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Über die Autorin
Stefanie Höfler, geboren 1978, studierte Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Freiburg und Dundee/Schottland. Sie arbeitet als Lehrerin und Theaterpädagogin und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort im Schwarzwald. Ihr Roman Mein Sommer mit Mucks wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.
Impressum
Ebenfalls lieferbar: »Mein Sommer mit Mucks« im Unterricht
in der Reihe Lesen – Verstehen – Lernen
ISBN 978-3-407-62991-3
Beltz Medien-Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim
Kostenloser Download: www.beltz.de/lehrer
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-74725-9 Print
ISBN 978-3-407-74546-0 E-Book (EPUB)
© 2016 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 Beltz & Gelberg
Lektorat: Barbara Gelberg
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung und Vignetten: Franziska Walther
Satz und Typografie: Antje Birkholz
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln
finden Sie unter: www.beltz.de
 
Für meine Eltern

1

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Der afrikanische Elefant ist ein Einzelgänger. Der männliche jedenfalls. Er trifft nur einmal im Jahr auf die Elefantenherde. Bleibt dann sehr kurz zur Familiengründung, bevor er sich wieder verabschiedet und alleine durch die Steppe spaziert. Genau wie die Giraffe. Noch so ein Einzelgänger, Einzelsteppengänger. Männliche Höckerschildkröten sind Einzelgänger. Zwergflusspferde, Streifenhörnchen, Igel, Kurzohrrüsselspringer, Chamäleons und das Wollnashorn. Sogar der Blauwal, das größte lebende Säugetier der Erde, ist ein Einzelgänger. Also, warum nicht auch ich?
Meistens denke ich, dass meine Eltern schuld daran sind. Wer nennt sein Kind schon Zonja. Mit Z. Jemand, der Zonja heißt, kann gar nicht anders, als einsam wie ein Blauwal durch die Welt zu ziehen. Der Name Sonja ist eine liebevolle Verkleinerung von Sophia und bezeichnet also eigentlich eine weise Frau. Das habe ich mal in einem Namenslexikon gelesen. Vielleicht ist der Name deshalb so beliebt. Obwohl, ich weiß gar nicht, ob alle Sophias und Sonjas wissen, dass sie eigentlich weise Frauen sein sollten. Lustiger finde ich, dass der Name Sonja im Russischen auch noch Schlafmütze bedeutet.
Aber Zonja, mit Z, das ist so ein Science-Fiction-Name, als sei ich eine Prinzessin aus einer fernen Sternengruppe, deren Galaxie erst in einigen Jahrhunderten entdeckt wird. Möglich, dass ich nur deshalb so versessen auf Statistiken bin, weil ich in meinem bisherigen Leben geschätzte tausendeinhundertmal sagen musste: »Zonja. Aber nicht mit S, sondern mit Z.« Nämlich immer, wenn jemand nach meinem Namen fragt. Keine Ahnung, was sich meine Eltern dabei gedacht haben. Soviel ich weiß, sind sie keine Science-Fiction-Fans.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle gestehen, dass es möglicherweise auch an mir liegt. Mein Blauwaldasein, meine ich. Als Klassen-Idol bin ich nämlich ungeeignet. Dafür sind meine schulterlangen, blonden Haare zu dünn und meine Augen zu klein. Und ich habe Angst vor den falschen Dingen. Vor zu großen Hunden und zu lauten Mitschülern, vor wütenden Lehrern und vor dem Mundgeruch meines Opas. Vor allem aber habe ich eine unbezwingbare Neugier. Und neugierig zu sein gilt unter Zwölfjährigen als eine Art unheilbare Krankheit. Vor vielen, vielen Jahren, keiner weiß mehr, wann das war, muss jemand beschlossen haben, dass Zwölfjährige nicht neugierig sein dürfen, sondern dass sie alles auf der Welt zum Gähnen langweilig finden müssen. Also, alles außer sich selbst und ihre Smartphones.
Ich aber, ich interessiere mich für absolut alles. Ich liebe Statistiken und schwierige Wörter. Und ich sammle Fragen, auf die ich eine Antwort finden will. Jeden Tag. In meiner Hosentasche habe ich eigentlich immer einen kleinen Zettel mit meiner persönlichen Frageliste bei mir. Diese Woche sieht meine Liste zum Beispiel so aus:
Was ist der wertvollste Stein der Welt?
Wie viele Haare hat ein Mensch in seinem ganzen Leben?
Wie alt wird ein Löwe und woran stirbt er normalerweise?
Was ist die durchschnittliche Temperatur im Dezember in Weißrussland?
Welche Tiere sind Einzelgänger?
Ist eine Frage beantwortet, streiche ich sie durch.
Listen sind wunderschön, weil sie Ordnung in ein Chaos bringen, ein Chaos, das in meinem Kopf ebenso herrscht wie in der Welt. Eine Liste kann einem das Gefühl geben, trotz allem alles irgendwie im Griff zu behalten. Oder zumindest im Blick.
Ich bin fast durchgehend damit beschäftigt, Antworten auf meine Fragen zu ergattern. Ich bin Stammgast in der Bibliothek und ich bin süchtig nach Wikipedia. Vor allem aber löchere ich Menschen, von denen ich glaube, dass sie Antworten haben. Zum Beispiel meine Mutter, die ich schon immer Mati nenne, weil ihr Opa Kroate war und Mati das kroatische Wort für Mama ist, oder als kleine Rache für das Z in meinem Namen. Mati also hat eine unüberschaubare Buchsammlung, in der nicht nur die Bücher stehen, die sie als Apothekerin braucht, sondern auch Tausende von Romanen, Biologielexika und unzählige bunte Bildbände. Und die meisten davon hat sie gelesen. Ich glaube, sie kann neunhundert Blumenarten auseinanderhalten. Mein Vater, den ich trotz allem einfach Papa nenne, ist Mathematiker. Also ist er für Zahlenfragen zuständig, und für Physik. Außerdem für alles, was mit Essen zu tun hat. Er kann fantastisch kochen.
Frau Knoer, meine Deutschlehrerin, weiß alles über Opern, und Herr Martinovic, der Hausmeister meiner Schule, ist mein Experte für geschichtliche Daten. Warum ein Mensch, der fast jedes Datum der Weltgeschichte in seinem Kopf gespeichert hat wie ein überdimensionaler Geschichtscomputer, Hausmeister geworden ist, ist mir schleierhaft.
Die besten gefundenen Antworten notiere ich in ein kleines Buch. Da steht dann zum Beispiel:
Ein Mensch ist auf dem Mond nur ein Sechstel so schwer wie auf der Erde. Das liegt daran, dass der Mond eine geringere Anziehungskraft hat als die Erde, weil er kleiner ist.
Wenn Menschen eine körperliche Anziehungskraft hätten wie Himmelskörper, dann wäre die wohl ziemlich unabhängig von ihrer Größe. Schon eher würde sie von so etwas abhängen wie vom Körpergeruch. Oder davon, ob man Converse-Schuhe trägt oder selbst gestrickte Pullis in merkwürdigen Farben. Vielleicht wäre es auch einfach Zufall.
Ich stinke nicht und trage keine albernen Pullis. Aber die meisten Leute in meiner Klasse halten mich für eine Spinnerin. Weil ich, wie gesagt, einfach zu neugierig bin. Letztes Jahr habe ich eine tote Blindschleiche, die ich auf dem Weg zur Schule gefunden hatte, in der Mittagspause auf dem Chemieversuchstisch in ihre Einzelteile zerlegt, und gerade als ich dabei war, die Muskeln herauszuschneiden, die die schlängelnde Vorwärtsbewegung steuern, öffnete sich die Tür, und meine Forschungen wurden von lautem »Iiiih«-Geschrei beendet. Aber das war mir genauso egal wie die Tatsache, dass ich deshalb den ganzen Nachmittag zusammen mit dem fürchterlichen Chemie-Knorp die Chemiesammlung aufräumen musste. Seitdem haben die anderen jedenfalls eine Art Respekt vor mir. Nicht dass die Aktion meine Anziehungskraft erhöht hätte. Aber, die meiste Zeit werde ich wenigstens in Ruhe gelassen.
Klar, dass ich meine Pausen alleine verbringe, wie ein Blauwal eben. Aber in der Schule gibt es genug zu sehen und zu zählen, langweilig wird mir jedenfalls nicht. Meistens setze ich mich auf den Rand des großen Aquariums in der Aula. Durch die Fenster der oberen Stockwerke fallen einzelne Sonnenstrahlen ins Aquarium, die sich glitzernd an der Wasseroberfläche brechen und ein unregelmäßiges Muster aus kleinen schaukelnden Lichtflecken auf den Boden zeichnen. In letzter Zeit beobachte ich immer zwei Kaiserfische, die sich umkreisen. Ich bin kurz davor zu beweisen, dass Kaiserfische sich küssen, tatsächlich küssen, wie zwei Menschen, die sich lieben. Wenn ich dort sitze, kommt garantiert Paul aus der Neunten vorbei und fragt, ob ich einen Euro spenden möchte, weil er mal wieder irgendwas organisiert, zurzeit zum Beispiel eine Spendensammlung für eine Schule, die in Uganda gebaut werden soll. Wenn ich die Euros einsammeln würde, dann würde die Schule in Uganda vermutlich nicht einmal ein Dach bekommen. Das liegt an der Anziehungskraft.
Wäre Paul ein Himmelskörper, wäre er nämlich aufgrund seiner Anziehungskraft völlig zugemüllt von Weltraumschrott. Er ist groß und sportlich und hat diese begeisterten dunkelblauen Augen und ein Grübchen rechts vom Mund. Jeder mag ihn. Er hat ständig gute Ideen, also wirklich gute Ideen. Ideen, die alle einfach gut finden müssen, auch ich. Er nennt sie »Einfälle für die Verbesserung der Welt«, und er kann sie sogar fast alle beim Direktor durchsetzen. Paul habe ich es zu verdanken, dass wir überhaupt Kaiserfische im Schulaquarium haben. Er hat darauf bestanden, weil größere und buntere Fische die Stimmung der Schüler verbessern.
Heute braucht allerdings keiner von uns die Kaiserfische zur Aufbesserung der Stimmung. Alle in meiner Klasse sehen aus, als könnten sie sich gerade noch zurückhalten, einen Luftsprung zu machen. Seit Wochen sammelt sich die Hitze zwischen den Bäumen im Park, drückt die Schwalben gegen den Boden und verbrennt das Gras. Der Sommer wächst wie ein gefräßiges Ungeheuer und bläst die dampfende Hitze ins Klassenzimmer, sodass wir matt auf unseren Schulstühlen kleben. Aber heute ist der letzte Schultag.
Frau Knoer ist auch in Ferienstimmung. Vielleicht am meisten von uns allen. Ihre Augen leuchten zwar wie immer, aber man kann sehr wohl sehen, dass sie heute aus einem anderen Grund leuchten. Sie haben irgendwie eine andere Farbe. Sicher fährt sie schon morgen los, auf die Bahamas oder so. Jetzt knallt sie die hellgrüne Plastikbox mit den Zeugnissen auf den Tisch wie einen Kasten gekühlte Limonade und verteilt die Zeugnisse so feierlich, als seien sie allesamt Nobelpreise. Die Sonne scheint in unser Klassenzimmer und zeichnet durch die Jalousien schmale Lichtstreifen auf die Wand, die ungewöhnlich kahl ist, weil wir schon alle Plakate abgehängt haben, die wir dieses Jahr gemacht haben.
»Schöne Ferien!«, wünscht uns Frau Knoer mit einem strahlenden letzten Lächeln, packt mit festem Griff die leere Box und schwebt aus der Tür, als sei sie so leicht wie auf dem Mond.
Die anderen warten nicht bis zum Klingeln, bevor sie rausstürmen. Ich lasse mir Zeit, klemme mir den zusammengerollten Evolutionszeitstrahl unter den Arm, den niemand außer mir haben wollte. Außer mir ist nur noch Ali da, der sich mit dem großen Packpapier-Plakat mit den Frühlingsgedichten abmüht. Ich glaube schon länger, er ist ein Dichter. Aber eine solche Absonderlichkeit würde er niemals zugeben. Ali ist ein Raushalter.
»Tschüs!«, rufe ich ihm zu, als ich mich endlich auf den Weg mache.
»Tschüs«, murmelt Ali, und ich frage mich ganz kurz, wie er wohl seine Sommerferien verbringen wird.
Die Ferien sind ein Problem. Also, für mich. Das Problem ist nicht, dass wir in diesem Jahr nicht in den Urlaub fahren können, weil Papa nicht freibekommen hat und Mati daraufhin spontan ihrer Kollegin freigegeben hat, sodass sie selber in der Apotheke die Stellung halten muss. Das Problem sind die Ferien an sich. Denn in den Sommerferien fehlt mir die Hälfte meiner Experten. Und überhaupt passiert in den Ferien einfach weniger. Vermutlich werde ich jeden Tag im Freibad verbringen. Leute beobachten. Einfach, weil dort die meisten Leute sind.

2

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In einem Liter Schwimmbadwasser befinden sich in Deutschland zwischen 0,5 und 2 Milligramm Chlor. Das Chlor, eigentlich in Form von irgendwelchen Chlorverbindungen, die sich höchstens ein Chemiker merken kann, dient dem Desinfizieren des Wassers, weil es Bakterien und Algen abtötet. Das ist wichtig, wenn man sieht, wer an so einem Freibadtag alles ins Schwimmbecken steigt. An einem überdurchschnittlich heißen Tag habe ich mal zweihundertvier Menschen gezählt. Und jeder von diesen Menschen hat vorher geschwitzt, sich mit Sonnenmilch eingecremt oder seine Haare mit einer großen Handvoll Gel verschönert, so glibberig wie gequirlte Salzwasserquallen. Nicht nur Kinder sind zu langsam oder zu faul, das Becken zu verlassen, wenn sie mal müssen. Von oben trudeln die Blätter der alten Kastanienbäume ins Bad und nicht selten fällt vom Rand eine Pommes ins Wasser. Diese und viele andere Fundstücke sinken gemächlich auf den Grund des Beckens.
Diesmal sehe ich im Becken auf Anhieb:
1 angebissenen Apfel
1 verlorenen Schließfachschlüssel
1 pinkfarbenes Haargummi
1 rote Kinderbadehose.
So weit ist noch nichts Außergewöhnliches dabei. Falls ich später mit meiner Schwimmbrille auf Tauchgang gehe, werde ich mit Sicherheit noch viel mehr entdecken.
Wirklich, da schwimmen die verrücktesten Dinge, einmal habe ich sogar eine tote Ratte hochgetaucht. Keine Ahnung, warum der Bademeister die nicht schon vorher rausgefischt hatte. Vielleicht war es ihm zu eklig. Die Ratte hatte schiefe, gelbe Zähne und ihr linkes Ohr war abgerissen. Vielleicht war sie deshalb ins Schwimmbecken gestürzt. Zumindest beim Menschen sitzt ja der Gleichgewichtssinn im Ohr.
Obwohl es wirklich kein sehr leiser Ort ist, vor allem im Hochsommer, ist das Freibad für mich komischerweise ein Ort der stillen Beobachtung. Nirgends kann man so gut unter einem Baum sitzen, unbemerkt die Leute beobachten und dabei Statistiken aufstellen. Ich gucke den Leuten beim Pommesessen zu und zähle mit, wie viele von ihnen den Mund beim Kauen kreisförmig bewegen wie ein Kamel (ungefähr 25%) und wie viele den Mund nach vorne bewegen, eher so wie Fische, wenn sie Luftblasen ausstoßen (ungefähr 30 %). Der Rest kaut unauffällig und langweilig. Ich notiere, wie viele sich vorm Duschen drücken, trotz des großen Schilds am Rand VOR DEM BADEN BITTE DUSCHEN (37 %).
Und natürlich sehe ich den Leuten beim Schwimmen zu. Manche schwimmen so krumm und schräg, dass sie alle zwei Meter jemanden ummähen. Andere paddeln wie ein Hund und halten sich dabei zwar über Wasser, kommen dafür aber kaum vorwärts. Und dann die Kinder, die schwimmen lernen. »Ja, und jetzt die Beine, neiiin, du musst auch die Beine bewegen!!«, schreien die Väter der untergehenden Kleinkinder.
Heute schluckt auch wieder so ein Kleiner literweise Wasser und schnieft schon lange, bevor ihn der Vater aus dem Wasser zieht. Die alte Frau mit der altmodischen lila Bademütze mit Rosenranken, die aussieht wie ein Königinnenhut, hat dabei schon einige Spritzer abgekriegt. Sie guckt, als hätte sie in eine Zitrone gebissen, ihr Gesicht kriegt so viele Falten wie ein zerknittertes Blatt Papier. Aber sonst ist nicht viel los außer ein paar uralten Männern, die sich die Mitte des Schwimmerbeckens erobert haben, um es mit Aquajogging-Schritten zu durchpflügen, und zwei Müttern mit zwei ungefähr dreijährigen Jungen, die am Rand hängen wie kleine Bisamratten mit neonorangen Flügeln.