entwicklungsstand, seinem Verhalten und Erleben allgemeinen Erwartungen entspricht oder Eigenheiten aufweist. Eine Behinderung darf nicht – so verbürgt es unser Grundgesetz in Artikel 3 – zu seiner Benachteiligung führen; ihm steht die umfassende Inklusion in alle Lebensbereiche zu.

Die Grundrechte aller Menschen mit Behinderungen, zu deren Wahrung sich die Mitgliedsstaaten verpflichten, sind in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) von 2006 kodifiziert, diejenigen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen dort speziell in Art. 7, außerdem in der Kinderrechtskonvention. Wie deren Anspruch auf Unterstützung und Förderung von staatlicher Seite Genüge getan werden kann, regeln in Deutschland verschiedene Leistungsgesetze, die miteinander verschränkt sind, insbesondere das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX, Art. 1 Bundesteilhabegesetz, BTHG) und für Kinder das Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfegesetz), sowie die Schulgesetze der Länder. Die in den Sozialgesetzbüchern beschriebenen „Leistungen zur Teilhabe“ bzw. „Eingliederungshilfen“ werden von verschiedenen Leistungsträgern erbracht, z. B. den Trägern der Eingliederungshilfe, den gesetzlichen Krankenkassen oder der Bundesagentur für Arbeit. Für Leistungen an Kinder und Jugendliche, die infolge einer Beeinträchtigung ihrer seelischen Gesundheit an der altersgemäßen umfassenden Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gehindert sind oder denen eine solche Behinderung droht, sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zuständig.

Wie die Fachkraft der Sozialen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe diese in § 35a SGB VIII geregelten Eingliederungshilfen planen und auf den Weg bringen kann, soll in diesem Studienbuch dargelegt werden. Es sollen die zur Erfüllung dieser komplexen Aufgabe erforderlichen Methoden der Sozialen Arbeit dargestellt, Rechtskenntnisse vermittelt, einschlägige Forschungsergebnisse der Psychologie und Psychiatrie – z. B. über reguläre und abweichende Entwicklungsverläufe und über psychische Störungen und ihre Folgen für die Teilhabe – herangezogen und das Spektrum der Hilfsangebote aufgezeigt werden. Dies alles gehört zum sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen Handlungswissen, ebenso wie die professionelle Haltung der Achtung der Kompetenzen der Adressaten, ihrer Selbstbestimmungsrechte und ihrer Eigenverantwortlichkeit. Dieses Wissen ermöglicht der Fachkraft, junge Menschen mit seelischer Behinderung bei der Durchsetzung ihrer Rechte bestmöglich zu unterstützen.

IDas Jugendamt als Ansprechpartner für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung

Einem psychisch beeinträchtigten jungen Menschen können vom Jugendamt zahlreiche Hilfen zur Verfügung gestellt werden, die seine Teilhabe in allen ihm wichtigen Lebensbereichen zu erleichtern vermögen. Die gesetzlichen Bestimmungen für derartige Hilfen sind im Laufe der Jahre kontinuierlich verbessert worden. Deren Entwicklung wird zunächst dargestellt. Danach wird erläutert, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Antragsteller1 eine Teilhabeleistung nach § 35a SGB VIII erhalten kann.

1Eine Familie sucht Hilfe

Paul, der Zappelphilipp

Der achtjährige Paul kommt in Begleitung seiner Eltern ins Jugendamt. Herr und Frau Selb berichten, dass Paul in der Schule große Probleme habe. Es falle ihm äußerst schwer, während des Unterrichts auch nur zehn Minuten sitzen zu bleiben. Er zappele auf seinem Stuhl herum, renne ständig in der Klasse umher, unterbreche die anderen Kinder bei ihren Tätigkeiten, nehme deren Sachen in die Hand und zerstöre sie häufig, nicht aus bösem Willen, sondern aus Ungeschicklichkeit. Ständig müsse er reden und dazwischenrufen, wenn die Lehrerin spreche. Auf eine Aufgabe könne er sich nur sehr kurzzeitig konzentrieren, sodass er selten etwas zu Ende bringen könne. Er sei zwar schon immer ein sehr lebhaftes Kind gewesen, aber bis zum Schulbeginn sei es eigentlich gegangen, auch wenn es zu Hause wegen seiner Unruhe und „Schussligkeit“ immer häufiger Ärger gegeben habe. Er reagiere dann oft mit Trotz, aber auch mit Tränen. Hingegen zeige er ziemlich große Ausdauer, wenn er draußen mit seinem Hund spiele. Der Hund sei auch sein einziger Freund. Zu einem Kindergeburtstag sei Paul noch nie eingeladen gewesen, wisse auch niemanden, den er einladen könne. Die Eltern meinen, dass es in der Klasse einfach zu laut zugehe und ihr Junge sich deshalb nicht konzentrieren könne.

Paul selbst sagt dazu: „Ich strenge mich in der Schule immer so an. Aber immer mache ich es falsch. Ich schaffe das nicht, was die von mir verlangen. Ich will nicht mehr in diese Schule gehen. Die Lehrer sind so gemein zu mir, und die anderen Kinder auch. Keiner kann mich leiden. Ich kann auch nicht mehr richtig schlafen. Eigentlich ist das ganze Leben blöd.“

Die Klassenlehrerin besprach mit den Eltern, dass Pauls Verhalten in der Klasse nicht tragbar sei. Sie sollten ihn einem Arzt vorstellen. Dieser habe von „ADHS“ gesprochen und Tabletten verschreiben wollen. Die möchte man Paul aber, solange es geht, ersparen. Außerdem habe er sie auf Hilfen vom Jugendamt hingewiesen, sie sollten sich um einen Inklusionshelfer bemühen, der Paul im Unterricht begleiten und unterstützen könne. Dies sei im Rahmen einer Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche möglich. Die Eltern waren zunächst verdutzt. Sie hätten doch alles für ihr Kind getan. Von einer solchen „Eingliederungshilfe“ hätten sie noch nie gehört. Und soll ihr Kind „behindert“ sein? Dazu auch noch „seelisch“, wie kann das sein? Er müsste sich doch einfach einmal zusammennehmen, und die Lehrer müssten für mehr Ruhe in der Klasse sorgen.

Hier stehen wir schon vor der ersten Hürde: Ist die Bezeichnung eines Kindes oder Jugendlichen als „behindert“ nicht diskriminierend? Verstellt sie ihm womöglich mehr Möglichkeiten, als sie ihm eröffnet? In der Tat erscheint es als höchst problematisch, dass ein junger Mensch als psychisch krank oder behindert bezeichnet werden muss, damit ihm eine Hilfe zuteilwird. Dadurch werden möglicherweise Stigmatisierungsprozesse in Gang gesetzt, die nie wieder ganz rückgängig gemacht werden können. Die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen wird ja nicht zu Unrecht als deren „zweite Krankheit“ bezeichnet, die häufig das Leben schwerer beeinträchtigt als die ursprüngliche. Insbesondere junge Menschen haben zu befürchten, dass das Etikett „psychisch gestört“ über viele Jahre an ihnen kleben und ihre Teilhabechancen erst recht vermindern wird, zum Beispiel bei der Berufs- oder Wohnungssuche, dem Abschluss einer privaten Krankenversicherung oder sogar der Aufnahme in eine Einrichtung der Jugendhilfe. Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen werden viel häufiger Opfer von Mobbing (was schon in der Schule beginnt) und von Straftaten wie sexuellem Missbrauch oder Körperverletzungen. Grundlegende gesellschaftliche Veränderungen sind noch erforderlich, insbesondere die Anerkennung und Wertschätzung von Diversität, wie sie die UN-BRK fordert, um dieses Risiko zu minimieren.

2Was heißt „Behinderung“?

Eine maßgebliche Definition des Begriffs findet sich im Bundesteilhabegesetz (BTHG), nämlich in § 2 SGB IX:

„Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“

Diese Begriffsbestimmung basiert auf ähnlich lautenden Definitionen der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF der WHO (2001) (s. Kapitel I/4.5.2) und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)2 und wird auch in § 7 Abs. 2 SGB VIII n. F. aufgegriffen. Zwar hat sie keine unmittelbare Gültigkeit für die Bestimmung der Leistungsvoraussetzungen in der Jugendhilfe, denn hier gilt gemäß § 7 Abs. 1 SGB IX die Definition nach § 35a Abs. 1 SGB VIII. Diese geht noch von der veralteten Defizitorientierung aus – die Teilhabe ist (allein) wegen der psychischen Störung beeinträchtigt („daher“ in § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Die durch das BTHG um den Gesichtspunkt der Interaktion zwischen Person und Umwelt erweiterte neue Fassung des § 2 SGB IX kann jedoch als Interpretationshilfe dienen, denn sie zeigt das neuere Verständnis von „Behinderung“.

Deutlich wird daran:

  1. Das bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit, Krankheit und Behinderung: Eine Behinderung entsteht nicht aus einer körperlichen, geistigen, psychischen oder Sinnesbeeinträchtigung allein. Sie ergibt sich nämlich nicht, wenn dem Betroffenen alle Kompensationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Stattdessen trifft dieser aber in der Regel auf Hürden, die ihn daran hindern, genauso aktiv zu sein und sich genauso zugehörig zu fühlen wie andere Menschen. Solche „Barrieren“ können sich aus Abwertungen, Distanzierungen, Stigmatisierungen ergeben, die kulturell/gesellschaftlich gegenüber Merkmalen, die als „abweichend“ betrachtet werden, erzeugt werden, aus mangelnder Anerkennung von Ansprüchen oder purer Gleichgültigkeit gegenüber einem besonderen Bedarf, aber auch durch nicht passende Technik (der fehlende Fahrstuhl), finanzielle Defizite (zu große Klassen, kein Geld für Schulassistenz), Gesetze oder institutionelle Gegebenheiten (langjähriges „bewährtes“ Bestehen von Sondereinrichtungen). Die Interaktion von Merkmalen der Person mit solchen der Umwelt bestimmt, ob eine Behinderung auftritt, sich abmildert oder nicht existiert.

  2. Die Zweigliedrigkeit des Behinderungsbegriffs: Die Kombination von Krankheit plus Einschränkung der Partizipationsmöglichkeiten spielt in der Gesetzesformulierung von § 35a SGB VIII und von § 2 SGB IX eine entscheidende Rolle. Nur wenn beide Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, ist ein Leistungsanspruch gegeben.

  3. Die Wandlung des gesellschaftlichen Verständnisses von „Behinderung macht sich auch sprachlich bemerkbar, wenn nicht, wie noch bis 2021 in § 35a SGB VIII, von „behinderten Kindern und Jugendlichen“ gesprochen wird, sondern von „Kindern mit Behinderungen“, wie im BTHG3. Die Behinderung ist dann kein Persönlichkeitsmerkmal (man „ist“ behindert) oder etwas, das einem zukommt (das man „hat“), sondern ein Vorgang (man „wird behindert“).4

  4. Die ICF stellt einen weiteren Gesichtspunkt heraus: Jeder Mensch besitzt mehr gesunde Anteile als beeinträchtigte und kann nicht nur mit seinen Schwächen („der Blinde“, „der Schizophrene“) beschrieben werden. Zum vollständigen Bild von ihm gehören genauso seine „normalen“ Seiten, seine besonderen Stärken, Ressourcen und Entfaltungsperspektiven. Deshalb werden mit dieser Klassifikation nicht nur die Einbußen dargestellt, sondern auch die Fähigkeiten, Entwicklungspotenziale und Ressourcen eines Menschen.

Für Paul heißt dies: Die Reaktionen der Mitschüler und Lehrer – Ablehnung – verschärfen seine Probleme. Die Organisation des Unterrichts (Klassengröße, Art der Lehre usw.) scheint für ein Kind mit seinen Eigenheiten nicht zu passen. Selbst außerhalb des Unterrichts wird er nicht in die Aktivitäten der gleichaltrigen Kinder einbezogen. Nicht genügend gesehen wird, dass er sich große Mühe gibt, es „allen recht zu machen“ und „ein guter Freund“ zu werden, und dabei nur ungeschickt vorgeht. Seine Entwicklungsmöglichkeiten und damit seine Teilhabechancen sind also gefährdet.

Problematisch ist auch der Begriff „Eingliederung“. Er suggeriert, dass ein Mensch – passiv – in etwas eingefügt werden müsse, während sich die Strukturen nicht zu verändern brauchen. Er soll sich aber nicht an eine Norm anpassen müssen, sondern gleichberechtigt seinen Platz einnehmen können in einer Gesellschaft, die Unterschiedlichkeiten als Leitbild akzeptiert und die anerkennt, dass Menschen mit Behinderung einen beutenden gesellschaftlichen Beitrag leisten. Heterogenität dient allen Menschen im Gemeinwesen und ist deshalb wünschenswert („Diversity-Ansatz“) (s. auch Kap. I/3.2). Hinderliche Strukturen müssen verändert und den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Menschen mit Einschränkungen angepasst werden. Der passendere Begriff, der in der UN-BRK und seit 2016 auch im BTHG verwendet wird, lautet „Inklusion“. Die Begriffe „Leistungen zur Teilhabe“ oder „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderungen“ (SGB IX, Teil 2) treffen das Gemeinte besser.

3Gesetzgebung zur Verbesserung der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen

3.1Geschichte

Die Eingliederungshilfe für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit seelischer Behinderung wurde mit dem SGB VIII (KJHG) von 1990 in die Verantwortung der (örtlichen) Jugendhilfe gestellt. Bis dahin war sie als Teil der Sozialhilfe im BSHG von 1962 verankert, wurde also vom (überörtlichen/örtlichen) Sozialhilfeträger bereitgestellt. Vorangegangen war ein jahrelanger Diskussionsprozess über ihre „richtige“ Platzierung; schon 1973 empfahl die Sachverständigenkommission beim Bundesfamilienministerium, alle Hilfen für Kinder und Jugendliche von der Jugendhilfe erbringen zu lassen (sogenannte „Große Lösung“).

Die bis heute bestehende Forderung nach Zuständigkeit der Jugendhilfe für alle Kinder – auch diejenigen mit körperlichen und geistigen Behinderungen – geht von der Erkenntnis aus, dass die Zugehörigkeit zu der Gruppe der „jungen Menschen“ weit bedeutsamer ist als die zur Gruppe der „behinderten Menschen“ („disability mainstreaming“). „Kinder sind Kinder“ lautet der Grundsatz, und sie sollen vor allem als solche behandelt werden. D. h. Erziehung und Bildung stehen im Vordergrund, nicht Therapie und Rehabilitation. Junge Menschen mit Behinderungen brauchen, wie alle anderen, in erster Linie Lebensbedingungen, die ihre Entwicklung fördern. Soweit es geht, muss ihre Ausgrenzung und Benachteiligung vermieden oder vermindert werden. Hinzu kommt, dass geistige und seelische Behinderungen sowie Verhaltensauffälligkeiten oft nur schwer oder gar nicht voneinander zu unterscheiden sind, also die Trennung von Rehabilitationsbedarf und erzieherischem Bedarf schwierig ist. Häufig stehen die beiden in Wechselwirkung. Die Jugendhilfe richtet den Blick vor allem auf die Familie als Ganzes und auf ihren Umgang mit der Behinderung des Kindes, sieht die Belastungen der Eltern und Geschwister ebenso wie deren Ressourcen. Nicht zuletzt ist das gemeinsame Aufwachsen von Kindern mit und ohne gesundheitliche Einschränkungen ebenso im Interesse der Letzteren, denn sie profitieren davon gleichermaßen.

Gegen die Verlagerung der Eingliederungshilfe in die Jugendhilfe wurden vor der Schaffung des SGB VIII vor allem organisatorische und finanzielle Gründe ins Feld geführt: personeller Ausbau und wesentliche Erweiterung der Fachkompetenz in den Jugendämtern für ein gänzlich neues Klientel, erhöhte Anforderungen an die Kooperation mit Fachkräften anderen Professionen, z. B. mit Ärzten, Umstellung auf eine teilweise andere Elternschaft, die die Rechte ihrer Kinder selbstbewusster und kompetenter zu vertreten weiß. Die größte Gegenwehr bestand aber, und das gilt noch immer, gegen die veränderte Finanzierung, die die örtlichen Träger, d. h. die Kommunen, erheblich belastet. Aus diesem Grund schlug die Bundesregierung sogar 1993 die Rückkehr zum alten Zustand vor, konnte sich damit aber nicht gegen den Bundesrat durchsetzen. Auch etliche Elternverbände erhoben Einspruch, weil durch die Verlagerung wesentlich höhere Kostenbeiträge auf sie zukamen (was später geändert wurde).

Wegen der organisatorischen Schwierigkeiten wurde für die Umstellung ein Zeitraum von fünf Jahren ab Inkrafttreten des SGB VIII veranschlagt, wobei die Länder über den Zeitpunkt der tatsächlichen Übergabe entscheiden konnten (Landesvorbehalt).

Mit der neuen gesetzlichen Regelung sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe 1990 Teil des gegliederten Hilfesystems für behinderte Menschen geworden, also nicht nur Sozialleistungsträger (§§ 12 und 27 SGB I), sondern faktisch bereits Rehabilitationsträger, soweit sie Leistungen zur Teilhabe erbringen. Mit § 29 Abs. 2 SGB I wurden sie 1996 auch rechtlich ausdrücklich in den Kreis der Rehabilitationsträger einbezogen.

In der ursprünglichen Fassung war die Eingliederungshilfe Teil der Hilfe zu Erziehung (§ 27 Abs. 4 SGB VIII). Damit galten die Eltern seelisch behinderter Kinder als diejenigen, die Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder brauchten. Dies ist aber oft nicht der Fall. Deshalb wurde mit dem Ersten Änderungsgesetz 1993 die Eingliederungshilfe von der Erziehungshilfe abgetrennt und in einer eigenen Vorschrift – § 35a SGB VIII – selbständig geregelt. Für junge Volljährige gilt § 41 SGB VIII entsprechend.

Auf diese Weise wurde der Anspruch auf Eingliederungshilfe, der nach dem Sozialhilferecht (damals BSHG, jetzt Teilhaberecht nach SGB IX) dem Menschen mit Behinderung selbst zusteht, auch dem behinderten Kind oder Jugendlichen zugesprochen. In § 35a SGB VIII werden also zwei Rechtspositionen zusammengeführt: das Recht eines jeden jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gemäß § 1 SGB VIII und das in § 10 SGB I und § 1 SGB IX kodifizierte Recht eines jeden behinderten Menschen auf die Sozialleistungen, die die gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen. Ein Anspruch der Eltern auf Hilfe zur Erziehung ist für die Bewilligung der Eingliederungshilfe nicht mehr erforderlich; beide Hilfen können aber miteinander kombiniert werden.

Da in der Praxis von Anfang an erhebliche Auslegungsschwierigkeiten bestanden (die auch jetzt noch nicht ganz ausgeräumt sind), wurde der Gesetzeslaut von § 35a SGB VIII über die Jahre zunehmend präzisiert, teilweise auch redaktionell veränderten anderen Gesetzen angepasst. Änderungen des § 35a SGB VIII erfolgten 1996 (redaktionelle Anpassung an Änderungen der §§ 40, 41 BSHG, Bestimmung der Geltung von § 41 BSHG, Hilfe zur Beschäftigung in einer Werkstatt); 2001 (u. a. Neuformulierung des Leistungsanspruchs, Änderung der Arbeitsabläufe durch SGB IX); 2003 (redaktionelle Anpassung an SGB XII, die aber erst 2005 vollzogen wurde); 2005 (Einfügung von Abs. 1a durch das KICK); 2016 (erhebliche Veränderung der zugrundeliegenden Philosophie, weitere Verfahrensänderungen durch das BTHG), 2017 (Verschiebung der ursprünglich versehentlich für 2018 beschlossenen – ins Leere laufenden – Änderung von Abs. 3 auf das Jahr 20205) und 2021 durch das KJSG.

Die 2017 im Bundestag verabschiedete, aber im Bundesrat gescheiterte Neufassung des SGB VIII sah trotz des von der Bundesregierung formulierten Anspruchs, „die Kinder- und Jugendhilfe zu einem inklusiven (…) Leistungssystem weiterzuentwickeln“ (RegBegr. zum KJSG, BT-Drucks. 18/12330, 1), wiederum nicht die große Lösung vor6. 2021 gelang ein erneuter Versuch der SGB VIII-Reform. Danach sollen die Kinder mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung im Jahr 2028 endlich unter die Fittiche der Jugendhilfe genommen werden7. Einige Kommunen praktizieren diese Organisationsform schon jetzt modellhaft. Dem Inklusionsgedanken wird in dem Gesetz durchgehend etwas stärkere Aufmerksamkeit gewidmet.

Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG 2004) wurde die gemeinsame Förderung von Kindern mit und ohne Behinderung in Tageseinrichtungen gesetzlich festgelegt (§ 22a SGB VIII). Damit wurde eine strukturelle Barriere abgebaut, die zuvor durch die getrennte Zuständigkeit der Jugendhilfe- und der Sozialhilfeträger für die Einrichtungen errichtet worden war.8

3.2Die UN-Behindertenrechtskonvention als Motor für Bemühungen um Inklusion

Das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ („UN-Behindertenrechtskonvention – BRK“)9 wurde im Jahr 2006 von der UN-Vollversammlung verabschiedet, in Deutschland 2008 ratifiziert und trat am 26.03.2009 im Rang eines Bundesgesetzes in Kraft. Damit verpflichten sich die Mitgliedstaaten zum Schutz, zur Förderung und zur vollständigen Gewährleistung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten von Menschen mit Behinderung und zur Förderung der Achtung der ihnen innewohnenden Würde (Art. 1). Der wertvolle Beitrag behinderter Menschen zur sozialen, wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaft ist uneingeschränkt anzuerkennen. Heterogenität einer Gesellschaft ist positiv zu bewerten, denn sie dient allen Menschen im Gemeinwesen – „Diversity-Ansatz“ (Präambel).

Es müssen alle Maßnahmen, die zur Verwirklichung der vollen Gleichberechtigung erforderlich sind (einschließlich entsprechender Gesetzgebung und Verwaltungsorganisation), getroffen werden (Art. 4). Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf den Schutz von Frauen und Mädchen vor zusätzlicher Diskriminierung zu richten (Art. 6.) Ebenso ist von den Vertragsstaaten dafür zu sorgen, dass Kindern mit Behinderung in gleicher Weise wie anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zukommen. Bei allen sie betreffenden Maßnahmen ist ihr Wohl vorrangig zu berücksichtigen. Ihnen sollen die Meinungsäußerung und die – altersgemäße – Mitbestimmung in allen sie betreffenden Angelegenheiten in voller Gleichberechtigung mit anderen Kindern ermöglicht werden; hierzu sollen sie die benötigte behindertengerechte und altersangemessene Hilfe erhalten.

In der gesamten Gesellschaft muss das Bewusstsein für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung geschärft werden (Art. 8). Und damit jene tatsächlich umfassend partizipieren können, müssen die materiellen und immateriellen Barrieren beseitigt und die erforderlichen Unterstützungsmöglichkeiten geschaffen werden. Dieses Konzept der vollständigen Barrierefreiheit wird als „Inklusion“ bezeichnet. Der Begriff ersetzt den früher verwandten Terminus „Integration“, der beinhaltet, dass die zu integrierende Person sich an vorhandene Strukturen anzupassen hat. Jetzt geht es darum, die Strukturen auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten von behinderten Menschen einzurichten. Mit dem BTHG wird der Begriff „Inklusion“ in die Gesetzessprache aufgenommen. Es ist deutlich geworden, dass diese Inklusion nicht ohne umfassende Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu bewerkstelligen ist.

Bildung, Arbeit, Wohnen, Verkehr, Sozialwesen, Kultur und Freizeit, Beteiligung und Mitsprache sind entsprechend neu auszurichten. Soweit es geht, ist auf Sondereinrichtungen zu verzichten, ohne dass dabei die spezielle Förderung und Kompensation vernachlässigt werden, auf die ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen auch in inklusiven Einrichtungen angewiesen ist.

Für den Bereich der Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung hat das Inklusionskonzept der UN-BRK die seit den frühen 1970er Jahren geführte Diskussion um die „große Lösung“ (s. Kap. I3.1) neu belebt.