Mirjam Pressler
Shylocks Tochter
www.beltz.de
© 2008 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Frank Griesheimer
Neue Rechtschreibung
Einbandtypografie: rgb unter Verwendung des Bildes Beatrice, 1994 © Michael Parkes
www.theworldofmichaelparkes.com
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74308-4
Editorische Notiz:
Shylocks Tochter erschien erstmals 1999 im Alibaba Verlag. Für diese Ausgabe wurde das Buch neu durchgesehen.
Erstes Kapitel
Jessica raffte mit beiden Händen ihre Cioppa* und machte einen Schritt zur Seite, um der toten Katze auszuweichen, die vor ihr auf der Straße lag. Einen Moment lang blieb sie stehen. Die Katze hatte ein getigertes Fell. Sie lag auf der Seite, die vier Pfoten steif von sich gestreckt, mit einem unförmig aufgequollenen Bauch. Jessica überlegte, ob die Katze vielleicht Junge getragen hatte, die jetzt mit ihr gestorben waren. Schwarze Fliegen umschwärmten das tote Tier, und eine besonders fette krabbelte über eines der beiden Augen, die aussahen wie sehr grüne Glaskugeln.
»Tubal Benvenisti behauptet immer, Venedig sei die schönste Stadt der Welt«, sagte Jessica und machte ein paar rasche Schritte, um Jehuda einzuholen, der mit gesenktem Kopf weitergegangen war.
»Dann wird es wohl auch so sein«, sagte er gleichgültig. »Wann soll ich dich abholen?«
»Vor Sonnenuntergang, wie immer«, sagte Jessica. »Damit wir vor Einbruch der Dunkelheit wieder im Ghetto* sind.« Und in Gedanken fügte sie hinzu: Und bevor mein Vater sein Kontor verlässt und nach Hause kommt.
Der Junge nickte und ging schweigend weiter. Er stieg die Stufen einer hohen Brücke hinauf, lehnte sich an das Geländer und wartete auf Jessica, die sich neben ihn stellte und den Kanal entlangblickte. Ein überdachter Kahn fuhr unter der Brücke hindurch und kam auf der anderen Seite wieder hervor. Aus seinem Inneren drang fröhliches Gelächter und Singen, das so gar nicht zu dem grauen Himmel zu passen schien. Ein paar Möwen schossen durch die Luft, eine schwarze Gondel überholte den Kahn.
»Die Leute feiern irgendetwas«, sagte Jessica. »Vielleicht eine Hochzeit?« Aber Jehuda lief weiter, ohne ihr eine Antwort zu geben. Er ist wirklich seltsam, dachte Jessica. Er hat nie viel gesprochen, aber in der letzten Zeit scheint er nur noch irgendwelchen Gedanken nachzuhängen. Nun, mir soll’s recht sein, da brauche ich wenigstens keine Angst vor seiner Neugier zu haben.
Jehuda bog nach einer weiteren Brücke nach rechts ab, sie folgte ihm. Ein paar ärmlich gekleidete Jungen kamen ihnen entgegen. Der größte trug ein Netz mit etwa einem halben Dutzend gefangener Vögel, die vergeblich versuchten, ihre schwarzen Flügel mit den langen Schwungfedern zu bewegen und freizukommen. Ihre Füße hatten sich hoffnungslos in den Maschen verhakt, die zusammengedrückten Körper zuckten. Die kleineren Jungen johlten und schrien, und der große schwang das Netz über dem Kopf, so wie fromme Juden am Tag vor Jom Kippur* Hühner über dem Kopf schwingen. Jehuda stellte sich schützend vor Jessica, bis die Jungen vorbeigezogen waren, erst dann ging er weiter. Vor einem Haus saßen drei Frauen auf einer Bank und stickten an einer großen Decke. »Juden«, sagte eine und spuckte aus, als Jessica und Jehuda vorbeigingen.
Vor dem Haus von Levi Meschullam, dem Arzt, blieben sie stehen. »Ich hole dich also vor Sonnenuntergang ab«, sagte Jehuda. »Friede sei mit dir, Jessica.«
»Auch mit dir, Jehuda«, sagte Jessica. Doch der Junge hatte sich schon umgedreht und lief davon. Der hohe rote Hut wirkte von hinten viel zu groß für seine schmalen Schultern. Jessica spürte eine plötzliche Freude in sich aufsteigen. Ohne Jehuda, der durch seinen Hut deutlich als Jude zu erkennen war, fühlte sie sich freier. Sie lächelte. Im Ghetto fiel sie auf mit ihrer hellen, fast eleganten Cioppa, weil die meisten Jüdinnen dunkle Farben und streng geschnittene Kleider trugen, aber nicht hier, im Hause Levi Meschullams.
Jessica ging durch das Tor des Palazzo. Wie immer hatte sie das Gefühl, eine andere Welt zu betreten, eine schöne, prächtige, glückliche Welt, die viel besser zu ihr passte als das Ghetto, eine, in die sie eigentlich hineingehörte, und wie immer weckte dieser Gedanke eine dumpfe Scham in ihr, als dürfe sie ihn gar nicht aufkommen lassen, weil er gegen ihren Vater gerichtet war, gegen Amalia und Dalila, gegen den Platz in dieser Welt, an den der Ewige, gelobt sei er, sie gestellt hatte.
Der Diener am Eingang kannte sie schon, mit einer leichten Verneigung trat er zur Seite, damit sie vorbeigehen konnte. Erst als sie in der Eingangshalle stand, ließ Jessica den Gedanken an Lorenzo zu. Die ganzen letzten Tage hatte sie, aus Furcht, jemand könne auf ihrer Stirn lesen, was sich dahinter abspielte, nur an ihn gedacht, wenn sie allein in ihrer Kammer war. Jetzt wurde ihr Gesicht warm vor Freude, ihre Wangen glühten.
Sie ließ sich auf einen Sessel an der Wand sinken, weil ihre Beine plötzlich weich wurden, und schloss die Augen. Wie schon so oft seit jenem Tag vor vier Wochen sah sie Lorenzo vor sich, wie er beim Gartenfest im Salon der Meschullams auf sie zugetreten war. Sie legte die Hände vor das Gesicht, weil sie seine Blicke zu spüren meinte, die wie eine Berührung über ihre Haut glitten, wie ein Streicheln, und sie fühlte wieder, wie er ihre Hand nahm und sie viel zu lange festhielt.
»Was für eine schöne Freundin Ihr habt«, sagte er zu Hanna Meschullam mit einer Stimme, deren Klang ihr durch das Herz schnitt. »Warum habt Ihr sie mir so lange vorenthalten?« Und noch immer ließ er ihre Hand nicht los.
In ihrem Körper hatte sich eine Wärme ausgebreitet, die sie noch nie empfunden hatte, ein Gefühl, von dem sie sofort wusste, dass es ein verbotenes war. Verboten nicht nur, weil er ein Christ war, ein Adliger, sondern auch weil er ein Mann war. Sie riss ihre Hand aus seiner, drehte sich um und lief hinaus in den Garten. »Was für eine schöne Freundin Ihr habt«, flüsterte sie immer wieder vor sich hin. Noch nie hatte ein Mann so etwas über sie gesagt. Und es hörte sich anders an als früher, wenn Amalia gesagt hatte: »Wie schön du bist, Jessica.« Außerdem hatte Amalia so etwas schon lange nicht mehr gesagt, vielmehr warf sie ihr in letzter Zeit Eitelkeit und Oberflächlichkeit vor. Und nun diese herrlichen Worte: »Was für eine schöne Freundin Ihr habt.«
Jessica war dann hinuntergelaufen zum Kanal, hatte sich auf die Bank gesetzt, die dort unter einem Baum stand, und ins Wasser gestarrt. Und dann hatte er plötzlich neben ihr gesessen. »Ich weiß, wer Ihr seid«, hatte er leise gesagt, ohne sie anzuschauen. »Es tut mir leid, dass ich Euch erschreckt habe.«
Was für eine schöne Stimme er hatte, weich, sanft, und wie wohlklingend und melodisch seine Sprache war, ganz anders, als sie es gewöhnt war, mit lang gedehnten Vokalen und weichen Konsonanten, so schön, dass sie ihren ganzen Körper erbeben ließ und sie anfing zu weinen, ohne zu wissen, warum sie weinte und wem ihre Tränen galten. Und er hatte ihre Hand in seine genommen und sie mit seinen langen, schmalen Fingern gestreichelt. Noch nie hatte sie so schöne Hände gesehen wie seine.
So hatte es angefangen, vor vier Wochen. Seither sah sie sein Gesicht vor sich, wenn sie abends im Bett lag, die schönen Augen, die breite, hohe Stirn über der geraden Nase, den weich geschwungenen Mund, das leicht vorspringende Kinn. Auch wenn sie sich noch so oft sagte, es sei egal, wie ein Mann aussehe, es zähle nur seine Frömmigkeit und Aufrichtigkeit – dieses Bild ließ sich nicht vertreiben. Ihr war, als habe sie, ohne es zu wissen, ihr Leben lang auf dieses Gesicht gewartet, auf diese Hände. Abends im Bett versank sie in seinem Blick und spürte die Berührung seiner langen, schmalen Finger, bis sie einschlief. Und morgens, wenn sie aufwachte, sah sie ihn wieder vor sich.
So hatte es angefangen. Seit jenem Tag war nicht nur ihre Welt verändert, sondern auch sie selbst. Aus dem sorglosen Mädchen war eine Frau geworden, voller Glück, aber auch voller Angst und Sorge. Eine Jüdin und ein Christ, eine Pfandleiherstochter und ein Adliger – das durfte nicht sein. Jedes Mal hatte sie es gedacht, jedes Mal gesagt, und doch war sie immer wieder zu Hanna Meschullam gegangen, um ihn dort zu treffen. Ihn, den Schönen. Ihn, der ihr langweiliges Leben mit Sinn erfüllte, mit Gefühlen, von deren Existenz sie keine Ahnung gehabt hatte. Es durfte nicht sein und es war doch passiert. Sie hatte gebetet, sie hatte gekämpft, sie hatte gefastet und gelobt, ein gutes jüdisches Mädchen zu sein. Und dann war sie doch wieder zu ihm gelaufen, wenn Hanna Meschullam ihr eine Nachricht geschickt hatte.
Jessica ließ die Hände sinken. Es durfte nicht sein, natürlich nicht. Trotzdem würde sie ihn jetzt wiedersehen. Sie erhob sich, noch immer mit zitternden Knien, und strich ihre Cioppa glatt. Als sie den Salon betrat, entdeckte sie ihn sofort. Er stand an einem der Fenster zum Kanal, mit dem Rücken zum Eingang, und blickte hinaus. Hanna, die sich mit zwei jungen Männern unterhielt – von denen der eine offenbar ein Christ war, der andere, wie seine Kopfbedeckung bewies, ein Jude –, sprang auf, als sie ihre Freundin sah, und die beiden Mädchen umarmten und küssten sich. »Wir waren gestern zu einem Konzert im Dogenpalast eingeladen«, sagte Hanna. »Ich muss dir später unbedingt davon erzählen.«
Jessica nickte, doch in Wahrheit dachte sie nur: Gleich, gleich werde ich ihm gegenüberstehen. Und da spürte sie auch schon seine warme Hand auf ihrem Arm, und seine Stimme flüsterte ganz nah an ihrem Ohr: »Sei willkommen, du Schöne.«
Sie wagte nicht, ihn anzuschauen, aus Angst, sie könne ohnmächtig werden. Mit gesenktem Kopf folgte sie Hanna und Lorenzo zu den anderen, setzte sich auf den Stuhl, den Lorenzo ihr zurechtrückte, hörte die heiteren Stimmen, ohne dass sie verstand, was gesagt wurde. Die Worte klangen in ihren Ohren wie das Geplätscher von Wellen an einem Herbsttag, kurz bevor die ersten Stürme aufkommen. Lorenzo saß neben ihr, ohne sie zu berühren, doch die Stelle an ihrem Arm, wo vorhin seine Hand gelegen hatte, fühlte sich noch immer sehr warm an. Wie kann er nur so unbefangen reden, als wäre nichts, dachte Jessica halb bewundernd, halb enttäuscht. Gebäck wurde serviert, Wasser, Obstsäfte und Wein.
Erst als Hanna sich ans Cembalo setzte und eine fröhliche Melodie erklingen ließ, hörte Jessica seine Stimme wieder so dicht an ihrem Ohr, dass sie seinen warmen Atem spüren konnte. »Komm bald, ich werde hinter dem Pavillon auf dich warten.« Sie nickte nicht, sie senkte nur die Lider zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte. Sie hörte, dass der Stuhl neben ihr über den Steinfußboden geschoben wurde, und sah, als sie vorsichtig den Kopf hob, wie er mit raschen Schritten durch die offene Tür zur Terrasse ging und verschwand.
»Willst du noch ein Törtchen?«, fragte Avital Meschullam, Hannas jüngere Schwester, und hielt Jessica ein Silbertablett hin, auf dem kleine rosafarbene Törtchen auf einem weißen, mit blauen Ranken bestickten Tuch lagen.
Jessica schüttelte den Kopf und lächelte das Mädchen an, das fast noch ein Kind war. »Was ist das, was Hanna spielt?«, fragte sie.
»Eine Canzone alla francese«, erklärte Avital eifrig. »Wir haben sie gestern beim Dogen gehört. Aber da war sie viel schöner. Hanna spielt nicht besonders gut, obwohl sie den ganzen Vormittag geübt hat.«
Die Kleine verschwand, um anderen Gästen ihre rosafarbenen Törtchen anzubieten, und Jessica stand auf. Sie schlenderte zum Fenster und schaute hinunter auf den Kanal, dann bewegte sie sich wie zufällig zur Terrassentür. Als alle klatschten und zum Cembalo hinüberschauten, schlüpfte sie hinaus. Auf der Terrasse saßen zwei Mädchen auf einer Bank, die Köpfe zusammengesteckt, und tuschelten. Als sie Jessica sahen, blickten sie auf. Eine der beiden kannte sie, es war Florina, die Tochter von Isaac Levi, der am Rialto* ein großes Geschäft besaß und oft mit ihrem Vater zu tun hatte. Florina lächelte Jessica zu. Jessica nickte und ging schnell weiter. Sie meinte, die Blicke der Mädchen in ihrem Rücken zu spüren, und fühlte sich erst sicher, als sie um die Oleanderbüsche gebogen war und der Pavillon vor ihr lag.
Lorenzo schloss sie in die Arme. »Endlich«, sagte er und legte sein Gesicht an ihren Hals.
»Wir dürfen das nicht tun«, sagte Jessica und versuchte, ihn von sich zu schieben, doch er ließ sie nicht los. Einen Moment lang sah sie das düstere Gesicht ihres Vaters vor sich, die dunklen, unter den schweren Lidfalten kaum sichtbaren Augen, das hochgereckte Kinn mit dem grau gewordenen Bart, und sie meinte seine Stimme zu hören, Judenhasser sind sie, alles Judenhasser, diese Christen, dann gab sie auf und überließ sich Lorenzos Küssen und dem süßen Gefühl, das sie Liebe nannte, weil er es so genannt hatte.
Als Jessica später zurückging, sah sie, schon als sie um die Oleanderbüsche bog, dass Florina und das andere Mädchen nicht mehr auf der Terrasse saßen, stattdessen Herr Adamo, der Hofmeister, der die drei Töchter des bekannten Arztes Levi Meschullam unterrichtete. Jessica senkte den Kopf unter dem prüfenden Blick des alten Mannes und deutete einen Knicks an. Wie immer fühlte sie sich unbehaglich, wenn er sie ansah, ohne dass sie verstand, warum das so war. Vielleicht weil Hanna irgendwann einmal gesagt hatte, er wisse alles und sehe alles, und früher habe sie gemeint, der Ewige, gelobt sei er, müsse wohl so ähnlich sein wie Herr Adamo.
Im Salon kam Hanna auf sie zu und fragte misstrauisch: »Wo warst du so lange?«
Jessica erschrak. Ob sie etwas gemerkt hat?, dachte sie. Schnell machte sie eine unbestimmte Handbewegung zum Garten hin, dann deutete sie auf die gefüllten Vasen, die überall herumstanden. »Die Blumen«, sagte sie verlegen. »Ihr habt so schöne Blumen, und wir dürfen keine kaufen, ich meine, nicht so große Sträuße.«
Hanna blickte sie zweifelnd an, doch dann hellte sich ihr Gesicht auf und sie nickte verständnisvoll. »Ich gebe dir heute einen Strauß mit«, versprach sie. »Komm jetzt, ich will dir unbedingt von gestern Abend erzählen.«
Hanna beschrieb gerade ausführlich das besonders prachtvolle Kleid einer besonders vornehmen Dame, da sah Jessica aus den Augenwinkeln, wie Lorenzo den Salon betrat und mit leichten Schritten auf zwei junge Adlige zuging, die am Fenster zum Kanal standen und sich unterhielten.
»Hast du den Dogen gesehen?«, fragte Jessica schnell, nicht aus Neugier, sondern um ihre Verwirrung zu überspielen.
Hanna schüttelte den Kopf. »Nein, den Dogen nicht. Aber die Marquesa, von der man sagt, sie sei seine neueste Konkubine. Weißt du, was eine Konkubine ist?«
Jessica fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg, doch zum Glück brauchte sie diese Frage nicht zu beantworten, denn gerade in diesem Moment trat eine Zofe zu ihnen, knickste und sagte: »Der Diener von Herrn Shylock wartet draußen, um Fräulein Jessica abzuholen.«
Jessica stand sofort auf. Hanna brachte sie zur Tür, nahm im Vorbeigehen einen Strauß roter und blauer Blumen aus einer Vase, schüttelte das Wasser von den Stängeln und drückte ihn Jessica in den Arm. »Hier, nimm.«
Jessica umarmte die Freundin und flüsterte ihr ins Ohr: »Du musst mir übermorgen wieder eine Nachricht schicken.« Als Hanna nicht gleich antwortete, fügte sie drängend hinzu: »Bitte!« Bevor sie sich umdrehte, hob sie den Kopf, und ihr Blick traf den Lorenzos. Er lächelte ihr über den ganzen Raum hinweg zu, sie hob verwirrt den Strauß vor ihr Gesicht, dann lief sie hinaus.
Zweites Kapitel
Jehuda wartete vor dem Portal. Schweigend machten sie sich auf den Heimweg. Diesmal versuchte Jessica nicht, ein Gespräch anzuknüpfen, sie hing ihren eigenen Gedanken nach, die umso bedrückender wurden, je näher sie dem Ghetto kamen. Der Bauch der toten Katze war noch aufgequollener als am Nachmittag, und ihre Augen schimmerten jetzt, im graurosa Abendlicht, wie schmutziger Bernstein. Es darf nicht sein, dachte Jessica. Lorenzo, warum haben wir das getan? Was soll aus uns werden?
Als sie über den Ponte di San Girolamo gingen, der das Ghetto mit der Stadt verband, sagte Jehuda: »Ich muss schnell zum Herrn, damit er nicht zornig wird.«
»Geh nur«, sagte Jessica, »geh.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Und wenn er dich nicht ausdrücklich fragt, brauchst du ihm nicht zu erzählen, wo ich war.«
Er nickte ernst. Sie sah ihm nach, wie er Richtung Kontor lief und noch im Gehen den roten Hut vom Kopf nahm. Sie hob die Blumen, deren Namen sie nicht kannte, an ihr Gesicht und atmete tief den süßen Duft ein, bis ihr schwindlig wurde, dann ging sie weiter.
»Jessica«, rief eine Frau.
Jessica erschrak. Es war Rachel da Costa, die Schwiegertochter des Parnas*, eine dicke, hässliche Frau mit einem Gesicht voller Blatternarben. Ausgerechnet ihr musste sie begegnen, diesem Schandmaul, dieser Hexe, vor der sich alle jungen Mädchen fürchteten.
Die Frau blieb vor ihr stehen und betrachtete sie prüfend. »Der Blumenstrauß«, sagte sie, »ist der nicht größer, als es die Provveditori* erlauben?«
Jessica senkte demütig den Kopf und murmelte: »Ich habe ihn von meiner Freundin Hanna bekommen, der Tochter von Levi Meschullam, dem Arzt.«
Rachel da Costa runzelte die Stirn und musterte das Mädchen von oben bis unten. »Na gut«, meinte sie dann, »für heute lasse ich es durchgehen. Aber vergiss die Provveditori alle Pompe nicht. Es schickt sich nicht, dass ein jüdisches Mädchen mit einem so großen Blumenstrauß herumläuft. Verschwendungssucht passt zu ihnen, nicht zu uns.«
Jessica nickte und eilte weiter. Warum dürfen wir nicht Blumen kaufen, wie die Christen es tun?, dachte sie zornig. Warum dürfen wir nur kleine Mengen Blumen kaufen und keine Süßigkeiten, noch nicht mal Konfitüre? Verschwendung, ja, sie sehnte sich nach Verschwendung, nach bunten Farben, nach prächtigen Kleidern, nach Blumen, nach Überfluss, nach all den Kuchen und Torten, wie sie im Hause Levi Meschullams serviert wurden. Auf einmal tat es ihr leid, nichts von den rosafarbenen Törtchen gegessen zu haben, die Avital ihr angeboten hatte.
Vor dem Haus des Schächters* stieß sie fast mit Marta zusammen, der buckligen Schwester Amalias.
»Friede sei mit dir, junge Dame«, sagte Marta und legte den Kopf auf dem schiefen Hals noch schräger. Sie war von Geburt an verwachsen, das hatte Amalia erzählt.
Jessica wandte das Gesicht ab. Sie mochte diese geschwätzige Alte nicht, die sich bestimmt wieder das Maul darüber zerreißen würde, dass die Tochter des reichen Shylock hoffärtig mit einem Strauß Blumen herumgelaufen war, wie eine Dame. Das böse Geschwätz würde früher oder später auch an das Ohr ihres Vaters dringen und ihn dazu veranlassen, ihr eine seiner endlosen Moralpredigten zu halten. Sie zuckte leicht mit den Schultern, das würde ohnehin passieren, weil Rachel da Costa sie gesehen hatte. Und außerdem war es egal, ihr stand ein ganz anderer Streit bevor, ein Streit, bei dem es um Glück oder Unglück ging, um Leben oder Tod. Es konnte ihr egal sein, was Marta sagte. »Auch mit dir sei Friede«, antwortete Jessica höflich und nickte Marta zu. Sie wollte weitergehen, doch die bucklige Frau hielt sie am Ärmel fest.
»Was für schöne Blumen«, sagte sie scheinheilig und fügte, fast verschwörerisch, hinzu: »Gibt es vielleicht einen besonderen Grund für Blumen?«
Jessica spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie hatte verstanden, was Marta meinte. Wenn im Ghetto Blumen gekauft wurden, dann war es fast immer zu einer Hochzeit. Zu Hochzeiten durften auch Juden so viele Blumen kaufen, wie sie wollten. »Ach nein«, sagte sie schnell, »die Blumen sind ein Geschenk meiner Freundin Hanna, der Tochter von Levi Meschullam.« Mit einer heftigen Bewegung befreite sie sich aus dem Griff der alten Frau. »Entschuldige, Marta, ich muss nach Hause.«
Am Altwarenladen neben der Scuola Grande Tedesca* feilschten ein paar Christen mit Chaim Luzatto um den Preis von einem Tisch und vier Stühlen, die er vor seiner Tür aufgebaut hatte. Jessica blieb kurz stehen und hörte zu, dann ging sie weiter. Vor ihrer Haustür wich sie ein paar kleinen Kindern aus, die auf dem Boden herumkrabbelten, während ihre Mütter an der nahen Zisterne standen und Eimer mit Wasser füllten.
Dalila, Jessicas Ziehschwester und Dienerin, machte ihr die Tür auf. »Endlich«, rief sie. »Ich war schon ganz verzweifelt. Es wird doch bald dunkel. Was hätte dein Vater gesagt, wenn du nicht rechtzeitig nach Hause gekommen wärst? Warum gehst du so oft zu Hanna? Du weißt doch, dass er es nicht gern sieht, wenn du dich immer mit sefardischen* Juden triffst.«
Jessica drängte sich an ihr vorbei und zog die Haustür hinter sich zu. Dalilas Gerede und noch mehr der besorgte Ton ihrer Stimme brachte sie auf. Was nahm sie sich heraus? Mit welchem Recht kümmerte sie sich um Dinge, die sie nichts angingen? »Rede keinen Unsinn«, sagte sie ungeduldig. »Jehuda hat mich hingebracht und abgeholt, mein Vater war einverstanden. Hier, stelle die Blumen in den blauen Tonkrug mit den geschwungenen Henkeln.« Sie drückte Dalila den Strauß in die Hand und ließ die hellgraue Cioppa von den Schultern gleiten. Dalila bückte sich und hob sie auf.
Jessica lief die schmale Treppe hinauf zum Salon. Sie griff nach ihrem Stickzeug, das auf dem kleinen Tisch am Fenster zum Campo lag, setzte sich in den Sessel und fing an zu sticken. Dabei summte sie die Melodie der Canzone alla francese vor sich hin, die Hanna Meschullam gespielt hatte. Doch bei ihr wurde die fröhliche Melodie süß und melancholisch. Seltsam, dachte sie, selbst wenn ich glücklich bin, kann ich nie wirklich fröhliche Melodien singen. Warum wird bei mir alles so düster? Mein Vater sagt, ich hätte ein melancholisches Gemüt. Vielleicht liegt es daran, dass ich ohne Mutter aufgewachsen bin. Ein mutterloses Kind im Haus eines jüdischen Pfandleihers. Ein armes, mutterloses Kind im … Jessica ließ die Hände sinken und schaute aus dem Fenster hinaus auf den Campo, auf dem sich die Leute drängten, Frauen, die Wasser holten oder Gemüse oder Holz nach Hause trugen, Männer, die in Gruppen zusammenstanden und diskutierten, und dazwischen Christen, die entweder zu den Geldleihern kamen oder bei den vielen Altwarenhändlern etwas kaufen wollten. Jessica sah die drei Christen von vorhin. Einer der Männer schleppte den Tisch, ein zweiter drei Stühle und die Frau einen Stuhl. Chaim Luzatto hatte bestimmt ein gutes Geschäft gemacht.
»Was starrst du hinaus?«, fragte Dalila, die gerade zur Tür hereinkam, den blauen Krug mit den Blumen in der Hand. »Was ist denn los? Warum bist du so seltsam? Wie war es bei Hanna Meschullam? Hast du diesen Edelmann wiedergesehen, du weißt schon, diesen Lorenzo mit den Hundeaugen?«
»Hör auf zu fragen!«, rief Jessica. »Du bist nicht meine Mutter und nicht meine Erzieherin. Es geht dich überhaupt nichts an, wen ich getroffen habe. Nichts geht dich etwas an! Lass mich in Ruhe!« Sie sah, wie das magere braune Gesicht Dalilas sich verzog, wie ihr rechter Augapfel zur Seite glitt und sie wieder anfing zu schielen. Daran konnte man merken, wie gekränkt sie war. Jetzt würde sie stundenlang nicht mit ihr reden, das wusste Jessica, und später, beim Abendessen, hätte sie vom Weinen gerötete Augen. Arme Dalila, dachte Jessica und fügte versöhnlich hinzu: »Es war schön bei Hanna. Du siehst doch, sie hat mir Blumen geschenkt.«
Dalila war wie immer leicht umzustimmen. Sie lächelte und stellte den Strauß auf den Tisch, an dem sie normalerweise nur am Schabbat* und an den Feiertagen aßen. »Du kannst es mir ruhig erzählen«, sagte sie. »Ich habe doch selbst gesehen, wie dir dieser Lorenzo damals beim Gartenfest der Meschullams schöne Augen gemacht hat. Und seither steckst du dauernd bei Hanna.«
Jessica hob das Stickzeug wieder hoch und wandte das Gesicht zur Seite. »Er hat mich geküsst«, sagte sie und merkte plötzlich, dass sie sich mit der Nadel in die Kuppe des linken Zeigefingers gestochen hatte. Ein roter Tropfen quoll langsam heraus.
Dalila schlug erschrocken die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken. »Das darf nicht sein«, sagte sie. »Er gehört nicht zu uns. Du musst das alles ganz schnell vergessen.«
»Nein«, sagte Jessica und lutschte den Blutstropfen ab. »Nein, nein. Du verstehst das nicht. Er hat gesagt, er liebt mich. Er hat gesagt, ich sei das schönste und klügste Mädchen, das er kennt. Er liebt mich.«
»Liebe!«, sagte Dalila. »Was ist das schon? Er ist ein Christ. Ein Christ und ein Adliger, der sich seinen Spaß mit einem jüdischen Mädchen macht. Wie konntest du das nur zulassen? Er wird jetzt schon mit seinen Freunden über dich lachen. Ein Adliger!«
»Aber Lorenzo ist ein vierter Sohn«, widersprach Jessica. »Er hat selbst gesagt, dass er von seiner Familie nichts zu erwarten hat. Er müsse eine reiche Frau heiraten, hat er gesagt, um seinen Lebenswandel zu finanzieren.«
»Da siehst du’s«, rief Dalila. »Er will nur dein Geld. Jeder in der Stadt weiß, dass dein Vater reich ist, auch wenn wir nicht viel davon haben, weil er auf Bescheidenheit besteht. Aus moralischen Gründen, wie er sagt, nun ja, er ist der Herr, wir sind von ihm abhängig. Aber er wird dir nie im Leben die Erlaubnis geben, diesen Christen zu heiraten. Nie! Er hasst die Christen, weil sie uns doch verachten, weil sie uns anspucken und behaupten, wir hätten ihren Gott gekreuzigt.« Sie legte von hinten die Arme um Jessicas Schultern und drückte ihr Gesicht in die hellbraunen Haare.
Ein leichter Geruch nach Zimt stieg in Jessicas Nase, sie schloss die Augen. Schon immer hatte Dalila nach Zimt gerochen, schon als Kind, die ganzen Jahre, die sie gemeinsam in einem Bett geschlafen hatten. Nachdem Dalila in Amalias Kammer gezogen war, war es vor allem dieser Zimtgeruch gewesen, den Jessica morgens, nach dem Aufwachen, vermisst hatte.
»Jessica«, sagte Dalila leise, mit beschwörender Stimme, »Jessica, bitte hör auf, irgendwelchen falschen Träumen nachzuhängen. Du bist eine von uns, ein jüdisches Mädchen, dein Platz ist hier, im Ghetto.«
Jessica schüttelte Dalilas Arme ab und sprang auf. »Ich will aber nicht!«, rief sie. »Ich will hier raus. Schau doch aus dem Fenster. Eine Häuserreihe um einen großen Platz, sonst nichts, und das soll das ganze Leben sein? Auch ich will Gartenfeste feiern. Ich will Blumen. Ich will so viel Konfitüre essen, wie ich Lust habe. Ich will mich nicht immer von Frauen wie Rachel da Costa tadeln lassen. Ich will Bälle, ich will zum Karneval. Bin ich nicht ein junges Mädchen, schön und lebendig wie die anderen in der Stadt auch?« Sie trat einen Schritt auf Dalila zu. »Du selbst hast oft genug zu mir gesagt, dass ich aussehe wie eine von denen. Und du hast recht. Ich bin nur zufällig als Tochter eines Juden geboren, ein Irrtum der Natur, ja, so wie zuweilen in einem Wurf grauer Mäuse ein weißes Tier ist. Ja, ich bin in eine jüdische Familie hineingeboren, aber was ist, wenn mich ein Mann zur Christin macht?«
»Der Allmächtige, gelobt sei er ...«, flüsterte Dalila entsetzt. »So darfst du nicht reden, Jessica.« Wieder schlug sie die Arme um Jessica, mit einer heftigen Bewegung, als wolle sie sie festhalten, hier, im Ghetto, in diesem Haus, an dem Platz, der ihr bestimmt war. »Jessica, beruhige dich. Das geht nicht. Er ist kein Mann für dich. Ein venezianischer Adliger ohne Vermögen und Besitz, er liebt dich nicht, er liebt nur das Geld deines Vaters.«
Jessica stieß Dalila grob weg. »Fass mich nicht an!«, fauchte sie. »Du weißt nichts. Du verstehst nichts. Du weißt nicht, was Liebe ist.« Und in einer Anwandlung von Bosheit, um Dalila zu kränken und zum Schweigen zu bringen, fügte sie hinzu: »Woher sollst du es auch wissen, so wie du aussiehst ...«
Dalila wandte sich jäh um und tat, als ordnete sie die Falten des Vorhangs. Der Stoff war weich und samtig, blau mit gelben Ranken, ein Blau, das an den Stellen, auf die das Licht fiel, fast silbern aussah, wie das Meer an einem heißen Sommertag, und in den Falten fast schwarz, wie der Nachthimmel bei Neumond. Dieser Vorhang war das Schönste, was sie je gesehen hatte. In all den Jahren, seit der Herr in einem plötzlichen Anfall von Verschwendungssucht zugestimmt hatte, dass Jessica einen Salon einrichtete, hatte Dalila sich nicht sattsehen können an diesem Stoff, nie betrat sie das Zimmer, ohne unter irgendeinem Vorwand zum Fenster zu gehen und mit den Händen über den Vorhang zu streichen. Doch nun verdunkelte sich das Blau vor ihren Augen, die Ranken verschwammen und wurden zu goldenen Schlangen, die sich drohend auf sie zubewegten ...
Dalila gab sich einen Ruck, straffte die Schultern, spannte die Arme. Schluss damit, sagte eine innere Stimme, eine raue, harte Stimme, die zu keinem Menschen gehörte, den sie kannte. Schluss damit. Stell dich nicht an. Du bist ein hässliches jüdisches Mädchen, eine Waise ohne Familie, ohne Mitgift. Dich wird nie jemand heiraten, höchstens, wenn du viel Glück hast, ein armer Witwer mit kleinen Kindern. Und er wird dich nicht nehmen, weil er dich liebt, sondern weil er eine Mutter für seine Kinder braucht. Hör auf zu träumen. Jessica hat ja recht. Sie hat recht.
Mit einer raschen Bewegung schob sich Dalila die kurzen Haare hinter die Ohren. Ihr Gesicht war streng wie immer, hässlich wie immer, und ihr rechter Augapfel drehte sich nach außen. Schnell ging sie zur Tür, trat fest auf, um Trost aus ihren Schritten zu ziehen, Trost und das Bewusstsein, hier im Haus Shylocks einen Platz zu haben, an den sie gehörte. So ist es, dachte sie. So ist es. Ja, ja. Sie blickte sich nicht um, als Jessica ihr nachrief: »Dalila, warte, so warte doch! Warte, ich habe es nicht so gemeint!«
Es ist egal, wie du es gemeint hast, dachte Dalila, es geht nur darum, was wahr ist. Der Ewige, gelobt sei er, hat die Welt geordnet und jeden an seinen Platz gestellt. Wer bin ich, dass ich an seiner Weisheit zweifeln dürfte …
Sie lief die Stufen hinunter, die unter ihren Sohlen knarrten, dachte immer nur, ja, ja, so ist es, und betrat die Küche. Wortlos griff sie nach einem schmutzigen Eisentopf, nach Sand und einem Lappen. Aus einer Kanne goss sie etwas Wasser in den Topf und fing an zu scheuern. Seit Amalias langer Krankheit im letzten Winter war es ihre Aufgabe, der alten Frau Arbeiten abzunehmen, die sie selbst nicht mehr verrichten konnte. Dazu gehörte es, das Wasser aus der Zisterne herbeizutragen, die Fliesen zu putzen und die Töpfe zu scheuern und auch sonst alles zu machen, was Amalia ihr auftrug. Dalila blickte zu Amalia hinüber, die am Herd stand und offenbar gar nicht bemerkt hatte, dass sie hereingekommen war. Beim Anblick des gebeugten Rückens und der fast weißen Haare wurde sie auf einmal ganz ruhig. Ihr Mund entspannte sich, ihr rechtes Auge glitt wieder zurück an seinen Platz.
Dalila drückte fest auf den Lappen, sie hörte das Knirschen des Sandes und versank allmählich in einer gleichmäßigen, kreisenden Bewegung, die sie beruhigte. In der Küche hing ein beißender Dunst, Rauch, der bei diesem trüben Wetter schlecht abzog und ihr in den Augen brannte, bis ihr Tränen über die Wangen liefen. Das war ihr ganz recht so. Verbissen rieb sie mit dem Lappen über den schmutzigen Topfboden und dachte, ja, so ist es, so ist es, und es ist richtig so.
Amalia stand am Herd und rührte in einem großen Topf. »Rote Bohnen«, sagte sie plötzlich. »Es gibt rote Bohnen mit viel Zwiebeln, wie die Spaniolen sie essen.« Sie hatte also doch gemerkt, dass Dalila hereingekommen war, ohne dass sie sich umgedreht hatte. Nun richtete sie sich auf und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.
Dalila nickte. Ihr Kopf war über den Topf gebeugt, an dem der Maisbrei angebrannt war. Auch das passierte jetzt immer häufiger, dass Amalia etwas anbrennen ließ. Das Leben wurde schwerer hier in diesem Haus, noch schwerer, als es schon immer gewesen war. Amalia war alt geworden, sie sprach nicht mehr viel. Meist war sie in sich versunken. Ob sie daran dachte, dass ihre Tage in dieser Welt gezählt waren? Das war etwas, was Dalila sich nicht vorstellen konnte. Natürlich wusste sie, dass auch ihr Leben endlich war, aber dieses Ende war so weit weg. Arme Amalia, dachte Dalila. Arme Amalia, arme Dalila, arme Jessica. Und der Herr wurde immer missmutiger und geiziger. Eigentlich kann ich Jessica gut verstehen, schoss es Dalila durch den Kopf. Dieser Gedanke erschreckte sie so sehr, dass ihr der Topf aus den Händen fiel und mit einem lauten Krachen auf dem Boden landete.
Amalia zuckte zusammen.
Drittes Kapitel
Shylock saß in seinem Kontor am Campo di Ghetto Nuovo und beugte sich über seine Bücher. Es war die Zeit zwischen Nachmittag und Abend, und obwohl es draußen noch hell war, hatte er eine Kerze angezündet, denn er hatte den Schalter geschlossen, und die beiden Fenster neben der Klappe waren zu klein und die Gitterstäbe zu eng nebeneinander, sodass das graue Licht, das hereinfiel, zum Schreiben und Lesen nicht ausreichte. Die Kerze flackerte leicht im Windzug, der durch die Ritzen blies. Draußen auf dem Campo nahm der übliche Nachmittagslärm langsam ab und einzelne Stimmen waren zu unterscheiden. Aus dem Haus nebenan dröhnte das Schimpfen von Jacopo di Modena, dem Bäcker. Er hatte ein ungezügeltes Temperament und seine laute Stimme drang oft in Shylocks Kontor. Shylock lauschte einen Moment, aber er konnte nicht verstehen, worüber Jacopo sich aufregte, und senkte den Kopf.
Zufrieden betrachtete er die Zahlen. Keine zusätzlichen Steuern, keine neuen judenfeindlichen Abgaben konnten ihn so schnell zu einem armen Mann machen. Sein Geld vermehrte sich, sein Reichtum wuchs, der Segen des Ewigen, gelobt sei er, ruhte auf seinen Geschäften, und er war keiner von denen, die ihr Geld zum Fenster hinauswarfen. Seine Natur oder seine Herkunft hatten ihn zu einem sparsamen Menschen werden lassen, der den Wert des Geldes zu schätzen wusste.
Trotzdem war er nicht wirklich glücklich, in seinem Herzen bohrte eine unbestimmte Furcht. Wie konnte es auch anders sein? Ein Jude war nie sicher vor Nachstellungen, vor Missgunst, vor Neid und Schlimmerem. Papst Pius V.*, ausgelöscht sei sein Name, der erst seit zwei Jahren im Amt war, hatte in einer Bulle jede weitere Ansiedlung von Juden verboten. Bisher wusste man nicht, ob sich der Doge tatsächlich danach richten würde. Venedig war reich, Venedig besaß Kolonien, und das machte den Dogen mächtiger als andere Fürsten, mächtiger und unabhängiger von Papst und Kirche. Nichts war ihm wichtiger als ein gut florierender Handel. Trotzdem hatte Shylock heute Morgen am Rialto ein Gerücht gehört, dass neu einwandernde Juden, die meist aus Spanien und Portugal kamen, auf der Flucht vor der Inquisition, keine Ansiedlungsgenehmigung* mehr bekommen sollten, auch nicht hier, auf der anderen Seite des Canale di Cannareggio. Diese Juden waren häufig Marranen*, das heißt zwangsgetaufte Juden, die, trotz ihrer Taufe, in den Ländern des Westens weiterhin Verfolgungen und Demütigungen ertragen mussten. Viele lebten in der Stadt, und niemand wusste so recht, ob sie nun Christen oder Juden waren, andere jedoch waren in aller Öffentlichkeit zum Glauben ihrer Väter zurückgekehrt und freiwillig ins Ghetto Vecchio* gezogen. Und immer neue suchten Schutz in Venedig. In den letzten Tagen sollten drei Familien abgewiesen worden sein, zwei seien weitergezogen, hieß es, eine spanische Familie sei vorläufig im Ghetto Vecchio untergekommen, weil eines ihrer Kinder schwer erkrankt war.
Und was war mit den alteingesessenen Juden Venedigs, die zumeist schon seit mehreren Generationen hier in der Stadt oder in Mestre lebten? Auch sie konnten sich nie ganz sicher fühlen. Die hohen Herren richteten sich nicht nach Recht und Gesetz. Hatten sie nicht vor ein paar Jahren willkürlich die Condotta* aufgekündigt und nicht verlängert? Und im Jahr 1565 nach ihrer Zeitrechnung, das heißt im Jahre 5325 nach Erschaffung der Welt, hatten sie den Juden plötzlich und ohne Grund den Geldverleih und den Handel mit Gebrauchtwaren verboten, ein Unglück für die vielen armen Händler. Wovon sollten sie leben? Damals hatten etliche Familien Venedig verlassen, eine Familie war bis in die Stadt Safed im Heiligen Land gezogen, wie man später von einem reisenden Kaufmann erfahren hatte. Dieser Kaufmann war in Shylocks Haus zu Gast gewesen und hatte am Schabbatmahl teilgenommen. Shylock musste unwillkürlich lächeln, als er daran dachte, mit welcher Leidenschaft Dalila den Fremden nach dem Land der Väter ausgefragt hatte. Ob Kamele wirklich so groß wären und einen so hohen Höcker und einen so langen Hals hätten. Und ob sie weiß seien wie das Kamel, das auf einem Relief auf der Rückwand des Palazzo Mastelli zu sehen war.
Das Verbot des Geldverleihs und des Handels mit Gebrauchtwaren war zwar bald danach wieder aufgehoben worden, doch erst ein Jahr später war die neue Condotta in Kraft getreten, nach drei Jahren der Unsicherheit.
Und wer konnte dafür garantieren, dass es den hohen Herren nicht einfiel, den Juden die Genehmigung, in der Stadt zu wohnen und ihren Geschäften nachzugehen, wieder zu entziehen? Noch dazu jetzt, wo Venedig wieder einmal im Streit mit dem Osmanischen Reich lag. Wenn es zu einem Krieg kam, das wusste Shylock, würden die Juden die Leidtragenden sein, sie würden zusätzliche Steuern zahlen müssen und waren in Gefahr, ungebändigter Gewalt und Willkür ausgesetzt zu sein. Wenn die christlichen Herren Krieg führten, egal gegen wen, gerieten die Juden zwischen die Fronten, so war es immer gewesen und würde es wieder sein. Schlägst du meinen Juden, schlage ich deinen Juden. Der Ewige möge seinem Volk gnädig sein und Unheil verhindern. Shylock machte eine abwehrende Handbewegung und spuckte schnell über seine linke Schulter.
Was wird ihnen sonst noch alles einfallen, diesen Feinden Israels?, dachte er. Eine Verordnung nach der anderen, eine Beschränkung nach der anderen. Gut, dass Lea das nicht erleben musste. Das war bei allem, was geschah, sein erster Gedanke: Gut, dass Lea das nicht erleben muss, oder: Schade, dass Lea das nicht mehr erleben darf. In all den Jahren hatte sich das nicht geändert. Er fand sich selbst lächerlich, weil er, ein erwachsener Mann, ein Mann an der Schwelle des Alters, mit Lea sprach, wenn er allein war, als wäre sie noch am Leben. Dies war die einzige Schwäche, die er sich zugestand. Er hob die Augen zum Fenster, zu dem grauen, vergitterten Himmelsquadrat. »Lea«, murmelte er und meinte, seine Frau zu sehen, nicht blass und schmal wie vor ihrem Tod, sondern gesund und blühend. »Gut, dass du das nicht mehr erleben musst. Die Zeiten sind schwer, ich werde von meinen Sorgen erdrückt.«
Wie schön Lea doch war, und wie ähnlich Jessica ihr sah, die gleichen hellbraunen Haare, die gleichen großen grauen Augen mit den langen dunklen Wimpern, die gleiche schmale Nase, nicht zu lang und nicht zu kurz, die gleichen vollen Lippen über dem gut geformten, runden Kinn, die gleiche rosige Haut, die er bei sich immer mit der Farbe eines jungen Granatapfels verglich, obwohl er nicht wusste, wie junge Granatäpfel tatsächlich aussahen. Trotzdem wirkte Leas Gesicht zarter, weniger fordernd als Jessicas. Bescheidener, dachte er. Sie war ein armes Mädchen gewesen, und hätte er, Shylock, sich nicht bereit gefunden, sie ohne Mitgift zu nehmen, hätte sie vielleicht nie geheiratet.
Shylock fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es war nun schon so lange her, dass sie ihn verlassen hatte, keine zwei Jahre nach Jessicas Geburt, dennoch verging kein Tag, an dem er nicht an sie dachte, an dem er nicht mit ihr Zwiesprache hielt. Die wenigen Jahre mit ihr waren glücklich gewesen, Lea hatte Fröhlichkeit in sein Leben gebracht, Lachen und Farbe. Die Jahre, die er vor ihr gelebt hatte, ohne sie, waren in seiner Erinnerung traurig und trostlos gewesen, die Farben grau und blass und verschwommen, als hätte jene Zeit zum Leben eines anderen Menschen gehört, eines Fremden, von dessen Schicksal er beiläufig erfahren hatte und demgegenüber er im Nachhinein nur so etwas wie Mitleid und Erbarmen empfinden konnte. Als Lea in sein Leben getreten war, als er sie das erste Mal gesehen hatte, war es ihm vorgekommen, als sei er neu geboren worden, ein neuer Mensch, ein anderer Mensch. Vielleicht war es ja tatsächlich so gewesen. Der alte Shylock, einziger Sohn eines armen englischen Flüchtlings und einer noch ärmeren Jüdin aus Mestre, war zu Staub zerfallen, ein neuer Mensch auf die Welt gekommen, ein Löwe Judas. Ein starker Mann, ein glücklicher Mann, der morgens aufstand und dem Herrn mit freudigem Herzen für das Geschenk des Lebens dankte. Obwohl die Zeiten schwer gewesen waren für Juden, auch in jenen Jahren.
Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.