Matt Fitzgerald

Iron Men

Das legendäre Triathlon-Duell
zwischen Dave Scott und Mark Allen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Delius Klasing Verlag

 

1. Auflage
Die Rechte für die deutsche Ausgabe liegen beim Verlag
Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld

Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für
Verlagsservice, München

www.delius-klasing.de

Inhalt

  1. Der Moment

  2. The Man

  3. The Grip

  4. Eine Leidensgemeinschaft

  5. »Du schon wieder«

  6. Dig Me Beach

  7. Der Schuss aus der Kanone

  8. Die Hitze des Rennens

  9. Auf der Suche nach der Vision

10. Dave Scott und die Suche nach dem Sinn

11. Mithilfe des Schamanen

 

Epilog

Danksagung

Über den Autor

1.

Der Moment

»Ein Held ist nicht mutiger als ein normaler Mann. Er ist nur fünf Minuten länger mutig.«

Ralph Waldo Emerson

Zwei Männer laufen Schulter an Schulter über den Queen Kaahumanu Highway auf Big Island, Hawaii, immer weiter in Richtung der Stadt Kailua-Kona. Die Straße, auf der sie entlangrennen, ist nur eine schmale Straße inmitten einer Lavawüste, die kein Leben zulässt – von einigen wenigen Grasbüscheln einmal abgesehen. Die Wolken am Himmel schließen die stickige Schwüle unter sich ein, so wie ein Deckel die Feuchtigkeit in einem Kessel hält. Ein dünner Schweißfilm überzieht die Haut, unter der die Muskeln ihre Kraft verfeuern.

Beide Männer sind groß und schlank, beide haben die charakteristischen Beine von Triathleten, die schlanker als die von Radfahrern sind, aber muskulöser als die von Läufern. Beide Männer verstecken ihre Augen hinter Sonnenbrillen, aber ihre eingefallenen Wangen sind ein Indiz für ihre Müdigkeit.

Sie sind nicht allein. Eine ganze Karawane von Motorrädern, Fahrrädern und Autos reiht sich hinter ihnen auf, voll besetzt mit Menschen, die dieses Spektakel miterleben wollen. Die meisten Fahrzeuge dürften gar nicht hier sein, denn eigentlich ist der Highway für den normalen Verkehr gesperrt. Aber die Racemarshalls haben längst die Kontrolle über das Geschehen verloren und lassen sie gewähren. Sie hat dieses Schauspiel so sehr in den Bann gezogen, dass sie auch nur noch mitfahren und zusehen können.

Die ganze Szenerie mit dieser leisen, den Athleten folgenden Karawane sieht aus wie ein Amphitheater, das sich still bewegt. Aus lauter Angst, die Spannung zu zerstören, verliert niemand ein Wort. Von einigen Anfeuerungen der Helfer an den Verpflegungsstationen abgesehen, sind die rhythmischen Atemzüge und die Schritte der beiden Athleten auf dem heißen Asphalt die einzigen Geräusche.

»Weiter so!«, ruft ein junger Mann, als die Läufer seine Verpflegungsstelle erreichen. »Weiter so!«, wiederholt er, und applaudiert dabei nicht für einen der beiden Athleten, er honoriert die Leistung an sich und ist überglücklich, dass auch er Zeuge dieser einmaligen Situation sein darf. Es ist der größte Showdown in der Geschichte des Triathlonsports. Seit acht Stunden kämpfen die beiden herausragenden Athleten dieses Sports gegeneinander, und in dieser Zeit waren sie nie mehr als nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt.

Der rechte Mann, in Grün, Schwarz und Weiß gekleidet, ist Dave Scott. Er hat die Ironman-Weltmeisterschaft auf Hawaii schon sechsmal gewonnen. Der Läufer in Gelb, Schwarz und Weiß ist Mark Allen, der schon sechsmal auf Hawaii verloren hat, aber überall sonst auf der Welt schon jedes Rennen gewinnen konnte.

Die beiden laufen weiter. Schnell. Nicht so schnell, wie sie können, vielmehr gerade so schnell, wie der jeweils andere vermeintlich noch kann – nach 3,8 Kilometern Schwimmen, 180 Kilometern Rad fahren und 38 Kilometern Laufen. Das alles in sengender Hitze. Jeder versucht, mit seinem Tempo Geist und Körper des Gegners zu brechen. Beide scheinen alles aus sich herauszuholen, doch noch will der Konkurrent einfach nicht aufgeben.

In den Athleten tobt ein Krieg: Unvorstellbares Leiden kämpft gegen das unbedingte Verlangen, den Schmerzen widerstehen zu wollen. Beide wollen das Rennen gewinnen. Unter anderen Unständen wären sie vermutlich nicht einmal mehr in der Lage, noch einen einzigen Schritt zu machen. Doch hier und jetzt laufen sie einen Schnitt von 3:40 Minuten pro Kilometer. Sie glauben fest daran, dass der mögliche Sieg diese Schmerzen rechtfertigt.

Die Zuschauer an der Ziellinie in Kailua-Kona erwarten die Athleten in freudiger Erregung. Von dem Kampf auf dem Queen K Highway bekommen sie nur wenig mit, nur vom Sprecher im Zielbereich erhalten sie ein paar Informationen. Doch die reichen aus, um die Menge zu elektrisieren.

Während die Zuschauer in Kailua-Kona warten, unterbricht ein Athlet auf dem Highway abrupt seinen Lauf. Er liegt auf dem 27. Platz, seit Monaten hat er sich auf diesen Tag mit hartem Training vorbereitet. Und doch stoppt er und bestaunt Dave Scott und Mark Allen, als er ihnen auf der Wendepunktstrecke entgegenkommt. Für einige Sekunden ist ihm seine eigene Leistung gleichgültig: Er applaudiert wie alle anderen Zuschauer auch.

Ein Fotograf springt vom Soziussitz eines Medienmotorrads. Er will neben den beiden Wettkämpfern laufen, um Nahaufnahmen der Athleten zu machen. Doch sehr schnell erkennt er seinen Fehler. Zwar ist er noch jung und hat eine athletische Figur, aber bereits nach knapp 50 Metern muss er aufgeben. Bevor er wieder auf das Motorrad steigt, schaut er den Athleten hinterher. Seine Kamera baumelt immer noch um seinen Hals. Er hat schlicht vergessen, ein Bild zu machen.

Auf dem Kofferraum eines Cabriolets, ungefähr 50 Meter hinter Dave und Mark, sitzt der 38 Jahre alte Herausgeber des in San Diego beheimateten Magazins Competitor. Er hat ein breites Grinsen im Gesicht. Er glaubt, dem größten Rennen beizuwohnen, das jemals stattgefunden hat. Die Schlagzeile für die nächste Ausgabe seines Magazins steht jetzt schon fest: »Iron War«.

Der Ironman-Wettkampf des Jahres 1989 ist für den jungen Triathlonsport von herausragender Bedeutung. Das Rennen ist quasi der Sport, es ist das einzige Rennen, das wirklich wichtig ist. Denn den Zuschauern und Sponsoren ist es ganz egal, wie viele Rennen jemand gewinnt – es ist der Sieg beim Ironman auf Hawaii, der zählt. Deswegen nehmen auch Athleten wie Mike Pigg daran teil, der für seine Leistungen bei Kurzdistanzrennen berühmt-berüchtigt ist, für den der Ironman jedoch eigentlich viel zu lang ist. Auch Scott Molina ist dabei. Er kommt immer wieder nach Hawaii, obwohl er in der Hitze nicht sein volles Potenzial zeigen kann – an kühleren Wettkampforten hat er schon viele Rennen gewonnen. Im Vorjahr gelang ihm der Sieg auf Hawaii dann doch – Dave nahm an diesem Wettkampf nicht teil, und Mark war in jenem Jahr schlichtweg vom Pech verfolgt. Sogar der Duathlonstar Kenny Souza versucht sich am Ironman, obwohl er nicht einmal vernünftig schwimmen kann.

In allen anderen Rennen scheint Mark Allen unschlagbar zu sein. Neun von neun Rennen hat er im Vorfeld gewonnen. Bei zweien davon hat er Dave Scott geschlagen. Doch auch in seiner Rechnung zählen diese Siege nichts.

»Wenn du zum Ironman kommst, kannst du alles, was du zuvor gemacht hast, in den Mülleimer werfen«, sagte Mark in einem Gespräch mit ABC Sports vor dem Ironman im Jahre 1987. »Das bedeutet dann alles nichts mehr.«

Es ist dieses eine Rennen, welches er unbedingt gewinnen will und bei dem er schon viele bittere Niederlagen einstecken musste. Dave hingegen konnte diesen kostbaren Sieg bereits mehrfach genießen.

Denn Dave Scott dominiert den Ironman. Vor dem heutigen Tag startete er siebenmal auf Hawaii, sechsmal gewann er den Wettkampf, nur einmal wurde er Zweiter. Bei seinen Triumphen schlug er seine Konkurrenten vernichtend. Als er zu Beginn des Marathons beim Ironman 1983 20 Minuten hinter Scott Tinley lief, sagte er den ABC-Leuten in die Kamera: »Ich werde den Typen beerdigen.« Und es folgte genau das, was er großspurig angekündigt hatte.

Seitdem nennt man ihn schlicht The Man.

Mark Allen ist der Einzige, der ihm das Wasser reichen kann. Fast alle Triathlons konnte er gewinnen, mit Ausnahme von Hawaii. Sein Spitzname ist The Grip. Er nimmt seine Gegner in den Würgegriff.

Es kommt nur sehr selten vor, dass zwei Athleten, die ihren Sport über fast eine Dekade dominieren, ihre beste Leistung an ein und demselben Tag abliefern. Doch Dave Scott und Mark Allen gelingt es an diesem Tag. Hier, auf den letzten Metern des Marathons, laufen sie fünf Kilometer vor den Verfolgern. Und mit jedem neuen Schritt kommen sie der 2:40-Stunden-Marke näher – bei 32 Grad Celsius im Schatten. Zuvor schwammen sie 50 Minuten durch die Wogen des Pazifiks und radelten viereinhalb Stunden lang als Einzelzeitfahrer über den heißen Asphalt des Highways. Tatsächlich bewegen sie sich in Bereichen der körperlichen Leistungsfähigkeit, die bisher für unmöglich gehalten wurden.

Zu Beginn des Jahres hatte Bob Babbitt in weiser Voraussicht beide Athleten auf dem Titel seines Magazins in der typischen Boxer-Pose dargestellt: Rücken an Rücken stehen sie da, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Natürlich mache ich so ein Foto – wenn Dave hierher kommt«, hatte Mark, der in Boulder, Colorado, lebt, auf die Frage von Bob Babbitt geantwortet. Ob Dave für ein solches Fotoshooting zur Verfügung stehe? »Sicher mache ich es – wenn Mark zu mir kommt«, lautete Daves Antwort.

Am Ende löste der Journalist das Problem, indem er jeweils einen Fotografen zu den beiden Sportlern schickte und die einzelnen Fotos im Nachhinein zum Titelbild zusammenfügte. Auf diesem Foto schienen die Kontrahenten genauso nah beieinander zu sein, wie sie es jetzt auf dem Highway sind. Die Überschrift lautete damals: »Showdown on the Kona Coast.«

Nun ist es nicht so, dass sich Dave und Mark hassen – sie mögen sich einfach nur nicht besonders. Und jetzt zählt nur dieses eine Rennen, und nur einer kann es gewinnen. Sie wirken wie zwei ausgehungerte Tiger, die sich um die Beute streiten. Dave war bereits eine Ironman-Legende, als Mark noch nicht einmal ein Rennrad besaß. Aber Mark hatte schnell aufgeholt und wollte den Älteren beerben. Dave wollte dies unter allen Umständen verhindern, und das wusste Mark auch.

»Es war so, als ob ein Mann nach einem harten Arbeitstag nach Hause kommt und nun erwartet, dass sich seine Familie um ihn kümmert«, schrieb Mark über Dave in seinem 1988 erschienenen Buch The Total Triathlet. »Aber als er nun in sein Zuhause nach Hawaii kam, musste er feststellen, dass schon jemand in seinem Haus war. Dieser jemand genoss bereits alle Aufmerksamkeit. Und dieser jemand war ich.«

Dave hat Mark schon fünfmal auf Hawaii geschlagen, und dennoch kann er sich nicht sicher sein, dass es ihm dieses Mal wieder gelingt. Denn überall sonst in der Welt hatte Mark Dave bereits besiegen können. Zudem trug jede Niederlage auf Hawaii dazu bei, dass Marks Verlangen nach einem Sieg beim Ironman größer wurde. Beide Männer wissen, dass Mark in der Lage ist, Dave auch hier zu besiegen. Oder besser gesagt: Der eine befürchtet dies, und der andere hofft darauf. Zweimal lief Mark als Zweiter hinter Dave ins Ziel. Und beide Male lag er weit in Führung, bevor er dramatisch einbrach. Viele sind der Meinung, dass Dave in den Rennen nicht wirklich besser war, sondern das Rennen einfach besser im Griff hatte.

»Es war nicht so, dass meine Konkurrenten mich geschlagen haben, egal, ob es sich um Dave oder Scott Tinley oder irgendjemand anderes gehandelt hat, der vor mir das Ziel erreichte«, sagte Mark gegenüber dem TV-Sender ABC kurz vor dem Rennen am heutigen Tag. »Es war immer die Strecke, die mich bezwungen hat, es waren die Elemente, der Wind, die Hitze, die Luftfeuchtigkeit und die achteinhalb Stunden unter der sengenden Sonne.«

Es schien so, als sei es Marks Schicksal, dieses Rennen nie gewinnen zu können. Deutlich wurde dies vor allem beim Rennen im Jahre 1988. Dave Scott hatte das Rennen aufgrund einer Verletzung kurzfristig absagen müssen, und Mark war somit eindeutig der Favorit. Im Rennen musste er dann zweimal den Reifen aufgrund von Plattfüßen wechseln, am Ende blieb ihm nur Rang fünf.

Jetzt, ein Jahr später, ist Dave gesund, und Mark scheint sein Pech endlich hinter sich gelassen zu haben. Ihren aufgestauten Frust des Vorjahres haben beide in unbändigen Hunger auf den Sieg umgewandelt. Sowohl Dave als auch Mark hatten bei den Vorbereitungsrennen im Sommer ihre besten Karriereleistungen gezeigt. Mark blieb ungeschlagen. Dave stellte bei einem Ironman-Rennen in Japan mit 8:01:32 Stunden einen neuen Weltrekord auf. Wurde im Vorfeld in Umfragen nach den Favoriten gefragt, fielen ihre Namen als einzige. Der Vorjahressieger Scott Molina ist nicht einmal an den Start gegangen, wohl wissend, dass sein Triumph nur eine Art Abstauber war. Scott Tinley, der auf Hawaii zweimal gewinnen konnte, kann definitiv nicht mehr mit den beiden mithalten, da sind sich alle einig, Dave und Mark sind nur noch drei Kilometer vom Ziel entfernt und dem Rest des Feldes uneinholbar enteilt.

Die Konkurrenz der beiden Männer wird bei den Wettbewerben sichtbar. Doch die beiden Männer verfolgen gegensätzliche Lebensphilosophien. Mark ist seit einiger Zeit ein sehr spiritueller Mensch. Er meditiert, trainiert intelligent und nimmt sich auch einmal einen freien Tag, wenn er der Meinung ist, dass sein Körper diesen benötigt. Dave hingegen gehört der guten alten Fraktion der Viel-hilft-viel-Sportler an. Für ihn ist jedes Training ein Wettkampf und jedes Rennen ein Leidensweg. Meditation? Nein danke.

Wie viele andere Athleten ist Dave genau dann am besten, wenn er wütend ist. Er glaubt, dass ihn ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Konkurrenten schwächen würde. Darum trainiert er fast ausschließlich allein fernab von allem Trubel in seinem Heimatort. Er wertet dies als Vorteil, weil er der Meinung ist, dass kein anderer Triathlet freiwillig dorthin kommt. Dave gegen den Rest der Welt – so mag er es.

Währenddessen trainiert Mark mit Tinley, Molina, Pigg und Souza im sonnigen, von malerischen Sandstränden umgebenen San Diego, dem Epizentrum des Triathlonsports.

Normalerweise ist Dave freundlicher Natur, dennoch gibt er sich stets große Mühe, kleine Sticheleien und Beleidigungen in Richtung seines Konkurrenten loszuwerden. Damit steigert er seine eigene Aggressivität für die Rennen. Ein Beispiel? Bitteschön: 1987 warb eine Müslifirma mit Mark Allen auf ihren Verpackungen, darüber stand »Ironman-Ernährung«.

»Das ist doch ein Witz«, ätzte Dave, »Mark hat noch nie den Ironman gewonnen, und die ganzen Körner sind eh nicht gut für ihn.«

Beim Ironman-Rennen desselben Jahres ließ er seinen Worten Taten folgen: Er lag beim Marathon zunächst vier Minuten hinter Mark, holte den Rückstand auf und kam schließlich mit elf Minuten Vorsprung ins Ziel. Eine Demütigung seines Konkurrenten! Mark musste nach dem Rennen sogar ins Krankenhaus, so schlecht ging es ihm.

Die beiden Konkurrenten haben beim Training immer den anderen im Kopf und wissen genau, welches Ziel sie zu verfolgen haben: den anderen bezwingen. Wenn sich ihre Wege außerhalb eines Rennens kreuzen, gerät ihr Blut jedes Mal in Wallung. Auf der Pressekonferenz zwei Tage vor dem Rennen grüßten sie sich nicht. Sie sahen sich noch nicht einmal an, obwohl ihre Stühle direkt nebeneinander standen. Jetzt aber, da sie hier nebeneinander laufen, fühlen beide ganz genau, was im anderen vorgeht und ob der Konkurrent gerade stark oder schwach ist. Denn wie bei fast allen großen Sportrivalen gibt es bei all den Feindseligkeiten, die Dave und Mark trennen, auch eine Ebene der Vertrautheit.

Aber wer ist dieses Mal am Ende der Stärkere? Zu diesem Zeitpunkt weiß das weder Dave noch Mark, und die Zuschauer wissen es erst recht nicht. Einer der beiden Männer wird den anderen bald niederkämpfen und dessen Willen, dessen Körper sowie dessen Geist bezwingen. Aber wer wird es sein? Es wird letztlich nicht darum gehen, wer der Schnellere ist. Der stärkere Wille wird den Kampf entscheiden, nicht die körperliche Leistungsfähigkeit. In diesem Moment sind beide bereits viel weiter als jemals zuvor in die Bereiche des Schmerzes vorgedrungen, beide haben die vermeintliche Grenze der Leidensfähigkeit bei Weitem überschritten. Der Gewinner wird derjenige sein, der sich noch weiter in diese unheimlichen Tiefen vorwagt. Acht Stunden des härtesten Rennens gipfeln in einer Mutprobe.

Bei Ausdauerrennen ist die Fähigkeit, das richtige Tempo zu wählen, entscheidend. Jeder Sportler muss immer ein klein wenig seiner Energie zurückhalten. Aber wie klein darf oder muss diese Reserve sein? Während sie südwärts auf das Ziel in Kailua-Kona zulaufen, riskieren Dave Scott und Mark Allen alles. Beide haben die Maske fallen lassen. Beide wollen um jeden Preis gewinnen. Es ist eine Minute vor drei Uhr am Nachmittag des 14. Oktober 1989 – es ist der entscheidende Moment, jetzt zählt es.

2.

The Man

»Die Natur stattet jede Kreatur und jeden Menschen, die sie auf diese Erde bringt, mit einem kleinen Überschuss ihrer besonderen Qualität aus.«

Ralph Waldo Emerson

Im Herbst 1967 war Dave Scott 13 Jahre alt und besuchte die siebte Klasse an der Davis Junior High School in Davis, Kalifornien. An jedem Schultag wartete er morgens vor seinem Elternhaus auf den Bus. Allerdings stieg er nicht ein, wenn dieser vorbeikam, vielmehr verfolgte er das gelbe Vehikel mit seinem Dreigangrad. Ein Rennen mit dem Schulbus, fünfmal pro Woche.

Davis war damals eine kleine Stadt, die von der Landwirtschaft geprägt war. Nur Zwiebelfelder und Mandelbaumhaine begrenzten die flachen und sehr geraden Straßen, die von Scotts Haus – einem komfortablen Eigenheim beim El Macero Country Club am Rande der Stadt – bis zum fast zehn Kilometer entfernten, zentral gelegenen Junior-High-Gebäude führten. In der Regel war wenig Verkehr auf diesen Straßen und morgens um 7.15 Uhr so gut wie gar keiner. Nur dieser Junge auf seinem Fahrrad und der Schulbus, Seite an Seite. Die Kinder, die auf der rechten Seite des Busses saßen, beobachteten ihren Schulkameraden amüsiert: Wie verrückt trat dieser in die Pedale und raste neben dem brummenden Gefährt her. Zwischen den Haltestellen ging der Bus stets in Führung, aber Dave konnte ihn immer wieder einholen, wenn wieder Schulkinder einstiegen.

Der Bus konnte das erste Rennen noch gewinnen. Aber der Abstand war so gering, dass der Geschlagene genug Motivation schöpfte, es erneut zu versuchen. Am folgenden Tag verlor Dave erneut. Der Abstand war jedoch noch geringer als beim ersten Mal. Schon beim dritten Versuch triumphierte Dave. Fortan behielt er dieses morgendliche Ritual bei, selbst bei schlechtestem Winterwetter, gefrorenem Boden oder dichtem Nebel.

Zwischen Scotts Haus und der Schule stand eine einzige Ampel. An einigen Tagen leuchtete sie bei der Ankunft des Busses grün, an anderen rot. Musste der Bus stoppen, weil die Ampel auf Rot stand, war klar, dass Dave den Bus schlagen würde, was er immer als eine Art Betrug empfand. Er mochte es lieber, wenn der Bus freie Fahrt hatte, denn dann konnte er ihn in einem fairen Kampf besiegen.

Der junge Dave Scott stand immer unter Strom, und seine Energie schien seinen Körper sprengen zu wollen. Deswegen baute er so viele körperliche Aktivitäten wie möglich in den Tag ein. Es war die einzige Möglichkeit, mit den Aktivitätsdrang umzugehen. Diese Energie trainierte er sich nicht an, damit wurde er geboren.

Seine Kindheit war so normal, wie die eines amerikanischen Kindes nur sein konnte. Davis war eine kleine Universitätsstadt, nur 20 Kilometer von Sacramento entfernt – eine Art gehobene Kleinstadt des Westens, mit breiten, von Bäumen gesäumten Straßen, komfortablen, aber unaufdringlichen Häusern und akkurat gepflegten Rasenflächen. Das Haus der Scotts war eigens für die fünfköpfige Familie errichtet worden und in jeder Hinsicht typisch für diese Gegend – ein zweistöckiges, mit einer geraden Front versehenes Kolonialhaus und mit einem Interieur, das aus der amerikanischen Familien-TV-Serie Ozzie and Harriet hätte stammen können.

Dave wuchs zusammen mit seiner älteren Schwester Patti und seiner jüngeren Schwester Jane auf, behütet von den Eltern Verne und Dorothy Scott. Die aus Michigan stammende Mutter war immer locker drauf, doch die fürsorgliche Frau und Mutter konnte auch sehr energisch werden, wenn es notwendig war. Sie liebte ihre Kinder und dokumentierte, wie diese aufwuchsen – von den Schulaktivitäten bis hin zu den sportlichen Erfolgen hielt sie alles akkurat in Fotoalben fest. Obwohl »Dot« selbst keine Sportlerin war, hatte Dave sein sportliches Talent wohl doch von ihrer Familie geerbt: Dots Bruder, Jim Forshee, war einer der besten Läufer der USA. Wie die meisten Väter am Elmwood Drive unterrichtete auch Verne an der Universität. Bei den Nachbarn war er als hart arbeitender, sehr kompetenter und bescheidener Mann bekannt und beliebt. Er war ein Mann mit Werten, und so beschäftigte Verne seine Kinder stets mit Hausarbeiten, um sie Disziplin und den Wert des Geldes zu lehren. Die Kinder lernten mitzuhelfen, und ihr Verdienst war abhängig von der Schwere der jeweiligen Arbeit. Verne war sehr gesellig und lud die Nachbarn öfter einmal zum Grillen ein und spielte der Familie Walker von gegenüber ab und an ganz gern Streiche. Zur Arbeit fuhr er stets mit einem Dreigangrad, und mit ein wenig Tennis und Golfen hielt er sich zusätzlich fit.

Schon bevor Dave das Rennen gegen den Bus fuhr, wurde der Vater darauf aufmerksam, dass sein Sohn große Freude an körperlicher Aktivität hatte. Jeden Sonntag gingen die Scotts in die Kirche, in der Verne den Gottesdienst mitgestaltete. Dave fühlte sich dort immer miserabel – er wurde in einen Wollanzug gesteckt, musst eingezwängt in der Mitte einer Kirchenbank Platz nehmen und war umgeben von älteren Damen, die viel zu viel Parfüm aufgetragen hatten. Dieses sonntägliche Ritual fiel dem bewegungsfreudigen Dave schwer, und an einem Sonntag im Sommer war es so weit: Er konnte es einfach nicht mehr ertragen. Also kroch er während einer kleinen Pause unter den Kirchenbänken hindurch, ging zu seinem Vater und fragte: »Dad, würde es dir was ausmachen, wenn ich nach Hause gehe?«

Verne zögerte und wollte seinem Sohn diesen Wunsch eigentlich verweigern. Aber er sah dessen unglücklichen Gesichtsausdruck.

»Natürlich, geh ruhig nach Hause«, antwortete er.

Einen Schlüssel benötigte Dave nicht. Das Haus der Scotts war, wie jedes Haus in Davis, nicht verschlossen, selbst dann nicht, wenn niemand da war. Dave rannte aus der Kirche und hatte sich bereits des Jacketts entledigt, noch bevor er den Bürgersteig erreichte. Er sprintete in Richtung des Elternhauses, das rund zweieinhalb Kilometer von der Kirche entfernt lag. Nach einem Kilometer hatte er noch nichts von seiner Geschwindigkeit eingebüßt. Er fühlte sich wunderbar und spürte keinerlei Erschöpfung. Sein Körper und sein Geist waren wie dafür gemacht.

Die Scott-Familie machte die meisten Dinge zusammen. Also traten Patti, Dave und Jane gemeinsam dem Schwimmverein Davis Aquadarts bei, der 1960 in Davis gegründet wurde. Im Wasser entwickelte Dave endgültig seine große Liebe zum Ausdauersport.

Trotz seines damals sehr schlechten Kraulstils – kein Trainer konnte ihm das jemals abgewöhnen – wurde Dave im Becken immer stärker, und schon bald war er der schnellste Schwimmer seiner Altersklasse. Was allerdings nicht unbedingt an seinem herausragenden Talent lag. Vielmehr fühlte er sich getrieben, zu jeder Zeit alle anderen übertreffen zu wollen. Der Gedanke, ein Rennen zu verlieren, war für ihn schlicht inakzeptabel. So machte er jede geschwommene Trainingsbahn zu einem Rennen.

Im Gegensatz zu den anderen Kindern, die zwei oder drei Einzel- und ein oder zwei Staffelrennen an einem Wettkampftag schwammen, nahm Dave an jedem Rennen teil. Kaum war er nach dem einen Rennen aus dem Pool geklettert, sprang er auch schon wieder hinein. So ging das den ganzen Tag lang. Und dabei war er im zehnten oder gar zwölften Wettkampf noch genauso stark wie in seinem ersten.

Mit zwölf Jahren schwamm Dave beim California State Fair Swim Meet insgesamt 13 Rennen. In allen Rennen – außer in einem – wurde er von einem Schwimmass aus dem Mittleren Westen geschlagen. Dieser Junge verfügte über einen sehr schönen Stil und hörte auf den klangvollen Namen Murphy Reinschreiber. Diese Niederlagen konnte Dave niemals vergessen. 16 Jahre später traf Dave Murphy vor einem Triathlonrennen wieder. Er ging auf ihn zu und tippte ihm mit einem Finger auf die Brust.

»Ich kann mich genau an dich erinnern«, sagte er, »du hast mich 1966 beim California State Fair Swim Meet in zwölf von 13 Rennen geschlagen. Heute zahle ich es dir heim!«

Keine andere Disziplin ist für Jugendliche so anstrengend wie der Schwimmsport. Die meisten Kinder lastet das Schwimmen total aus. Die meisten wohlgemerkt – aber nicht Dave Scott. Heutzutage bezeichnet man ein Kind mit einer solch unbändigen Energie gern als »hyperaktiv«. In den 1960er-Jahren wurde Dave glücklicherweise nicht derart stigmatisiert. Er gab seinem Bewegungsdrang nach und kanalisierte ihn dadurch, dass er jeglichen Sport betrieb, den er finden konnte. Vom Schwimmen wechselte er zum Baseball. Schon bald wurde er, mit Schläger und Handschuh bewaffnet, zu einem kleinen Star der Liga. Dann schaute er beim Tennis und Golfen vorbei, und im Alter von nur 13 Jahren spielte er mit Handicap 11. Auf der Highschool war er ein bemerkenswert guter Footballspieler, quasi nebenbei war er vier Jahre lang auf den Basketballcourts unterwegs, und zwei Jahre lang spielte er Volleyball. Zudem durfte auch das neu gegründete Wasserballteam Dave in seinen Reihen begrüßen.

Obwohl er in allen Sportarten sehr gut war, war er niemals der Beste in einer Disziplin. Um das zu erreichen, trainierte er hart. Aber in jeder Sportart stand ihm ein Murphy Reinschreiber im Weg. Überall gab es diesen einen Typen, der mit einem speziellen Talent gesegnet war.

Seine schwärzesten Stunden im Sport erlebte Dave während seines zweiten Jahres an der Highschool. Seine Mühen hatten ihm zu Beginn der Saison einen Platz in der ersten Formation der Basketball-Schulmannschaft eingebracht. Als das Team immer häufiger Niederlagen kassierte, wechselte Trainer Denis Pytel immer öfter die zwar fauleren, aber elegant spielenden Schulkameraden ein. Den ungraziös spielenden Dave verbannte er in die zweite Reihe. Irgendwann durfte Dave nur noch die Sitzfläche der Ersatzbank warm halten. Am Ende wurde er lediglich in den letzten, meist unwichtigen Minuten eines Spiels eingesetzt. Dave fühlte sich ungerecht behandelt.

Im letzten Saisonspiel des Teams waren nur noch 59 Sekunden zu spielen. »Scotty, du musst rein«, sagte der Trainer zu ihm. Dave hasste es, »Scotty« genannt zu werden. »Ich gehe da nicht rein«, antwortete er. Warum hätte er es auch tun sollen? Warum sollte er ein Spiel spielen, bei dem hartes Training und harte Arbeit scheinbar nicht zählten? Er war der Überzeugung, dass der härteste Arbeiter immer der Gewinner sein sollte. Dieses Prinzip war doch nur fair. Als Konsequenz arbeitete Dave noch härter an sich.

Als Footballspieler wuchtete Dave Gewichte, was ihm neue Einblicke in die allgemeine Athletik eines Sportlers brachte. Bis dahin hatte er immer nur für eine bestimmte Disziplin trainiert, das Krafttraining war eine neue Erfahrung für ihn – etwas, das er zusätzlich machen konnte. Und während seine Teamkameraden nur im Kraftraum anzutreffen waren, wenn es der Trainer verlangte, arbeitete Dave von nun an das ganze Jahr über an seiner Athletik – auch noch spät am Abend, wenn das normale Training längst erledigt war.

Seine Eltern ließen in ihrem Garten einen zehn Meter langen Swimmingpool bauen, sodass ihr Sohn zu jeder Tages- und Nachtzeit schwimmen konnte. Am schlimmsten war es für Dave, wenn er wegen Krankheit oder eines Familienurlaubs keinen Sport treiben konnte. Dann fühlte er sich miserabel. Ein Tag war noch in Ordnung, aber schon nach zwei Tagen ohne Sport ging es ihm schlecht, und drei Tage waren eindeutig mehr, als er ertragen konnte. Er war als offenherziger und positiv gestimmter Mensch bekannt, doch an solchen Tagen wurde er ein zurückhaltender und gereizter Zeitgenosse. Dann veränderte sich seine ganze Persönlichkeit. Er war einfach nicht er selbst, wenn er nicht die Möglichkeit hatte, sich zu bewegen.

Schon in früher Jugend hatte Dave die Vision von Perfektion. Er bemerkte schnell, dass ein bisschen Training gut, viel Training aber noch viel besser war. Also beschloss er, wenn er schon nicht das fitteste Lebewesen auf Erden werden konnte, doch wenigstens zum fittesten Menschen der Welt zu werden. Schon Jahre zuvor hatte er das Guinness-Buch der Rekorde so lange studiert, bis es ihm vor Müdigkeit aus den Händen gefallen war. Superlative faszinierten ihn, und er träumte davon, dass eines Tages auf einer Seite seines Lieblingsbuches eine seiner Ausdauerleistungen beschrieben werden würde. Diese Vision ließ ihn nicht mehr los. Doch zunächst musste er sich damit abfinden, dass er seinem angestrebten Ideal noch lange nicht entsprach. Als Selbstschutz entwickelte er immer mehr Selbstironie. »Mein Schwimmstil ist entsetzlich.« Sätze dieser Art bekamen Journalisten von ihm häufiger zu Ohren.

Dave wuchs zu einem prächtigen jungen Mann heran: groß, schlank, blond, mit einem braunen Teint. Bei Mädchen kam er gut an, sie mochten seine Augen – nicht so sehr die Augen selbst, sondern vielmehr seine leicht hängenden Lider, die ihm einen hypnotischen Blick verliehen. Und sie mochten seine langen Wimpern, die sehr feminin wirkten. Dave wurde immer selbstsicherer, was seine Ausstrahlung betraf. Doch bald kehrte sich dieses Gefühl ins Gegenteil um, und er fand sich schon mit fünf oder sechs Prozent Körperfett als »zu dick«. Keinesfalls präsentierte er sich der Öffentlichkeit ohne T-Shirt. Sein einziger Makel aber war – wenn er überhaupt einen besaß – seine zu schmale Oberlippe. Die hatte er von seinem Vater geerbt. Sobald es möglich war, bedeckte Dave dieses kleine Problem mit einem Schnauzbart, der zu seinem Markenzeichen wurde.

»Meine größte Motivation ist es, meinen eigenen Standards zu genügen«, sagte er in einem seiner ersten Interviews. »Meine größte Angst ist, ihnen nicht entsprechen zu können.«

Es war ein extrem heißer Nachmittag im September 1978, an dem Linda Buchanan in ihrem Zimmer an der Universität in Davis saß, um an ihren Hausaufgaben zu arbeiten. Der Raum hatte keine Klimaanlage, deshalb hatte sie das Fenster weit geöffnet. Plötzlich hörte sie ein heftiges Atmen, welches von der Rasenfläche des College kam. Sie legte ihre Bücher beiseite und schaute aus dem Fenster. Sie sah einen jungen, braun gebrannten Mann ohne T-Shirt, der in der sengenden Hitze über das Grün rannte und dabei laut keuchte. »Ziemlich verrückt«, dachte sie.

Einige Tage später wiederholte sich dieses Szenario. Dann wurde es zu einem sich regelmäßig wiederholenden Schauspiel, und schon nach kurzer Zeit ertappte sich Linda dabei, wie sie sich schon im Voraus auf den Anblick des gut aussehenden Mannes freute. Nur wenige Studenten kannten Dave persönlich, doch viele hatten bereits ähnliche Erfahrungen wie Linda gemacht. Dave war als der Typ bekannt, der immer in Bewegung war.

Als Professorensohn lag es nahe, an der Universität zu studieren, an der der Vater lehrte. Dave wählte Sport als Hauptfach, was sicher nicht die erste Wahl seines Vaters gewesen wäre – hätte dieser für seinen einzigen Sohn entscheiden können. Aber das war Dave egal. Er liebte das Fach, zudem fiel es ihm leicht. Das Studium entzog ihm nicht so viel Energie, sodass noch genügend für seinen eigenen Sport übrig blieb. Seinen Freunden sagte er immer, dass er nicht zu lernen bräuchte. Stattdessen, so gab er zum Besten, würde er mit den Büchern unter seinem Kopfkissen schlafen und so – durch »eine Art Osmose« – den Inhalt aufnehmen.

Dave verfolgte während des gesamten Studiums das Ziel, seinen Körper leistungsfähiger zu machen. Er wurde Kapitän des Wasserballteams, und sein Coach Jerry Hinsdale hatte im Prinzip gar keine andere Wahl, als Dave das Konditionstraining leiten zu lassen. Selbst bei 40 Grad Celsius scheuchte Dave seine Teamkameraden durch die Hitze – ihm kamen die harten Trainingsläufe sehr entgegen, denn diese Einheiten hätte er ja sowieso gemacht. So trainierte das Team in der Saisonvorbereitung dreimal täglich, insgesamt sechs Stunden lang. Und wenn seine Kumpel danach müde zum Essen schlichen und sich anschließend ausruhten, lief Dave in die kleine stickige Turnhalle, um noch ein paar Gewichte zu stemmen.

»Komm her und wuchte noch ein paar Hanteln mit mir«, rief er einmal dem Star des Teams, Craig Wilson, hinterher.

»Du bist doch ein verrückter Psycho!«, hatte dieser nur geantwortet und ging von dannen.

Als Dave an der University of California, Davis (UC Davis) begann, hatte er noch keine Ahnung von gesunder Ernährung. Aber als Sportstudent sammelte er darüber immer mehr Wissen an. Er betrachtete es als willkommene Erweiterung, um die Leistungsfähigkeit seines Körpers weiter verbessern zu können.

Aufgewachsen war er mit der typisch amerikanischen »Roastbeef-und-Bratkartoffel-Ernährung«, und zum Nachtisch gab es gern auch einmal Eiscreme. Im Studium lernte er jedoch, welche überaus negativen Folgen diese Art von Lebensmitteln auf den Körper haben. Gerade bei den Mengen, die er aß, müsste er fortan mehr auf seine Ernährung achten.

Dave war damals der vermutlich hungrigste Mensch auf Erden. Bei all dem Sport, den er machte, musste er ja auch viel essen. Typischerweise bestand ein Mittagessen für Dave in dieser Zeit aus ungefähr 13 Käsesandwiches. Und einmal aß er drei Kilogramm Eis nach einer Mahlzeit! Unvergessen in der Scott-Familie bleibt auch das Essen an Thanksgiving im Jahre 1973. Wie so oft hatte die Familie viele Freunde und Bekannte zu Besuch, an diesem Tag hatte Dave einige Kumpel mit zum Essen nach Hause gebracht. Sein Teller quoll fast über, und nachdem er den Truthahn und die Beilagen verdrückt hatte, schaute er in die Runde und sagte – ganz Wettkämpfer, der er war – mit herausforderndem Blick: »Ich werde noch eine zweite Portion nehmen. Sonst noch jemand?!« Natürlich wollten seine Freunde mithalten und nahmen ebenfalls einen zweiten Teller. Nur Minuten später hatte Dave seinen Teller erneut gelehrt und fragte mit dem gleichen Blick: »Einen dritten Teller irgendjemand?«

Keiner seiner Freunde konnte noch antworten. Aber Dave nahm sich eine dritte Portion. Und eine vierte, fünfte, sechste und siebte! Kaum hatte er den letzten Bissen verschlungen, rutschte er von seinem Stuhl, legte sich unter den Esstisch und schlief ad hoc für zwei Stunden ein.

Im Alter von 20 Jahren stellte Dave seine Ernährung um. Er legte eine lange Liste an, auf der alle ungeeigneten Lebensmittel wie rotes Fleisch und Süßigkeiten standen, um die er fortan einen Bogen machte. Weil in den gesunden Lebensmitteln nicht so viele Kalorien enthalten waren, wie in denen, die er zuvor gegessen hatte, musste er nun noch viel mehr essen. Wie einmal in dem Magazin Sports Illustrated zu lesen war, bestand Daves Frühstück aus sechs Orangen, sechs Äpfeln, fünf Reiskuchen-Bananen-Sandwiches, 300 Gramm Speisequark (den er eigenhändig abtropfen ließ, damit er nicht so viel Fett enthielt) und einem selbst gemachten Mus aus Mandelbutter, Zwiebeln, Knoblauch, Kichererbsen und Zitronensaft, wahlweise auf Reiskuchen oder Weizencrackern.

»Dagegen musste ich bestehen«, betonte Mark Allen schon des Öfteren in einem seiner Vorträge. »Wenn ich jemals den Ironman gewinnen wollte, musste ich einen Mann besiegen, der seinen Speisequark abtropfen ließ.«

Nach dem College-Abschluss gründete Dave zusammen mit seiner Schwester Patti und seinem Vater Verne – der für sich das Schwimmen entdeckt hatte, weil er auf diese Art engen Kontakt zu seinen Kindern halten konnte – den Schwimmverein Davis Aquatic Masters. Verne übernahm die administrativen Aufgaben, während Dave und Patti das Training leiteten. Nach ihrem Abschluss an der UC Santa Barbara übernahm Jane den Part von Patti, weil diese eine Ausbildung zur Krankenschwester begann. Dave stürzte sich voller Eifer auf seine Aufgabe als Trainer. Er gab acht Trainingseinheiten pro Tag an sechs Tagen pro Woche. Dabei lief er am Beckenrand auf und ab wie ein Dompteur, der vor seinen Löwen ständig in Bewegung bleibt. Er trieb seine Schützlinge zu immer größeren Leistungen an und nutzte den ihm eigenen Humor, um jede faule Ausrede der Sportler beiseite zu fegen.

»Puh, ich bin kaputt heute, Dave.«

»Das ist nicht gut, denn der nächste Start erfolgt in fünf Sekunden!«

»Unser Kind ist krank. Ich war die ganze Nacht wach.«

»Vier, drei …«

»Ich bin erst heute von einer Geschäftsreise zurückgekommen.«

»… zwei, eins, los!«

Dave kannte nicht nur alle seine Athleten mit Namen, er wusste auch die Zeiten, die sie zu schwimmen in der Lage waren. Zudem verblüffte er sie immer wieder, da er sich gut auf jeden Einzelnen einstellen konnte und individuelle Korrekturen gab. Er half jedem Schwimmer, seine Leistung zu verbessern. Dabei war es egal, ob es sich um einen miesen Techniker oder um einen nationalen Champion handelte. Das gute Training sprach sich schnell herum. So stieg die Mitgliederzahl des Vereins stetig. Aus fünf Teilnehmern wurden 400, und der Club wurde zum mitgliederstärksten Schwimmverein im Staat.

Rund 55 Stunden Schwimmtraining leitete Dave zu dieser Zeit in einer Woche. Dieses Pensum ließ nicht viel Raum für sein eigenes Training, aber er schaffte es dennoch. Oft sahen ihn seine Mitbürger abends spät nach elf Uhr durch die Straßen laufen, und seine Schwimmeinheiten leistete er dann ab, wenn die anderen schliefen.

Obwohl Dave nach dem College keinem Team mehr angehörte, war er dennoch nicht ohne Ambitionen. In seinen letzten beiden Jahren als Student erhielt er eine Nominierung von der National Collegiate Athletic Association (NCAA) für das All-American-Wasserballteam. Nun wollte er es in das Nationalteam der USA schaffen und an den Olympischen Spielen teilnehmen. Sein Ziel war, mit der Nationalmannschaft in Berkeley, Kalifornien, zu trainieren, doch er scheiterte an der letzten Qualifikationshürde, worunter er sehr litt.

Einen zweiten Nackenschlag bekam er, als sein früherer Teampartner Craig Wilson in die Nationalmannschaft berufen wurde. Craig hatte nie so hart trainiert wie Dave, aber er war einfach talentierter. Dabei hatte Dave doch immer daran geglaubt, dass seine Disziplin und seine harte Arbeit das Talent der anderen schlagen könnten. Der Glaube daran wurde sogar zu seiner Lebensphilosophie. Dass er nicht der talentierteste Sportler war, war ihm stets bewusst, dennoch hielt er immer an der Überzeugung fest, trotzdem der Beste werden zu können. Er war derjenige, der niemals aufgeben würde.

Natürlich rüttelte die verpasste Chance, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, an dieser Überzeugung. Doch den Glauben ließ sich Dave nicht zerstören. Er war weiterhin von seiner Philosophie überzeugt und fest dazu entschlossen, der Welt zu beweisen, dass Disziplin und harte Arbeit zum Erfolg führen müssen. Er glaubte fest an seine Stärke.

Dave hörte mit dem Wasserballspielen auf und hielt sich erst einmal mit allgemeinem Training fit. Dann versuchte er es mit Schwimmwettkämpfen in offenen Gewässern. Und schließlich hörte er von einer neuen Sportart und beschloss, dass diese es wert sei, von ihm ausprobiert zu werden.

Daves erster Triathlon war gleichzeitig eines der ersten Multisportrennen, die ausgetragen wurden. Der Turkey Triathlon wurde im November 1976 in San Francisco ausgetragen und vom Dolphin Swim Club sowie dem South End Running Club organisiert. Daves Schwester Patti machte in San Francisco ihre Ausbildung zur Krankenschwester und hörte zuerst von diesem Rennen. Sie lud ihren Bruder ein, daran teilzunehmen. Dave reiste in Begleitung seines Vaters Verne und mit einigen Jungs aus seinem Schwimmverein an, die er dazu überreden konnte, ihn auf der 120-Kilometer-Reise zu begleiten.

Das Rennen bestand aus einer 15 Kilometer langen Radstrecke, die an allen Touristenattraktionen vorbeiführte, danach folgte ein knapp sieben Kilometer langer Lauf zum Fort Mason, zum San Francisco Yacht Club und wieder zurück, und es endete schließlich mit einem 600-Meter-Schwimmen in der eisigen Bucht von San Francisco. Renndirektor war der ehemalige Marine-Oberstleutnant Buck Swannack, der für seine mürrische Art bekannt war. Er lud zur Vorbesprechung des Rennens, und seine Worte machten auf Verne wohl mächtig Eindruck, denn einige Dutzend Male hörte man ihn währenddessen das Wort »survival« (überleben) sagen. Swannack verlor kein Wort über Streckenposten oder -markierungen. Das hielt er nicht für nötig. Auch war keine Rede davon, ob irgendwo im Wasser eine Art Rettungsinsel vorzufinden ist.

»Ihr macht es einfach!«, blaffte Swannack nur.

Da Dave an einer Knieverletzung litt, wollte er nach der Teilstrecke mit dem Rad einfach auf dem Vehikel bleiben und seiner Schwester beim Laufen Gesellschaft leisten. Anschließend wollte er dann wieder am Schwimmen teilnehmen. Das war der Plan. Aber als der Startschuss fiel und die schnellsten Männer vor ihm fuhren, folgte er seinem Instinkt: Er ließ seine Schwester zurück und jagte hinter den Führenden her. Als diese dann in einem markierten Bereich eines Rasenstücks im Rincon-Park ihre Laufschuhe anzogen, ließ Dave hastig sein Rad fallen, rannte über einen Parkplatz zu seinem Auto, fingerte die versteckten Schlüssel unter der Stoßstange hervor, schloss den Wagen auf und fand endlich seine Schuhe, die er normalerweise zum Rasenmähen und Ölwechseln trug. Trotz seines Umweges überholte er anschließend alle Konkurrenten bis auf einen und beendete das Rennen nur 30 Sekunden hinter dem Sieger. Sein Preis: ein gefrorener Truthahn.

Eigentlich wollte er ja seine Schwester begleiten. Patti kannte ihren Bruder sehr gut und verstand, dass ihn das Rennfieber gepackt hatte. Sie war deswegen nicht böse auf ihn.

»Ich wollte einfach sehen, wie gut ich es schaffen kann«, sagte er nach dem Rennen zu ihr.

»Weiß ich doch«, war ihre kurze Antwort.

Patti wusste eben genau, dass diese Worte aus dem Mund ihres Bruders besonderes Gewicht besaßen. Denn er benutzte genau diese Worte recht häufig. Sie gehörten quasi schon zu ihm. Sie brachten seine ungeheure Begierde zum Ausdruck. Immer wieder war er gewillt, die physischen und psychischen Grenzen auszuloten. Es war wohl sein Schicksal, härter arbeiten zu müssen als andere. Darüber beschwerte er sich auch nie. Er suchte ständig nach noch größeren Herausforderungen und stellte höhere Ansprüche an sich, als es die meisten anderen Sportler taten. Er hatte die Einstellung eines Heroen.

Dave suchte weiter nach neuen Möglichkeiten, sein sportliches Talent unter Beweis stellen zu können. Irgendwo musste es doch einen Wettkampf geben, bei dem derjenige gewann, der am längsten durchhielt – und eben nicht der Schnellste, nicht der Talentierteste und nicht derjenige, der die beste Koordination hatte. Ein Wettkampf, bei dem der Mann gewann, der am härtesten kämpfte und niemals aufgab.

In September 1978 flog Dave zur hawaiischen Insel Oahu, um dort am Waikiki Roughwater Swim teilzunehmen, einem großen Freiwasser-Schwimmwettbewerb. Die Herausforderungen, die diese Rennen vom Schwimmen in Schwimmbädern unterschieden – der Wellengang, die Strömungen, das Meeressalz und der Kontakt mit anderen Schwimmern –, schienen Dave sehr entgegenzukommen, denn für ihn konnte es bekanntlich nicht schwer genug sein. Und tatsächlich schnitt er sehr gut ab. Im Gesamtklassement wurde er Neunter und in seiner Altersklasse Zweiter.

Aber dennoch – Neunter, Zweiter – das war nicht das, was Dave vorschwebte. Die Herausforderung sollte noch größer sein.

Bei der Wettkampfbesprechung vor dem Rennen auf Oahu traf er den Navy-Kommandeur John Collins, der ihm einen Veranstaltungshinweis für einen Event überreicht hatte, welches im folgenden Januar stattfinden sollte.

»Das Rennen heißt Ironman«, erzählte Collins. »Dabei musst du genauso weit schwimmen wie morgen, nämlich 3,8 Kilometer, dann musst du 180 Kilometer lang mit dem Rad fahren und schlussendlich einen Marathon über die volle Distanz von 42,195 Kilometern Länge bewältigen. Wir haben das erste Rennen dieser Art vergangenen Januar bestritten – wir waren zwölf Männer. Ich glaube, du wärst ein guter Kandidat für dieses Rennen.«

Zu diesem Zeitpunkt war es ihm selbst noch nicht klar, aber Dave hatte endlich das spezielle Rennen gefunden, nach dem er schon so lange gesucht hatte. Natürlich faszinierte ihn die Vorstellung, an einem solchen Rennen teilzunehmen. Zudem fühlte er sich auch von Johns Worten geschmeichelt, der ihm ein gutes Abschneiden bei diesem Wettbewerb zutraute. Aber nur zwölf Teilnehmer? Großer Gott. Dave wollte Ruhm und Ehre, und das auf einer großen Bühne! Als er nach Davis zurückgekehrt war, zerknüllte er den Eventflyer und warf ihn weg.

Im darauffolgenden Frühjahr besuchte Dave seine Schwester Patti und deren Ehemann Rick Baier in Los Angeles. Bei einem früheren Besuch hatte sich Dave mit Ricks Freund Mike Norton angefreundet. Er war Arzt für Radiologie an der UCLA und ein passionierter Läufer. Wenn Dave nach Los Angeles kam, liefen die beiden immer eine Runde miteinander. Und genau das taten sie auch bei diesem Besuch wieder.

Während sie liefen, erzählte Mike Dave von einer großen Reportage, die in der Sports Illustrated erschienen war. Darin wurde vom zweiten Ironman berichtet, an dem nur zwölf Sportler teilgenommen hätten. Als sie wieder in Mikes Wohnung waren, zeigte er Dave den Artikel.

»Beim nächsten Mal solltest du daran teilnehmen«, riet Mike. Er war der gleichen Meinung wie John Collins: Dieses Rennen mit den drei Disziplinen und der langen Renndauer sei genau das Richtige für Dave.

Dave las den Artikel mit großem Interesse. Sports Illustrated! Wenn er doch nur John Collins’ Einladung angenommen hätte – vielleicht hätte er genau jetzt einen Artikel über sich in diesem berühmten Magazin lesen können.

»Schau dir nur die Zeiten an«, drängelte Mike. »Der Sieger hat mehr als elf Stunden benötigt, um dieses verdammte Rennen zu gewinnen. Du könntest schneller sein. Du könntest dieses Rennen gewinnen!«

Mehr musste Dave nicht hören, man hatte ihn überzeugt. Eine neue Vision nahm in seinem Kopf Gestalt an. Mit einem Mal war dieser Ironman eine große Nummer. Und tatsächlich schien dieses Rennen wie für ihn gemacht zu sein. Als Dave Los Angeles verließ, schien die lange Suche nach einer passenden Herausforderung endlich ein Ende gefunden zu haben. Er hatte jetzt ein Ziel, das er von nun an mit aller Macht verfolgte.

Wieder zu Hause angekommen, rief er sofort seine Familie zusammen. Und als seine Mutter eintraf, sagte er: »Mom, ich habe einen Plan – und der beginnt genau jetzt!«

Dave begann, für den nächsten Ironman zu trainieren. Er kaufte sich für 900 US-Dollar ein professionelles Rennrad der Marke Raleigh und fuhr damit bei sengender Hitze und starken Winden kreuz und quer durch Yolo County. Er steigerte sein Laufpensum und meldete sich für den im September stattfindenden Sacramento-Marathon an, weil er der Überzeugung war, dass die Laufstrecke beim Ironman nicht sein erster Lauf über diese Distanz sein dürfte. Unbedarft wie er war, absolvierte Dave das Rennen in einer Zeit von 2:45 Stunden und lief als 23. über die Ziellinie – insgesamt gingen 1850 Athleten an den Start, und die meisten von ihnen waren sehr viel erfahrener als er.

In der Vorbereitungszeit ging Daves Freund John Reganold zu Daves Freundin Sasha und fragte nach seinem Training.

»Meinst du, er kann dieses Rennen schaffen?«, fragte er.

»Na klar«, antwortete sie, »er hat es ja schon geschafft.«

»Was meinst du damit? Wie? Er hat es schon geschafft?«

»Na, er hat die Distanz bereits zurückgelegt, neulich, im Training.«

Tatsächlich übertrieb sie mit ihrer Darstellung ein wenig. Zur Generalprobe für den Ironman war Dave am Sonntagmorgen zuvor früh aufgestanden und schwamm knapp 4500 Meter. Anschließend hatte er sich mit einer Gruppe Radfahrern getroffen, um mit ihr eine 165-Kilometer-Runde zu absolvieren. Natürlich trainierte Dave nicht einfach. Er fuhr ein Rennen und alle anderen in Grund und Boden. Er ließ den anderen nicht den Hauch einer Chance, keiner konnte mit ihm mithalten. Als er wieder nach Hause kam, standen – wie zuvor verabredet – Sasha, Jane und Dot bereit, um ihm Verpflegung zu reichen, damit er kurz darauf zu einem 33 Kilometer langen Lauf starten konnte. Nur hatten die Frauen anscheinend nicht richtig zugehört, denn sie brachten ihm Orangen anstatt der bestellten Bananen. Dave bekam einen Anfall.