
Über die Autoren
Thomas Brinx, geboren 1963, und Anja Kömmerling, geboren 1965, arbeiten seit vielen Jahren als Autoren erfolgreicher Jugendbücher zusammen. Daneben schreiben sie Drehbücher für Film- und Fernsehproduktionen sowie Serien und Hörspiele.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-74483-8)
www.beltz.de
© 2014 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christian Walther
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Cornelia Niere mit Roland Werner, München,
unter Verwendung von Motiven von shutterstock / makeitdouble / HLPhoto
Satz: Elisabeth Werner
Bildnachweis Motiv S. 116/117: shutterstock / Aleksandr Sulga
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74500-2
»Am Schluss ist es wohl so,
aber das merkt man die ganze
Zeit nicht, dass sie sich lieben,
aber dass das nicht geht!«
1.
»Ich möchte, dass du anrufst, wenn ihr angekommen seid … wie soll eigentlich das Wetter werden? Du weißt, dass man die Zeltwände nicht berühren darf, sonst kannst du das knicken mit dem wasserdicht …« Jellas Mutter schleppte einen riesigen Karton voller Requisiten vor sich her. An diesem Wochenende sollte der Splatterfilm, bei dem sie als Ausstatterin mitarbeitete, seinen Abschluss in einer einsam gelegenen Jagdhütte finden. Stine hatte Waffen herbeigeschafft, von denen Jella noch nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Die Geschichte war undurchsichtig, aber das Ende vollkommen klar. Es würde kein lebender Körper mit Gliedmaßen und Kopf dran mehr übrig sein, lauter Einzelteile und überall Blut.
Jella zog den Doppelknoten an Chuck Nummer zwei zu, schob sich den Hut zurecht und schnappte sich die unterste Scheibe Brot aus der Folie. Die hatte sich einen Hauch von Frische erhalten und blieb nicht wie ein Brett in der Luft stehen, wenn man sie hochielt.
»Hast du genug zu essen eingepackt? Die Zugfahrkarte? Geld? Hast du …!«
»Ich hab alles, Stine.«
Der Rucksack stand schon an der Tür. Zelt drin, Schlafsack, vier frische Unterhosen. Vier Tage! Geil!
»Nichts, was uns hält, nichts, was uns hält, verdammtes Herz, wir sind zu groß für diese Welt! Zu groß für diese Welt!« PerLes Song passte perfekt.
Die Sache mit dem Proviant hatten sie aufgeteilt. Lasse, der Schöne, wollte Dosen mitbringen und den Gaskocher. MCFitti, der glaubte, verrückt zu sein, Kekse und Brotbelag. Und natürlich massenhaft Bier. Bella, BFF, das Brot und Nudeln mit Sauce, Jella Knabberzeug, Süßkram und Kaffee.
Auf halbem Weg durch die Küche lag ein Rollsneaker von Jellas Halbsis Violetta. Turnschuh mit eingebauten Rädern. Man konnte fahren oder laufen, aber wenn man fuhr, blinkten kleine Lichter. Nur hätte er da jetzt nicht liegen dürfen, weil während Jella versuchte, ein steinhartes Stück Butter auf dem Brot zu verteilen, ohne es zu zerfetzen, passierte plötzlich dieses Zeitlupending. In dem Moment, als ihre Mutter auf den Turnschuh trat, wusste Jella, dass das nicht gut gehen würde. Also eigentlich schon eine Millisekunde davor, bevor der Fuß den Schuh berührte, eine zu kleine Sekunde, um noch »Achtung!« rufen zu können.
»Du kannst mich ja jederzeit errei…«, sagte Stine noch, dann fuhr der Schuh mit einem Fuß nach vorne, sie segelte gaaaaanz langsam nach hinten, der Karton kippte und hohläugige Hirschskelettköpfe, Gamsgeweihe, der ausgestopfte Fuchs, der Wildschweinschädel, der seit Wochen alle beobachtet hatte, und Blutbeutel flogen durch die Küche. »Scheieieieieiße!« Stine landete auf dem Hintern, es krachte und schepperte und ganz zum Schluss-i-Tüpfelchen zerplatzte einer der Beutel auf ihrem Nietengürtel. Blut und Stille. Zeitlupe Ende. Jella und Stine schauten sich an, dann: »Violetta! Warum liegt dein Turnschuh mitten in der Küche?«
Die Sis tauchte aus dem Bad auf. »Das war ich nicht!« Dann sah sie ihre Mutter auf dem Boden liegen, blutüberströmt. »Mama, oh nein!« Sie rannte los. »Ist es schlimm? Oh Gott, es sieht schrecklich aus, Jella, ruf den Notarzt, Mama verblutet!« Sofort spritzten ihr die Tränen aus den Augen – das beherrschte die Sis perfekt, heulen oder lachen von jetzt auf gleich –, aber in diesem Fall konnte Jella sie ausnahmsweise sogar verstehen, weil die Sache deutlich anders für sie aussehen musste, als sie eigentlich war.
»Violetta, ist gut«, knurrte Stine, rappelte sich hoch und wischte sich mit dem nackten Arm das künstliche Blut aus dem Gesicht, was die Sache kaum besser machte. »Nur ein Blutbeutel, aber verdammt, was macht der Turnschuh hier, kannst du mir das mal verraten?«
Jetzt kam eine längere Geschichte von der Sis, wie das passieren konnte. Jella beschloss, sich lieber wieder dem Brot und dann sofort ihrem Abgang zu widmen.
Wurst oder Marmelade?
Nach der anstrengenden Butterverteilung hatte sie keine Lust, Omas Saftmarmelade tröpfchenweise aus dem Glas zu fischen. Also Salami! Sie biss hinein. Violetta war mit ihrer Warum-der-Turnschuh-hier-liegt- Geschichte fertig und stapelte die toten Tiere, die mit dem ganzen Blut jetzt noch toter aussahen, zurück in den Karton. Stine ließ sich auf einen Stuhl neben Jella an den Tisch fallen und wischte sich mit einem Küchenhandtuch ab. Das ging nie mehr raus! Ei, Blut, Kakao. »Mann, wir haben sowieso viel zu wenig von dem Zeug. Hoffentlich konnte Kajo noch was über die Ostconnection auftreiben.« Sie fummelte sich eine Brotscheibe aus der Tüte. »Was für ein Projekt! Also, das ist der erste, einzige und letzte Splatterfilm, den ich betreue. Eine schöne, romantische Komödie, da bist du auf der sauberen Seite.«
Jella dachte über die Ostconnection nach, während sie den Rest des Brotes zusammenfaltete und komplett in den Mund schob. Gab es so wie die Zuhälterconnection oder die Autoschieberconnection tatsächlich auch eine Kunstblutconnection? Kajo, der spirrelige Ausstattungsassistent ihrer Mutter, Kapuze tief in die Stirn gezogen, schleicht durch die Straßen von Bukarest. Pssst, trifft fiese Fressen, säckeweise Blut geschultert und sagt heiser auf Bukarestanisch: »Ist für unser Finale im Jägerhäuschen, großes Gemetzel!«
Das unschuldige Gesicht der Sis schob sich durch die rumänischen Nachtgedanken vor Jellas. »Und mach ein Foto, wenn der Poohbär auftritt, bütte, bütte!« Sie faltete die Hände und zeigte den Madonnablick.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mir den anschaue!«
Der Poohbär war ein Sänger, der im lustigen Bärenkostüm auftrat und schlechte deutsche Reime zum Besten gab. Die Kleinen standen auf den. Und die Dummen.
»Och … aber wenn … ja?«
Jella schnaubte. »Ich muss los!« In diesem Fall wollte sie lieber zu früh am Bahnhof sein. Es durfte nichts dazwischenkommen. Absolut nichts zwischen sie und diese göttlichen vier Tage, die sie sich so hart erkämpft hatte.
Begonnen hatte es mit einem Gespräch auf dem winzigen Balkon an einem Abend vor ungefähr einem halben Jahr.
Jellas Mutter hatte auf der Bierkiste gesessen, eine Zigarette geraucht und darüber nachgedacht, ob sie den Splatterfilm annehmen sollte.
»Stine, wir wollen zu Rock am Ring fahren!«
»Okay. Und was soll das kosten?«
»Also, Zugfahrt, Eintritt und Verpflegung, insgesamt so 500 Euro.«
»Kannste knicken. Tut mir leid, Jella, aber so viel hab ich im Moment nicht übrig. Und ich weiß noch nicht, ob das mit dem ganzen Blut mein Ding ist.«
War klar gewesen. So viel hatte sie nie übrig. Stine hangelte sich von Filmprojekt zu Filmprojekt, Hand in den Mund und zwei Mädchen alleine großziehen, das kostete.
»Die Frage ist, ob du mich für zwei Tage von der Schule befreien würdest. Die Kohle besorge ich selber.«
»Wie steht’s denn in der Schule zurzeit?«
»Geht.«
»Geht gut oder geht schlecht?«
»Geht mittel. Reicht!«
»Hm.«
»Für zwei Tage lohnt sich das nicht. Wenn wir Donnerstag hinfahren, können wir alle Konzerte mitnehmen. Und weißt du, wer da spielt?«
Stine blies Rauchkringel in die Nacht und grinste. »PerLe?«
»Yo.«
»Dürft ihr das überhaupt schon?«
»Wir sind sechzehn, hallo, Lasse sogar schon siebzehn!«
Stine hatte neben sich auf den Bierkasten geklopft, Jella sich gesetzt und den Arm um ihre Mutter gelegt.
»Ich finde, du solltest das erlauben.«
»Findest du?« Die Sterne funkelten und der typische Ostwind blies die Wolken an ihnen vorbei. »Okay, dann mach ich das. Wenn du so viel Geld auftreiben kannst.«
Jella schnappte sich ihren Rucksack, warf ihrer nicht mehr ganz so blutverschmierten Mutter und der Halbschwester mit dem Tränenanschaltknopf eine Kusshand zu und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Auf Wiedersehen, Jella ist weg. Was für ein Gefühl!
Sie stapfte zur S-Bahn, grüßte kurz den Krawattenheini auf der Plakatwand gegenüber, der seit Monaten mit seinem Zahnweißlächeln versicherte, sie versichern zu können, und sog die Stadtluft ein. Ganz schön lang schon ganz schön warm für Anfang Juni. So warm, dass es staubte und nach blutigem Eisen roch. Mit jedem Schritt ließ sie alles kilometerweit hinter sich: ihre Mutter mit diesem unsäglichen Filmprojekt. Ihre Halbsis, die schon alleine kaum zu ertragen war mit ihren vorpubertären Launen und Befindlichkeiten, und die die vier Tage bei ihrer Freundin Paula verbringen würde. Das tat Jella wirklich und von ganzem Herzen leid für Paulas Mutter. Die Schule und die Bäckerei Stolte, in der sie seit Monaten die Frühschicht geschoben hatte, den Supermarkt, in dem sie nachmittags Dosen gestapelt und Einkaufswagen geordnet hatte, und Maierarsch, der jeden Donnerstag hinter ihr hergeschlichen war, um zu kontrollieren, ob sie die Zeitungen auch wirklich verteilte oder, wie es alle anderen machten, gesammelt in den Müll warf. Eigentlich wollte er was von ihr, der Maierarsch mit seiner Glatze und den widerlichen Fingernägeln, und war zutiefst beleidigt, als sie kündigte und seine Einladung zum Essen ausschlug. Was der sich einbildete! Ob Männer mit solchen Fingernägeln ihre Hände nicht anschauen? Und gibt es Frauen, die gerne von solchen Fingern berührt werden? Gerade von solchen? Jella musste immerzu auf die Hände vom Maierarsch starren, wenn sie wild gestikulierten, weil sie miterzählten, wie viele Zeitungen pro Quartal in den Mülltonnen der Stadt landeten. Der Fingernagel wie ein Hütchen. Schmiegt sich um die Kuppe, krümmt sich von allen Seiten. Könnte kein Klavierspieler werden, der Maierarsch. Bongospezialist vielleicht.
Am Bahnhof waren wie immer mehr Menschen, als in Züge passen. Raus, rein, hin, her, alle in Bewegung. Jedes Mal dachte Jella, wie es wohl wäre, wenn sie alle stehen bleiben würden. Plötzlicher kollektiver Entschluss: Wir hören auf, uns zu bewegen, wir wollen nicht mehr unentwegt von hier nach da, wir bleiben stehen. Stille. Heute gehörte Jella allerdings zu denen, die unbedingt fort wollten. Sie hatte ein Ziel, DAS Ziel, und da würde sie auch zu Fuß hingehen, wenn alle Stricke rissen. Sie schob sich durch die Menge, Gleis 13, Zielstation Koblenz, Fahrtzeit knapp sechs Stunden, einmal umsteigen in Köln. Lasse hatte es genau recherchiert und für alle ausgedruckt. Orga-Lasse.
Jella schob sich am Gleis entlang und hielt Ausschau. Treffpunkt Abschnitt C, noch keiner da? Sie fischte ihr Handy aus der Hosentasche. Zwei Anrufe von Stine. Was war los? Irgendwas vergessen? Gerade wollte Jella zurückrufen, da: »Jeeeeellla, huhu!«
Das war Bella. Hüpfte zwischen den Leuten hoch, mindestens noch in Abschnitt F, verschwand wieder, hüpfte wieder hoch und winkte. Jella grinste und winkte zurück. Bella war die Schönste von allen, vor allem jetzt mit den pechschwarzen Haaren, ein bisschen zu klein, aber wunderschönes Gesicht mit knallblauen Stechaugen und vollen Lippen, die jeder küssen wollte. Weil die es besonders gut konnten! Jella verstaute das Handy wieder und bahnte sich den Weg der BFF entgegen. Jella und Bella, als wären sie füreinander bestimmt oder hätten die Eltern sich das so ausgedacht, weil sie sich schon vor der Geburt der Mädchen kannten und einmal die Woche zusammen Canasta spielten. War aber nicht der Fall. Jella und Bella hatten sich erst in der Gesamtschule kennengelernt und Bella hieß eigentlich Isabell. Kein Schicksal, kein Zufall. Da hätte Jella schon Misajell heißen müssen, dann!
»Puh, wow, hier ist was los, meinst du, die fahren alle zu RaR, krass, und dieser Rucksack, da bricht einem ja der Rücken durch!« Bella umarmte Jella und drückte ihr die weichen Lippen auf die Wange. »Also, ich bin jetzt schon platt!« Sie ließ ihren Rucksack fallen und setzte sich darauf, fuhr sich durch die schwarzen Haare und suchte in der Lederjacke nach Sportsfreund. »Tick, tick, tick, wo bist du?«
Jella pflanzte sich neben Bella. »Du nimmst ihn mit? Ist das nicht zu laut für eine Ratte?«
Bella fand Sportsfreund in ihrem Beutel und verpasste ihm eine Portion Zärtlichkeit. »Geht nicht anders. Der Süße hier ohne meine Aufsicht, da wird die Gelegenheit sofort genutzt, ihn verschwinden zu lassen, und ich krieg dann zu hören, wie schlimm, wie schlimm, Sportsfreund ist abgehauen. Nix da! Lasse und ich passen schon auf ihn auf!«
»Lasse und du?«
Bella grinste. »Er hat einen guten Draht zu Sportsfreund. Matze war da ja eine Katastrophe.« Sie seufzte theatralisch. »Hat der doch echt gesagt, der darf nicht mit ins Bett. Ich meine, das geht doch nicht, Jella, oder, da muss man sich dann entscheiden.«
Jella fing an, sich Bella und Matze im Bett vorzustellen. Und Sportsfreund. Sie hatte mangels Erfahrung keine Meinung dazu, ob Ratten dabei sein durften oder nicht.
»Lasse hat da kein Problem, wett’ ich, der ist mit Sportsfreund so!« Bella kreuzte die Finger und hatte somit ihren Plan für die nächsten vier Tage verkündet. Lasse war dran.
»Wo bleiben die Jungs eigentlich?«
Jellas Handy klingelte in der Hosentasche. »Scheißegal, Mann, was du tust, du musst’s nur tun und dann – tutut-tunlichst nichts anderes, du tust, was du tust … scheißegal, Mann, was du …!« Eine der vielen Jellalieblingszeilen, die PerLe geschrieben hatte.
Schon wieder Stine.
»Hallo?«
»Jella, du musst nach Hause …!«
»Was?«
Die Ansagerin warnte davor, das Gepäck unbeaufsichtigt stehen zu lassen.
»Paula hat die Masern!«, schrie Stine gegen den Lärm an. »Ich kann Violetta da jetzt nicht hinschicken und ich hab sonst niemanden für sie, bitte, komm nach Hause.«
Plötzlich pochte das Blut spürbar durch Jellas Adern, sammelte sich wie immer, wenn sie sich aufregte, in ihren Nasennebenhöhlen, um diesen Druck zu erzeugen. Das konnte doch wohl nicht Stines Ernst sein!
Bella stieß sie in die Seite. »Was ist?« Jella hatte die Nase hochgekraust, wegen der Nebenhöhlen, und die BFF wusste, das konnte nichts Gutes bedeuten.
Jella schob ihren Hut nach hinten, stand auf, lief hin und her. So war es immer. Seit Stine sich von Michael, Violettas Vater, getrennt hatte. Jella musste aushelfen, Jella musste Verantwortung übernehmen, Jella musste herhalten.
Als Stine schwanger wurde, war Jella fünfeinhalb gewesen. Sie waren zu Michael ins Spießerhäuschen gezogen und Stine hatte das genau drei Jahre durchgehalten. Sie war keine Frau für feste Regeln und unumstößliche Regelmäßigkeiten. Hausschuhe. Putzutensilien ordentlich an einer Schiene im Haushaltskeller. Abendessen um sechs. Sex zweimal die Woche. Also vergnügte sie sich mit dem Nebendarsteller der Kinderserie, die sie gerade ausstattete. Fluffy, der Poltergeist, konnte jeden Tag und Michael schmiss die Familie raus. Da war Jella beinahe neun und alt genug, um auf die Sis aufzupassen.
»Wir müssen jetzt zusammenhalten«, lautete die Devise und das taten sie auch. Seitdem wieder Kreuzberg, wechselnde Männer und unentwegte Unregelmäßigkeiten. Das Einzige, was immer am ersten des Monats kam, war das Geld von Michael für Violetta. Spießervorteil. Aber es reichte hinten und vorne nicht.
»Jella? Hallo?«
»Was ist mit Michael?«
»Der ist auf den Malediven, Jella, ich hab alles versucht, ich weiß, wie wichtig dir das ist, aber ich kann Violetta nicht zu dieser Blutorgie mitnehmen. Die kriegt doch ein Trauma!«
Violetta? Ein Trauma? Niemals! Nein. Das ging nicht. Jella würde nicht zu Hause bleiben. Bella folgte ihr mit den Augen, wie sie hin und her lief, Besorgnis darin, sie kannte diese Nummern. Wie oft hatte Jella wegen der Sis schon verzichtet!
»Ich kann nicht nach Hause kommen!«
»Jella!«
»Der Zug ist schon los!«
Dabei verkündete die Ansagerin jetzt erst seine Einfahrt und Lasse und Fitti kamen die Rolltreppe hochgerast. Natürlich die, die eigentlich nach unten fuhr. Competition. Wer Erster oben war. Jella hielt das Mikro zu.
»Jella! Jella, wirklich, das gibt’s doch nicht, so eine Scheiße, was mache ich denn jetzt?« Sie drückte den Anruf weg. Im Zug war immer schlechter Empfang, da konnte so was schon mal passieren.
Bella stand auf und schaute ihre BFF besorgt an. »Du hast ja gelogen.«
Das war besonders, weil Jella Lügen hasste und grundsätzlich immer die Wahrheit sagte. Nur wäre die in diesem Fall gewesen, dass sie keine Lust hatte, auf Rock am Ring zu verzichten. Ein halbes Jahr arbeiten, planen, vorfreuen. Nein, sie wollte nicht. Aber die Diskussion darum hätte zu lange gedauert, so lange, dass der Zug gekommen und Jella mit Stine am Handy vielleicht doch nicht eingestiegen wäre. Violetta war kein Traumatyp, sie war hart im Nehmen. Aber Jella wäre an dem RaR-Abwesenheits-Trauma elendig zugrundegegangen.
Sie steckte das Handy weg, klatschte Lasse ab und gab Fitti ein Küsschen auf die Wange, direkt neben die schmollend vorgeschobene Unterlippe, weil er verloren hatte. Er musste ein Bier exen, sobald der Zug losgefahren war, und da war klar, Schmollerei nur gespielt, Fitti war der beste und leidenschaftlichste Bierexer unter der Weltsonne.
»Jellantine!« Er küsste zurück, ihr uralter Freund, vertraut bis in die Haarspitzen, eigentlich Alex, aber dann hatte er sich den roten Vollbart wachsen lassen und die knallrosa Plastikbrille aufgesetzt. Seitdem hieß er wie sein Vorbild. Und der schöne Lasse kraulte tatsächlich Sportsfreund, tick, tick, tick, und lächelte dabei selig.
Die Jungs trugen ihre Rucksäcke wie leichte Federbetten auf dem Rücken, Fitti noch mehrere Dosen-Sixpacks in den Händen, grinsten von hier nach da und der Zug fuhr ein.
»Los geht’s!«, schrie Bella und streckte die Faust in den Himmel. Jella zog sich den Hut tief ins Gesicht und folgte Orga-Lasse in den Zug. Er hatte vier Plätze mit Tisch im Großraumwagen reserviert. Sie fragte sich, ob sie ihre Mutter wirklich im Stich lassen konnte. Die Jungs hievten die Rucksäcke in die Gepäckablagen, nur Bella kam nicht, stand in der Zugtür, hielt Ausschau, kontrollierte ihr Handy.
»Hey, Bella, was suchst du?«
»Nix, ich guck nur.«
»Nach was?«
»Einfach so!«
Fitti zerrte die Bierdosen aus den Kartons und reihte sie auf dem Tisch auf. Er machte immer aus allem ein Muster, eine ästhetische Anordnung, einen Augenschmaus. Jella setzte sich ans Fenster, damit sie es sich nicht anders überlegen konnte und wieder ausstieg, und Fitti pflanzte sich neben sie. Ausweg versperrt. »Jellantine, alles palletti?«
Wasseraugen, die hellblaue Farbe bewegte sich wie Wellen in ihnen, das war schon im Sandkasten so gewesen. Jella nickte und wunderte sich über die BFF, die gerade mit der sehr dicken Schaffnerin diskutierte, ob der Zug nicht etwas später abfahren könnte. Lasse stand im Gang und wartete auf sie.
»Hast du Lasses Campingstuhl gesehen?« Fitti zeigte nach oben und grinste, aber Lasse zuckte nur mit den Schultern.
»Du wirst mich fragen, Fitti, bitten, auf deinen Knien vor mir im Schlamm rutschen, nur ein paar Minuten, bitte, lieber Lasse, lass mich doch nur ein paar Minuten darauf sitzen, und ich werde Nein sagen, da kannst du mir sonst was bieten.«
»Ein Bier?« Fitti riss eine Dose auf und noch eine für Jella und eine für sich. Bella hatte den Kampf mit der Schaffnerin verloren. Pfiff … Türen zu. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung, drei Freunde hoben die Dosen und tranken auf die vier besten Tage ihres Lebens.
»Echt, so was von uncool!« Bella ließ sich auf den Sitz fallen und machte sich eine Dose auf.
»Was denn? Jetzt lass mal rüber!«
Bella setzte die Dose an und leerte sie in einem Zug. In ihren Stahlaugen stand Wasser wegen der Kohlensäure. »Also, das sollte eigentlich eine Überraschung sein, aber …!«
»Aber …?«
Die vier schauten auf. Vor ihnen stand Soleil. Rucksack auf dem Rücken, knallweißes Lachen, schwarzer Blick, die krausen Haare wild um den Kopf, nur lässig ein buntes Tuch darin.
Soleil hieß Sonne.
2.
Im Sommer vor dem Winter, in dem die Idee mit Rock am Ring aufkam, hatten Bellas Eltern geheiratet. Warum erst jetzt? Warum nicht vorher oder später? Diese Fragen wurden nicht beantwortet. Philipp Battenstein und Zilli Bern hatten einfach Lust, das über Berlin hinaus bekannte Architekturbüro Battenstein und Bern wurde zu Battenstein und Battenstein, was nichts an dem glasklaren und aalglatten Architekturkonzept änderte, und Bella und Jella streuten Blumen.
Wochenlang arbeiteten sie an ihrem Outfit, bis Zilli Bern, später Battenstein, bestimmte, dass alle in Schwarz kommen sollten. Die Blütenblätter blutrot, die Feier im Edelhäuschen am See. Überall Kerzen, Pavillons, fein gedeckte Tische und zweihundert Gäste, meist von Rang und Namen, Künstler, Wirtschaftshengste, Geldgeber und Geldausgeber, ein paar Verwandte, die sofort zu erkennen waren. Man konnte sehen, dass sie sich bemüht hatten, dem vorgegebenen Ambiente gerecht zu werden. Alle brav in Schwarz, die Idee sorgte für Aufsehen, dafür war sie da, und nur eine einzige Person, die sich nicht daran hielt. Soleil, Bellas Cousine. Die Tochter von Zillis Schwester, entstanden während eines Karibikaufenthaltes, war bunt. Kam daher wie ein Karibikklischee, laut, fröhlich, unbeschwert, ihren Freund im Schlepptau, einen absoluten Hingucker, vielleicht sogar ein Vampir, blass, wie er war, konnte aber auch an dem Kontrast zu seiner dunkel blitzenden Freundin liegen.
»Es tut mir leid, Schwesterherz«, entschuldigte sich ihre Mutter bei Zilli Battenstein, »sie trägt kein Schwarz, nie, ich konnte sie nicht überreden!«
Zilli war zu glücklich, um sich zu ärgern, und Soleil ihre Lieblingsnichte. Sie stieß mit ihrer Schwester, die gerade mal wieder am Ende einer komplizierten Beziehung stand, auf die Liebe an. In Gottes Namen, dann eben auf die Liebe.
»Die ist ja geil«, sagte Jella zu Bella, und »Der ist ja geil!« sagte die gleichzeitig, während sie die Tabletts mit frischen Champagnergläsern füllten, um sie durch die Menge zu tragen.
Später beim Essen spielte einer Cello. Die jungen Leute saßen an einem Tisch, es gab noch einige hübsche Jungs, aber Bella schmachtete Soleils Freund an, dass es fast peinlich war. »Wie heißt du denn?«
»Leo«, antwortete Soleil und strahlte. »Seine Eltern kommen aus Russland und seinem Vater gehört irgendein voll bekannter Fußballclub, hast du gewusst, dass man die kaufen kann? Also, mir war das neu, aber Leo meint, normal und …!«
Leo küsste ihr den Mund zu und bestand dann darauf, selber zu erzählen, wer er ist.
»Sie hat immer so besondere Typen«, erklärte Bella Jella, als sie die Teller abräumten und in die Küche trugen. »Soleil ist ja selber so speziell. Hey, hast du gemerkt, der eine Blonde hat dich die ganze Zeit angeschaut.«
»Welcher?«
Bella verdrehte die Augen. »Also echt jetzt, das gibt’s doch nicht, der saß dir direkt gegenüber.« Und etwas leiser, Verschwörung: »Matze heißt er, glaub ich!«
»Wie schön für ihn. Oder?«
»Jellajellajella, was soll nur aus dir werden?«
Jella dachte darüber nach, ob nur etwas aus einem wird, wenn man männliche, blonde Blicke sieht, aber klar war, dass Bella mal wieder darauf anspielte. Auf die Sache mit den Jungs, die interessant waren in ihrem Alter, die man küssen wollen müsste und die einen geil finden sollten, damit man sich selber geil fand.
»Komm mit, ich zeig ihn dir!«
»Nee, lass mal.« Jella stapelte die Teller und warf einen Blick aus dem Fenster über den spiegelglatten See. Darin eine andere, unbekannte Welt. Die dort leben, hören nichts von der Feier und sind mit ihren Dingen beschäftigt. Welche Dinge? Kein Licht, keine Luft, kein Laut. Im Fenster tauchte Soleil auf und strahlte Jella an. »Hey, könnt ihr mal aufhören jetzt?« Das Strahlen wurde ein warmes Lächeln. »Dein Hut ist geil! Komm raus, wir sollten tanzen!«
Wie sollte man bitte tanzen, wenn einer Cello spielte? Aber da wurde Zilli Battenstein, geborene Bern, schwer unterschätzt. Eine Cowboycombo mit schwarzen Hüten, spitzen Stiefeln, Banjo, Geige und cool karierter Sängerin löste den Streicher ab und verwandelte die klassisch feiernde Gesellschaft in einen hüpfenden, ausgelassenen Haufen. Country!
»Los, komm!« Soleil hakte sich bei Jella ein und dann im Kreis drehen, links herum und rechts herum und Partner wechseln. Jella und Bella, Bella und Leo, Soleil und der Blonde, wahrscheinlich Matze, Jella und ein anderes Mädchen und wieder zurück zu Soleil.
»Was hältst du von einer Polonaise?«, grinste die.