Immerhin hatte auch jemand an Blumen gedacht. Als die tollen Tage von Ruhpolding ein Ende gefunden hatten, da trug Magdalena Neuner neben ihren Skiern auch einen dicken Strauß roter Rosen auf dem Arm. Und dann war in der trüb verregneten Chiemgau Arena die Zeit gekommen, Danke zu sagen. Ein Sponsor hatte dafür weithin sichtbar ein gewaltiges Transparent über den Aufsprunghügel der Schanze der mondänen Anlage im Miesenbacher Tal spannen lassen. »Danke Magdalena« stand darauf über Magdalena Neuners lächelndes Konterfei geschrieben. Claus Pichler, Ruhpoldings Bürgermeister und Chef des Organisationskomitees der Biathlon-Weltmeisterschaft drückte Neuner eine Akkreditierung auf Lebenszeit für die kommenden Wettbewerbe in seiner Gemeinde in die Hand. Verbunden mit dem Dank für all die schönen Stunden, die die wohl beste Biathletin aller Zeiten den vielen Fans im Chiemgau beschert hatte. Die Türen im erklärten Mekka der Skizweikämpfer würden ihr und »den hoffentlich vielen Neuners« immer offen stehen. Da wollte sich auch Magdalena Neuner selbst nicht lumpen lassen. Natürlich griff auch die Wallgauerin zum Mikrophon. Um den Unentwegten zu danken, die trotz der unwirtlichen Bedingungen auf der Tribüne geblieben waren. Stellvertretend für die vielen Menschen, die ihr bei dieser Weltmeisterschaft, wie in all den Weltcupjahren in Ruhpolding so viel Zuneigung gegeben hatten. »Ich kann mich nur bedanken, dass ihr mich immer so unterstützt habt«, sagte Neuner mit merklich feuchten Augen, »auch wenn ich euch nicht immer jeden Wunsch erfüllen konnte.«
Da trat plötzlich auch in den Hintergrund, dass diese letzte große Bühne ihrer kurzen aber umso heftigeren Karriere sportlich nicht ganz den rauschenden Ausklang mit sich gebracht hatte, den viele – natürlich auch Neuner selbst – gerne erlebt hätten. Im abschließenden Massenstart schlitterte die 25-Jährige irgendwo mit dem Feld über die Ziellinie. Als Zehnte des Tages, fernab von der norwegischen Weltmeisterin Tora Berger, die sich auf der Schlussrunde gegen ihre hartnäckigsten Verfolgerinnen Marie-Laure Brunet (Frankreich) und Kaisa Mäkäräinen (Finnland) durchgesetzt hatte. Es blieb verhaltener Applaus statt der Ovationen, die die Rekordweltmeisterin so oft hatte genießen dürfen. Und am Ende war Neuner einfach nur erleichtert, dass diese Tage auch für sie Vergangenheit waren. »Es war eine tolle WM«, betonte sie, »aber ich bin froh, dass es jetzt vorbei ist«. Die knapp zwei Wochen in Ruhpolding hatten auch an ihren Nerven kräftig gezehrt. Und das lag weniger an dem Mammutprogramm von sechs Rennen, das der Liebling der deutschen Wintersportfans unter dem Zirmberg zu absolvieren hatte. Der gewaltige WM-Trubel hatte Neuner schwer zugesetzt. Natürlich hatte der Deutsche Skiverband (DSV) einiges dafür getan, um seine Athleten vor dem schlimmsten Wirbel zu schützen. Ganz für sich im abgelegenen Landhotel Maiergschwendt durften sich Neuner und Co. auf ihre Einsätze vorbereiten. Sponsortermine, auch Fotoshootings wie das für ein großes Sportmagazin und auch die Pflichtbesuche nach Medaillengewinnen im deutschen Haus wurden auf ein erträgliches Minimum beschränkt. Und doch war Neuner letztlich am Ende ihrer Kräfte. »Bei mir ist die Luft raus«, sagte sie, »das kann sich keiner vorstellen, wie brutal der Druck ist – vor allem wenn man Magdalena Neuner heißt.«
In der Tat waren diese größten Welttitelkämpfe der Biathlon-Geschichte vor allem Neuner-Festspiele gewesen. Kaum ein Fan, der nicht mit Neuner-Fähnchen oder -Schal ausgerüstet gewesen wäre. Kaum ein Transparent, das nicht von einer Grußbotschaft an die scheidende Ausnahme-Athletin geziert gewesen wäre. So wie bei jenem jungen Mädchen, das sich ein Plakat mit der, von Herzen verzierten Aufschrift »Magdalena grüßt Magdalena – danke für alles« auf den Rücken gepinnt hatte. Und auf der Anlage selbst brachen jedes Mal Jubelstürme los, wenn die blonde Bayerin in Erscheinung trat. Zu Beginn der großen Tage in Ruhpolding hatte sie die große Last der öffentlichen Liebe noch schlicht weggelächelt. Während sich die Konkurrenz vor den Erwartungen wegduckte, bekräftigte Neuner noch einmal die hohen Ziele, die sie über die Saison hinweg immer wieder formuliert hatte. Optimale sechs Medaillen, da hatte sie sich festgelegt, wolle sie in den sechs Wettbewerben vor eigenem Publikum holen. Selbst Chefcoach Uwe Müssiggang wollte da nur den Hut ziehen: »Ich war schon immer fasziniert, wie klar Magdalena ihre Ziele formuliert hat. Andere würden sich das vielleicht nicht trauen, weil sie denken, dann würde der Druck zu groß und der Rucksack, den sie mitschleppen, zu schwer. Für Lena war das nie ein Rucksack, der sie belastet hat, sie ist da ganz unkompliziert.«
Und das Unternehmen sechs Mal Edelmetall begann ja dann auch ganz verheißungsvoll. In der Mixed-Staffel leistete sich Magdalena Neuner zwar mit insgesamt drei Fehlern wie Startläuferin Andrea Henkel leichte Wackler am Schießstand. Doch in der tiefen, von der Märzsonne aufgeweichten Spur zeigte sie schon einmal ihre Klasse und lief als Dritte bis auf gut 18 Sekunden an das führende Quartett aus Norwegen heran. Keine überragende, aber doch eine gute Ausgangsposition für Andreas Birnbacher. Und der Lokalmatador legte einen entfesselten Auftritt auf seiner Heimanlage hin. Schockte die Konkurrenz mit makellosen Schießeinlagen und war auch auf der Strecke die Nummer eins seiner Runde. Als der Schlechinger ins Ziel zurückkam, da stand für Schlussläufer Arnd Peiffer ein unfassbares Polster von rund einer Minute auf der Uhr. Das sich allerdings als ein wenig trügerisch erweisen sollte. Denn die obligatorischen Kontrollen der Trefferbilder an der Schießanlage zeigten, dass Norwegens Altmeister Ole Einar Björndalen irrtümlich ein Fehler angelastet worden war – der erfolgreichste Biathlet der Geschichte hatte sogar eine Strafrunde absolvieren müssen. Die Jury entschied schnell, dass das Missgeschick mit einer Zeitgutschrift von knapp 30 Sekunden für die Extrameter und einen überflüssigen Nachlader auszugleichen war. Doch diese Erkenntnis war es nicht, die Peiffer und damit das deutsche Quartett aus der scheinbar sicheren Goldspur riss. Der junge Hoffnungsträger aus Clausthal-Zellerfeld hatte schlicht nicht mit der grellen Sonne gerechnet, die auf seiner Runde aus denkbar ungünstigem Winkel auf den Schießstand fiel. Im Gegensatz zu den schärfsten Rivalen hatte sich der 24-Jährige nicht mit einer Sichtblende ausgerüstet. Vor allem das Stehendschießen wurde für ihn zum kapitalen Blindflug. »Es war eigentlich reines Glück, dass ich überhaupt etwas getroffen habe«, befand er später schwer frustriert. Peiffer kam mit einer Strafrunde davon. Doch auch die war zu viel, um Norwegens Ausnahmekönner Emil Hegle Svendsen und den überraschend starken Slowenen Jakov Fak in die Schranken zu weisen.
Immerhin: Es blieb die Bronzemedaille. Was unter anderen Umständen wohl als großer Erfolg bewertet worden wäre in einem Wettbewerb, in dem mindestens zehn bis zwölf Nationen als heiße Medaillenanwärter eingestuft worden waren. Beim Pechvogel selbst wollte ausgelassene Freude über das erste Edelmetall in Ruhpolding allerdings nicht aufkommen. Dass die BILD-Zeitung dann auch noch spottete »Panne-Mann verballert Lenas erstes Gold« dürfte Peiffers Laune nicht eben besser gemacht haben. Neuner selbst sprang dem unglücklichen Teamkollegen zur Seite und nutzte die erste Pressekonferenz zu einer Breitseite gegen den Berichterstatter. »Die Leute sollen sich wirklich überlegen, was sie schreiben«, wetterte sie, »der Arnd hat einen tollen Job gemacht und Bronze gerettet. Und außerdem ist es nicht mein Gold, sondern es geht einzig und alleine um die Mannschaft.« Die scheidende Biathlon-Königin trauerte dem entgangenen Gold keineswegs nach – im Gegenteil, sie hatte mit der ersten Plakette von Ruhpolding sogar eine Lücke in ihrer Trophäensammlung geschlossen. »Es ist meine erste Bronzemedaille bei einer WM, das ist doch toll.« Sprach’s und schickte eine Mahnung an die so erwartungsvolle deutsche Öffentlichkeit hinterher. »Bei der Siegerehrung habe ich gesehen, wie ausgelassen sich die Slowenen über Silber gefreut haben«, sagte Neuner, »daran sollte sich vielleicht manch einer mal ein Beispiel nehmen.«
Und Magdalena Neuner wusste ja nur zu gut, dass ihre wohl größte Chance auf einen Titel bei dieser Heim-WM unmittelbar bevorstand. Von den acht Sprintrennen des Winters hatte die Wallgauerin bis dahin atemberaubende sechs gewonnen. Selten hatte eine Athletin eine einzelne Disziplin derart deutlich dominiert. In Ruhpolding allerdings schwebte nun ein kleiner Unsicherheitsfaktor über Neuners Spezialdisziplin: Das milde Wetter. Nicht wenige hatten den späten WMZeitpunkt kritisiert. Stephane Bouthiaux, Frankreichs Männertrainer und damit Coach des neuen Überfliegers Martin Fourcade, reihte sich in den Kreis der Kritiker ein. »Ich habe absolut kein Verständnis für die IBU«, wetterte der Franzose in Richtung Weltverband, »wie kann ich im März eine WM in Mitteleuropa machen. Faire Wettbewerbe sind so unmöglich.« Bouthiaux` Ahnung: Die angegriffene Spur werde sich im Verlauf eines Rennens derart verschlechtern, dass Athleten mit höherer Startnummer chancenlos sind. Wolfgang Pichler, der knorrige Ruhpoldinger, der seit Sommer die Geschicke von Russlands Frauen lenkte, hatte derweil eine ganz andere Befürchtung. Was wäre, wenn der Nachmittagsschatten unter dem Zirmberg die Temperaturen vielleicht doch wieder in den Bereich des Gefrierpunkts absinken lässt? Wären auf einer vereisenden Strecke nicht Läufer mit höherer Startnummer im Vorteil? »Du kannst hier die richtige Karte ziehen oder du bist der Depp«, befand er ziemlich lapidar.
Beim Sprint der Frauen schlossen sich die großen Verbände dann doch der französischen Ahnung an. Die Favoritinnen ließen sich allesamt im Vorderfeld eingruppieren. Am spätesten noch Magdalena Neuner, deren Nummer 29 sich allerdings als echter Vorteil erwies: Sie hatte auf der Schleife, die die Veranstalter sogar mit Brezensalz gepflegt hatten, im Blick, wie es ihren Konkurrentinnen erging. Und so wusste sie auch vom kleinen Missgeschick von Darja Domratschewa, ihrer großen Widersacherin dieser Weltcup-Saison. Die Weißrussin hatte sich am Schießstand zwar keinen Fehler erlaubt, aber sie hatte Probleme mit ihrer Waffe, die sie wertvolle Sekunden gekostet hatten. Der Schützling des deutschen Trainerfuchses Klaus Siebert war über die Saison hinweg die einzige Läuferin gewesen, die Neuner auch in der Spur in schwere Bedrängnis bringen konnte. Nach ihrem Patzer war klar: Mit zwei Mal »Null« wäre der Weg zum Weltmeistertitel frei. Und Magdalena Neuner tat, was von ihr gefordert war. Ohne Fehler brachte sie die beiden Schießeinlagen hinter sich und bescherte den 28.000 Biathlon-Fans in der restlos vollgepackten Arena ihren ersten Glücksrausch. Der Jubel, als die 25-Jährige dann auch tatsächlich mit gut 15 Sekunden Vorsprung auf Domratschewa und sogar 37 Sekunden auf die ukrainische Überraschungs-Dritte Vita Semerenko über die Ziellinie rauschte, dürfte noch im nahe gelegenen Salzburg zu hören gewesen sein. Und selbst Wolfgang Pichler, der im Vorfeld noch gestichelt hatte (»Hier werden Medaillen ganz schwer hergehen«) verbeugte sich tief vor der nun alleinigen Rekordweltmeisterin. »So a varreckts Luder«, entfuhr es dem 57-Jährigen mit breitem Grinsen. Ein höheres Lob ist aus bayerischem Mund kaum zu bekommen. Natürlich war auch der zum Champions Park umfunktionierte Kurpark im Herzen der 6800-Seelen-Gemeinde voll gepackt, als sich Neuner wenige Stunden später ihre elfte Goldmedaille um den Hals hängen lassen durfte. Rund 5000 Menschen verwandelten den sonst so beschaulichen Platz in ein beeindruckendes schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer.
Und natürlich witterte die verzückte Fangemeinde die Chance auf mehr. Denn der Sprintsieg bescherte Magdalena Neuner ja auch eine glänzende Ausgangsposition für die bereits Tags darauf wartende Verfolgung. Wie es gehen könnte, machte dem deutschen Liebling der Massen schon einmal der Franzose Martin Fourcade vor, der als erster Sprint-Weltmeister überhaupt auch das folgende Jagdrennen für sich entscheiden konnte. Der Ausnahmeläufer leistete sich sogar satte vier Schießfehler. 600 Extra-Meter in der Strafrunde hatte er sich damit also eingehandelt, doch am Ende reichte die Kraft immer noch, um den schwedischen Routinier Carl-Johan Bergman locker nieder zu spurten.
Bei den Frauen deutete ziemlich lange alles auf eine noch größere Demonstration der Stärke hin. Denn auch Magdalena Neuner behielt in der Verfolgung lange das Heft fest in der Hand. Ein Fehler beim zweiten Schießen war zu verschmerzen, weil auch Domratschewa patzte. Und als die Weißrussin beim dritten Besuch am Schießstand wieder eine Scheibe stehen ließ, da war der Goldhauch in der Arena schon wieder spürbar. Doch diesmal blieb das ganz große Happy-End aus. Eine Strafrunde wäre für Neuner beim letzten Schießen wohl zu verkraften gewesen. Doch gleich das erste Projektil verfehlte das Ziel derart deutlich, dass der Trainerstab um Frauen-Bundestrainer Gerald Hönig schon ein ähnliches technisches Missgeschick wie zum WMAuftakt bei Ole Einar Björndalen witterte. Aber die Wallgauerin hatte beim Anlegen wohl schlicht zu viel Druck auf den Abzugshebel gebracht und den Schuss zu früh ausgelöst. Noch eine zweite Scheibe blieb schwarz. Und diesmal war es Domratschewa, die die Gunst der Stunde nutzte. Die Weißrussin behielt die Nerven und als Neuner mit 13 Sekunden Rückstand aus der Strafrunde zurück auf die Strecke lief, da ahnte sie schon, dass dieser Tag kein goldenes Ende nehmen würde. »Dafür ist Dascha eine zu gute Läuferin«, sagte sie. Auf der Schlussrunde nahm die 25-Jährige deshalb schon lieber Fahrt heraus, um Kräfte zu sparen für die noch strapaziösere zweite WM-Hälfte. Das ganz große Gefühlskino durften diesmal jedoch andere genießen. Domratschewas Coach Klaus Siebert war 1979 in den Farben der DDR selbst der erste Weltmeister von Ruhpolding. Was er als Aktiver geschafft hatte, das blieb ihm als Coach über zwölf Weltmeisterschaften hinweg versagt. Ob als Privattrainer von Ricco Groß oder als Chefcoach in Österreich, China und nun eben Weißrussland – einen Weltmeister produzierte der Sachse, der erst Monate zuvor von einem Krebsleiden geheilt worden war, nie. Bis zu diesem Moment, in dem Darja Domratschewa ausgerechnet an der Stätte seines eigenen sportlichen Märchens triumphierte. »Das ist schon ein Traum«, schwärmte Siebert mit feuchten Augen.
Und Magdalena Neuner? Die Frau, die sogar von den internationalen Fangemeinden gefeiert wurde, haderte im Ziel zwar ein wenig mit dem letzten Stehendschießen: »Die zwei Fehler ärgern mich schon ein bisschen.« Doch den Frieden hatte sie mit Silber schnell geschlossen. »Ich habe jetzt einen kompletten Medaillensatz gewonnen, das ist doch super«, sagte sie. Sprach`s und genoss ein bisschen Auszeit von der Weltmeisterschaft. Zur Halbzeit hatte der Deutsche Skiverband einen Familienabend angesetzt, einer Party, bei der die Athleten im Kreis ihrer Lieben für ein paar Stunden Abstand vom strapaziösen WM-Alltag nehmen sollten. Männer-Bundestrainer Fritz Fischer wurde dabei an so ziemlich allen Instrumenten auffällig, derer er habhaft werden konnte. Neuner versuchte sich dagegen spektakulär gemeinsam mit Freundin und Zimmerkollegin Miriam Gössner als Sängerin. Was eine schöne Einstimmung war, auf die Dinge, die bei dieser WM noch kommen würden. Allen voran auf den Wettbewerb, der ihr in den sechs Jahren im Weltcup am meisten zu schaffen gemacht hatte: den Einzelwettbewerb.
So viel hatte Magdalena Neuner schon gewonnen, doch zu einer Medaille bei einem Großereignis hatte es auf diesen verflixten 15 Kilometern noch nie gereicht. Auch im Weltcup fällt ihre Bilanz in dieser Disziplin, die Schießfehler mit einer Strafminute so heftig ahndet, vergleichsweise bescheiden aus. Nur ein einziges Mal, in Antholz 2010 bei der Generalprobe für die Olympischen Spiele in Vancouver grüßte das schönste Lächeln des Weltcups nach einem Einzelwettbewerb von der höchsten Stufe des Siegertreppchens. Und nun sollte gerade hier also zumindest eine Medaille herausspringen. Was Mut machte: Auch auf der langen Strecke hatte Neuner, die 2009 sogar schon einmal die kleine Kristallkugel in dieser so aufreibenden Disziplin für sich entschieden hatte, in dieser Abschiedssaison ihre Qualität bewiesen. Bei beiden Auflagen, in Östersund und Nove Mesto, brachte sie es immerhin auf Platz drei. »Ich weiß, dass ich es kann«, war sich Neuner sicher.
Alles gerichtet also eigentlich für einen weiteren WM-Feiertag. Die Sonne strahlte über der Chiemgau Arena, die ein weiteres Mal mit 26.000 Zuschauern fast aus den Nähten platzte. Auch die Strecke präsentierte sich so gut wie nie bis dahin in den tollen Tagen von Ruhpolding. Doch es deutete sich ernüchternd früh an, dass Neuners großes Medaillenmärchen an diesem Nachmittag nicht fortgeschrieben werden würde. Gleich beim ersten Schießen ließ die Wallgauerin zwei Scheiben stehen. Und fügte sich damit ziemlich nahtlos ins Bild des deutschen Teams ein. Auch Andrea Henkel und Tina Bachmann patzten bei dieser ersten Liegendeinlage zweimal, nur Miriam Gössner kam zunächst mit einem Fehler davon. Da war es auch ein schwacher Trost, dass es Darja Domratschewa noch schlechter ergangen war – der Weißrussin blieb nach vier Fehlern nicht einmal mehr ein Hoffnungsschimmer. Was war geschehen? Die Windverhältnisse am Schießstand hatten sich nach dem Anschießen vor dem Start entscheidend verändert. Natürlich haben die Betreuer die Athletinnen auf der Strecke auf die drehenden Luftbewegungen hingewiesen. Passierte es im falschen Stil, wie Magdalena Neuner später anmerkte? »Die Trainer haben eine gewisse Nervosität verbreitet«, erklärte sie, »so etwas überträgt sich natürlich auch einmal auf die Athleten.« Wie auch immer – in jedem Fall zogen Neuner & Co. beim Anblick der Windfähnchen offenkundig die falschen Schlüsse. Und mussten sich dafür später ihrerseits Kritik von den Übungsleitern gefallen lassen. »Mich wundern die Fehler schon«, merkte Frauen-Bundestrainer Ricco Groß an, »die Verhältnisse waren nicht leicht, aber die Läuferinnen sind alle so erfahren, dass man von ihnen eigentlich schon verlangen kann, auf diese Situation richtig zu reagieren.«
Und so hatte man eben schon mit dem ersten Schießen gehörig Druck auf die eigenen Schultern gebracht. Magdalena Neuner kämpfte verbissen. Gehörte in der Spur wieder zu den schnellsten, bei der zweiten Schießeinlage stand immerhin die Null. Was den Horizont angesichts von rund einer Minute Rückstand auf Platz drei zumindest noch leicht in Bronze schimmern ließ. Daran änderte auch nicht viel, dass Neuner beim dritten Besuch am Schießstand erneut ein Ziel verfehlte. Die Amerikanerin Susan Dunklee, die sich mit der Startnummer eins (»Ein beängstigendes Gefühl, so ein Rennen vor so vielen Leuten zu eröffnen«) fast unbemerkt im Spitzenfeld festgebissen hatte, hatte der Deutschen immer noch nur gut eine Minute voraus. Ein makelloses viertes Schießen und Neuner wäre mit dem Rückenwind des leise Hoffnung schöpfenden Publikums wohl wieder in den Medaillenkampf zurückgekehrt. Die 25-Jährige riskierte viel und verlor alles: Drei Scheiben blieben stehen. Auf der Schlussrunde blieb nicht mehr als Schadensbegrenzung. Während sich Tora Berger mit nur einem Fehler ihre zweite Goldmedaille in Ruhpolding nach dem Gewinn der Mixed-Staffel sicherte – die Norwegerin setzte sich vor der Französin Marie-Laure Brunet und Helena Ekholm (Schweden) durch, die sich ebenfalls nur je eine Fahrkarte geleistet hatten. Neuner blieb Platz 23, schlechter war sie im gesamten Winter nie dagestanden. Und auch ihre Teamkolleginnen konnten an diesem verkorksten Tag nicht entscheidend in die Bresche springen, Andrea Henkel (4 Fehler) stand als 20. noch am besten da. So tief auf den Ergebnislisten hatte man deutsche Läuferinnen bei einer WM seit zweieinhalb Jahrzehnten nicht mehr suchen müssen. Und natürlich hatte die Abfuhr auch an einer so ausgemachten Frohnatur wie Neuner gezehrt. In den Minuten danach präsentierte sich die Wallgauerin, die ihren Traum vom sechsfachen Edelmetall in Ruhpolding so unsanft begraben musste (»Hört sich blöd an, aber mir ist es lieber so als Vierte«) merklich gereizt. Zwei Tage danach erklärte sie, die ausgegebenen sechs Medaillen seien doch vor allem das gewesen, was die Reporter gerne hören wollten, »ich muss mir nichts mehr beweisen«. Spätestens hier konnte man ahnen, dass die Last, das Gesicht der größten Biathlon-WM aller Zeiten zu sein – am Ende hatten atemberaubende 240.000 Menschen die elf Wettbewerbe verfolgt – eben auch an einer ausgemachten Frohnatur nicht spurlos vorbei gehen würde.
Doch wie hatte sich dieses Einzel-Debakel auf das Team ausgewirkt? Kollektive Verunsicherung oder vielleicht doch ein Jetzt-erst-Recht-Gefühl für die so prestigeträchtige Staffel am vorletzten WM-Tag? Aus der bis dato so unglücklich geschlagenen Männer-Abteilung gab es immerhin Rückenwind. Schlussläufer Arnd Peiffer, Andreas Birnbacher & Co. hatten sich tags zuvor nur den illustren Ensembles aus Norwegen und Frankreich geschlagen geben müssen und dem Deutschen Skiverband eine viel umjubelte Bronzemedaille beschert. Und die Frauen? Wollten es nun zumindest besser machen als im Saisonverlauf, als man das Podest in drei Anläufen stets verfehlte. Die Trainer hatten sich dabei eine veränderte Taktik ausgedacht. Anders als etwa ein Jahr zuvor in Sibirien sollte Magdalena Neuner nicht als Schlussläuferin, sondern nach der soliden Tina Bachmann bereits an Position zwei starten. Die dahinter steckende Idee war leicht zu erraten: Man wollte diese Staffel aus einer Position der Stärke von vorne gestalten und die vermeintliche Wackelkandidatin Miriam Gössner als dritte Läuferin mit einem möglichst großen Polster auf die Runde schicken.
Und die Sache ließ sich zunächst ja auch gar nicht schlecht an. Bachmann leistete sich nur einen winzigen Nachlader beim ersten Schießen und legte auf der Strecke eine bärenstarke Vorstellung hin. Praktisch zeitgleich mit der französischen Vorzeigeläuferin Marie-Laure Brunet kehrte sie ins Ziel zurück. Beste Voraussetzungen also eigentlich für Neuner. Sie übernahm zwar in der Spur erwartungsgemäß sofort das Kommando. Doch schon beim ersten Schießen zeigte sich, dass ihr die Sicherheit der ersten WM-Hälfte abhanden gekommen war. Drei Projektile rauschten am Ziel vorbei. Ausgerechnet im Liegendschießen – jener Disziplin also, in der Neuner mit einer Trefferquote von 91 Prozent in dieser Saison zu den stärksten der Szene zählte. Das verlorene Terrain auf die führenden Teams aus der Slowakei und Frankreich hatte Neuner bis zur Rückkehr in den Schießstand schon wieder herausgelaufen. Dort allerdings unterlief ihr ein folgenschwerer Fehler. Statt im gewohnten Tempo zügig in die Anlage einzufahren, schlitterte Neuner hinter der betont langsamen Anastasia Kuzmina in den Stand. Als die 25-Jährige das Gewehr schließlich anlegte, war ihr Puls bereits unter jene Regionen abgesackt, in denen sie die Schießübungen normalerweise absolviert. Die Folge ist das berüchtigte Muskelzittern, das die Biathleten »Nähmaschine« nennen. »Eigentlich hatte ich von Beginn an eine«, sagte sie. Vier Fehler waren die Folge. Neuner musste in die Strafrunde, und das war ein Handicap, das auch für eine Ausnahmeläuferin nicht wettzumachen ist. Sie lief zwar bis zur Erschöpfung, am Ende schickte sie Gössner aber doch statt mit einem dicken Polster mit knapp elf Sekunden Rückstand auf die Runde.
Doch die 21-jährige Garmisch-Partenkirchenerin zeigte im bestmöglichen Moment, dass in ihr eben doch weit mehr steckt als eine bis dato unauffällige WM vermuten ließ. Mit zwei Nachladern beim ersten Schießen blieb sie der führenden Anais Bescond immerhin auf der Spur. Bei der Rückkehr an den Schießstand musste sie im Gegensatz zur zweimal patzenden Französin nur eine Extra-Patrone in Anspruch nehmen. Staunend verfolgten die 28.000 euphorisierten Fans im Stadion wie Gössner Schlussläuferin Andrea Henkel als Führende ins Rennen schickte. 17,5 Sekunden Vorsprung waren eine Vorgabe, die sich die Thüringerin nicht nehmen ließ. Mit all ihrer Routine räumte die 34-Jährige alle zehn Scheiben direkt ab. Die Schlussrunde wurde dank des Sicherheitsabstands zu den Verfolgern aus Frankreich und Norwegen zum großen Triumphzug. Selbst Männer-Bundestrainer Fritz Fischer ging auf der Strecke vor der vorbeigleitenden Henkel auf die Knie, die schließlich mit hoch erhobener Deutschland-Fahne das goldene Abschiedgeschenk für die scheidende Teamkollegin perfekt machte.
Und selbst Bundestrainer Uwe Müssiggang fand es eine nette Fügung, dass ausgerechnet die Vorläuferin bei diesem Goldcoup gepatzt hatte. »Die Lena hat so viele Rennen für uns gewonnen«, sagte der Medaillenschmied des DSV, »heute haben es einmal die anderen für sie gemacht. Das ist auch ein schönes Zeichen für die Zukunft.«
Wer hätte da schon widersprechen wollen.
Im Februar 2012, kurz vor ihrer finalen Weltmeisterschaft in Ruhpolding, gab Magdalena Neuner ein langes Interview. Im Zeitgeist-Lifestyle-Magazin »Fit for fun« reflektierte sie noch einmal über ihre Karriere und sagte: »Ich wollte nie berühmt sein. Ich wollte Olympiasiegerin werden.« Freilich, das war womöglich etwas naiv gedacht. Denn natürlich bedingt das eine das andere, sportlicher Erfolg sorgt oft für Ruhm, vor allem in Boom-Sportarten wie dem Biathlon, und wenn man dann noch so aussieht und auftritt und für jedermann sympathisch rüberkommt wie Magdalena Neuner, dann erst recht.
Wer Magdalena Neuner in den fünf Jahren ihrer Welt-Karriere beobachtete, zwischen den ersten WM-Titeln 2007 und dem Karriereende 2012, der konnte feststellen, dass es Neuner tatsächlich selten von sich aus ins Rampenlicht getrieben hat. Sie nahm die Termine für die Medien hin, sie akzeptierte, dass es Teil des Geschäfts war und dazugehörte. Sie vermittelte aber nie das Gefühl, das wirklich zu brauchen. Manchmal war sie mit mehr Begeisterung dabei, manchmal mit weniger.
Und einmal, als sie vor einem Kamera-Objektiv stand und das Blitzlicht aufflackerte, da fing sie auch hemmungslos zu schluchzen an, weil sie in dem Moment einfach gar nicht wollte. Das war 1991 in Wallgau. Als vierjähriges Mädchen, als Model für den örtlichen Fremdenverkehrsverband.
Für den Tourismus in Wallgau begann damals gerade eine Blütezeit. Deutschland war gerade wiedervereinigt, und Hansjörg Zahler, der Bürgermeister, kann sich noch gut an die Szenen erinnern, als die ersten Urlauber aus dem Osten angekommen waren. Wie sie von Norden auf der B11 vom Walchensee herkamen, über die Kuppe unmittelbar vor der Ortseinfahrt, und wie sich dann die ganze Schönheit der weiten Isar-Ebene Richtung Karwendel und Werdenfels vor ihnen auftat. »Zeitweise ist auf der Straße nix mehr vorwärts gegangen«, sagt Zahler. »Auf so ein Panorama waren die nicht eingestellt, die waren fix und fertig.« Für die Neuankömmlinge war es so etwas wie der Blick in das gelobte Land.
Noch gewaltiger ist der Blick vom Krepelschrofen. Der Krepelschrofen ist ein kleiner Buckel gleich im Norden von Wallgau, 1160 Meter hoch, kein Hausberg, eher ein Haushügel. Da hinauf geht ein gemütlicher Wanderweg, von oben sieht man die Häuser, die Höfe, die Kirche von Wallgau. Real existierender Postkartenkitsch, wie er idyllischer nicht sein kann. Von hier aus betrachtet wirkt der Ort noch verwurzelter in das oberbayerische Erdreich als eh schon, und wer dann länger dort oben steht und nachdenkt, könnte meinen, dass es Wallgau vermutlich schon seit Anbeginn der Zeit gab, seit der Schöpfung der Welt, und dass das Dorf dem lieben Gott so gut gefiel, dass er daraufhin als passend schöne Kulisse ringsherum die Berge auftürmte, die saftig grünen Wiesen ausbreitete und einen kleinen Graben für das Rinnsal Isar aushob.
Damals jedenfalls, nach der Öffnung der Grenzen und der Wiedervereinigung, blühte der Tourismus auf in dem kleinen Dorf, und deswegen wollte die Gemeinde auch ihren eigenen Werbeprospekt erneuern. Mit Bildern vom Ort, von den Menschen und mit Bildern von Kindern in Tracht. Dabei kamen sie auch auf die kleine Magdalena von der Familie Neuner.
In Wallgau kannte man die Neuners, aber in Wallgau kannten sich eh alle, das tun sie auch heute noch. 1400 Einwohner, eine enge Dorfgemeinschaft, fast jeder irgendwo aktiv, ob bei der Freiwilligen Feuerwehr oder im Schützenverein, bei der Blaskapelle oder den Trachtlern, und manche auch überall. Wie heute noch lebten die Neuners auch damals schon in ihrem alleinstehenden Haus abseits der Hauptstraße Richtung Mittenwald, und weil die Lena in Wallgau schon aufgefallen war, weil sie immer so aufgeweckt und fröhlich war, dachten sie sich bei der Gemeinde, das würde ihr doch sicher Spaß machen, so ein Fototermin im Dirndl mit vier anderen Kindern.
Dachten sie.
Denn als es dann soweit war, wurde es der vierjährigen Magdalena zu viel. »Sie hat richtig herzzerreißend angefangen zu weinen«, sagt Zahler im Rückblick, »man hat das Gefühl gehabt, sie hatte richtig Angst.« Schließlich klappte es doch noch, saß die Lena in schöner Tracht auf der Wiese, der Fotograf war glücklich, der Prospektgestalter auch, nur bei genauem Hinsehen fällt dann auch heute noch auf, dass es eher ein verkrampftes Lächeln war bei Magdalena, richtig fröhlich wirkte sie nicht. Wenn keiner hinschaute, keine Kamera da war und kein Fotograf, dann lächelte die junge Magdalena Neuner oft. Ganz natürlich. Ganz normal.
Normal, das ist ein Begriff, den man oft hört, wenn man alte Bekannte der Neuners danach fragt, wie die Magdalena denn aufgewachsen sei.
Auch der 9. Februar 1987 war ja eigentlich ein normaler Tag. Auf der Welt passierten Dinge, die auch an anderen Tagen und in anderen Jahren passieren, in Beirut explodierte eine Bombe, über Afghanistan wurde ein Transportflugzeug abgeschossen, und in der deutschen Regierung stritt sich schwarz-gelb über eine neue Steuerreform. Nur dass die bundesdeutsche Hauptstadt damals noch Bonn hieß und nicht Berlin.
Das einzige bedeutsame Polit-Ereignis an jenem Tag war der Zusammenbruch der Koalition in Hessen. Es gab Streit um die Genehmigung für die Hanauer Nuklearbehörde Nukem, und als Umweltminister Joschka Fischer von Ministerpräsident Holger Börner seine Entlassungspapiere entgegennahm, war das erste rot-grüne Regierungsprojekt auf Landesebene gescheitert. Fischer sollte dennoch noch eine große Zukunft vor sich haben.
Wie das Baby, das an jenem Tag im Krankenhaus von Garmisch-Partenkirchen auf die Welt kam. Magdalena war das zweite Kind von Paul und Margit Neuner, der dreijährige Paul junior war schon da, 1992 kam dann noch der Christoph, 1994 die Anna.
Vier Kinder, und auch sonst eine große Familie, weit verzweigt, mit vielen Geschwistern, Onkeln, Tanten und Cousins, mit manchen hatte sie weniger Zeit verbracht, mit manchen mehr und mit einem ganz viel. Mit Albert Neuner.
Albert Neuner lebt ganz im Osten von Wallgau, im letzten Haus, im Bauernhof seiner Eltern, da wo er groß wurde. Albert Neuner ist ein Vetter von Magdalena, und als Magdalena Neuner 2007 in Baden-Baden zur »Sportlerin des Jahres« gekürt wurde, kam er als Ehrengast auf die Bühne und überreichte ihr die Trophäe. Damals ging es auch um den Verwandtschaftsgrad, und als die Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein nachfragte, wie die beiden familiär zusammenhängen, meinte Magdalena Neuner, dass das etwas kompliziert sei: »Eine Oma von mir ist die Schwester von seinem Vater, die andere Oma von mir die Schwester seiner Mutter, aber meine Eltern sind natürlich nicht verwandt.« Das kann man verstehen, muss man aber nicht, wer aber etwas davon verstehen will, wie die Lena so als Kind war, der spricht am besten mit ihm, mit Albert Neuner.
Albert Neuner kam ein halbes Jahr nach Lena zur Welt, im August 1987. Beide gingen zusammen in den Kindergarten, in die Schule, in den Trachtenverein, und schließlich begannen beide später auch zur selben Zeit mit dem Biathlon. Es gibt viele Fotos, auf denen die Magdalena und der Albert nach ihren Rennen nebeneinander stehen, immer in der gleichen Pose, die üblichen Schnappschüsse, meist hatten sie eine Medaille um den Hals oder einen Pokal in der Hand. Waren beide sehr erfolgreiche Sportler, aber das mit dem Biathlon kam ja erst in der Jugend.
In der Kindheit waren Albert und Magdalena fast immer zusammen, natürlich waren sie in der Grundschule auch in der gleichen Klasse. Zur Grundschule in Wallgau geht es nach dem Rathaus links, sie liegt nach dem Feuerwehrhaus und hat als Adresse Schulstraße 1. Alles liegt in Wallgau genau an dem Ort, wo es hingehört.
1993 kamen Magdalena und Albert in die erste Klasse, eine gemischte Klasse, Mädchen und Buben. »Aber mit den Mädls hat die Lena nie so viel zu tun haben wollen«, sagt Albert Neuner. »Meistens war sie mit uns beieinander, mit den Buben. Da hat es ihr mehr getaugt.«
Eine Gruppe von Mädchen habe es gegeben, sagt er, das sei die »Prinzessinnen-Clique« gewesen. Mit Vorliebe für Mode, Pferde, Rosa, aber zu der habe die Lena nie dazugehört, weil sie da auch nicht dazugehören wollte. »Die war fast nur bei uns«, sagt er, »wir Buben haben auch nie so rumgezickt und rumgedruckst.« Die Buben sagten schon eher immer genau das, was sie denken, gerade raus, offen und ehrlich, dazu das Herumtoben, sich verausgaben beim Sport und im Spiel, das war die Art, die einer Magdalena Neuner schon viel mehr behagte, damals wie heute.
Am Nachmittag nach dem Unterricht gingen die Buben und die Lena dann immer ins Freie an die frische Luft, etwas wie Stubenhockerei war ein Fremdwort. »Dass wir nicht raus sind, da hat das Wetter schon ganz schiach sein müssen«, sagt Albert Neuner, also richtig gräuslich. Dann, wenn sich die trübe Wolkensuppe tief herunter ins Tal hängte und einer dieser oberbayerischen Schnürlregen mit stoischer Beharrlichkeit ganze Tage auf den Ort herunterging, dann saß sogar Magdalena Neuner zu Hause, doch auch da war nicht träges Herumhängen angesagt, sondern Aktivität, da ging es ums Spielen und um viel Phantasie.
Auch Bruder Christoph erinnerte sich einmal an die gemütlichen Nachmittage und Wochenenden mit seiner großen Schwester. »Sehr lustig war immer, wenn die Lena mir und meiner kleinen Schwester Anna mit den Kasperlpuppen aus Holz Geschichten vorgespielt hat«, sagte er damals, »das war immer sehr kreativ und ich werde das nie vergessen.« Es herrschte ein ganz selbstverständlicher Zusammenhalt im Haus, und wenn der Christoph einmal etwas in der Schule nicht verstand, dann war die Lena immer da und half ihm bei den Hausaufgaben.
Natürlich gab es auch Momente, in denen die kleine Magdalena ihre Ruhe brauchte, sich zurückziehen konnte auf ihr Zimmer. Dann hörte sie am liebsten Kassetten. Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg. Und natürlich den Meister Eder und seinen Pumuckl. Fernsehen war bei Neuners eine ganz große Ausnahme, da musste schon etwas Besonderes kommen, einfach mal die Glotze anwerfen und sich von beliebigem, stumpfsinnigem TV-Programm berieseln zu lassen, so etwas gab es nicht.
»Warum auch«, sagt Albert Neuner, »so etwas ist doch nur verlorene Zeit.« Lieber seien sie, die Buben und die Lena, mit dem Radl durch die Gegend geheizt, hätten im Wald Verstecken gespielt und sich Hütten gebaut. Und sind gemeinsam mit den Eltern auf die Berge gegangen.
Wanderungen auf die Berge ringsherum, in Wallgau an den Wochenenden ein familiäres Standardprogramm. Die Schöttelkarspitze, die Soiernspitze, der Wank, der Krottenkopf, der Simetsberg, dazu eine ordentliche Brotzeit für die Rast am Gipfelkreuz, »da haben wir als Kinder schon ganz schön zu tun gehabt«, sagt Albert Neuner, »aber aktiv sein, verbunden mit der Natur, oben am Berg, das hat wahnsinnig viel Spaß gemacht, damit wirst du einfach groß hier.« Genau wie mit dem Glauben.
Wallgau ist sehr gläubig, Magdalena Neuner und ihre Familie sind es auch. Bei den Neuners gibt es wie in so vielen Häusern und Bauernhöfen in der holzvertäfelten Stube neben dem Esstisch einen Herrgottswinkel. Ein Eck, in dem ein Holzkruzifix hängt, Heiligenbilder und Figuren stehen. Maria, Josef, daneben eine Kerze.
Christen gibt es in Wallgau seit der Spätantike, Ende des 13. Jahrhunderts bauten sie hier die erste Kirche, rund um 1680 bekam der Turm dann seine Zwiebelhaube. Die Pfarrei heißt St. Jakob, wie so viele Kirchen entlang des Pilgerwegs, der hier seit dem Mittelalter durch den Ort ging, Richtung Rom, nach Jerusalem und natürlich zum Grab des Apostels Jakob in Santiago de Compostela. St. Jakob ist keine große Kirche, wenn man zum Altar blickt, hat es rechts 17 Sitzreihen und links 15. Die Heilige Messe ist am Sonntag um 9 Uhr, und wenn man es am Sonntag nicht schafft, dann kann man auch am Samstag um 19.15 Uhr gehen.