Kapitel 1
Rosario
Dezember 2007
„Ich kaufe etwas Hinterviertel vom Rind, das habe ich auch in Barcelona gesehen, weiß aber nicht, wie man es dort nennt. Jedes Stück salze ich etwas, dann tauche ich die Stücke in Ei und wende sie in Semmelbröseln. Ich brate sie, bis sie schön goldbraun sind, und lege sie in eine Ofenform. Die Zwiebel hacke ich fein und dünste sie an. Wenn die Zwiebel glasig wird, gebe ich gehackte Tomaten, ein bisschen Wasser, Salz, Oregano und eine Prise Zucker dazu und erhitze alles für etwa 20 Minuten. Sobald die Sauce fertig ist, gieße ich sie auf die Fleischstücke, so dass sie alle gut bedeckt sind. Ich nehme etwas Frischkäse oder Schnittkäse aus dem Kühlschrank und lege dünne Scheiben davon auf das Fleisch. Das Ganze lasse ich im Ofen, bis der Käse schmilzt. Dann müssen nur noch die Kartoffeln als Beilage gebraten werden, und das milanesa à la napolitana [Schnitzel nach neapolitanischer Art] kann serviert werden.“ Mit der Leidenschaft einer guten Köchin beschreibt Celia das Lieblingsgericht ihres Sohnes Lionel Messi.
„Wenn ich in Barcelona bin, muss ich das zwei- oder dreimal in der Woche kochen, mit mindestens drei mittelgroßen Fleischstücken. Ich wuschele ihm durchs Haar und erkläre ihm: ,Wegen meines milanesa à la napolitana und meines Mate schießt du so viele Tore.‘“ Lionel hat einen aus Feinschmeckersicht einfachen Geschmack: Er mag Schnitzel, aber nicht, wenn es mit Schinken oder Pferdefleisch zubereitet ist, oder Hühnchen mit einer Sauce aus Pfeffer, Zwiebeln, Tomaten und Oregano. Aufwendige Gerichte, wie sie sein Bruder Rodrigo kocht, interessieren ihn eher weniger. Rodrigo ist Koch und träumt davon, irgendwann einmal sein eigenes Restaurant zu eröffnen. Er experimentiert gerne mit neuen Rezepten, auch wenn sein kleiner Bruder sie nicht immer zu schätzen weiß. Hat Lionel denn auch eine Schwäche für Süßes? „Ja, Leo liebt Schokolade und alfajores. Wenn wir nach Spanien kommen, müssen wir die immer kistenweise mitbringen, damit er stets gut versorgt ist.“ Dann erzählt sie, wie er als kleiner Junge einmal von einem Trainer für jedes Tor einen alfajor, einen jener traditionellen argentinischen Kekse, versprochen bekam und daraufhin achtmal einnetzte. Ein ziemliches Festessen.
Wir befinden uns in Lionels argentinischer Heimatstadt Rosario und sitzen bei einer Tasse Kaffee in der Bar „La Tienda“ in der Calle San Martín. Die Mutter von Barças Nummer 10 spricht voller Begeisterung von ihrem weltbekannten Sohn. Celia María Cuccittini Oliveira de Messi hat eine weiche, liebenswürdige Stimme, schwarze Haare, ein feines Lächeln und einige an Leo erinnernde Gesichtszüge – auch wenn sie selbst darüber lacht und sagt, dass er ganz wie sein Vater aussieht. Während sie redet, schaut sie immer wieder zu ihrer gegenübersitzenden Schwester Marcela. Marcela ist die Jüngste aus der Familie Cuccittini und ebenfalls Mutter von Fußballspielern. Maximiliano und Emanuel spielen beide für Bahia in Brasilien. Marcela Cuccittini de Biancucchi ist Leos Paten- und Lieblingstante. Kommt er nach Rosario, verbringt er seine Zeit am liebsten bei ihr zu Hause. „Wir müssen dann zu Marcela, um ihn zu sehen, oder dort anrufen, um zu erfahren, wie es ihm geht. Aber meine Schwester verhätschelt ihn natürlich auch“, sagt Celia. „Und dann ist da noch Emanuel. Die beiden sind unzertrennlich.“ Seit frühester Kindheit spielten sie immer zusammen Ball. „Sie waren zu fünft: meine drei Jungs, also Matías, Rodrigo und Leo, und die beiden von meiner Schwester, Maximiliano und Emanuel. Wenn wir am Sonntag bei meiner Mutter waren, gingen sie vor dem Mittagessen immer zum Spielen auf die Straße“, erinnert sich Celia. Es waren wilde Spiele, Fußball oder Fußballtennis, und am Ende kam Leo oftmals weinend zurück ins Haus, weil er verloren oder die Älteren geschummelt hatten. „Erst gestern hat Maxi mich wieder an diese Spiele erinnert“, fügt Marcela hinzu. „Er meinte, dass er mal wieder wie in alten Zeiten Messis gegen Biancucchinis spielen wolle, wenn sie sich alle hier in Rosario treffen.“
Erinnerungen an Großmutter Celia werden wach: an ihr köstliches Essen, ihr Gebäck, die sonntäglichen Familientreffen und ihre Leidenschaft für Fußball. „Sie war es, die die Kinder zum Training begleitete und darauf bestand, dass sie meinen Lionel trotz seines Alters schon spielen lassen, auch wenn er der Jüngste und klein war“, erzählt Celia. „Er war immer klein und die hatten Angst, dass er umgetreten und verletzt werden würde, aber Großmutter hatte diese Angst nicht. Sie sagte: ,Spiel zu Lionel, spiel zu dem kleinen Mann, der schießt die Tore.‘ Sie überredete uns auch, ihm Fußballschuhe zu kaufen. Es ist ein Jammer, dass sie ihn heute nicht mehr erleben kann. Sie starb, als er zehn Jahre alt war. Aber wer weiß, ob sie nicht von dort oben sehen kann, was aus ihm geworden ist, und sich nicht für ihren geliebten Enkelsohn freut?“
Doch wie fing Leo mit dem Fußball an? Wer war sein Lehrer? Woher kommt all sein Können – ist es etwa eine Frage der Gene? „Keine Ahnung – von seinem Vater, seinen Brüder, seinen Cousins. Unsere Familie hat Fußball immer geliebt. Ich bin auch ein Fan. Mein Idol? Maradona. Seine Karriere und seine Tore habe ich mit großer Leidenschaft verfolgt. Auf dem Platz war er ein Wilder. Als ich ihn mal kennenlernte, sagte ich zu ihm: ,Ich hoffe, dass mein Sohn eines Tages ein großer Fußballer sein wird und du ihn trainieren kannst.‘“ Ein Wunsch, der in Erfüllung gehen sollte: Als Nationaltrainer Argentiniens von 2008 bis 2010 trainierte Maradona auch Messi.
Die Erzählung wird kurz unterbrochen durch das Klingeln von Celias Mobiltelefon. Sie entschuldigt sich und entfernt sich ein paar Schritte, um dranzugehen. In der Zwischenzeit kommt Marcela auf den jungen Leo zurück. „Er war unglaublich. Er war noch nicht einmal fünf Jahre alt und hatte eine Ballkontrolle wie sonst keiner. Er liebte es, zu spielen, und tat dies unaufhörlich. So donnerte er den Ball immer wieder gegen das Vordertor, bis die Nachbarn ihn baten, ein paar Gänge runterzuschalten.“
Celia setzt sich wieder zu uns und nickt zustimmend. „Wir konnten ihm keine schlimmere Strafe androhen als ,Heute gehst du nicht zum Training.‘ Er bettelte und flehte dann: ,Nein, Mutti, bitte, ich werde ganz artig sein, keine Sorge, ich verspreche es‘, bis er mich überredet hatte. Leo war weder ein besonders lebhaftes Kind, noch war er faul. Er war immer ein guter Junge, ruhig und schüchtern, so wie heute noch.“
Tatsächlich? „Ja, wirklich. Der ganze Ruhm interessiert ihn nicht. Wenn er zu Besuch in Rosario ist, will er immer zusammen mit seinem Cousin Emanuel in der Calle San Martín hier bei uns im Viertel spazieren gehen. Erklären wir ihm, dass das nicht geht, weil die Leute in seiner Heimatstadt bei seinem Anblick hysterisch werden und ihn auf Schritt und Tritt verfolgen, wird er sauer. Er versteht das nicht. In Barcelona geht er in Turnschuhen und Sportsachen zum Kaufhaus Corte Inglés. Ronaldinho hat ihm immer mal wieder das Haar zerzaust und ihm gesagt, dass er verrückt ist, in solchen Klamotten auf die Straße zu gehen. Es interessiert ihn aber gar nicht, wer er ist. Deshalb stört es ihn auch nicht, berühmt zu sein, Autogramme zu schreiben oder Fotos mit Fans zu machen. Wenn er nach längerer Zeit mal wieder nach Hause kommt und ich an manchen Abenden nach ihm sehe, lege ich mich neben ihm aufs Bett. Wir schwatzen, ich streiche ihm durchs Haar, erzähle ihm das eine oder andere und sage halb im Scherz: ,Was würden die ganzen Mädchen nicht alles tun, um so neben dir zu liegen wie ich.‘ Dann verzieht er das Gesicht und sagt: ,Ach komm, Mama, sei nicht albern.‘“
An den Wänden der Bar hängen Trikots argentinischer Spieler. Auch das von Leo ist darunter. Es hängt unter einem Fenster und trägt die Nummer 30 vom FC Barcelona. „Die haben keine Ahnung, dass ich seine Mutter bin, obwohl wir in der Stadt wohnen“, meint Celia nur. Sie ist eine Frau, die den Ruhm scheut, sich der Risiken eines Promis vollkommen bewusst ist und klare Prioritäten für ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder gesetzt hat. Alles schön und gut, aber wie fühlt es sich an, Mutter eines Stars zu sein? „Ich bin stolz, einfach nur stolz. Wenn ich die Zeitung aufschlage und – hier in Argentinien wie drüben in Spanien – einen Artikel über ihn, seine Rückennummer oder die Kinder, die damit herumlaufen, sehe ... dann erfüllt mich das einfach mit Stolz. Deshalb tut es mir auch weh, wenn ich Kritik an seinem Spiel höre oder falsche Informationen über sein Leben verbreitet werden. Es trifft einen tief in der Seele, wenn dich jemand anruft und fragt, hast du dies gesehen, hast du das gesehen. Leo? Der liest doch kaum, was über ihn geschrieben wird. Und wenn doch, macht ihm das nicht viel aus. Aber das heißt nicht, dass er nicht auch harte Zeiten erlebt hat. Selbst er hatte seine Tiefpunkte, als er monatelang verletzt war und die Dinge nicht nach seinem Willen liefen. In solchen Zeiten denke ich nicht lang nach, packe meine Sachen und fliege nach Barcelona – um zu erfahren, was los ist, um in seiner Nähe zu sein und um möglichst gut auf ihn aufzupassen. Leo war immer ein Junge, der seine Probleme für sich behalten hat. Gleichzeitig ist er aber auch sehr erwachsen für sein Alter. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte, als wir andeuteten, dass er ja auch nach Argentinien zurückkehren könne: ,Mama, mach dir keine Sorgen. Ich bleibe, du gehst zurück, und Gott wird mit uns sein.‘ Er hat einen ziemlich starken Willen.“
Celia kommt wieder auf das Thema Erfolg zurück, auf die Leute, die auf beiden Seiten des Atlantiks ganz verrückt sind nach „La Pulga“, dem Floh. „Am schönsten finde ich, dass die Leute ihn so lieben“, sagt Celia. „Ich glaube, dass sie ihn lieben, weil er ein einfacher, bescheidener und guter Mensch ist. Er denkt immer an die anderen und tut alles dafür, dass es jedem in seiner Nähe gut geht: seinen Eltern, seinen Geschwistern, seinen Neffen und Nichten, seinen Cousins. Ständig denkt er an seine Familie. Natürlich bin ich seine Mutter, und eine Mutter erzählt von ihren Kindern, die ja ihr Ein und Alles sind, immer nur Gutes. Aber Leo hat ein ganz großes Herz.“
Wie sieht eine Mutter die Zukunft ihres Sohns? „In Sachen Fußball schreibt er hoffentlich Geschichte, so wie Pelé oder Maradona. Ich hoffe, dass er es weit bringt. Als Mutter aber hoffe ich bei Gott vor allem, dass er glücklich ist und sein Leben lebt. Bisher hat er noch nicht wirklich gelebt, hat er sich doch mit Leib und Seele dem Fußball verschrieben. Er geht nicht aus und tut nicht viel von dem, was junge Leute in seinem Alter so tun. Ich hoffe, dass er ein wunderschönes Leben hat. Er hätte es verdient.“
Draußen vor dem großen Fenster hat sich der Himmel mittlerweile verdunkelt. Der Verkehr ist noch chaotischer geworden. Man sieht Busse, klapprige Lieferwagen, Autos, die eine Rauchwolke hinter sich herziehen, dazu ein von einem abgemagerten Pferd gezogener Karren voller Müll und viele Menschen, die sich zu den Einkaufsläden und Bushaltestellen hindurchschlängeln. Celia muss nach Hause. Dort wartet María Sol auf sie, die Jüngste der Familie. Marcela muss Bruno von der Fußballschule abholen. Es regnet, aber Celia besteht darauf, ihre Gäste bis zum Stadtzentrum zu begleiten. Während sie das Auto holt, spricht Marcela an der Tür noch kurz über die Sorgen einer Mutter – Verletzungen und zu Kopf steigendes Geld: „Bislang haben meine Kinder und Leo nicht den Sinn für die Realität verloren. Ich, meine Familie und die Familie meiner Schwester wohnen in der gleichen Stadt, in der wir zur Welt gekommen sind, in den gleichen Häusern, wo wir schon immer gewohnt haben, wir sind in keine andere Gegend gezogen, wir wollten unsere Wurzeln nicht aufgeben, und unsere Kinder haben sich auch nicht verändert. Ich hoffe, dass das so bleibt und sie sich nicht wie andere Fußballer durch den Ruhm selbst verlieren.“
Ein grauer VW hält am Bürgersteig, dann heizt Celia mit Karacho durch die Straßen von Süd-Rosario. Wir kommen an Leos alter Schule vorbei, wo sie kurz anmerkt: „Er war kein guter Schüler. Er war ein bisschen zu faul.“ Beim Tiro Suizo, einem 1889 von Einwanderern aus dem Schweizer Kanton Tessin gegründeten Sportverein, biegt sie rechts ab. Zwei Kinder bemerken das Auto überhaupt nicht, viel zu beschäftigt sind sie mit einem Ball, der zwischen ihren Füßen hin und her flitzt. „Genauso war Lionel auch“, sagt Celia.
Kapitel 2
Das Garibaldi-Krankenhaus
24. Juni 1987
Auf einem rechteckigen Grundstück in der Viasoro 1249 befindet sich ein cremefarbenes Gebäude, errichtet im Stil des 19. Jahrhunderts. Es ist das italienische Krankenhaus, und es ist Guiseppe Garibaldi gewidmet. In Rosario würdigt man diesen Mann auch noch mit einer Statue auf der Plaza de Italia. Er ist eine populäre Figur und als „Held zweier Welten“ bekannt, weil er nicht nur in Italien, sondern auch während seines Exils in Südamerika eine Reihe von Schlachten geschlagen hat, so am Flusslauf des Río Paraná. Dort haben seine Rothemden in jedem Ort, an den sie kamen, ihre Spuren hinterlassen, beispielsweise in den Namen von Krankenhäusern in Rosario und Buenos Aires. Diese wurden von politischen Exilanten, Anhängern Guiseppe Garibaldis und seines revolutionären Kollegen Guiseppe Mazzini, und ihren Arbeitergewerkschaften gegründet. Das Krankenhauses von Rosario wurde am 2. Oktober 1892 eingeweiht und sollte der italienischen Gemeinde dienen, die damals über 70 Prozent aller europäischen Einwanderer stellte. Heute verfügt es über eine der besten Entbindungsstationen der Stadt. An einem Wintermorgen um sechs Uhr früh beginnt hier die Geschichte Lionel Messis, des dritten Kindes der Familie Messi-Cuccittini.
Leos Vater Jorge ist 29 Jahre alt und Abteilungsleiter beim Stahlproduzenten Acindar in Villa Constitution, das etwa 50 Kilometer entfernt von Rosario liegt. Die 27-jährige Celia arbeitet in einem Betrieb, der Magneten herstellt. Sie haben sich in jungen Jahren im Viertel Las Heras kennengelernt, einem Viertel, das früher einmal als Estado de Israel bekannt war und das man heute als San-Martín-Viertel kennt. Die Menschen dort sind bescheiden und fleißig. Celias Vater Antonio ist Mechaniker und repariert Kühlschränke, Klimaanlagen und andere elektrische Geräte. Ihre Mutter, die ebenfalls Celia heißt, ist seit vielen Jahren als Putzfrau tätig. Jorges Vater Eusebio verdient auf dem Bau seine Brötchen, während seine Frau Rosa María wie Celia als Putzfrau arbeitet. Ihre Häuser liegen nicht viel mehr als hundert Meter voneinander entfernt. Wie viele Familien Rosarios haben auch sie italienische und spanische Vorfahren. Der Nachname Messi stammt aus der in der italienischen Provinz Macerata liegenden Stadt Porto Recanati, zu deren Söhnen auch der Dichter Giacomo Leopardi und der Tenor Beniamino Gigli zählen. Von dort aus machte sich Ende des 19. Jahrhunderts ein gewisser Angelo Messi auf den Weg an Bord eines der vielen Dampfer, die Richtung Amerika ablegten. Genau wie die vielen anderen Auswanderer, die dritter Klasse reisten, war auch er auf der Suche nach einem besseren Leben in der Neuen Welt. Die Cuccittinis stammen väterlicherseits ebenfalls aus Italien. Zunächst lebten die Familien in der feuchten Pampa, ließen sich aber schließlich in der Stadt nieder.
Rosario ist 305 Kilometer von Buenos Aires entfernt und hat etwa eine Million Einwohner. Die Stadt ist die größte in der Provinz Santa Fe und liegt am Ufer des Río Paraná. Entlang des Flusses zieht sich bis zur Brücke Nuestra Señora del Rosario die Costanera-Promenade. Die Brücke wiederum überquert den von Hochseeschiffen passierbaren Wasserlauf und die darin liegenden Inseln. Sie verbindet die Stadt mit der gegenüberliegenden Stadt Victoria. Der Río Paraná war schon immer eine wichtige Handelsstraße. Von hier aus werden eine Reihe landwirtschaftlicher Produkte in Südamerikas Mercosur-Wirtschaftszone exportiert – wie etwa Soja, das der Region in der jüngsten Vergangenheit einigen Wohlstand gebracht und das urbane Gefüge Rosarios verändert hat. Am feinen, vom Fluss aufgespülten Sandstrand sprießen neue Gebäude, Wolkenkratzer und atemberaubende Villen aus dem Boden. Aber immer noch bleibt Rosario die patriotische Stadt schlechthin. Am Sockel des monumentalen Flaggendenkmals reihen sich in Weiß gekleidete Schülergruppen für ein Foto auf. Das Denkmal ist im alten sowjetischen Stil gehalten und wurde 1957 eingeweiht. Es soll jene Stelle markieren, an der General Manuel Belgrano am 27. Februar 1812 zum ersten Mal das Hissen der Nationalflagge befahl.
Rosario ist eine Stadt der Enkelgeneration der Einwanderer, hier gibt es sowohl Slums als auch Landhäuser. Wir wollen uns jedoch nicht weiter mit Einwanderergeschichten und der Mischung aus Kulturen, Sprachen und Traditionen aufhalten, die es in Argentinien so reichlich gibt. Stattdessen wenden wir uns wieder Jorge und Celia zu, die sich schon früh ineinander verliebten und regelmäßig trafen.
Am 17. Juni 1978 schließlich heiraten sie in der Kirche Corazón de María. Das ganze Land liegt im Taumel der Weltmeisterschaft – die frisch Verheirateten planen ihre Hochzeitsreise nach Bariloche sogar extra so, dass sie auch ja nicht das in Rosario ausgetragene Spiel zwischen Argentinien und Brasilien verpassen. Endstand: null zu null. Acht Tage später schlägt César Luis Menottis argentinische Nationalmannschaft, bekannt als Albiceleste (wörtlich: die „Weiß-Himmelblaue“), im Finale, ausgetragen im Monumental-Stadion von River Plate in Buenos Aires, die Niederlande mit 3:1 und wird Weltmeister. Es folgt der kollektive Wahnsinn. Fillol, Olguín, Galván, Passarella, Tarantini, Ardiles, Gallego, Ortiz, Bertoni, Luque und Kempes scheinen jeden Gedanken an den Proceso de Reorganización Nacional, die Zeit der Militärregierung, zu vertreiben. Für einen Moment vergessen scheinen die getöteten Dissidenten und die mehr als 30.000 „Verschwundenen“ wie auch die Folter und der Terror der grausam-blutigen Militärdiktatur General Jorge Rafael Videlas, die mit dem Putsch gegen Isabel Perón am 24. März 1976 ihren Anfang nahm. Auf den Straßen von Buenos Aires kann man immer noch die Worte „Inmundo mundial“ – „schmutzige Welt(meisterschaft)“ – lesen, gepinselt unterhalb eines Fußballfeldes und der Inschrift „1978“.
Zwei Jahre nach dem Staatsstreich lastet die Terrorherrschaft nach wie vor auf dem Land, das Leben aber geht weiter. Celia und Jorge werden Eltern: Am 9. Februar 1980 kommt Rodrigo Martín zur Welt. Der zweite Sohn, Matías Horacio, wird in einer der dunkelsten Stunden Argentiniens geboren. Man schreibt den 25. Juni 1982. Elf Tage zuvor ist der Falklandkrieg zu Ende gegangen. Das besiegte Land zählt mehr als 649 Gefallene und über 1.000 Verwundete. Zu Letzteren muss man noch all diejenigen rechnen, die jene zweieinhalb „vom Feuerschein erhellten“ Monate ihr Leben lang nicht mehr vergessen werden: junge, unerfahrene und schlecht ausgerüstete Männer, durch billigen Patriotismus zum freiwilligen Eintritt in die Armee verführt, um die 1833 von den Briten besetzten Falklandinseln zurückzuerobern. Operation Rosario, wie das von General Leopoldo Galtieri geführte argentinische Haupt-Landungsunternehmen am 2. April 1982 genannt wird, gehört zu den unzähligen Versuchen der Militärjunta, von den katastrophalen Wirkungen des 1980 verabschiedeten Wirtschaftsprogramms abzulenken. Die Finanzpolitik hat zu einer Inflation von 90 Prozent geführt, zu einer Rezession in allen Wirtschaftssektoren, zu einem Anstieg der Auslandsverschuldung von Privatunternehmen und Staat, zur Entwertung von Löhnen und Gehältern und vor allem zur fortschreitenden Verarmung der Mittelklasse (eine Besonderheit in der Geschichte Argentiniens, die im Vergleich zu anderen Staaten Lateinamerikas stark hervorsticht). Der Krieg sollte das Land die Dramen der Vergangenheit vergessen machen und das Volk auf einer Welle des Patriotismus tragen. Galtieri war allerdings nicht auf die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher vorbereitet, und die britische Armee hatte er ebenfalls nicht auf der Rechnung.
Im Verlauf weniger Wochen zermalmen britische Streitkräfte die argentinische Armee, was innerhalb nur eines Jahres zum Sturz der Militärjunta und schließlich in die Demokratie führt. Die Forderung nach Rückgabe der Malvinas, wie die Falklandinseln in Argentinien genannt werden, wird allerdings bestehen bleiben. Im Parque Nacional de la Bandera, dem „Nationalpark der Flagge“, hat man ein Monument zu Ehren der „auf den Malvinas lebenden Helden“ errichtet. In der Verfassung von 1994 wird die Rückgabe der Inseln zudem als ein unwiderrufliches Staatsziel aufgeführt. 1983 aber gewinnt Raúl Alfonsín die Wahlen. Er ist einer der wenigen Politiker, die sich von der Armee distanziert hatten und bei ihrer Meinung geblieben waren, dass das einzige Kriegsziel in der Stärkung der Diktatur bestand.
Als Celia vier Jahre später ihr drittes Kind erwartet, ist die Lage weiterhin dramatisch. In der Semana Santa, der Heiligen Woche, steht Argentinien am Rande eines Bürgerkriegs. Die carapintadas (wörtlich: „bemalte Gesichter“), eine Gruppe junger Armeeoffiziere unter der Führung von Aldo Rico, haben sich gegen die Regierung erhoben. Sie fordern ein Ende der Strafprozesse gegen Menschenrechtsverletzungen während des Militärregimes. Die Militärkommandanten verweigern sich dem Befehl des Präsidenten. Das Volk geht unterdessen zur Verteidigung der Demokratie auf die Straße, und die Zentralgewerkschaft Confederación General de Trabajo (CGT) ruft einen Generalstreik aus. Am 30. April wendet sich Raúl Alfonsín an die auf der Plaza des Mayo versammelten Menschen und spricht den Satz, der wegen seiner Realitätsferne in die Geschichte eingegangen ist: „Das Haus ist aufgeräumt. Frohe Ostern.“ Doch ohne Befehlsgewalt über die Streitkräfte ist der Präsident zu Verhandlungen mit den carapintadas gezwungen. Schließlich garantiert er ihnen ein Ende der Prozesse gegen das Militär. Das Gesetz der Obediencia Debida, das Befehlsnotstandsgesetz, verordnet Straffreiheit für Terrorhandlungen, die von Offizieren und ihren Untergegebenen begangen worden waren. Dies wird damit begründet, dass sie ja lediglich den Befehlen höherer Stellen Gehorsam geleistet hätten. Das Gesetz tritt am 23. Juni 1987 in Kraft. Am gleichen Tag kommt Celia auf die Entbindungsstation des Garibaldi-Krankenhauses. Die beiden Söhne – der siebenjährige Rodrigo und der fünfjährige Matías – bleiben daheim bei der Großmutter, während Jorge Celia in die Klinik begleitet. Eigentlich hätte er nach zwei Jungen gerne ein Mädchen gehabt, doch er soll einen weiteren Sohn bekommen. Die Schwangerschaft war ohne besondere Vorkommnisse verlaufen, doch in den letzten Stunden kommt es zu Komplikationen. Gynäkologe Norberto Odetto diagnostiziert fetalen Stress und beschließt, zur Vermeidung langfristiger Schäden für das Baby die Geburt einzuleiten. Bis heute ist Jorge die Angst präsent, als der Doktor ihm mitteilte, die Geburtszange einsetzen zu müssen. Jorge bittet ihn, alles Erdenkliche zu tun, um dies zu vermeiden. Zu sehr haben ihm die Horrorgeschichten über Deformationen und Schäden, die diese an Neugeborenen anrichten kann, zugesetzt. Am Ende ist der Einsatz der Geburtszange dann doch nicht erforderlich. Um kurz vor sechs Uhr morgens wird Lionel Andrés Messi geboren. Er wiegt drei Kilogramm und ist 47 Zentimeter groß, rot wie eine Tomate und hat ein vollständig eingefaltetes Ohr – kleinere Unregelmäßigkeiten, die aber wie bei so vielen Neugeborenen bereits im Laufe der ersten Stunden verschwinden. Nach dem Schock folgt die Freude: Der Neuankömmling ist rosig und gesund.
Außerhalb der Krankenhausmauern ist die Lage deutlich weniger entspannt. In der Stadt ist eine Bombe explodiert, eine weitere in Villa Constitución, wo Jorge arbeitet. In ganz Argentinien gehen schließlich als Reaktion auf das Befehlsnotstandsgesetz fünfzehn Sprengsätze in die Luft. Es gibt zwar nur Sachschäden, die Bomben zeigen aber, wie gespalten das Land ist, wie überfordert mit der Macht der Armee. Zudem steckt es mitten in einer schweren Wirtschaftskrise: Der Minister für den Binnenhandel hat gerade Preissteigerungen für die Grundversorgung angekündigt. Milch und Eier sollen sich um neun Prozent verteuern, Zucker und Getreide um zwölf Prozent, Strom um zehn und Gas um acht Prozent – schwer zu verkraftende Erhöhungen für Arbeiterfamilien wie die Messi-Cuccittinis, auch wenn sie sich auf zwei Einkommen und einen Immobilienbesitz stützen können. Mit Hilfe seines Vaters Eusebio hat Jorge ihr Haus über viele Wochenenden auf einem 300 Quadratmeter großen Familiengrundstück selbst errichtet. Es ist ein zweigeschossiger, im Viertel Las Heras befindlicher Ziegelbau mit einem Hof zum Spielen für die Kinder. Nachdem Mutter und Sohn aus dem italienischen Krankenhaus entlassen worden sind, trifft Lionel am 26. Juni dort ein.
In einem Fotoalbum der Familie ist Lionel mit sechs Monaten zu sehen: Mit Pausbäckchen und einem Lächeln im Gesicht, in kleinen blauen Hosen und einem weißen T-Shirt liegt er auf dem Bett seiner Eltern. Mit zehn Monaten fängt er an, seinen großen Brüdern hinterherzujagen. Und er hat seinen ersten Unfall. Leo läuft plötzlich aus dem Haus – niemand weiß, warum. Vielleicht will er mit den anderen Kindern auf der noch ungeteerten Straße spielen, die nur selten von Autos befahren wird. Doch ein vorbeikommender Fahrradfahrer fährt ihn an. Er brüllt wie am Spieß, und alle im Haus rennen auf die Straße. Zunächst scheint es nur der Schrecken gewesen zu sein. Doch er hört die ganze Nacht nicht auf zu jammern, und sein linker Arm ist angeschwollen. Man bringt ihn ins Krankenhaus, wo ein Ellenbogenbruch festgestellt wird. Leo bekommt einen Gipsverband, und der Bruch heilt innerhalb weniger Wochen. Zu seinem ersten Geburtstag kaufen ihm seine Tanten und Onkels ein Fußballtrikot, um ihn schon jetzt zu einem Fan seines zukünftigen Vereins zu machen – den Newell’s Old Boys. Doch noch ist es zu früh dafür. Mit drei Jahren mag Leo lieber Bilderkarten und viel kleinere Kugeln – und zwar Murmeln. Er gewinnt sie in Massen von seinen Spielkameraden und trägt stets ein volles Säckchen davon herum. Im Kindergarten oder in der Schule hat man immer Zeit, mit runden Gegenständen zu spielen. Zu seinem vierten Geburtstag schenken ihm seine Eltern einen weißen Ball mit roten Rauten. Vielleicht ist das der Beginn seiner Liebe zum Ball. Eines Tages bringt er schließlich alle zum Staunen. Sein Vater kickt mit den Brüdern auf der Straße, und Leo entschließt sich zum ersten Mal zum Mitmachen. Oftmals war er lieber Murmeln gewinnen gegangen – dieses Mal jedoch kommt es anders. „Wir waren überwältigt, als wir sahen, was er alles konnte“, sagt Jorge. „Er hatte vorher noch nie gespielt.“
Kapitel 3
Der Kleinste von allen
Ein Sommernachmittag im Jahr 1992
Auf dem Fußballplatz von Grandoli gibt es beinahe keinen Rasen, nur ein paar Fleckchen Gras an der Seitenauslinie, ansonsten viel nackte Erde. Die Torpfosten sind in einem jämmerlichen Zustand, genau wie der Zaun und die Gebäude mit den Duschen und Umkleidekabinen. Im übrigen Viertel sieht es nicht viel besser aus: provisorische Autowaschanlagen an jeder Ecke der Straße Gutiérrez, Gebrauchtreifenhändler und Schilder mit der Aufschrift „Ankauf von Metallen“, mit anderen Worten: Schrott. Eine Papptafel weist sogar auf einen Hundefrisör hin. Im Hintergrund Hochhäuser, Typ sozialer Wohnungsbau. Sie sehen irgendwie verlassen aus, auch wenn sie es nicht sind. Daneben kleine, niedrige Häuser, die ihren einstigen Charme verloren haben. Aus den Rissen im Asphalt wachsen Pflanzen, in der Sonne schmort Müll vor sich hin, auf der Straße sind Männer und alte Menschen, die nichts zu tun haben, und Kinder auf zu kleinen Fahrrädern. „Die Leute in der Gegend haben sich verändert“, sagt der Älteste der Senioren und fügt hinzu: „Bei Nacht muss man hier Angst haben.“ Das Verbrechen hat sich eingenistet.
Um drei Uhr nachmittags ist kaum eine Menschenseele zu sehen. Der Fußballplatz liegt verlassen da. Die Kinder aus den benachbarten Schulen, die im Sportzentrum „Instituto Superior de Educación Física N° 8 Abanderado Mariano Grandoli“ – benannt nach einem Freiwilligen des Krieges von 1865, der für sein Land starb – Schulsport treiben, sind bereits fort. Die Fußballer kommen nicht vor fünf Uhr nachmittags. Die einzige Person auf dem Areal ist ein Lehrer in weißem T-Shirt, blauem Trainingsanzug und Sportschuhen. Er zeigt mir den ungefähr 150 Meter weiten Weg zum Haus von Señor Aparicio, dem ersten Trainer Lionel Messis.
Mit nassen Händen öffnet Aparicio die Tür. Er bereitet gerade das Essen für seine blinde Frau Claudia zu, bittet den Gast aber dennoch, einzutreten und es sich gemütlich zu machen. Im kärglich eingerichteten Wohnzimmer, das von einem alten Fernseher dominiert wird, befinden sich vier Sessel sowie ein riesiger weißer Hund, und es riecht ein wenig muffig. Salvador Ricardo Aparicio ist 78 Jahre alt und hat vier Kinder, acht Enkel und vier Urenkel. Sein Gesicht trägt die Züge des Alters und den Schatten eines Bartes; sein Körper ist verdreht wie ein Stück Stacheldraht, und seine Stimme und Hände sind zittrig. Er hat sein Leben lang bei der Eisenbahn gearbeitet. Als junger Kerl spielte er mit der Nummer 4 für den Club Fortín, und seit mehr als 30 Jahren trainiert er auf dem 7,5 mal 40 Meter großen Platz von Grandoli den Nachwuchs.
Er hat Aberhunderte von Nachwuchsspielern ausgebildet, darunter auch Rodrigo und Matías. Der Älteste der Messis war ein schneller und kraftvoller Mittelstürmer, während der Zweitälteste in der Abwehr spielte. Jeden Dienstag und Donnerstag begleitete Großmutter Celia sie zum Training. Und eines Sommernachmittags hatten sie Leo im Schlepptau.
„Mir fehlte noch einer, um eine Jahrgang-86-Mannschaft voll zu kriegen. Mit dem Trikot in der Hand wartete ich auf den letzten Spieler, während die anderen sich schon aufwärmten. Aber er kam nicht. Dafür war da dieser kleine Junge, der fortwährend den Ball gegen die Tribüne kickte. Die Uhr tickte, und ich sagte mir, verdammt noch mal ... Keine Ahnung, ob der schon Fußball spielen kann, aber ... Also ging ich hinüber, um mit dieser wirklich fußballverrückten Großmutter zu reden, und sagte zu ihr: ,Leih ihn mir für eine Weile aus.‘ Sie wollte ihn nämlich auf dem Platz sehen und hatte mich schon oft gebeten, ihm eine Chance zu geben. Immer wieder erzählte sie mir vom Talent des kleinen Mannes. Doch die Mutter oder die Tante, das weiß ich nicht mehr so genau, wollten nicht, dass er spielt: ,Er ist so klein, und die anderen sind so riesig.‘ Um sie zu beruhigen, versprach ich: ,Ich stelle ihn hier hin, und wenn sie auf ihn losgehen, werde ich das Spiel unterbrechen und ihn wieder vom Platz nehmen.‘“
So jedenfalls lautet Señor Aparicios Version der Geschichte. Die Familie Messi-Cuccittini stellt die Ereignisse etwas anders dar. „Celia brachte Apa dazu, ihn aufzustellen, als er einen Spieler zu wenig hatte. Dem Trainer schmeckte das nicht, weil er so klein war. Aber Großmutter bestand darauf und sagte: ,Stell ihn auf, du wirst schon sehen, wie gut der kleine Junge spielt.‘ ,Alles klar‘, entgegnete Apa, ,aber ich stelle ihn in der Nähe der Seitenlinie auf. Wenn er heult, kannst du ihn selbst wieder herunternehmen.‘“
Über das, was dann geschah, sind sich aber alle einig. Der alte Trainer dazu: „Nun denn, ich gab ihm das Trikot, und er zog es an. Der erste Ball kam in seine Richtung, er starrte ihm hinterher und ... nichts.“
Don Apa, wie er hier genannt wird, erhebt sich aus seinem Stuhl und imitiert Messis überraschten Gesichtsausdruck. Dann setzt er sich wieder und erklärt: „Er ist ein Linksfüßer. Deshalb hat er den Ball auch nicht angenommen.“ Apa fährt fort: „Der zweite kam auf seinen linken Fuß. Er nahm ihn an, ging am ersten Mann vorbei, dann am nächsten und am übernächsten. Ich rief: ,Schieß, schieß!‘ Er hatte Angst, dass ihm jemand weh tun könnte, aber er lief weiter und weiter. Ich weiß nicht mehr, ob er ein Tor geschossen hat – so etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich sagte mir: ,Der da wird niemals ausgewechselt.‘ Und ich habe ihn auch nie heruntergenommen.“
Señor Aparicio verschwindet im Nebenraum und kommt mit einer Plastiktüte zurück. Er durchstöbert seine Lebenserinnerungen und findet schließlich das Foto, nach dem er gesucht hat: ein grüner Rasen und eine Kindermannschaft in roten Trikots. Genau vor dem deutlich jünger aussehenden Aparicio steht der Kleinste von allen: die weißen Hosen fast bis zu den Achseln gezogen, das Trikot viel zu groß, der Gesichtsausdruck sehr ernst, die Beinchen krumm. Es ist Lionel, und er sieht wie ein kleines Vögelchen aus – oder wie ein Floh, wie ihn sein Bruder Rodrigo gern nannte.
„Er war Jahrgang ’87 und spielte in der 86er-Mannschaft. Er war der Jüngste und auch körperlich der Kleinste, aber er stach wirklich heraus. Dafür musste er einiges über sich ergehen lassen. Er war ein ganz besonderer Spieler und hatte ein übernatürliches Talent, er ist mit diesem Ballgefühl schon auf die Welt gekommen. Fuhren wir zu einem Spiel, kamen die Leute in Massen, um ihn zu sehen. Bekam er erst einmal den Ball, begann er sein Vernichtungswerk. Er war unglaublich, und keiner konnte ihn aufhalten. Er schoss vier oder fünf Tore pro Spiel. Gegen Club de Amanecer macht er eines, wie man es sonst nur in der Werbung sieht. Ich erinnere mich noch genau, wie er an allen, einschließlich Torwart, vorbeiging. Wie seine Spielweise war? Genau wie heute – frei. Wie er sich benahm? Er war ein ernsthaftes Kind und stand immer schweigend neben seiner Großmutter. Er hat sich nie beschwert. Tat man ihm weh, weinte er gelegentlich, aber er stand jedes Mal wieder auf und lief weiter. Deshalb gerate ich mit jedem in Streit, der behauptet, dass Leo zu eigennützig ist oder nichts Besonderes oder gierig, und verteidige ihn.“
Aus dem Zimmer nebenan ruft seine Frau. Señor Aparicio verschwindet kurz und kehrt mit weiteren Erinnerungen im Gepäck zurück. Etwa an jenes Video, das er anscheinend nicht wiederfinden kann. Auf dem Band sind einige Spiele des Wunderkinds zu sehen. „Ich habe es immer den Kindern gezeigt, damit sie lernten, was man mit dem Ball am Fuß so alles anstellen kann.“ Oder daran, wie er Leo bei dessen erstem Besuch zu Hause nach seinem Wechsel nach Spanien besuchte. „Als die mich sahen, sind sie alle durchgedreht. Ich kam morgens, und als ich ging, war es ein Uhr nachts. Wir haben die ganze Zeit über den Fußball drüben in Spanien geplaudert.“ Oder wie einmal die Nachbarschaft zu Ehren Lionels eine Feier organisiert hatte. „Sie wollten am Grandoli-Platz eine Gedenktafel für ihn enthüllen. Am Ende konnte Leo doch nicht kommen. Er rief später an und sagte: ,Dankeschön, vielleicht nächstes Mal.‘“
Bei dem alten Fußballlehrer ist keine Spur von Bitterkeit zu spüren. Ganz im Gegenteil spricht er voller Liebe über den kleinen Jungen, den er vor so vielen Jahren trainierte. „Als ich sein erstes Tor im Trikot von Barcelona im Fernsehen sah, da musste ich weinen. Meine Tochter Genoveva, die im Zimmer nebenan war, fragte: ,Was fehlt dir, Papa?‘ ,Nichts‘, sagte ich. ,Mit mir gehen bloß gerade die Gefühle durch.‘“
Aparicio holt ein weiteres Juwel aus seiner Plastiktüte. Noch ein Foto des kleinen, blonden Jungen mit zu großem Trikot und zu kurzen Beinen. Er hält einen Pokal in der Hand, den ersten, den er je gewonnen hat. Die Trophäe ist fast so groß wie der Junge selbst.
Leo ist noch keine fünf Jahre alt, als er auf dem Grandoli-Platz bereits die ersten Tore und Erfolge genießt. Während seines zweiten Jahres hat er sogar das Glück, seinen Vater zum Trainer zu haben. Jorge nimmt das Angebot des Vorstandes an und betreut die 87er-Mannschaft. Sie spielen in der Afi, einem von vielen Wettbewerben in der Stadt. Und sie gewinnen alles: „Wirklich alles, alles: die Meisterschaft, Turniere, Freundschaftsspiele ...“ erinnert sich Jorge Messi, eher stolzer Vater als stolzer Trainer, an die Zeit zurück.
Außer dem Fußball gibt es noch die Schule. Leo geht auf die Schule Nummer 66 General Las Heras, in der Buenos Aires Nummer 4800. Auf dem Weg begleiten ihn entweder seine Mutter Celia, seine Tante Marcela oder die Nachbarin Silvia Arellano, Mutter seiner besten Freundin Cintia. Sie gehen quer über das offene Gelände oder laufen entlang der Fußballplätze der Kaserne des Fernmelde-Bataillons 121. In gut zehn Minuten ist das Schultor erreicht.
Geht man heute auf den Eingang zu, kann man die erste Klasse beim Malen beobachten. Zwei der Kinder tragen Messi-Trikots. Unter dem Dach eines riesigen Pavillons sind ein paar weiß gekleidete Kinder ganz in ein Fußballspiel vertieft. Es gibt zwar Tore, aber sie haben keinen Ball – also behelfen sie sich mit einer Kugel aus braunem Papier, das von Klebeband zusammengehalten wird. Die Kinder bewegen sich mit atemberaubendem Tempo und scheren sich nicht großartig um den scharfkantigen Boden aus grauem Schotter – sie schlagen Haken, täuschen an, dribbeln. Unter den Spielern befindet sich auch Leos Cousin Bruno Biancucchi. Er schwitzt stark, ist ganz rot geworden von seinem Einsatz, sein rabenschwarzes Haar schlägt ihm ins Gesicht, und er trägt einen weiß und pink gestreiften Ohrring. Seine Spielkameraden stellen schnell fest, dass er der Beste von ihnen ist. Die Presse hat Bruno schon eine Reihe von Artikeln gewidmet und preist ihn bereits als Leos Nachfolger. Seine Trainer sagen, dass er ein ausgezeichneter Dribbler ist und das gleiche Talent wie sein Cousin besitzt. Und er ist genauso schüchtern. Man kann ihm lediglich entlocken, dass er seinen Cousin um seinen Unternehmungsgeist beneidet und um seine Fähigkeit, Tore zu schießen. Auch Bruno ist Stürmer und will eines Tages das Trikot von Barça tragen.
Um mich herum hat sich ein Kreis von Kindern gebildet. Alle wollen ihre Meinung über den Jungen loswerden, der bis vor wenigen Jahren auf ihre Schule ging. Der elfjährige Pablo hat überhaupt keinen Zweifel: „Er hat alles, was man braucht, um der Beste der Welt zu werden. Besser als Maradona. Am liebsten mag ich seine Geschwindigkeit, da ist er unglaublich.“ Eine Sache aber beschäftigt den neunjährigen Agustín wie viele seiner Landsmänner: „Maradona hat seine Karriere bei den Argentinos Juniors in Buenos Aires angefangen, und Messi ... bei Barça.“ Keine Frage, das ist zu weit weg von hier. Auch die etwas verlegeneren Mädchen gesellen sich bald zu der Gruppe. Bei ihnen sind die Meinungen geteilt. Einige halten Leo für gutaussehend, anderen ist er zu klein.
Es ist gerade Pause, und unter einem verwachsenen Stück Holz – einem uralten Baum – spielen die kleinen Schüler Fangen. Leo sprang gewöhnlich mit einem Papier- oder Plastikball unter dem riesigen Baumstamm hin und her. Seine schönsten Erinnerungen an jene Jahre sind genau diese Spiele mit allem, was ihm zwischen die Füße kam. Er gibt unumwunden zu, dass er den Unterricht nicht besonders mochte.
Mónica Dómina, seine Lehrerin von der ersten bis zur dritten Klasse, kann das nur bestätigen. „Nein, Leo war nicht besonders gut in der Schule, aber seine Leistung war auf akzeptablem Niveau. Am Anfang fiel ihm das Lesen schwer. Deshalb riet ich seiner Mutter, zu einem Sprachtherapeuten zu gehen. In anderen Fächern verbesserte er sich Schritt für Schritt, auch wenn er keine brillanten Ergebnisse erzielte. Er war ein schweigsames Kind, süß und schüchtern – einer der schüchternsten Schüler, die ich in meiner ganzen Laufbahn als Lehrerin je gesehen habe. Wenn man ihn nicht direkt ansprach, saß er still an seinem Tisch ganz hinten im Klassenzimmer. Er konkurrierte mit den älteren Kindern bei der Auswahl für Rosarios Schulturniere. Natürlich war er gut – er gewann reihenweise Pokale und Medaillen. Aber ich habe nie gehört, dass er damit herumgeprahlt hat, wie gut er spielte und wie viele Tore er schoss.“