Jana Offergeld

 

Unterstützung der
Selbstbestimmung oder
fremdbestimmende
Stellvertretung?

Rechtliche Betreuung aus der Perspektive
von Menschen mit Lernschwierigkeiten

 

 

 

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Die Autorin

Jana Offergeld arbeitet beim Deutschen Institut für Menschenrechte in der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen u. a. die gleiche Anerkennung vor dem Recht und die Unterstützte Entscheidungsfindung, selbstbestimmt Leben in der Gemeinschaft und Partizipation.

Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin, Dr. phil., der Fakultät II – Bildung, Architektur, Künste – der Universität Siegen

 

 

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Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-7799-6576-3 Print
ISBN 978-3-7799-6577-0 E-Book (PDF)
ISBN 978-3-7799-6674-6 E-Book (ePub)

1. Auflage 2021

© 2021 Beltz Juventa
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Ulrike Poppel
Satz: Helmut Rohde, Euskirchen
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza
Printed in Germany

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Danksagung

An dieser Stelle möchte ich allen Menschen danken, die mich während meiner Promotionszeit begleitet und unterstützt haben.

Mein besonderer Dank gilt meinen Interviewpartner*innen und den Schulungsteilnehmer*innen für ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft, ihre Erfahrungen und Perspektiven mit mir zu teilen sowie dem Verein Mensch zuerst e.V. Ohne die enge Zusammenarbeit und die Expertise der Vereinsvertreter*innen wären Studie und Schulungen in dieser Form nicht möglich gewesen. Daher gilt auch ihnen, insbesondere Stefan Göthling, Anette Bourdon und Josef Ströbl, mein herzlicher Dank.

Außerdem möchte ich mich bei Prof. Dr. Albrecht Rohrmann (Universität Siegen) und Prof. Dr. Theresia Degener (Evangelische Hochschule R-W-L) für die hervorragende Betreuung während der gesamten Promotion bedanken. Das Kolloquium am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Hilfen der Universität Siegen und das Disability Studies Forum am Bochumer Zentrum für Disability Studies (EvH R-W-L) waren die zentralen Austauschformate, in denen ich Ideen und auftretende Herausforderungen im Forschungsprozess besprechen konnte. Für ihre offenen Ohren, hilfreichen Anregungen und den wertschätzenden Umgang möchte ich daher auch meinen dortigen Kommiliton*innen und Kolleg*innen danken.

Silke Offergeld, Mona El Omari, Henrik Wiegelmann, Lukas Groß, Nina Göpel, Andrea Quaden und Matthias Kempf danke ich vielmals für ihr inhaltliches und formales Feedback während der Schreibphase. Allen meinen Freund*innen und meiner Familie möchte ich außerdem für die andauernde Unterstützung und Ermutigung danken. Dies gilt in besonderer Weise für meine Eltern.

 

 

Vorwort

Um die Frage der Bevormundung und Fremdbestimmung in der Behindertenarbeit wird seit vielen Jahren gerungen. Seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 in Deutschland steht daher auch das Betreuungsrecht auf dem Prüfstand. Denn die UN-BRK verlangt, dass fremdbestimmte Stellvertretung, insbesondere auch in Form von Zwang, durch ein System der unterstützten Entscheidungsfindung ersetzt wird. Das ist bekanntlich in Deutschland nicht der Fall. Auch nach der Reform in 2021 sieht das deutsche Betreuungsrecht für die so genannten Ultima-Ratio-Fälle fremdbestimmte Stellvertretung auch unter Anwendung von Zwang zum „Schutz“ der betreffenden Person vor. In der fachlichen und politischen Auseinandersetzung um dieses Thema werden zunehmend auch die Stimmen von Selbstvertretungsorganisationen gehört. Allerdings kommen jene behinderten Personen, die herkömmlich dem Spektrum der geistigen Behinderung zugeordnet werden, die sich selbst Menschen mit Lernschwierigkeiten nennen, kaum zu Wort. Auch in der Forschungslandschaft ist ihre Sichtweise nicht präsent.

Das vorliegende Buch bietet innovative Zugänge zur Thematik. Es verleiht Personen mit Lernschwierigkeiten, die im System der rechtlichen Betreuung gelandet sind, eine Stimme, indem die Fragen von Selbst- und Fremdbestimmung exklusiv aus deren Perspektive erforscht wurden. Damit bietet das Buch auch einen Beitrag zu forschungsmethodischen Fragen partizipativer bzw. inklusiver Forschung. Darüber hinaus überzeugt es durch einen explizit menschenrechtsbasierten Ansatz, der sich in den Kanon der Disability Studies einordnen lässt.

Das Buch ist daher ein bahnbrechender Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs um Selbst- und Fremdbestimmung in der Behindertenarbeit. Es wird Wissenschaftler*innen und Studierende der Sozial- und Gesundheitswissenschaften, der Heilpädagogik und der Sozialen Arbeit ansprechen. Für die Berufspraxis enthält es die Grundlagen für eine menschenrechtsbasierte neue Fachlichkeit in der Behindertenarbeit.

Theresia Degener

 

 

Inhalt

Cover      1

Titel      2

Über die Autorin      3

Impressum      4

Danksagung      5

Vorwort      6

Inhalt      7

Abkürzungsverzeichnis      9

Einleitung      10

1      Das System der rechtlichen Betreuung      14

1.1      Die Einführung des Betreuungsrechts: eine Jahrhundertreform zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts behinderter Menschen?      14

1.2      Schutzrichtlinien und Einschränkungen der Selbstbestimmung innerhalb des deutschen Betreuungsrechts      17

1.3      Das Betreuungswesen in der Praxis      33

1.4      Fazit      42

2      Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Implikationen für das Betreuungsrecht      43

2.1      „Nichts über uns ohne uns!“ – zum Entstehungshintergrund der UN-BRK      44

2.2      Das menschenrechtliche Modell von Behinderung      47

2.3      Artikel 12 UN-BRK: Gleiche Anerkennung vor dem Recht      59

2.4      Entwicklungen innerhalb des Betreuungsrechts seit der ersten Staatenprüfung Deutschlands      75

2.5      Fazit      79

3      Forschungsstand zur Perspektive rechtlich betreuter Menschen      82

3.1      Die Perspektive rechtlich betreuter Menschen als blinder Fleck innerhalb der Betreuungsforschung      82

3.2      Studien zur Perspektive rechtlich betreuter Menschen – zentrale Forschungsfragen und Methoden      83

3.3      Erleben der rechtlichen Betreuung und der eigenen Selbstbestimmungsmöglichkeiten als betreute Person: aktueller Forschungsstand      88

3.4      Begründung der eigenen Studie      99

4      Unterstützte Selbstbestimmung und Fremdbestimmung: Arbeitsdefinitionen für die empirische Analyse      106

4.1      Selbstbestimmung auf der Handlungs- und Interaktionsebene      106

4.2      Walthers Modell des anthropologischen Dreischritts der Selbstbestimmung      107

4.3      Arbeitsdefinitionen: Unterstütze Selbstbestimmung und erlebte Fremdbestimmung      115

5      Das Forschungsvorhaben      120

5.1      Ein Schulungsangebot als Ausgangspunkt der empirischen Untersuchung      121

5.2      Die Interviewstudie      127

5.3      Die Auswertung      134

5.4      Kritische Reflexion des methodischen Vorgehens      144

6      Die Forschungsergebnisse      162

6.1      Erleben der rechtlichen Betreuung      163

6.2      Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung      204

6.3      Wissen über die rechtliche Betreuung      237

7      Diskussion und Ausblick      247

7.1      Eingrenzung der gewonnen Erkenntnisse      247

7.2      Ergebnisdiskussion      249

7.3      Resümee und Ausblick      270

Literatur      277

 

Abkürzungsverzeichnis

AB       Allgemeine Bemerkung

AEMR       Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen

BGB       Bürgerliches Gesetzbuch

BMAS       Bundesministerium für Arbeit und Soziales

BMJV       Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz

CEDAW       UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau

EWV       Einwilligungsvorbehalt (Abkürzung durch Verfasserin)

DIMR       Deutsches Institut für Menschenrechte

FamFG       Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit

MrM       Menschenrechtliches Modell von Behinderung (Abkürzung durch Verfasserin)

NAP       Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention

Sozialpakt       Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen (UN)

UN       Vereinte Nationen

UN-BRK       UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

UN-Fachausschuss       UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Zivilpakt       Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UN)

 

 

Einleitung

Eigene Entscheidungen treffen und diese rechtswirksam umsetzen zu können, stellt eine Grundvoraussetzung dafür dar, das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten. Weltweit sehen sich jedoch insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten1 oder psychosozialen Behinderungen2 bis heute mit Zweifeln an ihrer Selbstständigkeit und der Einschränkung ihrer (rechtlichen) Handlungsfähigkeit konfrontiert. Im Gegensatz zu ihren nicht-behinderten Peers stehen sie häufig in der Beweispflicht bezüglich ihrer Fähigkeit, selbstbestimmte Entscheidungen über ihr Leben zu treffen. In den meisten Ländern dieser Welt bestehen spezielle Erwachsenenschutz- und Psychiatriegesetze, entlang derer die Freiheitsrechte von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder psychiatrischen Diagnosen im Falle einer befürchteten Fremd- oder Selbstgefährdung eingeschränkt werden können. Die gleichberechtigte Anerkennung der Rechts- und Handlungsfähigkeit aller Menschen mit Behinderungen ist vor diesem Hintergrund eine der zentralen Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Artikel 12 UN-BRK zur gleichen Anerkennung vor dem Recht wird von vielen Selbst- und Interessensvertreter*innen von Menschen mit Behinderungen vor diesem Hintergrund als Herzstück der Konvention betrachtet.

In Deutschland kann Menschen mit Behinderungen, die Unterstützungsbedarf hinsichtlich der Regelungen ihrer Angelegenheiten und Rechtsgeschäfte haben, eine rechtliche Betreuung zur Seite gestellt werden. Diese soll die betreute Person beim Treffen und der Umsetzung rechtswirksamer Entscheidungen unterstützen. Andererseits ermöglicht der gesetzliche Rahmen in Ausnahmefällen auch die Einschränkung der rechtlichen Handlungsfähigkeit einer betreuten Person auf Grundlage einer gerichtlichen Anordnung. Die Ratifizierung der UN-BRK in Deutschland 2009 hat das Betreuungsrecht im Hinblick auf sein Versprechen, die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu stärken, auf den Prüfstand gestellt. Seit nunmehr zwölf Jahren wird in der Fachwelt kontrovers diskutiert, inwiefern das Rechtsinstitut die Selbstbestimmungsmöglichkeiten betreuter Menschen bewahrt und fördert oder Fremdbestimmung und Zwang ermöglicht und forciert. Insbesondere die radikale Forderung des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen3 nach der Abschaffung jeglicher Systeme, die ersetzende Entscheidungen durch Betreuer*innen, Vormünder oder andere Personen erlauben, hat im Fachdiskurs zu kontroversen Diskussionen geführt. Erstaunlich wenig Raum nimmt dabei die Perspektive derjenigen Menschen ein, die direkt von dem Thema betroffen sind. Sowohl in der politischen als auch wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vereinbarkeit des Betreuungsrechts mit den Vorgaben der UN-BRK werden die Erfahrungen und Positionen betreuter Menschen bisher kaum berücksichtigt, dies gilt in besonderer Weise für Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Diese Beobachtung bildete den Ausgangspunkt dieser Studie. Im Rahmen eines partizipativen Forschungsprojekts in Zusammenarbeit mit Mensch zuerst e.V.4 wurden Menschen mit Lernschwierigkeiten im Rahmen einer qualitativen Interviewstudie zu ihren Perspektiven und Erfahrungen mit der rechtlichen Betreuung befragt. Vor dem Hintergrund der diesbezüglich defizitären Datenlage ging es dabei zum einen um eine möglichst breite und offene Abfrage ihrer Wahrnehmung der rechtlichen Betreuung. Zum anderen lag ein besonderer Fokus auf ihren Einschätzungen bezüglich ihrer Selbstbestimmungsmöglichkeiten sowie ihren Kenntnissen über das Betreuungsrecht und ihren rechtlichen Status als betreute Person.

Wie die Verabschiedung der UN-BRK auf internationaler Ebene, war auch die Einführung der Betreuungsrechts in Deutschland mit der Zielsetzung verbunden, das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Kapitel 1 wirft einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des Rechtsinstituts und verdeutlicht, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Selbstvertretung kaum an der Entwicklung des gesetzlichen Rahmens beteiligt waren. Wie im folgenden Kapitel aufgegriffen und veranschaulicht wird, besteht hier ein zentraler Unterschied zur UN-Konvention und ihrer Genese. Außerdem werden die zentralen Grundsätze des Betreuungsrechts vorgestellt, insbesondere die im Gesetz verankerten Schutzrichtlinien und Vorgaben für die Restriktion rechtlicher Handlungsfähigkeit. Das Kapitel schließt mit der Darstellung der (begrenzten) Datenlage zur Umsetzung der gesetzlichen Richtlinien in der betreuungsrechtlichen Praxis und diesbezüglichen Herausforderungen.

Kapitel 2 geht darauf ein, wie die Frage nach den Selbstbestimmungsrechten von Menschen mit Behinderungen mit der Verabschiedung der UN-BRK noch einmal aus einem radikaleren Blickwinkel aufgeworfen wurde. Diese Radikalität, so eine grundlegende Annahme, ist insbesondere auf die bedeutsame Rolle der Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Verhandlungen zur Konvention zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund wird auch die Genese der UN-BRK kurz skizziert. Das im Rahmen ihres Entwicklungsprozesses generierte menschenrechtliche Modell von Behinderung (MrM) und das ihm zugrundeliegende Selbstbestimmungskonzept bilden die zentrale theoretische Grundlage dieser Studie und werden detailliert vorgestellt. Das menschenrechtsbasierte Verständnis von Selbstbestimmung der UN-BRK kristallisiert sich insbesondere in Artikel 12 zur gleichen Anerkennung vor dem Recht. Auch dessen zentrale Inhalte werden daher ausführlicher erläutert, wobei die Allgemeine Bemerkung Nr. 15 des UN-Fachausschusses als Interpretationsgrundlage dient. Zuletzt werden die Reaktionen auf die Forderungen der UN-BRK und die grundlegende fachliche und politische Kontroverse hinsichtlich der Vereinbarkeit des deutschen Betreuungsrechts mit der UN-Konvention nachgezeichnet.

Diese Studie basiert auf der grundlegenden Annahme, dass die Frage, inwiefern das Betreuungsrecht Selbstbestimmung fördert oder verhindert, nur unter Einbeziehung der Perspektive der rechtlich betreuten Personen selbst eruiert werden kann. Ein Blick auf den betreuungsrechtlichen Forschungsstand zeigt, dass ihre diesbezüglichen Standpunkte und Erfahrungen bisher nur selten erfasst und wissenschaftlich untersucht worden sind. In Kapitel 3 werden Forschungsarbeiten vorgestellt, in denen Menschen mit rechtlicher Betreuung selbst befragt wurden. Ausgehend von ihren zentralen Ergebnissen und daraus abgeleiteten Forschungsdesideraten werden die Zielsetzung und zentralen Forschungsfragen der eigenen Studie herausgearbeitet: (1) Wie erleben Menschen mit Lernschwierigkeiten ihre rechtliche Betreuung? (2) Welche Erfahrungen machen Menschen mit Lernschwierigkeiten mit rechtlicher Betreuung im Hinblick auf ihre Möglichkeiten der selbstbestimmten Lebensführung? (3) Welche Kenntnisse haben Menschen mit Lernschwierigkeiten im Hinblick auf das Betreuungsrecht und ihren eigenen rechtlichen Status?

In Kapitel 4 werden die Arbeitsdefinitionen unterstützter Selbstbestimmung und erlebter Fremdbestimmung für die spätere empirische Analyse der Interviewdaten formuliert. Theoretisch basieren die Arbeitsdefinitionen auf dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung und den Kriterien Unterstützter Entscheidungsfindung. Wie in diesem Kapitel ausführlicher erörtert wird, wurde während des Auswertungsprozesses zusätzlich auf Walthers Modell des anthropologischen Dreischritts der Selbstbestimmung zurückgegriffen, welches auf der Interaktionsebene zwischen unterstützter und unterstützender Person verortet ist. Anhand der hier generierten Arbeitsdefinitionen lässt sich in der Analyse der Interviewergebnisse konkreter bestimmen, welche Handlungen bei der Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung zentral sind und welche Tätigkeiten der Betreuer*innen und anderen Unterstützer*innen entlang der Schilderungen der Interviewpartner*innen Selbstbestimmung unterstützen bzw. verhindern.

Im Sinne der Vorgaben der UN-BRK zielt diese partizipativ angelegte Studie darauf ab, die Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten durch die Zusammenarbeit mit dem Verein Mensch zuerst e.V. einzubeziehen. Auch die Interviewpartner*innen werden über ihre Rolle als Forschungssubjekte hinaus in den Forschungsprozess einbezogen. Um sicherzustellen, dass alle Beteiligten von der Kooperation profitieren, wurde die eigentliche empirische Untersuchung außerdem von einer Schulungsreihe zum Thema rechtliche Betreuung für Menschen mit Lernschwierigkeiten gerahmt. Diese partizipatorischen Aspekte sowie das methodische Vorgehen der Interviewstudie werden in Kapitel 5 ausführlicher besprochen und reflektiert.

Die Ergebnisse der Studie werden in Kapitel 6 entlang der im Rahmen einer qualitativen strukturierenden Inhaltsanalyse entwickelten Kategorien dargestellt. Auf die Zusammenfassung der in den Kategorien erfassten Aussagen der Interviewpartner*innen folgt eine erste Interpretation und Kontextualisierung im Hinblick auf den aktuellen betreuungsrechtlichen Forschungsstand.

In Kapitel 7 werden die zentralen Ergebnisse der Studien noch einmal entlang der leitenden Forschungsfragen diskutiert und ihre zentralen Implikationen im Hinblick auf die fachliche Debatte um das Betreuungsrecht und seine Vereinbarkeit mit der UN-BRK herausgearbeitet. Die Diskussion endet mit einem Resümee bezüglich der Relevanz der Ergebnisse hinsichtlich der 2023 in Kraft tretenden gesetzlichen Reform des Betreuungsrechts sowie der Identifizierung aktueller Umsetzungsmängel in der betreuungsrechtlichen Praxis.

 

 

1      Das System der rechtlichen Betreuung

1.1      Die Einführung des Betreuungsrechts: eine Jahrhundertreform zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts behinderter Menschen?

Das Betreuungsrecht trat 1992 in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft und löste das seit Bestehen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) größtenteils unveränderte Vormundschafts- und Gebrechlichkeitspflegschaftsrecht6 ab. Die Abschaffung der mit der Vormundschaft einhergehenden umfassenden Entmündigung wird innerhalb der Fachöffentlichkeit bis heute als „Jahrhundertreform“ und als Meilenstein zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts behinderter Menschen angesehen (vgl. Kestermann 2001, 22; Crefeld 2012, 10).

Ein zentraler Auslöser für die Reform war der 1975 veröffentlichte Bericht der Psychiatrie-Enquete, der diese als notwendigen Schritt für die „Neuordnung und Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter in der Bundesrepublik Deutschland“ hervorhob.7 In den 1980er Jahren setzten sich schließlich insbesondere die Fachverbände der Psychiatrie und Behindertenhilfe sowie der 1988 gegründete Vormundschaftsgerichtstag e.V. aktiv für grundlegende gesetzliche Änderungen und eine Stärkung der Rechte der Mündel ein (vgl. Crefeld 2012, 10 ff.). Die Fachverbände der Behindertenhilfe, Psychiatrie und des damaligen Vormundschaftswesens stellten einflussreiche Stakeholder im Reformprozess dar und wurden im Rahmen einer vom Bundesjustizministerium einberufenen Arbeitsgruppe direkt in das Gesetzgebungsverfahren einbezogen.8 Geprägt wurden die Diskussionen um die Notwendigkeit gesetzlicher Veränderungen aber auch durch die sogenannte Krüppelbewegung in Deutschland, die sich in den späten 1970ern formierte (vgl. Mürner/Sierck 2012, 96 ff.). Vertreter*innen dieser emanzipatorischen Behindertenbewegung wirkten im Rahmen von politischen Aktivitäten, Stellungnahmen und Veröffentlichungen auf Politik und Fachverbände ein, war allerdings nicht direkt am Reformprozess beteiligt.

Bei der Entwicklung des gesetzlichen Rahmens des Betreuungsrechts wurden die Interessen der betroffenen Menschen mit Behinderungen somit primär durch Repräsentant*innen der verschiedenen Berufsgruppen, Träger und Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie vertreten (vgl. Beckord et al. 1987). Damals wie heute mussten die Perspektiven und Interessen von Professionellen, Angehörigen und Menschen mit Behinderungen allerdings keinesfalls immer übereinstimmen. Die Positionierung der Bundesvereinigung Lebenshilfe9 während des Reformprozesses zum Thema Sterilisation veranschaulicht diese Problematik. 1958 als Selbsthilfeverein von Eltern von Menschen mit Lernschwierigkeiten gegründet, begreift sich die Organisation heute als „Selbsthilfevereinigung, Eltern-, Fach- und Trägerverband für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Familien10“. In die Vormundschaftsrechtsreform war sie intensiv involviert und konnte „wichtige Reformanliegen aus der Sicht von Menschen mit geistiger Behinderung und deren Angehörigen in das Gesetzgebungsverfahren einbringen“ (Hellmann 2018, 1). Auf dem ersten Vormundschaftsgerichtstag 1988, auf welchem die zentralen Gesetzesentwürfe von einem interdisziplinären Fachpublikum diskutiert wurden, stellte die Lebenshilfe ihre Stellungnahme zur Sterilisation als einwilligungsunfähig geltender Personen vor, die explizit auf der Position von Eltern von Menschen mit Lernschwierigkeiten basierte. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe stimmte in der Stellungnahme dem gesetzlichen Regelungsvorschlag, „die Einwilligung eines Betreuers in die Sterilisation einer einwilligungsunfähigen Person bei Vorliegen eines Katalogs strikter Voraussetzungen in bestimmten Ausnahmefällen zuzulassen“ grundsätzlich zu (Hellmann 1989, 133). Wie auch im bis heute gültigen Gesetzestext11 begründete der Verein diese Position einmal mit dem Risiko der behinderten Eltern, ihr Kind vom Staat entzogen zu bekommen (ebd., 136). Insbesondere wird jedoch die Belastung für die Angehörigen der behinderten Eltern hervorgehoben:

„Aufgrund der begrenzten Erziehungsfähigkeit ihrer geistig behinderten Söhne und Töchter würden [ihre Eltern] sich verpflichtet sehen, auch die Sorge für deren Kind zu übernehmen. Dieser zusätzlichen Aufgabe fühlen sich viele Eltern jedoch nicht gewachsen. (…) Die zu erwartenden innerfamiliären Konflikte und seelischen Verletzungen im Falle der Geburt eines nichtbehinderten Kindes sind für viele Eltern ebenso unerträglich wie die Vorstellung, daß ihre geistig behinderten Söhne oder Töchter ein behindertes Kind bekommen, welches eine Vielzahl weiterer Belastungen für die Familie mit sich bringen würde.“ (Hellmann 1989; 132 f.)

Das Interesse bzw. Grundrecht behinderter Menschen, ausschließlich selbst über eine Sterilisation als Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit zu bestimmen, sieht sich hier den Interessen ihrer Eltern untergeordnet. Die Vertreter*innen der emanzipatorischen Behindertenbewegung positionierten sich im Vergleich deutlich radikaler und lehnten die Sterilisation behinderter Frauen ohne dessen Einwilligung konsequent ab (vgl. Boll/Eckert 2002). Bereits im Rahmen des 1981 einberufenen Krüppeltribunals stellte die Sterilisationspraxis einen ihrer zentralen Kritikpunkte am bestehenden System der Behindertenhilfe dar (vgl. Schenk 2015, 311 ff.).

Aufgrund der intensiven Einbeziehung der Fachverbände und weiterer Expert*innen wird der Reformprozess in der Fachöffentlichkeit auch heute noch für seine Transparenz und seinen partizipativen Charakter gelobt (vgl. Hellmann 2018). Es muss allerdings betont werden, dass die Perspektiven der Menschen, die unter Vormundschaft standen oder für die eine Gebrechlichkeitspflegschaft angeordnet worden war, ausschließlich stellvertretend einbezogen wurden. Die Mitgliederschaft der Fachverbände bestand ausschließlich aus Vertreter*innen verschiedener Berufsgruppen innerhalb der Psychiatrie und Behindertenhilfe und/oder Angehörigen von Menschen mit Behinderungen. Ihr genuines Interesse, die Lebenssituation betroffener Menschen zu verbessern und die insbesondere mit der Entmündigung verbundene Fremdbestimmung und Bevormundung einzudämmen, soll an dieser Stelle nicht angezweifelt werden. Als Vertretungsinstanzen der Psychiatrie und Behindertenhilfe brachten sie allerdings immer auch eigene Interessen und Perspektiven ein. Diese Möglichkeit stand den Menschen mit Behinderungen, die von Entmündigung und Vormundschaft betroffen waren, nicht offen. Die emanzipatorische Behindertenbewegung, die sich in den 1980er Jahren insbesondere im Rahmen der Krüppelbewegung formierte, wurde nicht direkt am gesetzlichen Reformprozess beteiligt. Spezifische Selbstvertretungsorganisationen derjenigen Personengruppen, die den Großteil der Menschen unter Vormundschaft ausmachten (Menschen mit Lernschwierigkeiten oder psychosozialen Behinderungen) gründeten sich zudem erst nach Einführung des Betreuungsrechts.12 Wie in Kapitel 2 deutlich wird, besteht gerade in dieser (fehlenden) Beteiligung der Selbstvertretung behinderter Menschen ein zentraler Unterschied zwischen dem Entstehungsprozess des deutschen Betreuungsrechts und dem Verhandlungsprozess der UN-Behindertenrechtskonvention.

1.2      Schutzrichtlinien und Einschränkungen der Selbstbestimmung innerhalb des deutschen Betreuungsrechts

Die Kritik am ehemaligen Vormundschafts- und Pflegschaftssystem konzentrierte sich insbesondere auf die hohe Anzahl von Vormundschaften und die mit der Verordnung einhergehende umfassende Entmündigung in allen Lebensbereichen. Des Weiteren wurden die hohen Fallzahlen einzelner Vormünder*innen bzw. Pfleger*innen sowie ihre defizitäre Kontrolle durch die Gerichte problematisiert.13 Der Reformprozess hatte vor diesem Hintergrund die zentrale Zielsetzung, betroffenen Menschen eigene Entscheidungen über ihre Lebensgestaltung zu ermöglichen (vgl. During 2001, 36 ff.). Auf internationaler Ebene gilt das Betreuungsrecht bis heute als eines der modernsten Erwachsenenschutzgesetze (Lipp 2013, 27). Dennoch erlaubt der gesetzliche Rahmen weiterhin die Einschränkung zentraler Persönlichkeitsrechte und die Durchsetzung stellvertretender Entscheidungen ohne Einwilligung oder gegen den natürlichen Willen14 einer Person. Als Grundlage für die Interpretation der eigenen Interviewergebnisse und um die im folgenden Kapitel dargestellte Diskussion um seine Vereinbarkeit mit der UN-BRK nachvollziehbar zu machen, werden im Folgenden die gesetzlichen Grundlagen des Betreuungsrechts15 vorgestellt. Diese umfassen sowohl Rechtsgarantien zum Schutz der Selbstbestimmung betreuter Menschen als auch gesetzlich legitimierte Einschränkungen ihres Selbstbestimmungsrechts.

1.2.1      Die rechtliche Betreuung als gesetzliche Vertretung

Die Anordnung einer Vormundschaft bewirkte, da sie mit einer automatischen Entmündigung einherging, „dass der betreffende Mensch rechtlich einem Kinde gleichgestellt und in seiner Geschäftsfähigkeit eingeschränkt wurde. Er konnte ohne Zustimmung des Vormundes weder einen Wohnsitz begründen noch einen Arbeitsvertrag schließen oder einen Partner heiraten.“ (During 2001, 1). Hier brachte das neue Betreuungsrecht einen grundlegenden Wandel: Die Bestellung einer rechtlichen Betreuung schränkt die rechtliche Handlungsfähigkeit einer Person nicht ein (Brosey 2014, 212). Die betreuende Person wird zwar durch die Berufung zu ihrer gesetzlichen Vertretung innerhalb der jeweils bestellten Aufgabenkreise erklärt und somit befugt, Rechtsgeschäfte für die betreute Person zu tätigen – etwa bei der Beantragung von Sozialleistungen und der Kommunikation mit Behörden (§ 190216 i. V. m. § 164 Abs. 1 BGB) (Fröschle 2013, 47). Gleichzeitig ist aber auch die betreute Person weiterhin selbst in der Lage, als Rechtssubjekt zu handeln. Die Vertretungsmacht rechtlicher Betreuer*innen ist außerdem begrenzt und umfasst nicht die höchstpersönlichen Geschäfte der betreuten Person, z. B. die Eheschließung (§ 1311 Abs. 1 Satz 1 BGB) oder die Einrichtung eines Testaments (§ 2064 BGB) (vgl. Jürgens 2014, 304 f.). Für andere Geschäfte sieht das Gesetz betreuungsgerichtliche Genehmigungen vor, d. h. Betreuer*innen können nur auf Grundlage einer Genehmigung des Betreuungsgerichts stellvertretend handeln, etwa hinsichtlich der Einwilligung in medizinische Maßnahmen (§ 1904 BGB)17 oder beim Abschluss eines Mietvertrages (§ 1907 BGB)18 (ebd., 307).19 Im Gegensatz zu der früheren Vormundschaft soll die gesetzliche Stellvertretung durch rechtliche Betreuer*innen eigene Entscheidungen nicht ersetzen, sondern betreute Personen bei dessen Ausübung unterstützen und sich immer an ihrem Willen und ihren Präferenzen orientieren (Brosey 2013, 358 ff.).

1.2.2      Persönliche Betreuung

Rechtliche Betreuer*innen haben also eine grundsätzlich Verpflichtung, „den Willen, die Wünsche, die Präferenzen und Vorstellungen des Betreuten zu ermitteln, ihn bei der Willensbildung durch eine unabhängige Beratung zu unterstützen und – je nach Fähigkeiten des Betreuten – dessen Entscheidungen umzusetzen oder stellvertretende Entscheidungen auf der Basis seines Willens, seiner Wünsche oder seines mutmaßlichen Willens zu treffen“ (Matta et al. 2018, 26). Um eine entsprechende Ausrichtung ihrer Arbeit garantieren zu können, müssen sie ausreichenden Kontakt mit den betreuten Personen pflegen. Die persönliche Betreuung stellt vor diesem Hintergrund eine betreuungsrechtliche Maxime da. Das Einhalten der „erforderlichen persönlichen Kontakte“ ist für rechtliche Betreuer*innen verpflichtend (§ 1837 Absatz 2 Satz 2 BGB), hierzu gilt es dem Gericht im Rahmen des Jahresberichts Rechenschaft zu leisten (§ 1840 BGB).20 Eine Zuwiderhandlung kann zur Entlassung rechtlicher Betreuer*innen führen (§ 1908b Absatz 1 Satz 2).21 Aus § 1901 ergibt sich außerdem eine Besprechungspflicht gegenüber der betreuten Person, allerdings nur hinsichtlich „wichtiger Angelegenheiten“ (§ 1901 Absatz 3 Satz 3 BGB).22 Die Verankerung der persönlichen Betreuung im Betreuungsrecht gilt als weitere zentrale Verbesserung im Vergleich zum Vormundschaftssystem und sollte eine „anonyme Verwaltung“ der betroffenen Personen bei räumlicher und persönlicher Distanz verhindern (During 2001, 35). Der Gesetzgeber liefert allerdings keine konkreten Vorgaben zur Häufigkeit oder der Ausgestaltung des Kontaktes zwischen betreuender und betreuter Person (vgl. Matta et al. 2018, 26).

1.2.3      Vorrang der Wünsche und Vorstellungen der betreuten Person

Eine weitere Vorkehrung zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts betreuter Menschen findet sich in der Darlegung der Pflichten der betreuenden Person (§ 1901 BGB). Gemäß § 1901 Absatz 3 Satz 1 muss ihr Handeln den Wünschen und Vorstellungen der betreuten Person entsprechen. Neben aktuellen Willensbekundungen sieht das Betreuungsrecht auch die Berücksichtigung schriftlicher Betreuungswünsche vor, die eine Person vor der Bestellung festgelegt hat (§ 1901c BGB). Die zu berücksichtigenden Wünsche umfassen „Vorschläge zur Auswahl des Betreuers oder Wünsche zur Wahrnehmung der Betreuung“ (§ 1901c Satz 1).23 Seit dem Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts am 1.9.2009 verweist der Gesetzgeber neben einer entsprechenden Betreuungsverfügung ausdrücklich auch auf die Möglichkeit, eine Vorsorgevollmacht (§ 1901c Satz 2)24 oder Patientenverfügung (§ 1901a BGB)25 einzurichten

Die Wünsche und Vorstellungen der betreuten Person sind allerdings nicht alleinige Richtlinie für das Handeln der Betreuer*innen. Entlang § 1901 Absatz 3, Satz 1 BGB hat „[d]er Betreuer (…) Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft (…)“.26 Dass „Wunsch und Wohl durch diese Formulierung scheinbar Gegensätze bilden“, führt nach Brosey zu erheblichen Unsicherheiten und Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben und dazu, dass „irrtümlich ein Vorrang des Wohls angenommen“ werde (Brosey 2013, 355). Während „[z]um Wohl des Betreuten auch die Möglichkeit [gehört], im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Fähigkeiten zu gestalten“ (§ 1901 Absatz 2, Satz 2 BGB), schwächt die entsprechende Formulierung im Gesetzestext die Orientierung am Selbstbestimmungsrecht der betreuten Person. Auch die ebenfalls gesetzlich verankerte Pflicht von Betreuer*innen, dazu beizutragen, „die Krankheit oder Behinderung zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern.“ (§ 1901 Absatz 4 BGB)27, kann unter Umständen mit der Pflicht, den Wünschen und Vorstellungen der betreuten Person zu folgen, kollidieren.

1.2.4      Erforderlichkeit und Nachrangigkeit rechtlicher Betreuung

Wie oben erläutert, schränkt eine rechtliche Betreuung die rechtliche Handlungsfähigkeit der betreuten Person nicht automatisch ein. Ihre Bestellung bildet jedoch die Voraussetzung für entsprechende betreuungsrechtliche Folgeverfahren, auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird.28 Vor diesem Hintergrund gilt die Nachrangigkeit rechtlicher Betreuung vor anderen Hilfen. Einmal wird hiermit auf Hilfen aus dem sozialen Sicherungssystem verwiesen, etwa Leistungen der Eingliederungshilfe. Gemeint sind aber auch private und informelle Hilfeformen, die eine Bestellung unnötig machen können (Nolting et al. 2018, 203). Gleichzeitig verweist der Gesetzgeber explizit auf die Möglichkeit einer Vorsorgevollmacht (§ 1896 Absatz 2 Satz 2).29 30 Nicht so sehr vor dem Hintergrund der Selbstbestimmungsrechte betreuter Menschen, sondern insbesondere aufgrund der seit Einführung des Betreuungsrechts kontinuierlich gestiegenen Fallzahlen und Kosten, bemühte sich der Gesetzgeber im Rahmen unterschiedlicher Gesetzesänderungen um eine Schärfung des Erforderlichkeitsgrundsatzes. Das 2014 in Kraft getretene Gesetz zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde verpflichtet diese dazu, betroffene Personen und ihre Angehörigen vor einer Bestellung im Rahmen eines Beratungsgesprächs über die Vorsorgevollmacht sowie weitere alternative Hilfen aufzuklären (§ 4 Absatz 1 und 2 BGBI). Den Betreuungsbehörden wird in diesem Sinne eine „Filterfunktion“ zugesprochen und die Aufgabe übertragen, nicht erforderliche Betreuungen vor Einsetzen des Bestellprozesses zu vermeiden (Fischer/Rohrmann 2017, 100).

Neben der Einrichtung einer Betreuung erstreckt sich der Erforderlichkeitsgrundsatz auch auf die den rechtlichen Betreuer*innen zugewiesenen Aufgabenkreise und ihre diesbezüglichen Vertretungspflichten (§ 1896 Absatz 2 Satz 1 i. V. m. § 1902 BGB).31 Eine Betreuung soll ausschließlich im Hinblick auf diejenigen Aufgaben tätig werden, bezüglich derer das Gericht bei Bestellung einen Unterstützungsbedarf festgestellt hat, wobei „die Erforderlichkeit jedes Aufgabenkreises nachvollziehbar zu begründen ist“ (Palandt 2019, § 1896 Abs. 3, Rn. 14). Während der gesetzliche Rahmen keine konkreten Vorgaben macht, lassen sich u. a. folgende zentrale Aufgabenkreise identifizieren (ebd., Rn 16 ff.):

Innerhalb der angeordneten Aufgabenkreise gilt wiederum ein „Vorrang der Beratung, die den Betreuten ermöglicht, eine eigene Entscheidung zu treffen. Der Betreuer darf/soll nur insoweit die Möglichkeit der Stellvertretung nach § 1902 BGB nutzen, als sie zur Umsetzung des Willens/der Wünsche/Präferenzen des Betroffenen oder seines subjektiven individuellen Wohls erforderlich ist.“ (Matta et al. 2018, 10).

1.2.5      Die Einbeziehung betroffener Personen in betreuungsrechtlichen Verfahren

Betreuungsrechtliche Verfahren33 sind im Zivilrecht verankert, verfahrensrechtliche Grundlage bildet das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG). Die Bestellung einer rechtlichen Betreuung kann durch die betreffende Person selbst oder von Amts wegen angeregt werden (z. B. nach einer entsprechenden Anfrage durch Angehörige oder Dritte) (§ 1896 Absatz 1 Satz 1 und 2 BGB).34 Die Entscheidung für oder wider die Betreuerbestellung basiert einmal auf einem medizinischen Sachverständigengutachten, welches das Gericht mit Einleitung des Bestellungsverfahrens bei einem*r Psychiater*in oder einem Arzt*einer Ärztin mit Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychiatrie anfordert. Das Gutachten muss auf einer persönlichen und aktuellen Untersuchung basieren und eine Einschätzung bezüglich der Aufgabenkreise und der Dauer einer einzurichtenden Betreuung umfassen (§ 280 FamFG).35 Eine zweite entscheidende Grundlage bildet die Berichterstattung durch die Betreuungsbehörde (im Folgenden Sozialbericht) (§§ 279 FamFG, § 8 Absatz 1 Satz 1 BtBG) (Fischer/Rohrmann 2017, 99). Die Behörde ist angewiesen, über folgende Aspekte Auskunft zu geben:

1.      „persönliche, gesundheitliche und soziale Situation des Betroffenen,

2.      Erforderlichkeit der Betreuung einschließlich geeigneter anderer Hilfen (§ 1896 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs),

3.      Betreuerauswahl unter Berücksichtigung des Vorrangs der Ehrenamtlichkeit (§ 1897 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) und

4.      diesbezügliche Sichtweise des Betroffenen.“ (§ 279 Absatz 2 Satz 2 FamFG)36

Entsprechend des Erforderlichkeitsgrundsatzes ist mit dem Sozialbericht ausdrücklich das Ziel verbunden, Betreuungsbestellungen zu vermeiden (vgl. Fischer/Rohrmann 2017). Seit Inkrafttreten des BtBG ist die Behörde verpflichtet, den betroffenen Personen vor der Entscheidung über eine Betreuungsbestellung ein Beratungsangebot zu unterbreiten und über alternative Unterstützungsformen aufzuklären (§ 4 Absatz 2 BtBG).37

Um eine Betreuung zu legitimieren, muss aus dem medizinischen Gutachten und Sozialbericht ersichtlich werden, dass die Person ihre „Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen“ kann. Diese Feststellung ist dabei unmittelbar an das Vorliegen „einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung“ geknüpft (§ 1896 Absatz 1 Satz 1 BGB).38 Eine rechtliche Betreuung kann somit nur für Menschen mit Behinderungen oder psychiatrischer Diagnose bestellt werden.

Menschen mit Behinderungen, für die eine Betreuung angeregt wird, sind unabhängig von der Beurteilung ihrer Geschäftsfähigkeit verfahrensfähig (§ 275 FamFG).39 Die Anerkennung der Verfahrensfähigkeit stellt einen weiteren Schritt zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts dar, der mit dem Betreuungsrecht eingeführt wurde. Zuvor war eine persönliche Anhörung der Person innerhalb eines betreuungsrechtlichen Verfahrens nicht zwangsläufig vorgesehen (During 2001, 61). Allerdings hält der gesetzliche Rahmen eine Reihe von Ausnahmeregelungen vor, entlang derer von der Einbeziehung der betroffenen Personen und sogar einer transparenten Darstellung der Sachverhalte ihr gegenüber abgesehen werden kann. Grundsätzlich ist das Betreuungsgericht, wie auch der*die medizinische Sachverständige und die Betreuungsbehörde, angewiesen, sich vor der Entscheidung einen persönlichen Eindruck von der Person zu machen. Allerdings kann das Gericht hierauf verzichten, wenn auf Grundlage eines medizinischen Gutachtens festgestellt wird, dass durch die persönliche Anhörung „erhebliche Nachteile für Gesundheit drohen oder der Beteiligte offensichtlich nicht in der Lage ist, seinen Willen kund zu tun“ (§ 34 Absatz 2 i. V. m. § 278 Absatz 4 FamFG).

Ordnet das Gericht eine Bestellung an, werden in einer Beschlussformel die wichtigsten Eckpunkte der Betreuung festgelegt (§ 286 FamFG40). Während die betreuende Person eine Bestellurkunde mit den zentralen Angaben zur Betreuung erhält (§ 290 FamFG41), wird eine entsprechende schriftliche Bestätigung des Beschlusses für die betreute Person im Gesetz nicht ausdrücklich gefordert. Die einzige Bezugnahme zur Bekanntgabe der Bestellung gegenüber der betroffenen Person in den verfahrensrechtlichen Regelungen des Betreuungsrechts findet sich in § 288 Absatz 1 FamFG. Hier ist festgelegt, dass „[v]on der Bekanntgabe der Gründe eines Beschlusses an den Betroffenen (…) abgesehen werden [kann], wenn dies nach ärztlichem Zeugnis erforderlich ist, um erhebliche Nachteile für seine Gesundheit zu vermeiden.“ Ein einführendes Gespräch mit Betreuer*in und betreuter Person sieht der Gesetzgeber lediglich in „geeigneten Fällen“ vor – ohne dass genauer erläutert wird, wodurch sich diese auszeichnen (§ 289 Absatz 2 FamFG).42

Das Mitspracherecht betroffener Personen im Hinblick auf die Auswahl ihrer rechtlichen Betreuer*innen ist sowohl in den materiellen als auch verfahrensrechtlichen Bestimmungen verankert. Nach § 1897 Absatz 4 Satz 1 BGB hat das Gericht den diesbezüglichen Vorschlägen zu folgen. Allerdings gilt auch hier der Vorbehalt, dass diese Auswahl „dem Wohl des Volljährigen“ nicht zuwiderlaufen darf. Wünsche, die sich auf die Ablehnung einer bestimmten Person beziehen, sind lediglich zu berücksichtigen (§ 1897 Absatz 4 Satz 4).43 Die betreute Person hat jedoch die Möglichkeit, eine Überprüfung der Betreuerauswahl zu verlangen (§ 291 FamFG).44 Gleichzeitig fordert der Gesetzgeber ausdrücklich den Vorrang ehrenamtlicher vor beruflichen Betreuungen (§ 1897 Absatz 6 Satz 1 BGB). Diese Maxime „geht dem Vorschlag des Betroffenen grundsätzlich vor.“ (Fröschle 2013, 30). Die Übernahme einer Betreuung ist an keine spezifischen Fachkenntnisse oder Qualifikationen geknüpft, die Betreuer*innen haben aber Anspruch auf Beratung von Seiten des Betreuungsgerichts, der Betreuungsbehörde sowie der Betreuungsvereine. Für Menschen mit rechtlicher Betreuung besteht währenddessen kein gesetzlich verankerter Beratungsanspruch.

1.2.6      Kontrolle der rechtlichen Betreuung durch die Gerichte

Betreute Personen, ihre rechtliche Betreuer*innen und der Staat stehen nach Fröschle in einem „Dreiecksverhältnis [zueinander], in dem die wechselseitige Kontrolle des Betreuers durch staatliche Aufsicht und des Handelns der Staatsgewalt durch den Betreuer allen Rechten des Betreuten zur möglichst effektiven Durchsetzung verhelfen soll.“ (2013, 18). Die zentrale Kontrollinstanz bezüglich der rechtlichen Betreuer*innen stellt das Gericht dar (§§ 1908i Absatz 1 Satz 1, 1837 Absatz 2 und 3 BGB).45 Einmal beinhaltet die Aufsicht eine gerichtliche Genehmigungspflicht bezüglich aller Maßnahmen innerhalb des Betreuungsrechts, die die rechtliche Handlungsfähigkeit einer betreuten Person einschränken (s. nächster Abschnitt). Spätestens sieben Jahre nach Bestellung muss das Gericht außerdem die weitere Erforderlichkeit einer rechtlichen Betreuung prüfen (§ 294 Absatz 3). An das diesbezügliche Gerichtsverfahren werden die gleichen Ansprüche gestellt, wie an die Erstbestellung, z. B. hinsichtlich der persönlichen Anhörung und der einzuholenden Gutachten (§ 295 FamFG).46 Des Weiteren besteht eine Berichts- und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Gericht: Nach §§ 1908i, 1840 Absatz 1 BGB „hat jeder Betreuer ohne Aufforderung mindestens einmal jährlich über die persönlichen Verhältnisse des Betreuten zu berichten. Dazu gehören seit 2011 ausdrücklich auch Angaben zu den persönlichen Kontakten, um dem Betreuungsgericht eine diesbezügliche Kontrolle zu ermöglichen“ (Matta et al. 2018, 11).47

Rechtliche Betreuer*innen sind also zu Transparenz und Redlichkeit bezüglich der Ausübung ihrer Tätigkeit verpflichtet, allerdings primär dem Gericht gegenüber. Eine entsprechende Pflicht gegenüber der betreuten Person selbst ist wesentlich schwächer ausgeprägt. Die Verpflichtung, wichtige Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, gilt „sofern dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft“ (§ 1901 Absatz 3 Satz 3, s. „Persönliche Betreuung“).48

1.2.7      Relevante Einschränkungen der rechtlichen Betreuung im Kontext dieser Studie

Im deutschen Recht wird zwischen der Rechtsfähigkeit und der rechtlichen Handlungsfähigkeit differenziert. Rechtsfähigkeit wird „verstanden als die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein“ (Jürgens 2014, § 1 BGB, Rn. 1 f., Herv. i. Orig.). Die rechtliche Handlungsfähigkeit beschreibt dagegen die „Fähigkeit, durch eigenes Handeln oder Verhalten rechtliche Wirkungen herbeizuführen.“ (ebd., Rn. 3). Die Unterscheidung „zwischen der Fähigkeit, Rechte zu haben, und der Fähigkeit, Rechte auszuüben“ ist im Hinblick auf die Situation von Menschen mit Behinderungen oder psychiatrischen Diagnosen höchst relevant (Degener 2016, 41). Denn während die Rechtsfähigkeit „jeder natürlichen Person unbeschränkt zu[steht]“, kann ihre rechtliche Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden (Jürgens 2014, § 1 BGB, Rn. 2). Dies kann auch mit dem Vorliegen einer psychosozialen oder kognitiven Beeinträchtigung zusammenhängen, denn die Entscheidungsfähigkeit einer Person kann krankheits- bzw. beeinträchtigungsbedingt angezweifelt werden. Der Gesetzgeber unterscheidet hier zwischen dem freien Willen und dem natürlichen Willen. Wie im Gesetzesentwurf des zweiten Gesetzes zur Veränderung des Betreuungsrechts dargelegt, „hat der Staat nicht das Recht, den zur freien Willensbestimmung fähigen Betroffenen zu erziehen, zu bessern oder zu hindern, sich selbst zu schädigen.“.49 Wird festgestellt, dass die „Einsichtsfähigkeit“ einer Person und/oder ihre „Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln“ beeinträchtigt sind, gilt ihr freier Wille jedoch als eingeschränkt (Bauer/Deinert 2013, § 1896 BGB, Rn. 158).50 Zwar wird der betroffenen Person weiterhin ein natürlicher Wille zugesprochen, dieser gilt jedoch nicht zwangsläufig als rechtlich erheblich und kann (bei unmittelbar drohender Selbst- oder Fremdgefährdung) überwunden werden. Die Feststellung einer eingeschränkten Fähigkeit, einen freien Willen zu bilden, erfolgt gerichtlich auf Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens (ebd.)

Die Differenzierung zwischen dem freien Willen und dem natürlichen Willen und die damit verbundene Einschränkung rechtlicher Handlungsfähigkeit findet im deutschen Recht in verschiedenen Kontexten Anwendung. Mit Blick auf die hier vorgestellte Studie erscheinen insbesondere zwei Unterfälle rechtlicher Handlungsfähigkeit relevant: die „Geschäftsfähigkeit (§§ 104 [BGB]), als die Fähigkeit, durch Rechtsgeschäfte Rechte zu begründen, zu übertragen, zu belasten, zu ändern oder erlöschen zu lassen“ sowie die „Einwilligungsfähigkeit als die Fähigkeit, eine rechtlich wirksame Einwilligung in die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter zu erteilen, insbesondere in eine Körperverletzung bei ärztlicher Behandlung oder Sterilisation (§ 1905 [BGB]).“ (ebd., Rn. 3).51