Cover

Olaf-Axel Burow

Team-Flow

Gemeinsam wachsen im Kreativen Feld

Über den Autor

Prof. Dr. Olaf-Axel Burow lehrt Erziehungswissenschaft an der Universität Kassel und ist Autor zahlreicher Sachbücher zu Pädagogik, Schul- und Organisationsentwicklung sowie Kreativitätsforschung und Zukunftsgestaltung. Bei Beltz erschienen seine Bücher »Positive Pädagogik« (2011) und »Digitale Dividende« (2014).

Homepage:
www.olaf-axel-burow.de

Impressum

Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:

ISBN 978-3-407-36569-9


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© 2015 Beltz Verlag · Weinheim und Basel


www.beltz.de


Lektorat: Ingeborg Sachsenmeier

Reihenkonzept: glas ag, Seeheim-Jugenheim

Umschlaggestaltung: Lelia Rehm

Umschlagabbildung: fotolia © DouDou

ISBN 978-3-407-29385-5

»Herauszufinden, wozu man sich eignet, und eine Gelegenheit zu finden, das zu tun, ist der Schlüssel zum Glücklichsein.«

John Dewey (Democray and Education, 1930)

»My model for business is The Beatles … They were four guys who kept each other’s kind of negative tendencies in check. They balanced each other and the total was greater than the sum of its parts. That’s how I see business. Great things are never done by single persons. They are done by a team of people.«

Steve Jobs (www.youtube.com/watch?v=1QfK9UokAIo, 2003)

Inhalt

Prolog: Ein Freund, ein guter Freund

Mit Teamkreativität zum Erfolg

Vom einsamen Genie zum »Kreativen Feld«

Kreativität und Improvisation: Die Jazzband als Führungsmodell der Zukunft

Die heilsamen Kräfte der Unordnung

Zwei Arten zu musizieren

Revision des Bewusstseins

Revision des Ortes

Revision der Überzeugungen

Kreatives Zusammenspiel: Von Fußballern lernen

Methoden zur Schaffung Kreativer Felder

Der Schlüssel zum Team- oder Group-Flow

Bedingungen für Team- beziehungsweise Group-Flow

Die fünf Cs des Team-Flows

Ausblick »Jammen« in Kreativen Feldern

Kreativität gibt es nur im Plural

Die Kosten der Individualisierung

Das Ende der Zwangsindividualisierung: Entstehung kreativer Gemeinschaften

Der Ort der Kreativität

Kreative Tätigkeitsformen

Kreativität und Feld

Ein antikreativer Arbeitsplatz

Aha-Erlebnisse

Kreativität in der Feldtheorie Lewins

Vom Wappen zum Lebensraum

Das Feld ist ein »erlebnismäßig strukturierter Raum«

Die Beschreibung des »Lebensraums« bei Lewin

Selbstbezug als wirksame Kraftquelle

Lebensraumdarstellung: Das Feld meiner Möglichkeiten

Welche Valenzen setze ich in meinem Umfeld?

Wie ich meine Umwelt bewerte

Wie ich die vier Konflikte erkenne, die meine Kreativität behindern

Kreativität erfordert Grenzüberschreitung

Möglichkeiten der Förderung persönlicher Kreativität

Das richtige Feld finden oder selbst formen

Selbstähnlichkeit bewahren

Kante zeigen

Negative Glaubenssysteme erkennen und überwinden

Persönliche Paradigmen steuern unsere Feldwahrnehmung

Was sind »persönliche Paradigmen«?

Tod eines Handlungsreisenden

Der Wechsel des persönlichen Paradigmas: Eine Fallstudie

Durch den offenen Raum die innere Berufung entdecken

Die optimale Arbeitsumgebung schaffen

Die Fähigkeit zum Staunen bewahren

Die Kultivierung von »Flow im Alltag«

Grenzen des persönlichen Wandels

Kann man Kreative Felder erzeugen?

Das Prinzip Ermutigung

Was ist ein Kreatives Feld? Eine Definition und ein Schlüsselkonzept

Die Schaffung Kreativer Felder als experimenteller Vorgang

Das Kreative Feld als Tanzfläche

»Anziehende« Freiräume für Selbstorganisation schaffen

Synergieanalyse: Wo finde ich Partner, die zu mir passen?

Der notwendige Abschied vom Genie

Resümee

Personenregister

Nachwort

Literatur

Prolog:
Ein Freund, ein guter Freund

Am 18. Dezember 1927 erschien im Berliner Lokal-Anzeiger eine unscheinbare Anzeige.

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Die Anzeige, die Harry Frommermann(1) und sein Nachbarsfreund Theodor Steiner(1) in einer Zeit aufgaben, als sich die drohenden Anzeichen der kommenden Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und Verelendung schon bemerkbar machten, stieß auf zweifelhafte Resonanz. Am nächsten Morgen drängten sich mehr als 70 Menschen, fast alle ohne jede musikalische Vorbildung, vor der Tür. Aber Lohn und Brot, worauf die Arbeitsuchenden hofften, konnte Frommermann(2) ihnen am allerwenigsten bieten.

Er besaß nicht viel mehr als den utopischen Plan zur Gründung eines völlig neuen Gesangsensembles, deren Vorbild die Revellers sein sollten. Die Revellers waren eine bekannte A-capella-Formation aus den USA, Gesangsartisten, die in ihren Konzerten und Plattenaufnahmen eine bisher einzigartige Harmonie der Stimmen erzeugen konnten. Aber in ihrem Gesangsstil blieben sie weitgehend auf ein sehr schmales Repertoire des Jazz und Jig Walk(1) beschränkt. Der Stil, der Frommermann(3) vorschwebte, sollte die gleiche Leichtigkeit und Qualität erreichen, darüber hinaus aber alle Musikrichtungen vom klassischen Konzert über den Schlager bis hin zum Volkslied einbeziehen. Frommermann(4) hatte bereits mehr als ein Dutzend Arrangements in sechsmonatiger Arbeit geschrieben. Und nun stand er zusammen mit Theodor Steiner(2) vor dem Problem, diejenigen auszuwählen, mit denen er zusammen seinen Traum verwirklichen konnte. Dabei hätten die Chancen kaum schlechter stehen können. Frommermann(5) besaß zwar eine erstaunliche Musikalität, konnte Musikinstrumente täuschend echt imitieren, verfügte aber über keinerlei Ausbildung. Seine Kontakte zum Musikgeschäft beschränkten sich auf einen Verwandten, der als Musikagent arbeitete. Und er war gänzlich mittellos. Für die Zeit der Proben in den folgenden Monaten lebte er ständig auf Pump. Als Atelier musste sein kleines Dachzimmer herhalten.

Unter den vielen Bewerbern ragte allein Biberti(1) heraus, ein Bass mit einer wunderbaren Stimme, Autodidakt wie Frommermann(6). Und Biberti(2) ließ sich von Frommermanns Vision anstecken. Als ihm Frommermann(7) auf dem billigen, altersschwachen Klavier seine ersten Partituren vorspielte, erkannte er augenblicklich die Möglichkeiten, die in dem Projekt steckten: »Einmalig war das, völlig abseits von allem, was wir bisher auf diesem Gebiet kannten. Ich roch, dass es eine Sensation werden konnte« (Fechner(1) 1998). Biberti(3) war auf der Stelle bereit – ebenso wie Frommermann(8) ohne Aussicht auf Bezahlung –, alles in diesen Traum zu investieren. Gemeinsam mit Frommermann(9) machte er sich daran, weitere Kollegen zu gewinnen.

Es folgte eine Zeit des tastenden Suchens und vieler Rückschläge. Bis die Gruppe endlich in der endgültigen Formation bestand, vergingen Monate. Frommermann(10) schrieb fieberhaft, Tag und Nacht, an den Arrangements: »Eigentlich war ich weder ein geschulter Musiker noch Sänger, und die Bearbeitungen, die ich schrieb, entstanden sehr mühselig.« Die Vision, die ihm vorschwebte, der völlig neuartige Gesangsstil, schien sich der Verwirklichung zu sperren. Die ersten Versuche klangen noch wie die Proben eines altmodischen Männerquartetts. »Mühselig mussten wir die Tugenden erlernen, Zurückhaltung zu üben, um hören zu können, was der Nebenmann sang.« Dennoch, Frommermann(11) trug nun nicht mehr allein an seiner Vision. Biberti(4) fasst rückblickend die Motive zusammen, die jeden Einzelnen in den schwierigen ersten Monaten zur dauernder Mitarbeit antrieben und dazu brachten, sich zu disziplinieren und der Gruppe unterzuordnen: »Wenn ich hier die Möglichkeit finde, innerhalb einer Gruppe etwas Neues mit aufzubauen, dann schaffe ich für mich eine Zukunft und komme weg von der Herde, aus der ich hervorging

In dieser ersten Krise erfuhr Frommermann(12), dass seine Fähigkeiten bei weitem nicht ausreichend waren. Und hier schien vielleicht zum ersten Mal das unerbittliche Qualitätsbewusstsein der Gruppe auf, das über alle persönlichen Differenzen hinweg die Gemeinschaft trug und an den entscheidenden Wendepunkten immer wieder vorwärtstreiben sollte. Frommermann(13) verzichtete auf die musikalische Leitung sowie die Alleinverantwortlichkeit für die Arrangements, und man engagierte den Pianisten Erwin Bootz(1).

Mit Erwin Bootz(2) gewann die Gruppe einen Musiker, der über brillante Fähigkeiten als Pianist und über ein atemberaubendes musikalisches Gedächtnis verfügte und für Frommermann(14) die ideale Ergänzung darstellte. Bootz(3) war, wie er freimütig zugab, von einer gewissen Bequemlichkeit und weit davon entfernt, Frommermann(15) aus seiner Position verdrängen zu wollen. Als einziger der Gruppe lebte er ohne Existenzängste und konnte, während die anderen arbeiten mussten, mit den regelmäßigen Zuweisungen seiner Mutter rechnen. Er besaß die Ausbildung und die Fähigkeit, den Arrangements von Frommermann(16) den musikalischen Schliff zu geben: »Er (sc. Frommermann(17)) hatte tatsächlich hübsche Einfälle, aber er kannte eben das Handwerk nicht. Das hat er erst nach und nach von mir gelernt, also unter meiner Anleitung. Und dann hat er sehr gute Arrangements gemacht, wirklich sehr gute.«

Ende März 1928, kurz nachdem Bootz(4) zur Gruppe gestoßen war, drei Monate nachdem die Gruppe erstmals ihre Proben aufgenommen hatte, stellte man sich zum ersten Mal fremder Kritik. Das Vorsingen beim Besitzer des wichtigsten Berliner Varietétheaters war, wie sich Biberti(5) schaudernd erinnert, ein Fiasko, »eine Niederlage ersten Ranges. Wir standen in unseren Straßenanzügen auf der riesigen Bühne, über uns brannte eine einsame Arbeitslampe, nichts klappte mehr. Wir sangen völlig auseinander. Es war nur noch ein Sammelsurium von unverständlichen Worten und ununterscheidbaren Stimmen.« Der Direktor besann sich nicht lange und lehnte ab; böse Worte fielen: »Wohl mehr etwas für ein Beerdigungsinstitut!«.

Die Gruppe dachte nicht ans Aufgeben. »Wir hatten trotz unserer Katastrophenstimmung mehr oder minder im Unterbewusstsein begriffen, dass das, was wir machten, etwas völlig Neues war und dass sich dieses Neue eines Tages gut verkaufen lassen musste.« Biberti(6) brachte auf den Punkt, was alle dachten: »Jetzt wird feste geprobt. Wir werden diese ganzen Fehler beseitigen. Wir werden es schaffen, da gibt es gar keinen Zweifel.« Tatsächlich sollte die Ablehnung zu einem Wendepunkt werden, der die Tragfähigkeit von Frommermanns(18) Vision erneut unter Beweis stellte und das Ensemble endgültig zum Erfolg führte. Aus einem Kokon von sechs Amateuren schlüpfte ein professionelles Ensemble.

Schon wenige Tage nach der Ablehnung formierten sich die Musiker zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts und nannten sich »Melody Makers«. Der Vertrag, den die sechs Musiker miteinander schlossen, sah völlige Gleichberechtigung der Mitglieder vor und jeder sollte zu einem Sechstel am künftigen Gewinn beteiligt werden. Gemeinsam ging man nun daran, Fehler zu beseitigen. Das verpatzte Vorsingen hatte deutlich »vor Ohren« geführt, dass Frommermanns(19) Atelier für Proben völlig ungeeignet war. Die sechs Musiker begannen noch einmal von vorn, arbeiteten nun härter als je zuvor. Vier Stunden täglich, vier Monate lang, zumeist mitten in der Nacht, probten die Mitglieder, weil sie tagsüber ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Durch ständiges Abhören und Durchproben erst einzelner, dann zweier und dreier Stimmen verbesserten sie ständig ihr Gefühl für Harmonie und die Genauigkeit der Stimmführung. »Wichtig war auch, dass wir wie aus einem Guss sprachen, dass wir lernten, synchron zu artikulieren und jedes Wort von uns fünfen so gesprochen wurde, dass jeder es im Saale verstand.« Im Verlauf dieser vier Monate entstand jene Leichtigkeit, jener unverwechselbare Charme und jener geheimnisvolle Zusammenklang der Stimmen, der entscheidend war für den späteren Erfolg.

Und wieder war es das unerbittliche Qualitätsbewusstsein der Gruppe, das keine persönlichen Rücksichten kannte. Frommermanns(20) Freund, Theodor Steiner(3), Mitbegründer der ersten Stunde, dessen stimmliche Mittel dem hohen Anspruch des Ensembles nicht mehr gerecht wurden, musste gehen; für ihn kam Roman Cycowski(1). Das Ensemble war komplett. Bevor sie zum ersten Mal auftraten, gaben sie sich den Namen, unter dem sie dann auch bekannt wurden: »Comedian Harmonists«.

Der künstlerische Durchbruch kam schlagartig, in atemberaubendem Tempo. Das erste eigene Konzert im Januar 1930 im Leipziger Schauspielhaus, zwei Jahre nachdem sich die Gruppe zu ihren ersten Proben getroffen hatte, geriet zum vollkommenen Triumph. Die Erfolgsserie, die auch in den folgenden Jahren nicht mehr abriss, beschränkte sich nicht auf Deutschland, sondern führte die Comedian Harmonists auf gefeierte Tourneen rund um die Welt.

Nachdem sich der Erfolg endlich eingestellt hatte, versuchten viele Ensembles, die Comedian Harmonists zu kopieren, doch erwuchs daraus nie eine ernsthafte Konkurrenz. »Vielleicht darum«, fasst Roman Cycowski(2) rückblickend zusammen, »weil niemand so schwer gearbeitet hat wie wir. Immerzu haben wir an uns gearbeitet wie die Akrobaten. Und obwohl wir so verschiedene Charaktere hatten, waren wir uns in der Arbeit einig die Comedian Harmonists, nicht Biberti(7), nicht Cycowski(3), nicht Frommermann(21), nicht Collin(1) nur: die Comedian Harmonists. Deshalb haben wir als Menschen so gut harmonisiert und sind auch fast immer gut miteinander ausgekommen.«

Auch außerhalb der Proben und Konzerte wurde zusammengearbeitet. Es schälte sich dabei eine Arbeitsteilung heraus, innerhalb derer jeder nach seinen Mitteln und Fähigkeiten zum Gelingen des Erfolgs beitrug. Bootz(5) und Frommermann(22) schrieben die Partituren. Ari Leschnikoff(1), der einzige mit Offiziersausbildung, kontrollierte vor jedem Auftritt die Kleidung, bügelte, wenn nötig, eigenhändig Hemd, Frack, Hose. Der sprachbegabte Collin(2) besorgte Korrespondenz und Planung der Reisen. Der redegewandte Biberti(8) führte die geschäftlichen Verhandlungen und konzipierte die langfristige Planung.

Gemeinsam verwirklichten sie einen Traum, erreichten ungeahnte Höhen gemeinsamer Kreativität und ergänzten sich musikalisch in einer erstaunlichen Intensität, wie Erwin Bootz(6) sich noch immer fasziniert erinnert: »Heute finde ich es erstaunlich, dass so etwas wie die Comedian Harmonists überhaupt zustande gekommen ist. Wenn man bedenkt, was alles dazugehört, ein Tenor mit einer so enormen Höhe, der aber nicht Falsett singt, wie Ari Leschnikoff(2); dann ein zweiter Tenor, Erich Collin(3), der ausgerechnet so wenig Eigentimbre hat, dass sich seine Stimme gut mischen lässt; dann ein mit Idealismus gefülltes Musikantentum, wie das von Frommermann(23), der neben seinen vielen schönen Arrangements plötzlich die Fähigkeit entwickelt, Instrumente zu imitieren, obwohl er eigentlich keine besonderen stimmlichen Mittel besitzt, und der dafür sorgt, dass alle Klänge harmonisieren; dann Cycowski(4), diese herrliche vornehme Stimme, mit ihrer enormen Höhe – der konnte so hoch wie ein Tenor singen, und schließlich Biberti(9), ein samtener, leichter, aber wohlklingender Bass. Und zu allem auch noch die persönlichen Gleichungen dieser sechs Leute untereinander, die so ausbalanciert waren, dass niemals die Gefahr bestand, dass unsere Gruppe zerplatzen würde, was ja meistens das Ende der Karriere solcher Ensembles geworden ist. Und wenn es keine Einmischung von außerhalb gegeben hätte, wäre die Gruppe bis in ihr Alter zusammengeblieben und hätte die Leute erfreuen können.«

Das Ensemble löste sich 1938 unter dem Druck der Nationalsozialisten auf. Keiner der sechs Künstler hat jemals wieder an die Erfolge der Comedian Harmonists anknüpfen können.

Mit Teamkreativität zum Erfolg

»Was hältst du davon?«, fragte mich John sichtlich nervös, nachdem er zu Ende gespielt hatte … Benommen erwiderte ich: »Das war stark. Das ist wirklich ein starker Song. Wie willst du ihn machen?«

»Ich dachte, das sagst du mir!« konterte er lachend.

John Lennon(1) im Gespräch mit George Martin(1) (Lennon(2) J. 1981)

Vom einsamen Genie zum »Kreativen Feld«

Im einleitenden Prolog sind fast alle Elemente enthalten, die beschreiben, wie ein Kreatives Feld entsteht. Die von mir kursiv hervorgehobenen Textstellen verweisen auf Erfolgsprinzipien gemeinsamer Kreativität, wie sie die Comedian Harmonists bereits in ihrer Gründungsphase intuitiv umsetzten. Wenn Sie jetzt den Prolog unter diesem Gesichtspunkt noch einmal lesen und sich fragen, welche Hinweise die kursiv gesetzten Textstellen auf Elemente kollektiver Kreativität geben, die zum Team-Flow beitragen, dann erhalten Sie so etwas wie einen roten Faden, der Sie bei der Lektüre dieses Buches leiten wird. Wie ich in diesem Buch herausarbeiten werde, gibt es eine Reihe von relativ einfachen Prinzipien, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass fast jeder von uns auch mit begrenzten Fähigkeiten zu überragenden schöpferischen Leistungen beitragen kann. Kreativität ist weniger in der isolierten Leistung eines herausragenden Individuums zu verorten, sie entsteht vielmehr in Feldern, die in sehr spezifischer Weise aufgebaut sind.

In dieser Perspektive war Harry Frommermann(24), der Gründer der Comedian Harmonists, ein Kristallisationskern im Feld. Indem er eine faszinierende Vision entwickelte, zog er die nötigen Talente zur Verwirklichung seiner Idee einer neuartigen Musikgruppe an. Das Neue entstand – angestoßen durch einen Visionär – als Synergieleistung unterschiedlichster Personen, die ihre unterschiedlichen Fähigkeiten zu einem Kreativen Feld formierten. Gleichzeitig verfügte Frommermann(25) als Arrangeur offenbar über die Fähigkeit, verschiedenste Einflüsse in seinem Schaffen zu verdichten. Auch hier war er der Visionär, der anstieß und vorantrieb. Doch ohne die korrigierenden und ergänzenden Beiträge seiner Gruppenmitglieder hätten nie die Lieder entstehen können, die wir noch heute mit Bewunderung hören.

Im anbrechenden digitalen Zeitalter, das völlig neue Chancen lokaler und globaler Zusammenarbeit bietet, stehen wir in Firmen und Institutionen genau vor dieser Herausforderung: Wie können wir die ungenutzten kreativen Potenziale unserer Mitarbeiter hervorlocken und so koordinieren, dass eine neue Stufe kollektiver Kreativität beziehungsweise gemeinsamen Schöpfertums erreicht wird, auf der ungeahnte kreative Leistungen entstehen? Um auf diese Fragen eine Antwort zu erhalten, müssen wir zunächst den Prozess der spontanen Bildung Kreativer Felder eingehender verfolgen. In diesem Buch werde ich deshalb einige theoretische Grundlagen beleuchten und das Kreativitäts- beziehungsweise Team-Flow-Modell herausarbeiten, während ich in meinen Praxisbänden (Positive Pädagogik 2011, Digitale Dividende 2014) daraus abgeleitet Verfahren zur gezielten Einrichtung Kreativer Felder vorgestellt habe. Bei unserem Weg durch theoretische Hintergründe soll uns die faszinierende Geschichte der Comedian Harmonists als Leitbild dienen. Die Comedian Harmonists haben in ihrer Domäne etwas Neues geschaffen. Es liegt also nahe, zunächst zu untersuchen, was wir über die Entstehung von Neuem wissen.

Wenn wir über Kreativität nachdenken, dann fallen uns in der Regel zunächst die Namen überragender Persönlichkeiten wie Mozart, Einstein(1) oder Freud(1) ein. Ihnen ist gemeinsam, dass sie uns als wahre Titanen erscheinen, die in ihrer jeweiligen Disziplin bahnbrechende Neuerungen geschaffen haben und unser Denken und Empfinden bis heute nachhaltig beeinflussen. Als legendäre Gestalten erscheinen sie uns so herausgehoben und entrückt, dass wir uns daneben als klein und unbedeutend empfinden. Obwohl jeder von uns tagtäglich kreativ ist und über ein unerschlossenes Potenzial an kreativen Fähigkeiten verfügt, erscheint es völlig lächerlich, unsere Kreativität mit den Schöpfungen dieser unerreichbaren Lichtgestalten zu vergleichen. Und doch haben wir eine gemeinsame Basis.

Diese gemeinsame Basis können wir oft nicht erkennen, weil Kreativität überwiegend als individuelle Leistung herausragend begabter Personen gesehen wird. Wenn ich auch nicht bezweifeln möchte, dass es solche besonderen Begabungen gibt, so wird dabei doch übersehen, dass Kreativität immer auch Ausdruck eines besonders günstig strukturierten Feldes, eines »Kreativen Feldes« ist. Jeder von uns ist im Laufe seines Lebens, ob er es nun weiß oder nicht, wichtiger Bestandteil solcher Kreativen Felder. In diesem Sinne kann jeder von uns zu schöpferischen Leistungen beitragen. Wenn wir Kreativität aus der Feldperspektive betrachten, dann erkennen wir, dass wir uns nicht prinzipiell von den legendären kreativen Überfiguren unterscheiden.

Deren Begabung allein reicht nämlich zur Erklärung ihrer bahnbrechenden Schöpfungen nicht aus. Wir müssen auch die besonders günstigen Feldbedingungen betrachten, die es ihnen erst ermöglichten, zu solchen Gipfelpunkten aufzusteigen. Für eine Theorie Kreativer Felder sind für die Freisetzung des eigenen kreativen Potenzials vor allem folgende Faktoren entscheidend.

Aufgrund der Zwänge unserer einseitig auf kalkulierbare Ergebnisse fixierten Leistungsgesellschaft haben sich viele von uns vorschnell an die von außen an sie herangetragenen Anforderungen angepasst und verfehlen somit ihre innere Berufung. Meine innere Berufung ist so etwas wie meine innere Stimme, mein Traumkörper, der sich immer dann meldet, wenn ich gegen ihn angehe. Dinge, die mir leichtfallen, die mich anziehen, die ich aus innerem Antrieb machen möchte, weisen in die Richtung meiner inneren Berufung. Widerstände, die sich in Anstrengung, Arbeitsstörungen, Müdigkeit bis hin zu psychosomatischen Symptomen äußern, können Anzeichen dafür sein, dass ich meine innere Berufung verfehle.

Noch immer wird in Schulen, Hochschulen, Institutionen und Firmen allzu oft Anpassung an äußerliche Normen verlangt, obwohl wir wissen, dass das ungenutzte kreative Potenzial von Menschen nur dann erschlossen werden kann, wenn sie die Möglichkeiten erhalten, ihre wahre Berufung zu erkennen und ihr zu folgen. Um aber mein kreatives Potenzial optimal erschließen zu können, bin ich auf ein geeignetes Umfeld angewiesen. Harry Frommermann(26) wusste, dass er Synergiepartner brauchte, um seine Schwächen auszugleichen, aber auch um seine besonderen Talente zum Tragen kommen zu lassen. Jeder von uns spielt im übertragenen Sinne in einer »Band«, ist Mitspieler in einem komplexen Feld und benötigt geeignete Mitspieler, um sein Potenzial ausschöpfen zu können.

Die Bedingungen für die Bildung solcher kreativen Synergiegemeinschaften, in denen sich unterschiedliche Begabungen wie bei den Comedian Harmonists zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels ergänzen, sind günstiger geworden, denn in der digitalisierten, vielfach vernetzten globalisierten Wissensgesellschaft sind neue Qualifikationen gefordert. Die Komplexität der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und das sich explosionsartig erweiternde Wissen lassen jeden von uns zu einem Spezialisten werden, der nur einen Teil des Elefanten sehen kann. Wollen wir aber den ganzen Elefanten verstehen, dann brauchen wir Teams, deren Mitglieder ihre Berufung erkannt haben und in der Lage sind, ihre unterschiedlichen Fähigkeiten miteinander zu kombinieren. Die Theorie des Kreativen Feldes zeigt den Königsweg aus der Sackgasse: Das Verständnis, wie Kreative Felder, die Team-Flow ermöglichen, entstehen und die Beachtung einiger weniger Prinzipien können dazu beitragen, dass wir alle unsere kreativen Potenziale in der Begegnung mit geeigneten anderen Personen freisetzen und dabei – auch mit bescheidenen Fähigkeiten – nicht nur zu Spitzenleistungen beitragen können, sondern auch Glück und Erfüllung erfahren.

Die zentrale Herausforderung beim Übergang zur digitalisierten Wissensgesellschaft besteht darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es uns allen ermöglichen, unser ungenutztes kreatives Potenzial freizusetzen, um zu den notwendigen schöpferischen Prozessen beitragen zu können. Das Zeitalter der Zwangsindividualisierung beziehungsweise der spezialistischen Fragmentierung neigt sich seinem Ende zu, und am Horizont taucht die Chance zur Bildung kreativer Gemeinschaften auf. Damit dies geschieht, müssen wir uns verabschieden von der heroisierenden Legende vom einsamen Künstler, die – wie Ernst Kris(1) und Otto Kurz(1) schon 1934 festgestellt haben – ein verzerrtes und überhöhtes Bild vom schöpferischen Prozess zeigt und dennoch in unserer auf das Individuum fixierten Mediengesellschaft immer weiter fortgeschrieben wird.

Literaturtipp

Ernst Kris(2) und Otto Kurz(2) beschreiben in Ihrem kurzweilig zu lesenden Buch »Die Legende vom Künstler«, das 1995 in 5. Auflage erschienen ist, welche Muster Künstlerbiografien zugrunde liegen. Es geht auch darum, was die Gesellschaft in ihren Künstlern sieht und sehen will.

Meine Betrachtung der Hintergründe kreativer Prozesse wird zeigen, dass es neben dem göttlichen Funken eine Reihe von rational erklärbaren Faktoren gibt, deren Erkenntnis uns allen helfen kann, kreativer zu werden. Wir werden sehen, dass es ein Irrtum ist, allein auf die individualisierende Förderung besonders begabter Einzelpersonen zu setzen – wie es Programme der Exzellenzförderung einseitig betreiben. Wenn es darum geht, die unerschlossenen Begabungen der Vielen freizusetzen, scheint es erfolgversprechender zu sein, Rahmenbedingungen zu schaffen, die zum Entstehen vielfältiger Kreativer Felder beitragen.

Solche Felder existieren in vielfältiger Form in unserer Gesellschaft. Aber wir haben es bislang versäumt, ihre besonderen Leistungen zu würdigen. So gibt es vielfältige Formen der Paarkreativität, die aus der Zusammenarbeit zweier Personen entsteht, die einander in besonderer Weise herausfordern und ergänzen. Wir alle leben diese Formen, doch wir sind uns in der Regel der besonderen Chancen, die sich aus solchen Beziehungen ergeben, nicht bewusst. Die Beziehungen von Simone de Beauvoir(1) und Jean-Paul Sartre(1) oder von John Lennon(3) und Yoko Ono(1), von Pierre und Marie Curie(1), aber auch von Bill Gates(1) und Paul Allan(1), Steve Jobs(1) und Steve Wozniak(1) und vielen anderen zeigen anschaulich, was wir alle erfahren können: In der Begegnung mit dem Anderen kann ich Potenziale freisetzen, die mir allein nicht bewusst sind und die ich allein nicht erschließen kann.

Der Managementforscher Warren Bennis(1) hat eine Untersuchung über geniale Teams vorgelegt (Bennis(2)/Biedermann(1) 1998), die anschaulich zeigt, dass nicht nur die Erfindung des PCs, sondern auch Walt Disneys(1) Zeichentrickfilme das Resultat entwickelter Teamkreativität sind. Auch Keith Sawyer(1) (2007), amerikanischer Kreativitätsforscher, betont die überragende Bedeutung des »Group Genius« und zeigt an vielen Beispielen, dass fast alle herausragenden Erfindungen Resultat des Zusammenwirkens vernetzter Personen sind. Er spricht von »invisible cooperation«, die sichtbar werde, wenn man das Zustandekommen kreativer Schöpfungen näher beleuchte. Die Erfindung des Spiels Monopoly, aber auch des Fernsehens – um zwei seiner Beispiele zu nennen – sind Ausdruck unsichtbarer kreativer Hintergrundfelder. Und selbst in der Kunst und Literatur, in denen wir geniale Einzelne als Schöpfer vermuten, ist – wie Vera John Steiner(4) (2000) gezeigt hat –, »creative collaboration« eher die Regel als die Ausnahme.

Mehr noch: Stellvertretend für viele andere hat der französische Philosoph Pierre Levy(1) (1996) gezeigt, dass wir mit dem Cyberspace zu neuen Formen digitaler Kreativität und kollektiver Intelligenz vordringen, die geeignet sind, sogar unsere Gesellschaft insgesamt zu revolutionieren, etwa indem neue Formen der Demokratie in Echtzeit möglich werden. Und was den Bereich von Unternehmen und Organisationen betrifft, zeigt das Konzept der »Lernenden Organisation« von Peter Senge(1), dass wir uns mitten in einem Prozess befinden, die Leistungen von Personen zu erkennen, die vernetzt miteinander arbeiten. Die schöpferischen Kräfte der zukünftigen Wissensgesellschaft werden nicht von herausragend begabten Genies im stillen Kämmerchen, sondern in vielfältig miteinander vernetzten Synergiegemeinschaften freigesetzt, in Kreativen Feldern, in denen kollaborativ arbeitende Menschen jeweils ihren einzigartigen Beitrag einbringen können. Insofern zeichnen sich die Umrisse einer Kreativitätsrevolution ab, deren Konturen ich zunächst anhand der Jazzmetapher skizzieren möchte.

Kreativität und Improvisation:
Die Jazzband als Führungsmodell der Zukunft

»Beim Jammen geht es darum, ein bestimmtes Umfeld für eine bestimmte Form der Unordnung zu schaffen. Es handelt sich dabei immer um einen Balanceakt zwischen Form und Freiheit, Disziplin und Kunst: Formales und Neues sind ständig miteinander konfrontiert, und so entsteht ständig etwas Neues.«

John Kao(1)

Wenn wir überlegen, wie wir die Kreativität von Einzelnen oder Organisationen fördern können, dann denken wir oft an spezielle Formen des systematischen Kreativitätstrainings. Untersuchungen zeigen jedoch, dass solche Methoden nur wenig zu den gewünschten Kreativitätssprüngen beitragen. Der große Erfolg der Industriegesellschaft modernen Typs beruhte auf einer Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen innerhalb klar vorgegebener Organisationsstrukturen, die ständig verbessert wurden. Wie der amerikanische Wissenschaftsjournalist John Horgan(1) gezeigt hat, kommen wir mit diesem systematischen Verfahren immer häufiger an die »Grenzen des Wissens« (1997), wie auch der Titel seines Buches lautet. Während Horgan(2) die erstaunlichen Wissensfortschritte im 20. Jahrhundert als eine der Ursachen ansieht, die es immer schwieriger machen würden, Neues zu entdecken, weil das Grundlegende bereits erforscht sei, verweist der italienische Wissenschaftshistoriker Federico Di Trocchio(1) (1998) in seinem Buch »Newtons Koffer« auf eine andere Barriere: Die Wissenschaft laufe gerade wegen ihrer erstaunlichen Erfolge Gefahr, dogmatischer als die katholische Kirche zu werden. Anhand zahlreicher Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart zeigt er, wie bestimmte Wissenschaftler bemüht sind, originelle Querdenker und Personen, die neuartige Fragestellungen entwickeln, auszugrenzen und ihnen Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten zu nehmen. Viele neue Erkenntnisse wurden gerade deswegen gewonnen, weil deren Urheber nicht streng wissenschaftlich vorgingen. Bekanntestes Beispiel ist Kolumbus, der trotz oder gerade wegen seiner fehlerhaften Berechnungen Amerika entdeckte. Auch Robert Mayers(1) intuitive Formulierung des ersten Hauptsatzes der Thermodynamik wurde jahrzehntelang nicht ernst genommen, weil sie von einem Grenzgänger in einer Sprache verfasst wurde, auf die sich die etablierten Wissenschaftler nicht einließen.

Di Trocchio(1) zieht aus seiner erhellenden Untersuchung den Schluss, dass Wissenschaftler sich grundsätzlich auch für »schräge« Fragestellungen öffnen und das Wort »unmöglich« aus ihrem Vokabular streichen sollten. Auch die Wissenschaft neigt zur Selbstüberschätzung. So haben Wissenschaftler im letzten Jahrhundert lange Zeit die Möglichkeit der Stoffumwandlung ausgeschlossen, sie verwarfen die Idee einer funktionierenden Glühbirne, hielten das Radio, das Flugzeug und die chemisch-physikalische Analyse von Sternen für unmöglich.

Das entscheidende Hindernis sieht Di Trocchio(2) in der fehlenden Anerkennung dessen, »was an Gutem in Ideen stecken kann, die den Horizont von Theorien und Meinungen übersteigen, welche zu einem gegebenen Zeitpunkt für vernünftig gehalten werden. Innerhalb bestimmter Grenzen bedarf die Wissenschaft geradezu des Irrationalen und kann darauf nicht verzichten« (1998). Eine Abhilfe sieht er in einem Toleranzgebot, das Wissenschaftler zur vorurteilslosen Offenheit gegenüber ungewöhnlichen Ideen verpflichtet. Zusätzlich sollten zehn Prozent aller Forschungsmittel von unabhängigen Gremien an Querdenker und außerhalb der etablierten Institutionen stehende Forscher vergeben werden.

Erinnern wir uns an das Beispiel der Entstehung der Comedian Harmonists: Harry Frommermann(27) war vielleicht gerade deswegen in der Lage, eine neuartige Musikgruppe zu formieren, weil er über keine klassisch musikalische Ausbildung verfügte und beinahe naiv an seine Arrangements heranging. Doch der Querdenker bedarf der Korrektur durch einen Fachmann, der das Handwerk beherrscht, wie den Pianisten Erwin Bootz(7). Dessen besondere Fähigkeit bestand darin, dass er trotz seiner soliden Ausbildung in der Lage war, das Neue zu erkennen, das Frommermann(28) schuf, und es auf eine solide Basis zu stellen. Wissen und die Einhaltung von als notwendig erachteten Standards können den Erkenntnisprozess behindern. Voraussetzung für die Entstehung von Neuem scheint in einem gewissen Maß das Zulassen von intuitiven, scheinbar naiven, chaotischen, querdenkerischen Ideen in offenen Räumen, die noch keiner Regel unterstellt wurden.

Der Querdenker bedarf in diesem Sinne eines unterstützenden Feldes. Wenn man Neues schaffen will, muss man allerdings die herrschenden Ordnung überschreiten und zunächst einen freien Raum (»Open Space«) schaffen. Wie auf diese Weise Neues entsteht, kann uns anschaulich das Beispiel der Jazzband zeigen.

Die heilsamen Kräfte der Unordnung

In seinem Aufsatz »Die Vorzüge der betrieblichen Unordnung« (1997) bahnt John Kao(2), Gründer einer »Ideas Factory«, einen faszinierenden Perspektivwechsel an, wobei ihm die Jazzband als Leitbild dient: Voraussetzung für die Freisetzung von Kreativität scheint ein gewisses Maß an Unordnung und die Fähigkeit zur Improvisation in offenen Räumen zu sein.

Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe (Burow(1) 1998), illustriert die Jazzbandmetapher ausgezeichnet die Führungsanforderungen, die wir berücksichtigen müssen, wenn wir Kreativität freisetzen wollen.

Die Jazzbandmetapher

In einer Jazzband spielen unterschiedliche Personen miteinander, die alle ihr Instrument beherrschen und über ein gemeinsam vereinbartes Thema ohne Führung von oben improvisieren. Wenn es ihnen gelingt, gut aufeinander zu hören, sich synergetisch zu ergänzen, dann kann etwas Neues entstehen, das so faszinierend ist, dass es auch die Zuhörer ergreift. Diese lösen sich aus ihrer passiven Rolle, klatschen den Rhythmus, feuern die Musiker durch Zurufe an. Musiker und Zuhörer verbinden sich zu einem Kreativen Feld, das bei allen Beteiligten eine signifikante Energiekonzentration bewirkt. Das Erlebnis gemeinsamen Mitschwingens löst oft eine machtvolle Resonanz aus, die dazu führt, dass Musiker und Zuhörer beflügelt werden und mit neuen Ideen und einem erhöhten Energiezustand aus der Begegnung herausgehen.

Wenn wir demgegenüber etwa die Mehrzahl der durch vorgeplante Tagesordnungen und sterile Abläufe geprägten Sitzungen in unseren Institutionen betrachten, dann können wir über das musikalische Synergiephänomen nur neidvoll staunen. Es stellt sich die Frage: Wie können wir das Jazzbandmodell auf unseren Arbeitsalltag übertragen und zur Freisetzung ungenutzter kreativer Potenziale nutzen? Wie können wir lernen, gemeinsam zu improvisieren?

Zwei Arten zu musizieren

Kaos(3) Unterscheidung zweier grundverschiedener Arten des Musizierens kann uns erste Hinweise geben.

Kao(4) meint nun, dass die Fähigkeit zur Improvisation eine der wichtigsten Fähigkeiten sei, die sich Unternehmen und Institutionen angesichts des beschleunigten Wandels in Zukunft aneignen müssen. Worin besteht der Kern des Jammens?

Wie wir uns erinnern, hat Kao(5) Jammen als »einen Balanceakt zwischen Form und Freiheit, Disziplin und Kunst« beschrieben (1997, S. 325).

Da wir uns in einer Gesellschaft beschleunigten Wandels befinden, die zudem in vielen Bereichen überreglementiert ist, benötigen wir Freiräume, in denen wir die Kunst des Improvisierens erlernen und Neues generieren können. So wie in der Wissenschaft eine zu starke Orientierung an den eigenen Standards und an dem für vernünftig gehaltenen Wissen zum Aufbau blinder Flecken beitragen kann, so kann zu starke Reglementierung in unseren Organisationen uns lähmen und daran hindern, neue, originelle Wege einzuschlagen.

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