Martina Wildner, geboren 1968 im Allgäu. Nach einigen Semestern Islamwissenschaften studierte sie an der Fachhochschule Nürnberg Grafikdesign. Sie lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr unter anderem die Romane Jede Menge Sternschnuppen (Peter-Härtling-Preis), Das schaurige Haus (nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis) und Königin des Sprungturms (Deutscher Jugendliteraturpreis).
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-74909-3 Print
ISBN 978-3-407-74665-8 E-Book (EPUB)
© 2017 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
© 2016 Beltz & Gelberg
Lektorat: Frank Griesheimer
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Franziska Walther
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de
Mit besonderem Dank an Frank! M. W.
Konrad Mayerhöfer:
13 Jahre, viel zu groß und viel zu ungeschickt. Ein Meister der Fehlschlüsse, jedoch nicht fantasielos.
Lisbeth Jost:
13 Jahre, Konrads Cousine. Weiß alles, kann alles, ist aber irgendwie arm dran.
Anja Mayerhöfer:
Konrads Mutter, über 40, Unterwäsche-Designerin. Wollte aus zunächst unerfindlichen Gründen genau diesen Urlaub.
Christian Mayerhöfer:
Konrads Vater, auch über 40, Übersetzer mit Mathe-Physik-Trauma. Hält sich meist raus und liebt Jakobsmuscheln.
Simone Jost:
Lisbeths verstorbene Mutter, Anjas Schwester, Konrads Tante, Geschichtslehrerin. (War auch über 40.)
Hermann Jost:
Lisbeths Vater, über 40, Professor für Physik. Kommt so gut wie nicht vor.
Nick:
6 Jahre, lispelnder Nervzwerg aus dem Nachbarbungalow.
Elke:
Nicks Mutter, auch sie schon über 40, trägt Diamantsonnenbrillen und benutzt Aftersun-Lotions.
Marc:
Nicks Vater; klar: über 40. Aber: Ist er wirklich ein Agent aus Fulda?
Marjorie Cotin:
zur Abwechslung mal erst über 30, Joggerin, aber mysteriös bis zum Schluss.
Irina Solotowa & Percy Lee Silverman:
beide schon über 50, die Merde-Nachbarn, eventuell beim CIA oder Sluschba wneschnei raswedki.
Jean-Luc:
im besten Alter zum Verlieben, Rettungsschwimmer oder sauveteur = Bademeister.
Valérie Didier:
über 20, Surferin und mehr.
Gérard Vitrac:
über 90, einbeinig, traurig, rätselhaft.
Der Bunker:
bald im Meer versunken, muschelbewachsen.
Die Ferienanlage:
ein bisschen lieblos, aber praktisch.
Der Pool:
beheizt, letzte Rettung nach kaltem Atlantikwasser und bei drohender Langeweile.
Das blaue Haus:
geschlagen mit falschem Namen und auch sonst nicht im besten Zustand.
Die Wohnanlage
Les Sables: Bausünde viel zu nah am Meer. Leer stehend. Wird hoffentlich bald abgerissen.
Das Wasserwachthäuschen:
Wirkungsbereich des schönsten Bademeisters Frankreichs.
Der Schubkarren/die Schubkarre:
Wie kann ein so unbedeutender Gegenstand so oft auftauchen?
Im Augenblick war der Bunker unsichtbar, denn das Meer bedeckte ihn völlig. Ich saß auf der Düne, dort, wo man eigentlich nicht sitzen durfte, und blickte in die Ferne.
Trotz des Nieselregens tummelten sich unten in den Wellen zwei Surfer, winzige Pünktchen im Vergleich zu dem riesigen Meer. Sie ritten auf den steilen Wellenbergen und verschwanden, wenn sie vom Brett fielen, im Meerschaum.
Lisbeth und ich hatten mal wieder gestritten, zum siebzehnten Mal innerhalb von vier Tagen, wie mir meine Mutter vorgerechnet hatte. Dabei konnte ich gar nichts dafür. Lisbeth war schuld.
Lisbeth war sowieso an allem schuld. Oder meine Mutter. Die hatte unbedingt am Atlantik Urlaub machen wollen. Und sie hatte auch vorgeschlagen, Lisbeth mitzunehmen. Vorgeschlagen ist dafür das falsche Wort: Sie hatte es befohlen.
Unten, an dem schmalen Stück Strand, das die Flut ließ, lief eine Joggerin vorbei. Ich sah ihr nach, bis sie im feinen Nebel der Gischt verblasste. Ich kannte die Frau schon. Sie lief eigentlich immer. Langsam wurde mir kalt.
Nicht dass der Atlantik nicht beeindruckend wäre. Er war groß und mächtig. Es gab tolle Wellen und coole Surfer. Die Wellen, hatte Lisbeth gestern erklärt, seien hier deswegen so groß, weil sie so lange Anlauf nehmen könnten, 4000 Kilometer, von Neufundland bis hierher.
Aber es war eben seit Tagen nass und kalt und Wind wehte sowieso immer.
Plötzlich bellte ein Hund. Ich erschrak und wandte mich um. Eine schwarze Dogge kam auf mich zugerannt. Wie festgewachsen blieb ich sitzen und versuchte, den Hund nicht anzusehen. Das hatte ich mal gelesen: Hunden dürfe man auf keinen Fall in die Augen sehen, für sie sei das eine Aufforderung zum Kampf.
Die Dogge war riesig, ihr Fell glänzend und ihre Zunge zitterte. Sie bellte noch einmal.
»Coco!«
Der Hund blieb stehen und warf mir einen kurzen Blick zu. Dann wandte er den Kopf und blickte aufs Meer hinaus, dahin, wo normalerweise der Bunker zu sehen war. Dass er nicht da war, schien den Hund zu verwirren. Er knurrte kurz, zuckte kurz mit dem Schwanz und kehrte dann um.
»Coco!«, hörte ich die Männerstimme noch einmal rufen.
Mein Herz klopfte und ich hatte ein schlechtes Gewissen. Man durfte die Düne nicht betreten, damit man die Pflanzen darauf nicht zerstörte. Die Düne war wichtig – und die Gewächse, obwohl sie ledrig und stabil wirkten, angeblich empfindlich.
Vorsichtig lugte ich durch das graugrüne Gras. Da unten, zwischen nadeligen Büschen, lief die Dogge. Sie rannte auf ihren Besitzer zu, ein blonder Mann mit Sonnenbrille, Polohemd und cremefarbener Anzughose. Er sah nicht aus wie ein Umweltschützer. Er sah aus wie ein Tourist. Nein, eigentlich auch nicht. Er sah aus wie ein Agent.
Ja, genau. Aber was hatte er vor? Um das herauszufinden – und auch, weil ich jetzt endgültig fror und mein Gewissen wegen der Düne immer schlechter wurde –, stand ich auf und folgte dem Mann mit der Dogge.
Hinter der Düne ließ der Wind sofort nach. Auch das Meeresrauschen wurde leiser. Man hörte wieder die normalen Geräusche, das Kindergeschrei von unserer Ferienanlage zum Beispiel.
Der Mann ging einen sandigen, schmalen Trampelpfad entlang. Immer wieder blieb er stehen und sah sich um. Schließlich bog er auf die nahe Küstenstraße ab.
Ich fand den Mann unsympathisch, warum, weiß ich nicht. Vielleicht lag es an seiner schmierigen Pilotenbrille oder an seiner noch schmierigeren cremeweißen Anzughose.
Jetzt ging er schneller. Ich folgte ihm im Abstand von etwa 50 Metern. Links der Küstenstraße stand dichter Pinienwald, rechts davon wuchsen Sträucher und nur noch vereinzelte Pinien. Immer wieder überholten mich Fahrradfahrer.
Wie weit er wohl hier gehen will?, überlegte ich. Die Küstenstraße führte schnurgerade kilometerlang Richtung Süden.
Aber da bog der Mann auch schon nach links in einen Waldweg ab. Ich folgte ihm vorsichtig. Bislang war es nicht aufgefallen, dass ich ihm nachging, aber auf diesem verlassenen Weg würde mich der Mann bemerken, wenn er sich umdrehte. Ich verbarg mich also hinter ein paar jungen Pinien und beobachtete, wie der Mann mit dem Hund auf einen dunklen BMW mit getönten Scheiben zuging, der schräg und sehr schief in den Straßengraben geparkt war. FD konnte ich auf dem Nummernschild lesen – und dann irgendwelche anderen Buchstaben und Zahlen. Ein deutsches Kennzeichen also! Das erstaunte mich. Irgendwie war ich mir sicher gewesen, der Mann sei Franzose. Nun stieg er in sein Auto, gab ziemlich Gas, um aus dem Graben herauszukommen, und fuhr mit ebenso viel Gas den Waldweg weiter. Pfützenwasser spritzte an beiden Seiten des Wagens hoch.
Ich blieb stehen und sah ihm nach. Die Dogge lugte aus dem Rückfenster. Dann gab ich FD in die Suchmaschine meines Smartphones ein. Aha. Der Mann kam aus Fulda. Ein Agent aus Fulda? Klang etwas lächerlich. Agenten kamen normalerweise aus London, Moskau oder New York. Doch Lisbeth hätte dazu gesagt: »Ich wäre mir da nicht so sicher. Ein richtig guter Agent kommt wahrscheinlich sogar ganz bestimmt aus Fulda!«
Aber Fulda hin oder her, Lisbeth widersprach sowieso immer. Ich war froh, dass sie mit meiner Mutter am Pool hockte und mich in Ruhe ließ.
Unsere Ferienanlage bestand aus einer Reihe von aneinanderhängenden Bungalows, die halbkreisförmig um einen Pool angeordnet waren. Neben dem Pool gab es eine Wiese mit Tischtennisplatte. Pool und Wiese waren von einer hohen Hecke umgeben. Die Terrassen der einzelnen Bungalows trennten kahle Betonwände. Insgesamt machte die Anlage einen etwas tristen Eindruck, aber sie erfüllte ihren Zweck, bei Regen ein Dach über dem Kopf zu haben. Und der Pool war gut – er war groß, tief und beheizt, und es gab dort nur eine einzige Regel: Große aufblasbare Gummitiere waren verboten. Gonflages hießen die Dinger auf Französisch. Ich mochte das Wort.
»Und? Hast du dich beruhigt?«, fragte mein Vater.
»Mmh.«
»Du weiß doch, wir müssen uns ein bisschen um Lisbeth kümmern.«
»Mmh«, brummte ich und blätterte gelangweilt in der Frauenzeitschrift meiner Mutter.
»Sollen wir Tischtennis spielen?«, fragte er.
Ja, wir langweilten uns ziemlich. Wir hatten schon das Städtchen in der Nähe besichtigt, wir waren auf einen Leuchtturm gestiegen und wir hatten in einer Spielhalle 50 Euro versenkt. Der merkwürdigste Ausflug war der zu einer Bunkeranlage an der Gironde-Mündung gewesen. Meine Mutter war anderthalb Stunden auf dem Gelände herumgerannt und hatte alles fotografiert, was mich ziemlich gewundert hatte, denn normalerweise interessierte sie sich nicht für Geschichte, sondern nur für die neueste Strandmode.
Mein Vater schnitt einen Ball fies an. »Der Bademeister – du weißt schon, der mit dem Pferdeschwanz – sagte, es sei Springflut.«
»Springflut?« Ich bekam den Ball gerade noch.
»Ja, Springflut. Bei der letzten sei sogar jemand ertrunken. Eine Frau. Am Bunker.«
»Uuh, echt?« Ich schlug den Ball ziemlich scharf zurück.
»Ja … Mann, du erwischst aber auch alle Bälle.«
»Zu irgendwas müssen lange Arme ja auch gut sein. Was ist eine Springflut eigentlich?«
»Da ist die Flut höher als sonst. Hat was mit dem Mond zu tun. Weiß ich aber nicht genau.«
»Sieht man ihn deswegen nicht?«
»Wen?«
»Den Bunker.«
»Wieso?«
»Wegen der Springflut … ich meine, man sieht ihn doch bei einer normalen Flut.«
»Kann sein«, sagte mein Vater und schmetterte den Ball mit aller Kraft. Er schoss über den Rand der Platte.
»Kommt davon«, sagte ich.
»Jedenfalls ist diese Frau«, erklärte mein Vater, während er den Ball aus der Hecke fischte, »irgendwie in den Bunker reingeraten und nicht mehr rausgekommen. Hörst du? Ihr dürft auf gar keinen Fall in den Bunker reinkriechen! Plötzlich überrascht euch die Flut und ihr kommt nicht mehr heraus.«
»Ich würde eh da nie reinkriechen«, antwortete ich. Es gab unter dem Bunker eine Art Hohlraum. Krabben und andere Untiere lebten in den Nischen.
»Na ja«, meinte mein Vater. »Spannend sind diese alten Dinger schon. Der Bademeister sagte, die Frau wäre nicht die Erste, die dort in Schwierigkeiten geraten ist. Er sagt, der Bunker ziehe die Leute an wie ein Haufen Mist die Fliegen.«
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Immerzu dachte an die ertrunkene Frau. Dabei waren Ertrunkene im Atlantik nichts Besonderes. Doch irgendetwas daran beunruhigte mich. War es die Vorstellung, unter Wasser festzuklemmen? Oder lag es am Bunker selbst, einfach weil so ein Bunker an sich schon unheimlich war? Aber was hatte die Frau dort gewollt? Oder war es ein ganz normaler Badeunfall gewesen? Und was hatte der Bademeister mit dem Bunker, dem Misthaufen und den Fliegen gemeint?
Durch den Vollmond war es in unserem kleinen Schlafzimmer sehr hell. Lisbeth lag eingerollt nach rechts gedreht. Lisbeth sah winzig aus, wie sie da so lag.
Ich war das Gegenteil von winzig. Ich war zu groß und ungelenk und hatte so lange, dünne Arme und Beine, dass sie sich eher verknoteten, als dass sie taten, was sie sollten.
Wir waren am Pool gewesen, gestern. Lisbeth hatte wieder ihre Kunststückchen vorgeführt. Sie konnte ja jeden Quatsch; Rückwärtskopfsprung von der Beckenkante oder auf Händen laufen. Lisbeth, das Wunderkind, spielte Klarinette und hatte die Mathe-Olympiade in ihrer Altersklasse gewonnen. Salto machte sie so nebenbei. Sie konnte auch die französischen Tageszeitungen lesen und die Spülmaschine in 3 Minuten und 44 Sekunden ausräumen.
Lisbeth spazierte also mal wieder auf Händen herum und ließ sich dann mit einer Art Überschlag in den Pool fallen. Das fanden natürlich alle toll, vor allem Nick, ein lispelnder Junge aus einem Nachbarbungalow, und seine fürchterliche Mutter Elke mit ihrer Diamantsonnenbrille.
»Nicki, das lernst du auch!«, rief sie begeistert.
Klar, dachte ich. Nick war sechs und konnte gerade mal schwimmen. Aber Elke war vom Turntalent ihres Sohnes sehr überzeugt. Nick sollte Handstandüberschlag ins Wasser lernen und Lisbeth sollte ihm dabei helfen.
»Ift nich schwer«, sagte Nick, nachdem er wieder aufgetaucht war. Ich lag gemütlich in meinem Liegestuhl.
»Das kannst du auch«, sagte da plötzlich Elke an mich gewandt.
»Nö«, antwortete ich. Ich wollte so was überhaupt nicht können.
»Du hast doch so eine begabte Schwester!«
Dass Lisbeth meine Cousine war, kapierte die einfach nicht. Aber trotzdem konnte ich das nicht auf mir sitzen lassen.
Ich sagte zu Lisbeth: »Na gut, aber du musst mich halten.«
Lisbeth sagte »Ja, ja«, aber »Ja, ja«, das hätte ich eigentlich wissen müssen, war nie gut.
Ich setzte also zum Handstand an, kam jedoch nicht hoch. Lisbeth zog mich an meinen langen Beinen nach oben.
»Aaahrg«, machte ich und zappelte. Lisbeth verlor die Kraft und ließ mich los. Ich fiel schief und krumm ins Wasser und landete natürlich voll auf dem Rücken.
Als ich auftauchte, lachte Nick laut, und seine Mutter hielt ihm das Display des Fotoapparats hin. »Nein, das war ja ein Bild für die Götter!«, rief sie.
»’tschuldigung«, murmelte Lisbeth, doch es war zu spät. Ich war schon aus dem Becken, trat sie mit dem Fuß in den Hintern ins Wasser.
»Du blöde Angeberin!«, brüllte ich.
Genau in dem Augenblick kam meine Mutter. Sie packte mich am Unterarm und schnauzte mich an: »Was fällt dir ein? Du kannst doch Lisbeth nicht einfach ins Wasser treten!«
»Doch, kann ich!«, schnauzte ich zurück, wollte mich losmachen und verhedderte mich in meinen eigenen Armen. Das machte mich noch wütender. Zu nichts waren sie zu gebrauchen, diese Arme. Die Finger meiner Mutter waren hart wie ein Schraubstock und kalt wie Stahl. Wir froren ja ständig, hier am Atlantik.
»Rücksicht ist wohl ein Fremdwort für dich!«, blökte sie.
»War ja nicht meine Idee, diese grässliche Tussi mitzunehmen! Der ganze Urlaub ist versaut!«
»Konrad!«, zischte meine Mutter durch die Zähne. »Du gehst jetzt in den Bungalow, und ich möchte dich erst wieder sehen, wenn du dich bei Lisbeth entschuldigt hast.«
Sie ließ mich los, ich rannte davon.
Erst hatte ich eine Weile auf meinem Bett gelegen, dann war ich auf die Düne gegangen, dahin, wo man nicht sitzen durfte. Und dann hatte ich den Mann mit der Dogge gesehen und war ihm gefolgt. Dem Agenten aus Fulda. Wahrscheinlich würde mich jeder auslachen für diesen Unsinn. Konrad mit den Schnapsideen! Aber entschuldigt hatte ich mich nicht. Das sah ich gar nicht ein.
Im Streit zu Bett zu gehen, ist schrecklich.
Ich lag da, wälzte mich hin und her und war kurz davor, alle zu wecken, um mich zu entschuldigen, nur damit ich endlich schlafen konnte. Doch ich tat es nicht. Stattdessen stand ich auf. Angeblich half Spazierengehen bei Schlafstörungen. Ich schlich in die Wohnküche, schnappte mir einen Pulli und schlüpfte durch die Terrassentür nach draußen. Die Schuhe ließ ich stehen.
Es war kühl und windig. Schwarz ragte die hohe Hecke aus der Dunkelheit heraus. Durch sie hindurch gab es einen inoffiziellen, etwas dornigen Weg von unserer Anlage zum Strand, eine prima Abkürzung, aber natürlich aus Dünenschutzgründen verboten. Die Abkürzung führte an einem verfallenen Schuppen vorbei. Neben der rostigen Schuppentür lehnte ein ebenso rostiger Schubkarren. Vieles hier war rostig.
Ich kletterte die Düne hoch, schaute mich kurz um und rannte auf der anderen Seite hinab. Mit großen Schritten sprang ich in den tiefen Sand. Eine Menge davon rutschte mit mir hinab. So funktionierte Erosion.
Es war Ebbe. Ich wollte zum Bunker, doch ich fror bereits nach wenigen Metern im nassen Sand. War der Boden hinter der Düne nur kühl gewesen, war der nasse Sand vor der Düne eisig. Ich hätte Schuhe anziehen sollen, dachte ich, doch ich ging weiter, denn der schwarze, halb im Meer versunkene Klotz zog mich an. Das war vom ersten Tag an so gewesen. Immer lockte mich der Bunker; er war das Spannendste am ganzen Urlaub.
Als ich ihn erreicht hatte, blieb ich stehen. Auch bei Ebbe umgab ihn zu drei Vierteln ein See aus Meerwasser – wie ein Burggraben eine Burg. Ich umrundete den Bunker zur Hälfte, sodass ich jetzt vor dem offenen Meer stand.
Plötzlich sah ich auf der Landseite des Bunkers einen Schatten. Er bewegte sich schnell und war gleich wieder verschwunden. Was war das? Ein Tier? Ein Mensch? … Oder der Geist der toten Frau?
»Hallo?«, fragte ich halblaut. Niemand antwortete. Klar. Das Meer war lauter als meine Stimme.
War da wer oder nicht? Vorsichtshalber blieb ich ganz ruhig stehen. Wenn ich mich nicht bewege, dachte ich, bewegt sich auch sonst nichts. Das Meer bleibt dann stehen wie eingefroren. Aber das tat es natürlich nicht. Es interessiert sich nicht für die Gedanken eines kleinen Menschen.
Eine ganze Weile blieb ich so bewegungslos stehen. Langsam kam die Flut, das spürte ich. Immer wieder spülte eine neue Welle Wasser heran und füllte den Bunkerburggraben mit immer mehr Wasser. Das Wasser, das unter den Bunker lief, gluckerte.
Ich kann doch nicht ewig hier stehen, dachte ich, denn mir war kalt. Vorsichtig machte ich ein paar Schritte um den Bunker herum in Richtung Strand. Meine Füße waren fast taub vor Kälte. Da der Schatten verschwunden blieb, ging ich weiter, bis ich fast wieder vor dem Bunker war. Der Weg zur Düne war frei, ich brauchte nur noch zurückgehen.
Doch da war er wieder. Der Schatten tauchte jetzt auf der Meerseite des Bunkers auf. Er folgte mir! Ich unterdrückte einen Schrei und begann zu rennen. Weil meine Füße so kalt waren, hatte ich kaum Kontrolle über sie. Sie kamen mir vor wie Fremdkörper.
Ich stapfte durch den schweren Sand und rannte über die ausgelegten Holzlatten, am Wasserwachthäuschen vorbei hin zum Parkplatz. Die spitzen Steine spürte ich nicht, ich sah nur mein Ziel: unsere Ferienanlage.
Ich hatte absichtlich den offiziellen Weg gewählt. Hier brannten ein paar Straßenlaternen, hier fühlte ich mich etwas sicherer. Jetzt hatte ich den Seiteneingang zu unserer Anlage erreicht. Er war abgesperrt.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich während meiner Flucht die ganze Zeit ein dumpfes Dröhnen gehört hatte. Nun wurde es immer lauter. Ich wandte mich um und wurde von einem grellen Licht geblendet. Ein riesiges schwarzes Ungetüm walzte langsam, aber unaufhaltsam auf mich zu. Ich sprang seitlich über die Gartentür und landete im weichen, frisch gemähten Gras unserer Ferienanlage. Das Gebrumm wurde immer lauter, das Licht aber blendete längst nicht mehr. Dann wurde auch das Brummen leiser.
Die Strandraupe, die nachts den Strand säuberte, war an mir vorbeigefahren. Ich musste fast lachen, verschnaufte ein wenig und ging dann langsam zu unserem Bungalow. Auf der Terrasse wischte ich meine sandigen Füße an einem liegen gebliebenen Handtuch ab und schlüpfte hinein.
War das schön warm hier drin! So leise wie möglich tappte ich in unser Schlafzimmer und legte mich hin. Ich spähte zu Lisbeth hinüber. Sie lag in der gleichen Position wie zuvor. Wie lange ich wohl draußen gewesen war? 20 Minuten?
Eine Weile wärmte ich meine Füße an den Innenseiten meiner Oberschenkel, denn es stimmte: Mit kalten Füßen konnte man nicht einschlafen. Beim Füßewärmen dachte ich über den Schatten beim Bunker nach. Jetzt, im Bett, kam mir das alles albern vor. Vielleicht war es ein Tier gewesen, eine Fledermaus.
Am Atlantik geht die Sonne später auf und später unter als in Deutschland. Der Atlantik liegt einfach so ungeheuer weit westlich. Um sechs Uhr morgens ist es dort im Hochsommer noch fast ganz dunkel.
Man hätte also länger schlafen können. Nicht aber Lisbeth. Sie wachte trotzdem früh auf und knipste das Licht an, um zu lesen. Jeden Tag machte sie das und jeden Tag störte es mich. Doch man durfte nichts sagen. Nicht einmal mein Vater hatte etwas sagen dürfen, als sie zum Beispiel auf der langen Fahrt mitten in der Nacht im Auto das Licht einschaltete. Er hatte was sagen wollen, weil man ja nicht gut fahren kann, wenn im Auto innen nachts das Licht brennt, aber meine Mutter hatte mit ihrer viel zu mitleidigen Mitleidsstimme zu ihm gesagt: »Lass sie, vielleicht hilft ihr Lesen.«
Lisbeth war jetzt also wach und ich auch und ich hörte sie lesen. Ja, man kann jemand lesen hören, und bei Lisbeth hörte sich das so an: einatmen. Luft anhalten. Nach einer schieren Ewigkeit die Luft durch den Mund herausstoßen, blättern.
Zu Hause hätte ich mir die Bettdecke über den Kopf gezogen, aber diese französischen Decken taugten ja nichts. Man verhedderte sich meistens in Unmengen an Laken, die Wolldecke, die irgendwie in die Laken eingeschlagen werden sollte, lag irgendwo, meistens am Boden. Ich zerrte am Laken und drehte mich weg.
Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Missmutig stand ich auf, ignorierte Lisbeth und tappte ins Wohnzimmer, das gleichzeitig auch die Küche war. Dort legte ich mich auf das Sofa, wickelte mich in eine Wolldecke und betrachtete im Schein der ersten Dämmerung die Fotos an der Wand. Sie zeigten das Meer, Wolken und Felsen.
Ich musste noch mal eingenickt sein, denn plötzlich hörte ich die Kaffeemaschine und die Stimmen meiner Eltern.
»Du wolltest doch unbedingt hierherfahren«, sagte mein Vater zu meiner Mutter. »Warum eigentlich? Sonst kann es dir doch nicht heiß genug sein!«
Was meine Mutter antwortete, ging im Gluckern der Kaffeemaschine unter. Aber ehrlich gesagt kapierte ich es auch nicht. Meine Mutter liebte knallharten Mittelmeerstrandurlaub. Mit Kultur, Bergtouren oder womöglich Regen konnte sie absolut nichts anfangen.
Die Morgensonne schien durch das Küchenfenster. Ich stand auf.
Beim Frühstück sagte meine Mutter: »Heute soll das Wetter ja besser werden.«
Lisbeth antwortete, wie es ihre Art war, völlig aus dem Zusammenhang gerissen: »Wenn die Flut vom Mond abhängig ist, wieso ist dann nicht nur ein Mal in 24 Stunden Flut?« Dabei bestrich sie die ohnehin schon süße Brioche mit einer dicken Schicht Erdbeermarmelade.
»Hä?«, machte ich.
»Hä?«, machte auch meine Mutter.
Mein Vater kratzte sich am Kopf.
Lisbeth hatte längst Zettel und Kugelschreiber geholt. Sie zeichnete einen größeren Kreis und einen kleineren Kreis. Dann malte sie an den größeren Kreis eine Ausbuchtung auf der Seite, die dem kleineren Kreis zugewandt war. »Das ist die Erde«, sagte sie und deutete auf den größeren Kreis. »Das ist der Mond.« Sie zeigte auf den kleineren Kreis. »Und das da«, erklärte sie, während sie mit dem Kugelschreiber in die Ausbuchtung tippte, »ist der Flutberg. Er wandert mit dem Mond etwa ein Mal am Tag um die Erde. Wieso gibt es dann zwei Mal Ebbe und zwei Mal Flut?«
»Hm«, machte mein Vater und nahm den Zettel.
»Möchtest du noch eine Brioche?«, fragte meine Mutter.
»Ja, gern«, sagte Lisbeth mit vollem Mund. Sie hatte dieselben Augen wie meine Mutter: braun mit langen Wimpern. Aber kein Wunder – meine Mutter und Tante Simone waren ja Schwestern gewesen. Ihr dünnes mittelbraunes Haar hatte Lisbeth immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie nahm die Brioche und legte sie auf ihren Teller.
»Ich versteh das mit der Flut eh nicht«, sagte meine Mutter. »Sie verschiebt sich auch jeden Tag. Man kommt ganz durcheinander. Außerdem finde ich Ebbe besser.«
»Ich Flut«, sagte mein Vater. »Da muss man zum Baden nicht so weit gehen.«
»Aber bei Ebbe sieht man mehr«, gab meine Mutter zu bedenken.
»Den Bunker«, entfuhr es mir.
»Ja, den Bunker zum Beispiel«, sagte meine Mutter und blickte irgendwie ziellos in die Ferne.
»Ich finde das schon noch raus«, verkündete Lisbeth.
»Was?«, fragte mein Vater.
»Na, das mit Ebbe und Flut.« Sie hustete, weil sie sich an der Brioche verschluckt hatte.
Wie gesagt, Lisbeth interessierte sich für die seltsamsten Dinge. Auf der Fahrt durch Frankreich hatte sie uns zum Beispiel die ganze Zeit mitgeteilt, aus welchem Departement die Autos kamen, an denen wir vorbeifuhren. Die Nummern standen auf den Autokennzeichen. Die Departements waren in alphabetischer Reihenfolge durchnummeriert. Die Nummer 01 hatte l’Ain, die Nummer 95 Val d’Oise. Und dann gab es noch die fünf überseeischen Departements. Auch die hatte sie mehrmals hintereinander aufgezählt.
Die Sonne am Morgen hatte uns getäuscht. Schon um halb elf bezog sich der Himmel wieder. Ratlos saßen wir in der Wohnung herum: ich auf dem Sofa im Wohnzimmer, Lisbeth in unserem Zimmer auf ihrem Bett. Mein Vater war mit dem Auto Zigaretten holen gefahren und meine Mutter lackierte ihre Nägel zum dritten Mal um.
»Lisbeth, wollen wir shoppen gehen?«, fragte sie durch die Räume.
»Shoppen?« Lisbeth kam ins Wohnzimmer.
»Na ja, irgendwas müssen wir doch tun.«
»Wir haben doch gestern schon was gekauft.«
Lisbeth und ich hatten Bodyboards bekommen. Das sind Bretter aus Styropor, etwa halb so lang wie ein echtes Surfbrett und in etwa ein Viertel so sinnvoll.
»Ich meine Klamotten«, präzisierte meine Mutter. Sie ging davon aus, dass alle weiblichen Wesen ebenso an Kleidung interessiert waren wie sie. Sie war ja Unterwäsche-Designerin und immer und überall auf der Suche nach neuen Ideen für BHs und Slips. Wahrscheinlich hätte sie lieber eine Tochter gehabt. Und wahrscheinlich hatte sie deswegen Lisbeth mitgenommen. Aber ob Lisbeth dafür die Richtige war? »Ich habe auch tolle Schmuckläden gesehen«, fügte meine Mutter hinzu.
»Gibt es hier nicht ein Museum?«, wollte Lisbeth wissen.
»Ein Museum?«, fragte meine Mutter verblüfft. »Äh … ja … äh, weiß ich nicht.«
»Ich glaube, ich habe eines im Ortszentrum gesehen«, rief Lisbeth. »Das würde mich interessieren.«
Schon klar, dachte ich.
»Jaaa, gut«, sagte meine Mutter. »Dann lass uns das machen. Hinterher können wir ja noch durch die Läden bummeln.«
Meine Mutter stand auf und betrachtete das Kunstwerk auf ihren Fußnägeln. Sie hatte mich nicht gefragt, ob ich mitwollte. Das war zwar gut, weil ich keine Lust hatte, ins Museum zu gehen. Trotzdem wurde mir die Sache langsam unheimlich. Die beiden übersahen mich einfach. Ich wandte mich um zu Lisbeth, die sich innerhalb von drei Minuten fertig gemacht hatte und wissensdurstig an der Tür lehnte.
»Soll ich noch schnell den Müll wegbringen?«, fragte sie.
Ja, Lisbeth war das viel bessere Kind als ich: meist gut gelaunt, intelligent, praktisch, sportlich, sprachbegabt und hilfsbereit. Dass der Müll voll war, hatte ich gar nicht bemerkt. Stattdessen hatte ich überlegt, was das für Kampfjets waren, die gerade mit lautem Donnern über unseren Bungalow hinweggerast waren. Eigentlich glaubte ich, es seien Flugzeuge vom Typ Mirage 2000 gewesen. Aber ganz sicher war ich mir nicht.
»So ein Krach im Urlaub!«, stellte meine Mutter fest.
Ich ging auf die Terrasse. Nebenan hörte ich Stimmen. Offenbar war da gerade jemand eingezogen. Neugierig äugte ich um die Mauer, die unsere Terrasse von der der Nachbarn trennte.
»Bong schuur«, sagte ich, doch die Frau auf der Terrasse guckte nicht mal her. Energisch stellte sie eine Flasche Wein auf den weißen Plastiktisch und ließ sich ächzend in den Stuhl fallen. Sie trug einen gestreiften Pullover und einen viel zu engen Jeansrock. Ihr Haar war rot gefärbt, eine Sonnenbrille steckte darin. Von drinnen hörte ich die Stimme eines Mannes; er fluchte, jedenfalls klang es so.
»Oui, merde«, sagte die Frau.
Ich hatte seit zwei Jahren Französisch in der Schule, doch die Sprache blieb mir ein Rätsel. Das Wort merde verstand ich natürlich.
Etwas gelangweilt zog ich mich in den Bungalow zurück. Ich wollte in unser Zimmer, aber mein Blick fiel ins Schlafzimmer meiner Eltern. Die Tagesdecke war glatt gezogen, auf der Betthälfte meiner Mutter lag ein Stapel Prospekte.
Reiseunterlagen, dachte ich. Meine Mutter war diejenige, die im Urlaub alles regelte. Ganz obendrauf lag ein Reiseführer über Bordeaux. Ich weiß nicht, warum ich hinging und den Papierstapel durchsah. Vielleicht hoffte ich, irgendetwas Spannendes zu finden. Vielleicht gab es hier ja einen Aquapark mit Speed-Rutsche. Ich blätterte die Prospekte durch, fand aber nichts dergleichen. Nur Sachen wie Leuchtturm, Beachvolleyball, Weinprobe, Ponyhof, Vogelbeobachtung, Naturwanderweg, Austern-Bar. Und ein Stadtplan unseres Ortes fiel mir auf, denn meine Mutter hatte mit Kugelschreiber etliche Telefonnummern und das Wort Surfmode an den Rand geschrieben. Trotzdem, da war nichts, was mich wirklich interessiert hätte. Ich ordnete die Prospekte wieder so, wie ich sie vorgefunden hatte.
Ich ging hinaus vor die Anlage und blickte ziellos erst nach rechts und dann nach links. Schließlich bog ich gleich schräg gegenüber ab in eine sehr ruhige Straße mit holprigem Belag. In diese Richtung war ich noch nie gegangen. Ich schlenderte auf dem Bürgersteig entlang und betrachtete die vielen verschiedenen Ferienhäuser.
Sie waren alle sehr hübsch: mit bunter Veranda, bunten Fensterläden und verschnörkelten Dachbalken. In den Gärten blühten die Hortensien.
Bei einem alten, etwas heruntergekommenen Haus blieb ich stehen. Etwas irritierte mich daran, ich wusste nicht gleich, was. La Maison bleue nannte sich das Haus, das blaue Haus. Jetzt war klar, was mich wunderte: nicht, dass es einen Namen hatte, viele Häuser hatten hier Namen. Mich irritierte, dass an dem ganzen Gebäude nichts Blaues zu sehen war, im Gegenteil: Die Ziegel waren rostrot, das Dach grün wie die Fensterrahmen. Die Rollläden waren heruntergelassen. An einem hing ein Schild, auf dem chambre à louer und auf Deutsch Zimmer zu vermieten stand.
Daraufhin dachte ich – und das war ein kompletter Fehlschluss: Wenn auf dem Schild Zimmer zu vermieten