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Mirjam Pressler
Die Zeit der schlafenden Hunde
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www.gulliver-welten.de
Gulliver 689
© 2003, 2005 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg
Einbandgestaltung: rgb
Einbandbild: photonica
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74314-5
Für Ursula. Und Frank

Prolog

Morgens, wenn man hinter den geschlossenen Lidern schon die Helligkeit spürt, wenn man sich unter der warmen Decke streckt, die Muskeln träge anspannt und ebenso träge wieder lockert, ist es leicht, glücklich zu sein.
Johanna tastet mit geschlossenen Augen neben sich, aber ihre Finger spüren nur Stoff, das glatte Kissen, das unter ihrer Berührung nachgibt, das Laken, etwas rauer, verschoben und faltig, die Zudecke, die da, wo Daniel gelegen hat, bis über das Kopfkissen gezogen ist, als gäbe es irgendetwas zu verstecken, eine Erinnerung, die ihr die Wärme ins Gesicht treibt. Daniel ist nicht mehr da, er hat sich nach Mitternacht, als ihre Eltern schon schliefen, aus dem Haus geschlichen, sie ist allein, obwohl sie den Geruch nach Haut und Schweiß und Glück noch zu riechen meint, seine Hände noch spürt, seinen Atem in ihren Haaren.
Er war am späten Nachmittag gekommen, sie hatten Englisch gelernt, sich gegenseitig Artikel aus der New York Times und dem Observer vorgelesen, die Texte analysiert und diskutiert und ein Referat über die wirtschaftliche Lage der südamerikanischen Staaten vorbereitet. Nach dem Abendessen hatten sie weitergearbeitet, und auf einmal waren sie im Bett gelandet, so selbstverständlich wie früher, als wäre die Zeit zurückgedreht, als hätte es die letzten Monate nicht gegeben, als wäre es wieder Frühling und sie hätten den Sommer noch vor sich. Nichts stand zwischen ihnen, kein Schatten, keine Schuld, von der Daniel ohnehin nichts weiß und nie etwas erfahren soll, und als er kam und lachte, konnte sie mitlachen.
Sie macht die Augen auf, findet langsam aus dem Schwebezustand zurück in ihr Zimmer, das sie liebt, my room is my castle, ihr Blick wandert über die gegenüberliegende lange Wand mit den Bücherregalen bis zum Fenster, in dem sich ein blauer Himmel zeigt. Heute wird es ein schöner Tag werden.
Ich muss einen Schlussstrich ziehen, denkt sie, ich muss wieder das unbekümmerte Mädchen werden, das ich bis zu jenen Tagen Ende April gewesen bin, ich muss versuchen, die Freude wiederzufinden, das Vergnügen an der Bewegung, an der Leichtigkeit, an selbstverständlichen Dingen. So schwer kann das doch nicht sein, das war doch ein Teil von mir, das verliert man nicht einfach, es ist nur überlagert von dem, was eine alte Frau gesagt hat, ich muss diese Worte von mir abwischen, wie man sich den Staub von der Hose wischt, wenn man gestolpert und wieder aufgestanden ist. Ich bin nicht schuld an dem, was lange vor meiner Geburt passiert ist, siebenundfünfzig Jahre ist es her, eine halbe Ewigkeit, so weit weg ist es. Ich will Sie nicht vergessen, Frau Levin, bestimmt nicht, ich werde nach Israel fahren, an meinen Plänen ändert sich nichts, aber Sie müssen akzeptieren, dass ich ein anderer Mensch bin, ein eigenständiger Mensch, nicht nur die Enkelin von Erhard Riemenschneider.
Es wird ihr zu warm unter der Decke, sie steht auf, geht nackt zum Fenster, macht es auf, spürt die kühle Luft an der Haut und atmet tief ein und aus. Die Häuser der Stadt haben jetzt, im Licht des frühen Morgens, noch seltsam weiche Konturen, als würde man sie durch einen Filter sehen, nichts Grelles ist an dem Bild, alles ist Ton in Ton, verschwindet fast ineinander. Diese Aussicht ist ihr vertraut. Seit vielen Jahren, seit sie dieses Zimmer bezogen hat, das früher das Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen war, hat sie mindestens zwei, drei Mal am Tag hier gestanden und hinausgeschaut, über die Häuser an der anderen Straßenseite hinweg, sie kennt jedes Dach, jeden Baum, die paar Hochhäuser in der Nähe des Bahnhofs, den Fluss, der an manchen Stellen zwischen dem Häusergewirr zu sehen ist. Sie kennt die Blocks weiter hinten, am Güterbahnhof, sie kennt die Dächer der Altstadt, die man von hier aus genau sieht. Die vier spitzen Giebelfenster am Marktplatz gehören zum Modehaus Riemenschneider, es stammt aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, die Fassade mit den behauenen Sandsteinen und den prachtvollen Fenstersimsen steht unter Denkmalschutz und durfte beim Umbau nicht verändert werden. Hinter den Giebelfenstern, in den Dachzimmern im dritten Stock, ist die Ablage untergebracht, sie hat in den Ferien selbst schon dort gearbeitet und gedacht, was für schöne Zimmer das sind. Früher, als Kind, hat ihr Vater ein paar Jahre lang mit dem Großvater dort gewohnt, bis sie in das Haus am Fischmarkt umgezogen sind.
Du kriegst das Zimmer mit der schönsten Aussicht, hat ihr Vater vor fünf Jahren gesagt, als er seinen Schreibtisch aus dem Zimmer unterm Dach hinunter ins frühere Spielzimmer im Tiefparterre geräumt hat, weil Florian ihr ehemaliges Zimmer im ersten Stock bekam. Wir anderen sehen nur die Häuser der Nachbarn, du hast die ganze Stadt unter dir liegen, wenn du aus dem Fenster schaust, die ganze Stadt und sogar das Geschäft.
Das Geschäft, denkt sie, bei uns dreht sich immer alles um das Geschäft. Sie weiß schon lange, dass sie nicht so leben möchte, sie hat es schon vor ihrer Reise nach Israel gewusst, auch wenn sie sich noch immer nicht für etwas Bestimmtes entschieden hat, es gibt so viel, was sie machen könnte. Daniel wird Physik studieren, Kerstin will Ärztin werden, Melanie Bibliothekarin, und sie weiß nur, dass sie nicht ins Geschäft eintreten wird, auch wenn ihre Eltern das so selbstverständlich erwarten, dass es noch nicht einmal zu einem Thema wird, das man diskutiert. Natürlich kann sie studieren, Betriebswirtschaft wäre nicht schlecht, wenn sie schon nicht die Modefachschule besuchen will, sogar Jura kommt in Frage. Von wegen, sagt Johanna laut, ihr werdet euch noch wundern.
Das Geschirrklappern aus der Küche dringt nur ganz leise bis zu ihr herauf, es ist die Ahnung eines Geräuschs, mehr nicht, aber es sagt ihr, dass sie sich beeilen muss. Sie duscht, zieht sich das blaue T-Shirt an, von dem sie weiß, dass Daniel es besonders mag, dazu die helle Jeans. Einen Moment lang bleibt sie zögernd vor dem Bett stehen und überlegt, ob sie es frisch beziehen soll, damit Frau Maurer, die Zugehfrau, keine verräterischen Spuren findet, doch dann stellt sie sich vor, wie angenehm es ihr am Abend sein wird, wenn sie vor dem Einschlafen noch etwas von der vergangenen Lust ahnen kann. Mit ein paar schnellen Bewegungen zieht sie das Laken glatt, schüttelt das Kissen auf und legt die Decke ordentlich darüber. Schauen Sie her, Frau Maurer, mein Bett ist schon gemacht, und was unter der Zudecke versteckt ist, gehört zur Nacht und geht Sie nichts an.
Sie bückt sich, hebt die Unterhose und die Socken von ihrem gelben Teppich auf, den sie so liebt, weil er sie durch seine Farbe und sein Muster an ein Mosaik unter südlicher Sonne erinnert, ein gerade erst begonnenes Mosaik, dessen verstreute Steine noch nichts von ihrer späteren Funktion in dem fertigen Bild verraten, das bis jetzt nur im Kopf des unbekannten Künstlers existiert. Den Teppich hat sie sich vor drei Jahren ausgesucht, nachdem sie von einer Reise nach Pompeji zurückgekommen war, vier Tage allein mit ihrer Mutter, ein Geschenk zu ihrem fünfzehnten Geburtstag.
Als sie am Badezimmer im ersten Stock vorbeigeht, hört sie das Wasser in der Dusche rauschen, das ist ihr Vater, er wird morgens meistens als Letzter fertig.
Die Mutter hat den Tisch schon gedeckt, sie frühstücken immer in der Küche, vor Schule und Arbeit hat keiner Zeit, zwischen Küche und Esszimmer hin und her zu laufen. Florian sitzt wie üblich verschlafen und muffig da und schaut zu, wie Honig vom Löffel auf sein Brot tropft. Die Mutter steht an der Anrichte und schreibt einen Zettel für Frau Maurer.
Guten Morgen, sagt Johanna und gießt sich eine Tasse Kaffee ein, bevor sie sich an den Tisch setzt.
Guten Morgen, sagt ihre Mutter, ihr habt aber lange gelernt gestern, ich habe gar nicht mehr gehört, wie Daniel weggegangen ist.
Johanna antwortet nicht, die Bemerkung ihrer Mutter ist nur so dahingesagt, ohne einen versteckten Vorwurf, keine Frage, auf die sie eine Antwort erwartet. Sie trinkt einen Schluck Kaffee, spürt, wie er durch ihre Kehle rinnt und sich ausbreitet, ein warmes, angenehmes Gefühl, als würde alles, alles wieder gut.
Das Telefon im Flur klingelt, als ihr Vater die Treppe herunterkommt, sie kann durch die offene Küchentür sehen, wie er mit ein paar Schritten zur Kommode geht und den Hörer hochhebt. Ja, sagt er, fragend, fast ungehalten, denn wer ruft schon um diese Uhrzeit an, und dann sagt er lange nichts.
Johanna sieht, wie sich sein Gesicht verändert, seine Lippen, viel zu voll für einen Mann, lösen sich voneinander, die Oberlippe schiebt sich nach oben, die Unterlippe nach unten, als blecke er die Zähne, und dieser Ausdruck bleibt auf seinem Gesicht, solange er zuhört. Eine seltsame, gespannte Stille breitet sich aus, es ist, als würde die Zeit still stehen. Auch die Mutter hat aufgehört zu schreiben und starrt, den Oberkörper zur Seite gedreht, den Vater an. Johanna spürt, dass etwas Gefährliches, Lähmendes aus dem Hörer ins Haus dringt, etwas, das auch die Stimme ihres Vaters verändert und seine Worte dehnt wie ein Tonband, das zu langsam abgespielt wird, als er sagt, ja, das ist ganz richtig, tun Sie das, die Nummer steht ganz oben auf der Liste, ich bin spätestens in einer Stunde da.
Sie sieht, wie er langsam den Hörer auflegt, unsicher, vorsichtig, mit spitzen Fingern, wie er im Garten einen Käfer ins Gras zurücksetzen würde, und dann macht er einen Schritt vorwärts, mit ausgestreckten Armen, bleibt in der Tür stehen, stützt sich am Türstock ab, als könne er nicht mehr aus eigener Kraft stehen, und sagt, noch immer mit dieser fremden Stimme, ohne jemanden anzuschauen: Das war Frau Tschernowski. Er ist tot. Er hat sich aufgehängt. Auf dem Speicher. Sie hat ihn gerade gefunden.
Johanna schaut von ihrem Vater zu ihrer Mutter, zu ihrem Bruder. Niemand sagt etwas. Die Stille ist unerträglich, alles um sie herum scheint in Stücke zu zerfallen, die Gesichter werden zu Grimassen, die Gegenstände zerfließen. Sie starrt die Kaffeetasse in ihren Händen an, die gerade noch die Wärme des Porzellans gespürt haben und nun auf einmal steif werden, als würden sie einen Eisklumpen halten, und sie denkt, jetzt ist es passiert, jetzt kann ich nicht mehr so tun, als ob nichts wäre.

1 Weiße Rosen

Da stehen sie alle um das offene Grab. Der Himmel ist grau, noch immer, auch wenn zwischen den Wolken schon blaue Fetzen zu sehen sind. Es hat in der letzten Nacht geregnet, und morgens, als sie das Fenster geöffnet hat, hat sie die dünnen Regenfäden gesehen und gedacht, wie passend, sogar das kriegt er hin. Das passende Wetter zu seiner Beerdigung.
Sie hat das schwarze Kleid an, das ihre Mutter ihr gestern aus dem Geschäft mitgebracht hat, obwohl sie viel lieber ihre normalen Sachen angezogen hätte, Jeans, ein T-Shirt, notfalls auch das schwarze Jackett, das sie jetzt über dem Kleid trägt, aber ihre Mutter fand das nicht angemessen, sogar Florian musste einen schwarzen Anzug anziehen. Gegen die Krawatte hatte er sich gewehrt, und sie hatte nachgegeben, als auch der Vater gesagt hatte, lass ihn, er ist doch erst zwölf.
Da stehen sie also um das offene Grab, die meisten in Schwarz oder Dunkelblau oder Grau, und Johanna denkt, es gibt offenbar immer noch eine spezielle Kleidung für Beerdigungen, sie sehen alle wie uniformiert aus und ihre Gesichter, die blass sind, als hätten sie über Nacht ihre Sommerbräune verloren, sind eines so ausdruckslos wie das andere.
Hinter den Verwandten, den Nachbarn, den Bankdirektoren, den Mitgliedern der Industrie- und Handelskammer, hinter den Ärzten, den beiden Apothekern, bei denen sie immer abwechselnd kaufen, hinter den vielen Geschäftsleuten, die es sich nicht nehmen lassen, dem alten Konkurrenten die letzte Ehre zu erweisen, wie ihre Mutter das nennt, stehen die meisten der dreiundvierzig Angestellten des Modehauses Riemenschneider. Das Geschäft ist heute geschlossen, die Angestellten, die noch unter ihrem Großvater gearbeitet haben, sind zum Essen zu Ehren des verstorbenen Seniorchefs eingeladen worden, auf Wunsch der Mutter auch die Azubis, das bindet sie an das Geschäft, hat sie gesagt, und Johanna hat gedacht, man weiß, was sich gehört und was einem nützt.
Ein Wind kommt auf, die Schleifen an den Kränzen, die bald auf dem Erdhügel liegen werden, flattern kurz hoch, bevor sie wieder auf das Tannengrün zurücksinken. Ein unangenehm süßlicher Geruch hängt über dem Friedhof, Johanna weiß nicht, ob er von den Kränzen oder Ge stecken stammt oder von Parfüm oder Aftershave. Es erinnert sie daran, wie ihr Großvater früher gerochen hatte, solange die Krankheit seinen Geist noch nicht verwirrt hatte, denn da war er plötzlich wieder der Dörfler geworden, hatte nicht mehr auf seine Kleidung geachtet, sich nur noch selten rasiert und, so hatte ihre Mutter sich immer wieder beklagt, unangenehm nach Schweiß und altem Mann gerochen.
Warum hat er das bloß getan, flüstert Tante Irene, seine Schwester, viel zu laut, öffnet ihre schwarze Handtasche und zieht raschelnd ein frisches Papiertaschentuch aus der Packung.
Sei doch still, zischt Onkel Peter, ihr Mann, man muss das nicht noch öffentlich ausposaunen, du hast doch gehört, was Robert gesagt hat, niemand braucht etwas davon zu wissen, und Tante Amalia sagt, der Pfarrer, pssst, es geht los, und stützt sich schwer auf den Arm von Onkel Erwin.
Ich weiß nicht, ob er den Pfarrer gewollt hätte, denkt Johanna, er ist doch nie in die Kirche gegangen, höchstens mal an Weihnachten oder bei Hochzeiten und zu Beerdigungen. Und in ihren Ohren klingt die Stimme ihrer Mutter, es gehört sich nun mal, sollen wir ihn denn einfach verscharren lassen? Früher hat man das mit Selbstmördern so gemacht, hat Johanna gedacht, und ihr Vater hat gesagt, schließlich ist er ein angesehener Mann. War, hat sie gedacht, war, du musst dich daran gewöhnen, dass dein Vater tot ist.
Ein angesehener Mann, sagt gerade auch der Pfarrer, spricht von der entbehrungsreichen Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, ein strebsamer, fleißiger Mann. Mit seiner Hände Arbeit hat er sich hochgearbeitet, hat es zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Und sie denkt, was für eine Heuchelei, soll ich jetzt laut die Namen Heimann und Rosenblatt sagen? Was würde passieren, wenn ich es täte, wenn ich sagen würde, Moment mal, Herr Pfarrer, Sie haben etwas Wichtiges vergessen, da gibt es noch einen dunklen Punkt im Leben meines Großvaters, so einfach war es nicht, sein Lebenslauf hat ihn nicht so gradlinig von der entbehrungsreichen Kindheit zu einem Leben als wohlhabender Geschäftsmann geführt. Es war nicht nur seiner Hände Arbeit, Herr Pfarrer, auch wenn ich nicht genau weiß, was es war, ich will es eigentlich auch gar nicht wissen, ich will nicht wissen, ob Frau Levin die Wahrheit gesagt hat. Aber viele Leute hier sind alt, sie müssten sich noch erinnern, was wirklich passiert ist, falls sie nicht vorgezogen haben, es zu vergessen. Und ihr fällt ein, was Daniel einmal gesagt hat: Du musst mit ihm reden, du kannst nicht ewig so tun, als wäre nichts. Sie hat ihn stehen lassen und gedacht, was geht mich das an, ein knappes Jahr und ich bin weg.
Während der Pfarrer weiterspricht, gleitet ihr Blick über die Trauergäste, die so zahlreich sind, wie es sich bei der Beerdigung eines angesehenen, wohlhabenden Bürgers der Stadt gehört. Das Bild verschwimmt vor ihren Augen, die Gestalten verlieren ihre Konturen, lösen sich auf und verschwinden im grauen Horizont, der Friedhof wird zu seinem Garten.
Er kniete zwischen den Beeten, als sie ihn das letzte Mal sah, vor ungefähr drei Wochen. Sie kann sich nicht mehr genau erinnern, an welchem Tag es war, vielleicht Mittwoch, weil sie mittwochs etwas früher nach Hause kommt. Schau doch mal nach Opa, hatte ihre Mutter gesagt, er hat schon seit ein paar Tagen nichts von sich hören lassen, du kannst mein Auto nehmen. Das war ein verlockendes Angebot, ihr Führerschein ist noch ganz neu, gerade mal drei Monate alt, deshalb war sie hinausgefahren.
Sie traf ihn im Garten, er kniete auf dem geharkten Weg zwischen zwei Beeten und stöhnte, die alten Knochen machen nicht mehr so mit, und sie fragte, warum lässt du das nicht Frau Tschernowski erledigen, ist sie nicht da?
Er schüttelte den Kopf, nein, die ganze Woche nicht, sie ist nach Köln gefahren, zu ihrer Tochter, die hat ein Kind gekriegt, und das Unkraut wächst und wächst … Seine Stimme verlor sich in einem unverständlichen Gemurmel, wie so oft, und sie wusste nicht, was sie machen sollte.
Sie hatte keine Lust, ihm bei dieser überflüssigen Arbeit zu helfen, es gab keinen Grund, weshalb ein alter, steif gewordener Mann auf der Erde herumkriechen sollte, das Unkraut konnte auf Frau Tschernowski warten, oder er hätte anrufen können und ihr Vater hätte ihm jemanden vorbeigeschickt.
Soll ich uns einen Kaffee kochen, fragte sie, aber er gab keine Antwort, er hatte offenbar schon wieder vergessen, dass sie da war.
Sie setzte sich auf die Bank unter dem Apfelbaum, stützte die Arme auf den Tisch, an dem er bei schönem Wetter oft saß, und wartete darauf, dass er sich wieder an sie erinnern würde. Es war ein sanfter Tag, nicht so heiß wie in den Wochen davor. Die Äpfel hingen klein und grün an den Zweigen, von einem weißlichen Schimmer wie von einer Schutzhülle überzogen, ein saures Hellgrün, bei dessen Anblick sie spürte, wie es ihr den Mund zusammenzog.
Sie schaute ihm zu, wie er mit fahrigen Bewegungen zwischen die Blumen griff und jene Pflanzen herausriss, die Unkraut waren und die anderen, die kein Unkraut waren, am Wachsen hinderten, ihnen Licht und Luft und Nahrung wegnahmen. Sie betrachtete ihn, seinen gebeugten Rücken mit den kantigen Schulterblättern, die sich unter dem hellen Hemd bewegten, sah die nach vorn gesunkenen Schultern, den leicht geröteten Nacken, der unter dem Kragen weiß wurde, die bräunlichen Arme, die mit Altersflecken übersäten Hände, auf denen geschlängelte Adern hervortraten, dunkel und dick, sodass man fast das zähflüssige Blut zu sehen glaubte. Sie beobachtete ihn, und Mitleid stieg in ihr auf und trieb ihr die Tränen in die Augen, aber dann merkte sie, wie die Tränen von einem plötzlich aufsteigenden Ärger verdrängt wurden.
Wie er die Pflanzen herausriss, ohne Rücksicht auf die winzigen blauen oder weißen Blüten, ohne Sinn für ihre Zartheit, ihre Unschuld, ihre Bescheidenheit gegenüber den Dahlien, die unverschämt mit ihren kräftigen Farben protzten, dem arroganten Rittersporn und dem Eisenhut mit seiner verhaltenen Schönheit, wie er keine Rücksicht auf die zarten Wurzeln nahm, die weißen Fäden, die hilflos in der Luft vertrocknen mussten.
Deine Oma hat sich immer einen Garten gewünscht, sagte er, als er sich plötzlich an ihre Anwesenheit erinnerte. Er hob den Kopf, seine weißen Bartstoppeln leuchteten in der Sonne auf und erinnerten sie an ein gemähtes Getreidefeld, dessen Stoppeln bereits von der Sonne gebleicht worden waren. Er wischte sich mit seinen erdigen Fingern den Schweiß von der Stirn, Schmutzstreifen blieben zurück, hässliche Schmutzstreifen unter der glänzenden, sommersprossigen Glatze, die sie als Kind so geliebt hatte. Auf einmal taten ihr die Finger weh, die Erinnerung an seine glatte Haut, unter der man die Schädeldecke fühlen konnte, verwandelte sich zu einem Brennen in ihren Handflächen, zu einem Schmerz darüber, dass sie den Großvater von früher verloren hatte.
Deine Oma hat sich immer einen Garten gewünscht, sagte er noch einmal, aber sie ist gestorben, bevor wir uns einen leisten konnten.
Dann griff er wieder in das Unkraut, riss dicke Stängel heraus, dünne Stängel, manche waren so empfindlich, dass sie bereits knickten, wenn seine knotigen Finger sie nur berührten. Seine Haut war unter der leichten Bräune gelblich grau wie brüchiges Seidenpapier und spannte sich über dem Schädel. Seine Ohren waren groß, viel größer, als sie sie in Erinnerung hatte, und als er den Kopf hob und sie anschaute, spiegelte sich in seinen Augen die Farbe des Himmels. Sie wurden im Alter immer blauer, sie hatten jede Zeichnung der Iris verloren, jede Abstufung, die Farbe wurde nicht mehr vom Schatten der Wimpern gebrochen, er hatte keine Wimpern mehr, nackte Augen in einem nackten Gesicht. Selbst seine borstigen Augenbrauen waren schütter geworden.
Früher, viel früher, war er blond gewesen, sie kannte die Fotos, auf denen er blond und aufrecht dastand, natürlich kannte sie sie, sie hatte sie oft genug betrachtet und gedacht, was für ein schöner Mann er war. Schöner als ihr Vater, der schon als Kind, die Fotos beweisen es, eher gedrungen ausgesehen hatte, er hatte die Statur und das Gesicht seiner Mutter geerbt, vor allem ihren Mund.
Deine Oma ist immer eine Frau vom Land geblieben, sagte ihr Großvater, sie hätte nie in die Stadt ziehen dürfen, und wieder wischte er sich den Schweiß von der Stirn, die Schmutzstreifen sahen plötzlich aus wie Male, Kainsmale, dachte sie und bedauerte, dass sie überhaupt hergekommen war. Die alte Vertrautheit zwischen ihnen war verschwunden, auch die Abneigung war verschwunden, jeder Vorwurf erübrigte sich vor diesem alten, nackten Gesicht, in dem nichts mehr von der früheren Schönheit, der Härte und der plötzlichen Zärtlichkeit zu sehen war.
Er ist in den letzten Monaten verfallen, hatte ihr Vater vor ein paar Wochen gesagt, er verfällt zusehends, er kriegt nichts mehr mit, er sollte in ein gutes Pflegeheim gehen, Geld genug hat er ja, aber da ist er störrisch wie ein Esel, schon immer ist er störrisch gewesen, man kann nicht mit ihm reden.
So ist es nun mal mit alten Menschen, hatte ihre Mutter gesagt, du wirst auch mal alt, jeder wird mal alt.
Wenn man nicht rechtzeitig vorher stirbt, hatte ihr Vater gesagt, mit einem starren Gesicht, kaum dass sich seine Lippen bewegten.
Sie hatte einen Moment lang gezweifelt, ob er die Worte wirklich gesagt hatte, doch dann hatte sie gesehen, wie die Augen ihrer Mutter schmal wurden, und sie war aufgestanden und hinausgegangen, hatte ihre Eltern in dem erst in diesem Frühjahr renovierten Zimmer mit den neu bezogenen Polstermöbeln allein gelassen, der leicht glänzende Stoff war grün-weiß gestreift, passend zu den neuen, lindgrünen Tapeten, das Zimmer sah frisch aus, fast heiter, ganz anders als früher, als die Polstermöbel noch braun und beige bezogen gewesen waren.
Aus Florians Zimmer drang Musik, Techno, eine Musik, die sie nicht leiden konnte, außerdem viel zu laut, sonst wäre sie womöglich hineingegangen, hätte sich zu ihm gesetzt und ihn gefragt, wie seine Klassenarbeit in Englisch ausgefallen war, aber vielleicht war es sowieso besser, es nicht zu tun, sie hatte Angst vor dem, was er erzählen könnte, denn etwas anderes als ein paar nichts sagende Ausflüchte wäre ihr doch nicht eingefallen, es wird schon wieder, du musst dir ein bisschen Mühe geben, belangloses Zeug eben. Deshalb war sie an seiner Tür vorbeigegangen, die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Deine Oma war eine gute Frau, sagte ihr Großvater, aber so ist es nun mal, die Guten sterben viel zu jung, wen Gott liebt, den nimmt er früh zu sich, so war das schon immer.
Sie biss sich auf die Zunge, hatte plötzlich den Geschmack von Blut im Mund, so weh tat es, die Worte nicht auszusprechen, die aus ihr herausdrängen wollten. Es war nicht Gott, der sie zu sich genommen hat, sie hat sich umgebracht, das zumindest weiß ich genau, auch wenn ich keine Ahnung habe, warum, aber sie hat sich umgebracht, sie hat sich vor den Zug geworfen, hast du das vergessen? Ist das deine Lösung für alles, Vergessen, fällt dir nichts anderes ein?
Sie hatte es nicht gesagt, sie hatte die Worte verschluckt, statt sie auszuspucken, und als er vergeblich versuchte, sich aufzurichten, war sie nicht aufgestanden, um ihm zu helfen, sie war sitzen geblieben und hatte zugesehen, wie er auf Knien zu der Bank gerutscht war, eine unwürdige Haltung unter den Blicken seiner Enkelin, eine beschämende Haltung, wie ein alter, lahmer Hund.
Ihre Mutter stößt sie an, Johanna, bitte, die Leute schauen schon her, und sie hebt den Kopf und sieht, dass der Wind die Wolken vertrieben hat, plötzlich scheint ihr die Sonne in die Augen, die Menschen um das offene Grab herum sehen auf einmal viel zu warm angezogen aus, schwarz gegen die blühenden Blumen auf den anderen Gräbern, schwarz gegen die Kränze, schwarz gegen den blauen Himmel.
Sie sieht ihren Vater, der nach einer Schaufel greift, dreimal Erde in das Grab kippt und die Schaufel an ihre Mutter weiterreicht, und sie spürt die Blumen in ihren Händen brennen, weiße Rosen, warum weiße Rosen, das sind die Blumen, die am wenigsten zu ihm passen, keine weißen Rosen, und als sie nun selbst zu dem offenen Loch tritt, meint sie einen Moment lang hinter der aufgehäuften Erde die goldenen Buchstaben auf dem Grabstein zu sehen, die Aufschrift, die sie kennt, die erst nachher, wenn das Grab zugeschaufelt ist, wieder sichtbar sein wird, Johanna Katharina Riemenschneider, geb. Keller, 1915–1960, und das Foto taucht vor ihr auf, die dunkle Frau mit dem Mittelscheitel und den straff nach hinten gekämmten Haaren, sie sieht die breiten Backenknochen vor sich, die bis zum Hals zugeknöpfte Bluse mit dem Stehkragen.
Die Frau auf dem Foto hält stolz ihr Kind in die Kamera, den spät geborenen Sohn, auf den sie so lange gewartet hat, ein Lächeln auf den auffallend vollen Lippen, zu voll, um wirklich schön zu sein, denkt Johanna. Sie fährt sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die diese Frau ihr über ihren Vater vererbt hat, über dieses Kind auf dem Foto. Und dann lässt sie die Rosen in das Loch hineinfallen, auf den dunklen Sarg mit den goldenen Beschlägen, und denkt, warum habt ihr ihn nicht verbrennen lassen und seine Asche verstreut, damit der Wind sie nach Israel trägt und Frau Levin erfährt, dass sie endlich aufhören kann zu hassen.
Die Erde fällt auf die weißen Rosen, und sie sieht die Schmutzstreifen auf seiner Stirn wieder vor sich, das Kainsmal, das sie vor gar nicht so langer Zeit gesehen hat. Sie schwitzt und zugleich ist ihr kalt. Ihre Mutter schiebt sie zur Seite und führt Florian zum Grab. Auch er hat weiße Rosen in der Hand.
Auf Wiedersehen, Opa, sagt er mit seiner Knabenstimme, die noch immer hell ist, hinter der man aber schon einen anderen Ton hört, so als habe jemand leicht, ganz leicht, eine Basssaite berührt und der Ton schwinge mit, nicht wirklich hörbar, aber schon zu fühlen, als Vibrieren auf der Haut, nicht auf dem Trommelfell.
Friedrich Stamm, Onkel Friedrich, sein Freund, sein einziger Freund noch aus seiner Jugendzeit, wird von seiner Tochter zum Grab geführt, er kann nicht mehr richtig gehen seit seinem Schlaganfall im letzten Jahr. Wie alt er aussieht, denkt Johanna, sehr, sehr alt und gebrechlich, älter, als ihr Großvater vor drei Wochen ausgesehen hatte. Onkel Friedrich stolpert, ohne dass ein Hindernis da gewesen wäre, seine Beine knicken ein, Johanna sieht, wie ihr Vater einen Schritt vorwärts macht und die Arme ausstreckt, als wolle er den alten Mann davor bewahren, in die Grube zu stürzen. Aber seine Tochter hält ihn fest, sie greift mit der Hand nach seiner, die über ihrer Schulter hängt, mit der anderen packt sie ihn fest um die Taille, fast sieht es aus, als würde sie ihn wegtragen. Onkel Friedrich weint, er ist der Einzige, der weint, als wäre er der einzige Mensch, der ihn geliebt hat.
Dann stehen sie da, der Vater, die Mutter, sie, Florian, Opas Schwestern Amalia und Irene, die nächsten Angehörigen, die Familie, zu der sie seit ihrer Reise nach Israel nicht mehr gehören will und zu der sie nun, vor aller Augen, doch gehört, sie ist seine Enkelin, und die Trauergäste kommen und drücken ihnen die Hände und sagen, mein herzliches Beileid, und sie, die nächsten Angehörigen, sagen danke und drücken eine Hand nach der anderen. Manchmal sagt die Mutter, wir sehen uns nachher, in der Goldenen Gans, und dann nickt der andere und sagt, ja, natürlich.
Ich will das nicht, denkt Johanna und versucht nichts zu fühlen, und trotzdem fühlt sie die Hände, harte, weiche, warme, kalte, trockene, feuchte, und am liebsten würde sie sich wie ein kleines Mädchen die Finger am Kleid abwischen, um sich von diesen aufdringlichen Berührungen zu befreien, die ihr unangenehm sind. Aber sie nimmt die Hand nicht weg, sie sagt weiter, danke, danke, und ihre rechte Hand wird zu einem fremden Gegenstand, den sie in die Hände legen kann, die ihr hingehalten werden, während ihre linke schlaff herunterhängt. Wie aufgezogen bewegt sie sich, wie eine Puppe. Nur als Frau Neuberger, die Frau des Apothekers vom Markt, ihr die Hand gibt, muss sie einen Moment mit den Tränen kämpfen, denn auf einmal sieht sie Frau Levin vor sich.
Niemand weint. Ihr Vater sowieso nicht, aber auch ihre Mutter nicht, bei der die Tränen sonst doch recht locker sitzen, und sogar Florian nicht, der in den letzten Tagen so viel geweint hat. Jetzt macht er ein verschlossenes Gesicht, als ginge ihn das alles nichts an. Vielleicht weint man bei Selbstmördern nicht in der Öffentlichkeit, denkt Johanna und wundert sich, wie leicht sich das Wort Selbstmörder denken lässt, es ist ein Wort wie jedes andere: Selbstmörder.
Ihr Vater hat überhaupt nicht geweint. Er muss einen lichten Moment gehabt haben, hat er nach Frau Tschernowskis Anruf gesagt, sie hat ihn auf dem Speicher gefunden, er war schon ganz kalt. Mit einem starren, trockenen Gesicht hat er es gesagt, nur ihrer Mutter waren die Tränen über die Wangen gelaufen, als sie sagte, wie einsam er sich gefühlt haben muss, wie allein.
Sie setzten sich zum Frühstück, als ob nichts wäre, aber es war etwas, sie haben alle vier nichts gegessen, auch Florian nicht, der es an diesem Morgen irgendwie nicht ganz verstanden hatte, er hatte erst nachmittags, als er am Esstisch saß und Hausaufgaben machte, auf einmal angefangen zu heulen.
Ich fahre gleich hin, sagte der Vater, ich erledige alles, und als die Mutter fragte, soll ich mit dir kommen, sagte er, nein, du gehst ins Geschäft, irgendjemand muss es den Angestellten schließlich sagen, und überleg dir schon mal den Text für die Zeitung, und vielleicht schaffst du’s ja, mit der Liste der Leute anzufangen, die unbedingt eine persönliche Todesanzeige bekommen müssen. Johanna, kannst du heute zu Hause bleiben und Mama helfen?
Johanna hatte genickt, sie wäre ohnehin nicht in die Schule gegangen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, laut zu sagen, ich bin heute schlecht drauf, mein Großvater hat sich aufgehängt.
Und ich, fragte Florian, aber die Mutter legte ihm die Hand auf den Arm und sagte, du gehst in die Schule, du hast heute zwei Stunden Englisch, du kannst es dir nicht leisten, einfach wegzubleiben.
Florian nickte ergeben. Die Mutter trank einen Schluck Kaffee, dann wischte sie sich über die Lippen und schaute den Vater an. Deine Eltern haben sich beide umgebracht, sagte Johanna mit einer kleinen Stimme, vorsichtig, als wage sie es kaum auszusprechen, findest du das nicht seltsam?
Und er schüttelte den Kopf, nein, wieso denn, dazwischen liegt ein ganzes Leben.
Trotzdem, sagte Johanna, vielleicht hat der eine Selbstmord doch etwas mit dem anderen zu tun, und ihr Vater fuhr sie wütend an, was weißt du schon davon, und als sie fragte, von was, sagte er, vom Leben.

2 Letzter Akt

Die Goldene Gans ist das erste Haus am Platz, natürlich, denkt Johanna, darunter tun es meine Eltern nicht. Schon am Eingang stehen zwei Mädchen bereit, um den Gästen die Mäntel abzunehmen, obwohl kaum jemand einen Mantel trägt, dazu war es die ganze Zeit zu warm gewesen.
Johanna bleibt an der Tür zum Speisesaal stehen. Es ist ein großer Raum, das Licht, gedämpft durch die breitkronigen Kastanien hinter dem Haus, fällt sanft durch die Fenster, die hoch und schmal sind und den Raum feierlich erscheinen lassen. An diesem Eindruck ändern auch die weißen Geländer an den erhöhten Nischen nichts, Nischen, die aussehen wie Emporen, und Johanna denkt, es fehlt nur noch eine Orgel. Oder ein Vorhang, der aufgegangen ist und den Blick auf die Bühne freigibt, des Dramas letzter Akt, der Tod des Hauptdarstellers.
Johanna kann sich vorstellen, wie ihre Mutter Tische und Essen für etwa fünfzig bis siebzig Personen bestellt hat, man konnte ja nicht von vornherein wissen, wie viele die Einladung annehmen würden. Sie sieht es vor sich, wie ihre Mutter mit Herrn Schmeller, dem Inhaber der Goldenen Gans, das Menü besprochen und den Wein ausgesucht hat, Prosecco zur Vorspeise, Rotwein zum Hauptgericht. Bestimmt haben sie auch den Blumenschmuck besprochen, passend zu dem traurigen Anlass, Kristallschalen mit Buchszweigen, dazwischen weiße Blüten, Rosen, wieder Rosen, und kleine Blumen mit gelben Staub fäden und weißen, spitz zulaufenden Blütenblättern, die fast wie aus Papier gefaltet aussehen. Sie hat vergessen, wie die Blumen heißen, und sie ärgert sich, dass ihr der Name nicht einfällt, aber sie wird ihre Mutter nicht danach fragen, auf keinen Fall, denn dann müsste sie sagen, ihr hättet Disteln nehmen sollen, warum habt ihr keine Disteln ausgesucht.
Die Eltern stehen am Eingang und weisen die Gäste leise darauf hin, an welchen Tischen sie Platz nehmen sollen. Die mittleren sind für die Honoratioren, weiter hinten sitzen die Angestellten, auch die beiden neuen Azubis, die verlegen grinsen, sie wissen nicht, was für ein Gesicht man bei so einer Gelegenheit machen muss, sie haben den alten Herrn Riemenschneider ja gar nicht mehr kennen gelernt.
Setz dich bitte an den Tisch dort oben links, mit den Verwandten, flüstert ihre Mutter und wendet sich sofort wieder den nächsten Gästen zu.
Tante Amalia, die in den Jahren, seit Johanna sie nicht mehr gesehen hat, dick und schwerfällig geworden ist, fühlt sich sichtlich unbehaglich in dieser Umgebung, sie steht am Eingang und drückt mit der rechten Hand ihre Tasche an die Brust, mit der linken tastet sie nach dem Arm ihres Mannes. Onkel Erwin versucht gleichgültig und unbeeindruckt auszusehen, aber sein Gesicht ist knallrot und auf seiner Stirn erscheinen Schweißperlen. Sein schwarzer Anzug sitzt knapp und die Hosenbeine sind etwas zu kurz, sodass die gestreiften Socken in den glänzend geputzten Schuhen zu sehen sind.
Unpassend, denkt Johanna, unpassend, und hätte am liebsten laut gelacht bei der Vorstellung, wie leicht durch ein paar falsche Details aus einer Tragödie eine Komödie wird, wenigstens eine Tragikomödie. So etwas wie Zärtlichkeit für diese alten, unpassenden Verwandten steigt in ihr hoch und macht sie ganz weich. Komm, Tante Amalia, hier, sagt sie und führt ihre Tante, ihre Großtante eigentlich, zu dem Tisch, den ihre Mutter ihr gezeigt hat, und rückt ihr den Stuhl zurecht.