Katja Alves wurde 1961 in Coimbra/Portugal geboren, wuchs in der Schweiz auf. Sie arbeitete in vielen Berufen (u.a. als Köchin und Buchhändlerin) und lebt heute als freie Autorin und Journalistin mit ihrer Familie in Zürich. Sie schreibt für Zeitungen und Zeitschriften (Du, NZZ, Tages-Anzeiger). Bei Beltz & Gelberg erschienen zuvor ihre Romane Beste Freundin dringend gesucht und 1000 Gründe, warum ich nicht nach Portugal kann. www.katjaalves.ch

Katja Spitzer, geboren 1979, studierte in Leipzig und in der Schweiz Illustration und lebt und arbeitet in Berlin. www.katja-spitzer.de

Marie mag Vögel sehr. Die Vögel in diesem Buch hat

Katja Spitzer gezeichnet – für das Vogelbuch von Marie.

Einige Vögel, wie zum Beispiel die Heckenbraunelle in dem Kapitel »Sonntag in Münde« , weisen große Ähnlichkeit mit wirklichen Vögeln auf, andere sind frei erfunden!

Seit wir hier wohnen, beobachte ich die Amsel jeden Tag. Ich drehe am Rädchen meines Fernrohrs und hole sie ganz nah zu mir, bis ich jede ihrer Federn sehen kann. Ich weiß alles über sie. Weil ich alle Vögel kenne.

350 Kilometer und eine gelbe Wand

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie alles losging. Es war kurz nach Mittag und wir waren am Warten. Mein kleiner Bruder schoss wie eine Rakete durch die Wohnung, ich stand etwas unschlüssig mit meinem Rucksack im Flur und wusste nicht so recht, was ich bis zu unserem Aufbruch noch machen sollte.

Bis auf ein paar wenige Kisten mit Mamas empfindlichen Kunstgegenständen und einer Faltmatratze war alles leer geräumt. Sämtliche Möbel waren bereits von einer Umzugsfirma abgeholt worden. »Marie! Guck mal!« Mein Bruder kletterte jetzt auf einen Karton und fuchtelte wie wild mit den Armen. »Ich bin Spiderman!« Seine Stimme hallte eigenartig durch die leere Wohnung.

»Nicht doch, Spidy!«, rief Mama entsetzt. »Sonst kippt der ganze Krempel um!« Mama versuchte meinen Bruder herunterzuheben, was bei ihm auf heftigsten Protest stieß. »Er ist total übermüdet«, sagte Mama vorwurfsvoll, was mir aber ziemlich egal war.

Die letzten Tage vor dem Umzug hatten Spidy und ich bei meiner besten Freundin Adi verbracht. Auch wenn uns mein kleiner Bruder manchmal gehörig nervte, war es lustig gewesen, zu dritt in einem Zimmer zu schlafen. Eigentlich war Spidy nämlich ganz in Ordnung. Adi meinte sogar, er sei richtig knuffig in seinem blauen Anzug. Seit Papa ihm ein Spiderman-Kostüm aus den USA mitgebracht hatte, bildete sich mein Bruder nämlich tatsächlich ein, er sei der Spinnenmann höchstpersönlich. Und das bedeutete, dass er überall hochkletterte, gegen unverwüstliche grüne Kobolde kämpfte und andere Kinder mit toten Fliegen fütterte.

»Ich guck noch mal, ob ich nichts vergessen habe«, sagte ich.

»Ja, mach das! Detlef müsste auch gleich hier sein.« Mama schaute nervös auf ihr Handy.

Detlef, Mamas Freund, wollte uns unbedingt selbst nach Münde fahren. Aber natürlich war er wie immer viel zu spät dran. Bei ihm ist das normal. Weil er nachts als DJ arbeitet, braucht er tagsüber seinen Schönheitsschlaf, behauptet er.

In meinem Zimmer lagen überall in den Ecken dicke Staubflusen. Mein Blick schweifte über die leeren Wände. Da, wo noch Reste von Klebstreifen waren, hatten meine Poster gehangen. Die sechs Spatzen auf dem Drahtzaun, der Falke im Sturzflug und die Möwen über dem tiefblauen Meer.

Ich mag Vögel, genau wie Papa. Von ihm habe ich auch das dicke Vogelbuch bekommen, das jetzt zuoberst in meinem Rucksack lag. Ohne mein Vogelbuch würde ich nie irgendwohin gehen. Selbst im Urlaub nehme ich es mit. Papa sagt, über Vögel würde man nur etwas erfahren, wenn man sie genau beobachtet. Ich erkenne schon jetzt sehr viele Vögel, sogar an ihrem Gesang. Eine Kohlmeise zum Beispiel zwitschert ti-ta-ti-ta, ein Buchfink macht zitt-zitt-zitt. Das klingt, als würde er rufen: »Ich bin fit, fit, fit.«

Wenn ich etwas Interessantes oder Lustiges über Vögel lese, schreibe ich es auf einen kleinen Zettel, damit ich es nicht vergesse, und die Zettel hänge ich dann an meine Pinnwand. Ich starrte auf die leere Stelle an der Wand, wo bis vor Kurzem noch die Pinnwand hing. Auch da war jetzt nur noch ein helles Rechteck. Bald würde es mein Zimmer so nicht mehr geben. Die ganze Wohnung sollte saniert und anschließend superteuer vermietet werden. Deshalb mussten wir ausziehen. »Zu teuer für uns«, meinte Mama. Genau wie die meisten anderen Wohnungen, die wir angeguckt hatten.

Mama war schon total in Panik, als uns auf einmal Onkel Gregor anrief. Onkel Gregor war vor vielen Jahren nach Spanien ausgewandert und besaß immer noch das alte kleine Haus in Münde. Ich konnte mich weder an Onkel Gregor noch an das Haus erinnern, jedenfalls erzählte Onkel Gregor Mama, das Haus sei ab sofort wieder neu zu vermieten und ob das nicht was für uns sei. Mama war sofort Feuer und Flamme. »Stellt euch vor, Kinder! Ein Haus mit Garten und eigener Werkstatt. Und alles für halb so viel Geld!« Anfangs hatte ich gehofft, Mama würde es sich vielleicht doch noch anders überlegen und wir könnten in unserer Wohnung bleiben. Vergeblich. Mama meinte, nie im Leben würde sie so viel Miete zahlen wollen, nicht mal, wenn sie das Geld hätte.

»Marie?« Mama kam in mein Zimmer und sah sich flüchtig um. »Detlef ist da! Holst du Spidy? Ich glaube, er ist im Hof …«

»Warum immer ich!«, fragte ich mürrisch.

»Jetzt geh schon, Marie! Sonst kommen wir hier nie weg!«

Ich stockte. Am liebsten wäre ich zu Adi geflüchtet. Oder zu Céline. So wie ich das immer getan hatte, wenn mich etwas nervte. Aber jetzt ging das nicht mehr, selbst wenn wir alle Zeit der Welt gehabt hätten. Denn wenn man sich erst mal von allen verabschiedet hat, ist es komisch, wenn man plötzlich wiederauftaucht. Dann sagen alle: »Was, du bist immer noch hier?«, und dann fühlt man sich total am falschen Platz. Obwohl der falsche Platz für mich der einzig richtige gewesen wäre. Ich rannte in den Hof und hoffte, dass ich niemandem mehr begegnen würde.

Ein paar Stunden später näherten wir uns Münde. Die Abendsonne hatte den Himmel in blutrotes Licht getaucht. »Schaut mal den schönen Sonnenuntergang an!«, rief Mama und reichte uns eine Tüte mit Brötchen nach hinten. Ich schüttelte den Kopf, Spidy griff zu. Mit dem Finger bohrte er ein Loch in sein Brötchen und klaubte den weichen Teig heraus.

»Weiß Papa eigentlich, wo wir hinziehen?«

Mama sah überrascht in den Rückspiegel. »Selbstverständlich weiß er das, Marie. Warum fragst du?« Mama drückte jetzt auf dem Navi herum. »Dieses blöde Ding funktioniert überhaupt nicht, Detlef!« Sie lachte, als ob das besonders lustig wäre. Seit wir von zu Hause weggefahren waren, war Mama bester Laune. Sie redete von nichts anderem mehr als von ihrem blöden Münde und davon, wie toll es dort werden würde.

Wir fuhren durch einen Wald mit einer endlosen Reihe schwarzer Tannen. Die Sonne war fast ganz am Horizont verschwunden. Mich fröstelte. Ich hatte keine Ahnung, wieso, gefährlich war es hier bestimmt nicht. Aber gleichzeitig wirkte alles so unwirklich und leer, als hätte jemand eine bemalte Waldkulisse neben die Straße geschoben. Ich fühlte mich eigenartig. Wie eine ausgeschnittene Papierpuppen-Marie, die man auf dem Autositz festgeklebt hatte, und die echte Marie war für immer weg. Ich schluckte.

»Für dich!« Spidy streckte mir sein ausgehöhltes Brötchen unter die Nase.

»Sicher nicht … iss das gefälligst selbst.«

Ich suchte auf meinem iPod, bis ich Adis und mein Lieblingsstück gefunden hatte. Leise summte ich mit. Spidy war eingeschlafen. Inzwischen war es dunkel geworden. Wir fuhren durch Dörfer mit kleinen Häusern, Tankstellen, Möbelläden und Friseursalons. Ab und zu sah man Frauen und Männer, die ihre Hunde spazieren führten. Ein Mädchen strampelte wie wild auf ihrem Fahrrad einen Feldweg entlang. Ob es stimmte, was meine Lehrerin gesagt hatte, dass ich in Münde innerhalb kürzester Zeit neue Freundinnen finden würde? Wieder verspürte ich dieses Frösteln. Was, wenn ich doch keine neuen Freundinnen fand?

Detlef bremste ruckartig. »Mensch, beinahe hätte ich die Straße verpasst. Hier ist es ja dunkel wie in einem Kuhbauch.« Detlef machte den Motor aus.

»Raus mit euch!«, sagte Mama und öffnete die Autotür. »Welcome in Münde!« Ich hatte keine Lust auszusteigen und drückte mich tiefer in den Autositz.

»Na, komm schon, beweg dich, Prinzessin!« Detlef grinste. Dann zeigte er auf das kleine gelbe Haus. »Das ist euer neues Eigenheim. Alle Achtung, ihr seid jetzt unter die Hausbesitzer gegangen. Von den Hausbesetzern zu den …«

»He, wir sind Mieter!«, rief Mama und versetzte ihm einen Knuff.

»Wer besetzt das Haus?«, fragte Spiderman.

Im Haus gegenüber brannte Licht. Eine Frau starrte zu uns herüber. Spiderman zeigte mit dem Finger auf das Fenster: »Was guckt die Frau?«

»Na ja, sie will einfach gucken, wer ihre neuen Nachbarn sind.« Mama lachte.

Neben dem kleinen Häuschen stand ein alter Holzschuppen. Die rote Farbe blätterte überall ab und die eine Fensterscheibe war kaputt. Das musste Mamas Werkstatt sein. Oder ihr Atelier, wie sie es nannte.

»Ich schau mir mal den Schuppen an«, sagte ich schnell. Ich hatte überhaupt keine Lust, beim Auspacken zu helfen.

Spidy lief hinter mir her. »Warte, Marie! Spiderman kommt auch mit!«

Im Schuppen roch es feucht und muffig. Dabei hatte Mama allen ihren Freundinnen erzählt, ihr neues Atelier sei gemütlich und hell. Vorsichtig tastete ich mit der Hand die Holzwand entlang. »Aua!« In meinem Zeigefinger steckte ein Holzsplitter. Hier drin war es wirklich kein bisschen gemütlich und einen Lichtschalter schien es auch nirgends zu geben.

»Marie, schau mal, was ich gefunden habe.« Mein Bruder stand vor der Tür und strahlte mich an. Langsam öffnete er seine Faust. »Eine tote Spinni! Und da hinten sind noch viel mehr! Alle futsch!« Spidy kicherte.

»Na toll.« Ich nahm meinen Bruder an der Hand und lief mit ihm zu unserem neuen Zuhause.

»Münde, Münde«, trällerte Spidy. »Welcome in Münde …!«

Das Licht im Haus gegenüber war erloschen. Aber ich hatte das Gefühl, immer noch beobachtet zu werden.

Mein neues Zimmer lag im oberen Stockwerk. Es roch nach frischer Farbe, eine Wand war eidottergelb gestrichen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Mama die Farbe je erwähnt hatte. Mir wäre Rot lieber gewesen oder von mir aus auch Lila, so wie in meinem alten Zimmer. Auf jeden Fall hätte sie mich fragen können. Ich machte die Tür hinter mir zu und setzte mich auf die Matratze. Draußen hörte ich eine Krähe. »Kra … kra ….« Da, wo der Holzsplitter in meinem Finger gesteckt hatte, war immer noch ein kleiner roter Punkt zu sehen. Wenn ich drauf drückte, spürte ich einen feinen Stich. Während ich meinen Finger inspizierte, vibrierte mein Handy. Adi. Was läuft? Ich schickte ihr ein grimmiges Ärger-Icon. Und als keine Antwort kam, ein zweites.

Eins war klar, ich mochte weder die gelbe Wand noch den muffigen Schuppen. Ich vermisste unsere alte Wohnung mit meinem kleinen gemütlichen Zimmer. Unten hörte ich Mama und Detlef lachen. Adi schrieb immer noch nicht zurück. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich saß in der Falle. Hier, in diesem »netten kleinen Münde«.

Auf den ersten Blick ist sie ganz unauffällig mit ihren graubraunen Federn. Aber wenn die Heckenbraunelle den Schnabel aufmacht, kann es laut und schrill werden.

Sonntag in Münde

Am nächsten Morgen war ich bereits früh wach. Die Sonne schien und alles sah viel freundlicher aus als bei unserer Ankunft. Sogar die gelbe Wand wirkte ganz okay. Aus der Küche wummerte Musik und jemand pfiff dazu. Das hieß, dass Detlef auch schon wach war. Detlef gehört zu den Menschen, die eigentlich immer gut gelaunt sind. Egal, was passierte. Selbst als Spidy versehentlich Detlefs Handy ins Schwimmbecken fallen ließ, blieb er ruhig und nett, was ich ziemlich erstaunlich fand.

Von meinem Fenster aus konnte ich in den Garten sehen. Mama plauderte mit einer Frau. Ich war mir nicht ganz sicher, ob die Frau, mit der Mama redete, dieselbe war, die uns gestern beobachtet hatte, aber sie sah ganz nett aus. Als ich mit Socken zu ihnen hinunterging, stellte mich Mama der Frau vor: »Das ist Marie, meine Tochter.« Die Frau nickte mir kurz zu.

Sie trug ein schickes lila Kleid mit einem weißen Kragen. Mama trug wie üblich ihren orangefarbenen Overall. »Oh ja, bei so einem Umzug gibt es sicher viel zu tun«, sagte sie. »Aber die neuen Mieter haben Glück mit Ihnen. Meine Putzhilfe würde ja nie an einem Sonntag arbeiten. Sie kommt aus dem Osten und da …«

Mama lachte laut, ein bisschen zu laut. »Ich bin nicht die Putzhilfe. Und ich könnte mir auch keine leisten. Nicht in tausend Jahren.«

Mein Gott, war das peinlich! Warum musste Mama immer diesen fleckigen Overall tragen. Ich drehte mich um und wollte schnell wieder ins Haus. Doch Mama hielt mich zurück. »Wart schnell, Marie. Das ist unsere neue Nachbarin, Frau … wie war doch gleich Ihr Name?«

»Kraemer mit ae«, sagte die Frau. »Tut mir leid, wenn ich da was durcheinandergebracht habe. Dann sind Sie also die Künstlerin?« Frau Kraemer musterte Mama neugierig. »Sie müssen wissen, mein Mann und ich mögen Kunst. Mein Mann schnitzt in seiner Freizeit Vögel.« Sie zeigte auf einen hölzernen Kranich, der drüben in ihrem Garten stand. »Aber als Vermögensverwalter hat man natürlich wenig Zeit für Hobbys. Leben Sie von Ihrer Kunst?«

Mama schüttelte den Kopf. »Bis jetzt noch nicht, aber mit diesem tollen Atelier …« Sie deutete auf den Schuppen in unserem Garten. »Endlich habe ich genug Platz, ich bin nämlich Eisenplastikerin. Aber im Moment suche ich tatsächlich einen neuen Brotjob. Wenn Sie was hören, ich bin ziemlich flexibel!«

Ich schaute Mama grimmig an. Warum musste sie das jetzt sagen? Sie hatte doch Geld. Erst vor Kurzem hatte sie ein riesiges Eisenrad verkauft.

»Dann ist das mit der Kunst also auch ein Hobby!«, stellte die Frau fest und lächelte zufrieden.

»Nein, ich bin Künstlerin!«, sagte Mama etwas schrill und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Das macht sie nur, wenn sie sich über etwas aufregt.

Frau Kraemer warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Um Himmels willen! Schon fast neun! Ich muss das Frühstück vorbereiten und danach Tiffany zum Reiterhof fahren. Sie wissen ja, wie das ist.«

»Mmh«, sagte Mama und legte mir den Arm um die Schultern. »Sollen wir mal nachsehen, ob Detlef schon Frühstück gemacht hat? Du und Spidy seid bestimmt schon am Verhungern.« Wieder lachte Mama ein wenig zu laut. »Vielleicht kann Marie Tiffany später in den Reitstall begleiten? Sie kennt hier nämlich noch keinen …«

»Mama!«, unterbrach ich sie entsetzt und wand mich aus ihrer Umarmung.

»Ein anderes Mal gerne«, sagte Frau Kraemer und verzog den Mund zu einem steifen Lächeln. »Aber heute passt es leider nicht.«

Dann wurde das Gespräch endgültig beendet, weil Spidy auf uns zugelaufen kam. »Spiderman hat schon wieder zwei Spinnis gefunden«, kreischte er vergnügt. Er streckte Frau Kraemer seine geschlossene Faust entgegen. »Magst du schauen?« Frau Kraemer machte einen Satz zurück.

»Mein kleiner Bruder sammelt tote Spinnen«, erklärte ich entschuldigend. »Ich mag Spinnen auch nicht besonders. Ich interessiere mich mehr für Vögel.«

»Aha«, sagte Frau Kraemer, immer noch mit einem leicht entsetzten Blick auf Spidy. »Und vielleicht sollte sich dein Bruder Schuhe anziehen. Morgens ist es bei uns ziemlich kühl.«

Mir fiel auf, dass auch ich immer noch in Socken dastand. »Ich finde es auch ein bisschen kühl«, sagte ich. »Tschüss, Frau Kraemer.« Ich ging zurück ins Haus und ließ Mama und Spidy im Garten stehen.

Den restlichen Morgen verbrachten wir mit Auspacken. »Wo hast du meinen Sitzsack hingetan?«, fragte ich Mama. Ich hatte das ganze Haus nach ihm abgesucht, aber er war nirgends zu finden.

»Keine Ahnung. Aber der taucht schon wieder auf.«

»Aber ich brauche meinen Sitzsack, jetzt! Er gehört mir! Ich habe ihn von meinem Taschengeld gekauft!« Meine gute Laune war wie verflogen.

Mama sah mich kopfschüttelnd an. »Marie, du tust gerade so, als ob du ohne den Sitzsack nicht leben könntest.«

»Kann ich auch nicht!« Mama begriff gar nichts. Sie hatte gesagt, ich soll mein Zimmer schön einrichten. Und dazu brauchte ich eben meinen Sitzsack. Er erinnerte mich an mein altes Zimmer. Und daran, wie schön mein Leben noch vor wenigen Tagen war.

»Ich geh noch ein wenig die Gegend auskundschaften«, verkündete ich nach dem Mittagessen.

Mama hämmerte auf einen Hocker ein, den sie mit einem gelben Stoff bezog. »Passt doch prima in dein neues Zimmer …« Spidy reichte Mama einen Nagel nach dem andern und Mama summte etwas. Detlef kniete vor Mamas CD-Gestell und sortierte die CDs, die Mama bereits eingeräumt hatte. Bloß raus hier! Eilig zog ich die Haustüre hinter mir zu.

Am Ende der Straße gab es einen Spielplatz, der ziemlich öde aussah. Unter einem Baum stand ein einsamer Pingpongtisch aus Beton und ohne Netz. Nicht einmal ein Klettergerüst gab es. Nur zwei armselige Schaukeln und einen großen Sandkasten mit feuchtem, dunkelgrauem Sand, in dem eine rote kaputte Plastikschaufel steckte. Außer einem Jungen, der mit seinem Skateboard übte, war niemand da. Ich beobachtete eine Weile, wie er sich auf das Brett stellte, Anlauf nahm, absprang, wie sich das Brett einmal in der Luft drehte und er mit beiden Füßen wieder auf dem Brett landete. Das sah ziemlich cool aus. Der Junge war älter als ich. Ich schätzte ihn auf dreizehn. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und ging auf ihn zu.

»Hallo«, sagte ich. »Ich heiße Marie und bin neu hier. Also, wir sind gestern erst hierhergezogen. Gestern Abend.« Wenn ich nervös bin, rede ich immer zu viel. Der Junge gab keine Antwort und sah konzentriert auf sein Brett. Beim nächsten Sprung landete er mit dem vorderen Fuß neben dem Skateboard. »Scheiße!«

»Was machst du?«, fragte ich. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

»Wonach sieht es denn aus?« Der Junge sah mich belustigt an.

»Alles klar«, sagte ich kleinlaut.

»Kein Problem.«

»Also dann«, sagte ich schnell. »Ich muss weiter.«

»Hm«, sagte der Junge.

»Tschüss!«

»Man sieht sich!« Der Junge sah kurz auf und grinste mich an.

So lässig wie möglich schlenderte ich davon. Ich schaffte es bis zur Hauptstraße, ohne mich umzudrehen. Dann überholte mich mit einem großen Bogen ein Auto und hupte kurz. Sicher, weil ich auf der falschen Seite der Straße ging. Bei der nächsten Abzweigung kam mir ein Mädchen in einem hellblauen Jogginganzug entgegen. Sie trug Kopfhörer und ging ziemlich schnell. Das sah lustig aus, weil sie eben nicht rannte, sondern bloß schnell ging. Ich nickte ihr zu. Das Mädchen nickte zurück und lächelte. Ob das Tiffany war?

Mit einem Mal überkam mich so etwas wie ein leises Glücksgefühl. Morgen war mein erster Schultag in der neuen Schule. Ganz sicher würde ich hier neue Freunde finden. Keine Frage! Der wortkarge Junge jedenfalls sah nett aus und das Mädchen auch. Als ich das Gartentor aufstieß, war ich wieder bester Laune. Mein Bruder rannte quer über den Rasen auf mich zu. Dabei fuchtelte er wie wild mit einem Seidenschal herum.

»He, gehört der nicht Bernadette?« Seit Papa nicht mehr bei uns wohnt und Detlef Mamas Freund ist, will sie, dass wir sie Bernadette nennen. Und manchmal tun wir das auch.

»Nein! Das ist Spidermans Netz! Damit werde ich dich fangen!«

»Vergiss es! Ich fange dich! Und dann mache ich aus dir Fliegenkompott!« Ich lachte.

Plötzlich war wieder alles wie früher, als ich Spidy durch den Hof gejagt und mit ihm Fangen gespielt hatte. Ich packte meinen kleinen Bruder und versuchte, ihn zu Boden zu drücken. Was gar nicht einfach war, weil er wie wild um sich schlug. Als ich ihn beinahe am Boden hatte, biss er mich in den Arm.

»Aua! Du kleiner tasmanischer Teufel!«

Spidy kreischte vor Vergnügen: »Niemand besiegt Spiderman!«

Mein Bruder rannte durch die offene Schuppentür und ich hinterher. Mama hatte sich schon ausgebreitet, überall standen Schrottteile und an der Wand stapelten sich Holzbretter für Mamas Werkbank. Im Halbdunkel stolperte ich über ihre Werkzeugkiste. »Spidy, du Monster, wo bist du? Spidy?« Keine Antwort.

Hinter einer Kiste entdeckte ich einen alten Einkaufskorb aus Draht, in dem ein braunes Lederetui war. Papas altes Fernglas! Ich nahm es heraus und schaute durch das Glas. Langsam drehte ich am Rädchen. Aber im Schuppen war es viel zu dunkel. Ich hängte mir das Fernglas um den Hals und rannte ins Haus, hoch in mein Zimmer, stieg über meine halb ausgepackten Kartons und stellte mich ans Fenster. Spidy hatte ich dabei ganz vergessen.

Mit so einem Fernglas hat man den perfekten Überblick. Jetzt konnte ich die ganze Nachbarschaft auskundschaften. Ein bisschen wie in einem Menschenzoo. In einem Garten am Ende der Straße entdeckte ich ein Schwimmbecken, in einem anderen ein Trampolin. Sogar den Spielplatz konnte ich ausfindig machen. Ich suchte nach dem Jungen. Aber eine graue Rauchwolke nahm mir die Sicht. Komisch, eine Feuerstelle war mir nicht aufgefallen.

»Mariiiiieee, was machst du?«

Ich zuckte zusammen. Ich hatte Spidy nicht die Treppe hochkommen gehört. »Nichts. Ich gucke nur …«

»Was guckst du nur?«

»Rauch. Ich glaube, beim Spielplatz brennt etwas.«

»Ich will auch gucken!« Spiderman packte sich das Fernglas. »Ich sehe nichts«, sagte er enttäuscht. »Marie«, sagte mein Bruder mit Grabesstimme, »kannst du mal gucken, ob der grüne Kobold auch da ist?«