Stephan Dorgerloh / Karsten D. Wolf (Hrsg.)
Lehren und Lernen mit Tutorials und Erklärvideos
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Stephan Dorgerloh, Theologe, war Akademiedirektor, Prälat, Kultusminister und Präsident der Kultusministerkonferenz und ist heute Geschäftsführer der Beratungsfirma Wider Sense mit dem Schwerpunkt Bildung und Kultur. Er ist Autor zahlreicher Publikationen.
Prof. Dr. Karsten D. Wolf leitet das ZeMKI Lab »Medienbildung | Bildungsmedien« an der Universität Bremen und ist Autor zahlreicher Fachartikel zum Thema. Seit 2007 hat er die Erklärvideogestaltung als Methode in die universitäre Lehrer/innenbildung eingeführt und bietet Lehrer/innen-Fortbildungen zu dem Thema an.
1 Wie verändern Erklärvideos Bildungsprozesse? – Die neue Erklär- und Lernkultur
2 Früher Bildungsfernsehen, heute YouTube? – Erklärvideos als modernes Bildungsformat
2.1 Zur Geschichte des Bildungsfernsehens – Entwicklungen, Hoffnungen und Einschätzungen aus heutiger Sicht
2.2 Sind Erklärvideos das bessere Bildungsfernsehen?
2.3 Bildungsfernsehen und Erklärvideos erfolgreich gestalten – Interviews mit den Produzierenden
3 Informelles Lernen mit Erklärvideos aus wissenschaftlicher Sicht
3.1 Erklärvideos als autodidaktische Lernressource
3.2 Erklärvideos auf YouTube: Was machen die Rezipierenden aus den Videos?
3.3 Ist YouTube das ideale Werkzeug für interessensbasiertes Lernen?
3.4 Ist YouTube gut für die Bildung?
4 Was sind Kriterien für gute Erklärvideos?
4.1 Zur Lernpsychologie von Erklärvideos: Theoretische Grundlagen
4.2 Didaktische Kriterien für gute Erklärvideos
4.3 Was macht ein gutes Erklärvideo aus?
4.4 Lessons Learned bei der Erstellung von Erklärvideos
4.5 Erklärvideos als digitale Vertretungslehrkraft? Lernplattformen müssen mehr als Erklärvideos bieten!
5 Mit Erklärvideos unterrichten? – Erfahrungsberichte aus der Schulpraxis
5.1 Erklärvideos in Grundschulen
5.2 Erklärvideos in Sekundarschulen
5.3 Erklärvideos in der beruflichen Bildung
5.4 Einsatz von Erklärvideos in besonderen Schulsettings
5.5 Video kann mehr – weitere unterrichtsbezogene Einsatzmöglichkeiten von Erklärvideos
6 Mehr Zeit für den Unterricht gewinnen? – Videoeinsatz am Beispiel des Flipped-Classroom-Konzepts
6.1 Quo Vadis Flipped Classroom?
6.2 Erklärvideos als Vorbereitung für soziale Interaktionen im Klassenraum
6.3 Aus der Praxis: Beispiele für funktionierendes Flippen mit Erklärvideos
7 Wie Erklärvideos und Lehrfilme bereitstellen? – Eine Vorstellung aktueller Angebote
7.1 Zwischen OER-Dienstleister und Bildungs-Netflix: Das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (FWU)
7.2 Der richtige Film zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Von der Bildstelle zum Medienportal emuTUBE
7.3 mebis macht Bildung digital
7.4 Andere Länder, andere Formate
8 Mehr Erklärvideos in die Lehrerbildung!
8.1 Lernen durch Erstellen von Stop-Motion-Videos – Strategien aus dem naturwissenschaftlichen Unterricht
8.2 Lernvideos in der Lehrerbildung
8.3 Videos in der Aus- und Fortbildung von Lateinlehrkräften
8.4 Lehrer/innenfortbildung per Videoplattform – der Teaching Channel
9 Fazit und zehn bildungspolitische Forderungen
Stephan Dorgerloh und Karsten D. Wolf
»Books will soon be obsolete in the schools. Scholars will soon be instructed through the eye. It is possible to teach every branch of human knowledge with the motion picture. Our school system will be completely changed in ten years.«1
Dieses Zitat stammt nicht aus den jüngst euphorisch geführten Debatten zur Digitalisierung von Bildung, sondern vom berühmten Erfinder Thomas Edison der schon 1913 an das große Innovationspotenzial des damals neuen Bewegtbildes in Form des (Kino-)Films glaubte. Für ihn war sicher, dass der Film das Lehrbuch ersetzen würde (Zitat aus Dramatic Mirror, 9. Juli 1913 nach Saettler 2004: 98).
Dennoch blieb das Lehrbuch auch die nächsten 100 Jahre zentraler Bestandteil der Stoffvermittlung in Schule und Universität. Der (Lehr-)Film war nach wie vor die große Ausnahme. Mit der Entwicklung und Einführung des Bildungsfernsehens in den 1970er-Jahren wurde diese alte Zukunftsvision erneut lebendig. »Wir haben damals daran geglaubt, dass man mit dem Fernsehen die Menschheit bessern kann«, erinnert sich Peter Kölsch – der ›Fernseh-Vater‹ des Pumuckl (vgl. Löhr 2001: o.S.). Aber auch hier blieb der Erfolg der Idee, das Fernsehen für das Massenpublikum auch Bildungsfernsehen werden kann, aus. Während hoch gebildete Zuschauer/innen durchaus ihren Bildungsnutzen aus dem Programm ziehen konnten (Bonfadelli/Saxer 1986), konstatierte Manfred Meyer vom Internationalen Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) abschließend: »Die Zuschauer wollen nicht belehrt werden!« (Meyer 1997: 20).
Wiederholt sich nun das Muster (zu) hohe Erwartung gepaart mit schneller Ernüchterung erneut, wenn es um die stärkere Einbeziehung von Lernvideos in den Schulkontext des 21. Jahrhunderts geht? Oder kann die Kombination aus neuen Technologien, interaktiven Lern-Plattformen, internetaffinen Beteiligten, passenden Übungen und auch unkomplizierten Eigenproduktionen von Videos eine größere Beteiligung, neue Lernchancen und gerechtere Entwicklungsmöglichkeiten bieten?
Die Provokation für ein bisher staatlich abgesichertes, aber auch reglementiertes und qualitativ überprüftes Bildungssetting besteht darin, dass heutzutage jede/r – ob Amateur/in oder Profi – eigenproduzierte Videos veröffentlich kann, die ohne redaktionelle Betreuung, ohne staatliche Qualitätskontrolle, ohne obrigkeitlich geprüften Bezug zu Bildungsplänen entstehen. Jede/r darf nach eigenem Gusto und »geprüftem« Können Anderen etwas Erklären – was und wie auch immer. Lernende ihrerseits können sich aus einem fast unüberschaubaren Angebot mehr oder weniger zufällig das heraussuchen, was interessiert oder gefällt.
Ist das die passende Ausgangslage für eine neue Lernkultur? Ermächtigen all diese Erklärvideos zum Selbstlernen? Kann das YouTube-Video den erklärenden Vortrag von Lehrenden im Unterricht ersetzen? Ist Unterrichten und Lernen nicht auch unabdingbar ein sozialer Vorgang, der der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden in realen Klassenzimmern bedarf? Welchen Unterschied macht es, wenn die Abiturvorbereitung statt in der Schule auf einer Online-Videoplattform wie sofatutor stattfindet? Wie stark machen Plattformen wie YouTube künftig dem klassischen Schulbuch von Klett, Westermann oder Cornelsen Konkurrenz?
Fakt ist: YouTube ist die zweitgrößte Suchmaschine der Welt, nur auf (der Konzernschwester) Google landen weltweit mehr Suchanfragen. YouTube ist mit seinem Angebot die größte audiovisuelle Enzyklopädie der Menschheitsgeschichte – sozusagen ein Video-Alexandria der Neuzeit. Erklärvideos, Tutorials und Lehrfilme finden sich in zunehmendem Maße aber auch auf zahlreichen anderen Videoportalen wie z. B. Mediatheken, Bildungsservern oder in Online-Kursangeboten wie MOOCs oder privaten Videokursplattformen. Unternehmen ersetzen Handbücher im Rahmen der »Customer Education« zunehmend durch Videotutorials: vom Akkuwechsel beim Smartphone bis hin zur Konfiguration von WLAN-Mesh-Netzwerken.
Portale wie YouTube bieten ein vielfältiges Erklärvideoangebot. Zu nahezu jedem Thema finden sich nicht nur ein oder einige wenige Videos, sondern oft eine ganze Palette von unterschiedlich gestalteten Produktionen. Genau diese Vielfalt ist ein Potenzial: Komme ich mit einem Erklärstil, mit einer Person, mit den Beispielen, mit dem erforderlichen Vorwissen nicht klar, kann ich als Lernende/r alternative Erklärangebote nutzen. Insbesondere partizipative Erklärportale bieten hier eine maximale Vielfalt. Das scheinbar unkontrollierte Überangebot bietet somit ein adressatengerechtes Bildungsfernsehen, wobei der Faktencheck den Userinnen und Usern bzw. der Usercommunity überlassen ist.
Können somit Erklärvideos zur Ermächtigung eines interessengeleiteten Lernens dienen, sodass man alles Lernen kann, was einen interessiert? Hilft es, benachteiligten Lernenden neue Zugänge zu Bildungsressourcen zu erschließen, z. B. als eine Form kostenloser Nachhilfe? Schafft die Partizipationsmöglichkeit einen gemeinsamen Lernraum, in dem auch marginalisierte Gruppen eine Stimme erhalten? Führen Likes und Klicks auf YouTube zu »algorithmisierten« Curricula, welche selbst die neuesten Themen in kurzer Zeit inhaltlich erschließen und somit strukturiert erlernbar machen?
Bei allen Potenzialen muss festgehalten werden: YouTube ist in Bezug auf Inhalt und Themen weitgehend unkontrolliert und stellt sowohl geprüfte Fakten direkt neben Fake News, Aufklärung neben Desinformation, als auch Wissenschaft neben Verschwörungstheorien. Inhaltlich findet man auf YouTube also Informationen zur Quantenmechanik genauso wie zum Bauen von Bomben, zur Friedenspädagogik wie zum Fundamentalismus, zur Nachhaltigkeit wie zu Designerdrogen. Didaktisch ist das im besten Fall überraschend gut und abwechslungsreich gestaltet sowie inhaltlich hoffentlich richtig dargestellt. Das muss aber nicht immer der Fall sein. Fachliche Fehler finden sich genauso wie schlechte Vermittlungskonzepte, umständliche Erklärungsansätze sowie unpassende Metaphern.
YouTube ist eben zuallererst ein kommerzielles Unternehmen, welches Videos nicht nach Bildungsaspekten empfiehlt, sondern zur Maximierung der Verweildauer sowie der geschauten Werbung – wofür sich insbesondere Unterhaltung und auch eine Prise Skandalisierung eignen. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass die gezeigten Videos keine offenen Bildungsressourcen (OER) sind, die für weitere Erklärangebote genutzt und remixt werden können.
Schließlich ist unklar, ob sich Erklärvideos für die Vermittlung auch von tiefgreifendem Denken und komplexeren Gedankenmodellen eignet, wie die Ideen und Theorien z. B. von Foucault, Boyd oder Heisenberg. Vielleicht vernichten Erklärvideos sogar die Bereitschaft und damit die Fähigkeit einer ganzen Generation, lange und komplexe Texte zu lesen?
Diese skizzenhafte Schilderung macht zwar deutlich, dass Erklärvideos insbesondere in der Lebenswirklichkeit außerhalb der Schule angekommen sind. Wie aber sind Erklärvideos so zu gestalten bzw. auszuwählen, dass sie in den Unterricht eingebunden werden können? Warum könnte das überhaupt sinnvoll sein? Sind Erklärvideos vielleicht sogar ein Schlüsselbaustein für das Lernen und Lehren in einer von Heterogenität und Diversität geprägten Schule?
Die Kultusministerkonferenz (KMK) als Ort föderaler Verabredungen und gesamtstaatlicher Standards schreibt dazu im Strategiepapier »Bildung in der digitalen Welt« vom 7.12.2017 folgendes:
»Die sinnvolle Einbindung digitaler Lernumgebungen erfordert eine neue Gestaltung der Lehr- und Lernprozesse. Dadurch verändern sich das Lehren und Lernen, aber auch die Spannbreite der Gestaltungsmöglichkeiten im Unterricht. Durch die Digitalisierung entwickelt sich eine neue Kulturtechnik – der kompetente Umgang mit digitalen Medien –, die ihrerseits die traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen verändert. Die sich ständig erweiternde Verfügbarkeit von digitalen Bildungsinhalten ermöglicht zunehmend auch die Übernahme von Verantwortung zur Planung und Gestaltung der persönlichen Lernziele und Lernwege durch die Lernenden. Dadurch werden grundlegende Kompetenzen entwickelt, die für das an Bedeutung gewinnende lebenslange Lernen erforderlich sind.« (KMK 2017: 13)
Dies erfordert auch von den Lehrkräften eine zunehmende Auseinandersetzung mit digitalen Aspekten sowohl des Unterrichtens als auch in den jeweiligen Fächern. Die Digitalisierung lässt sich weder von Schule aufhalten noch wird sie weiter einen Bogen um Schulen machen. Darum scheint es erfolgversprechend, wenn man – und hier kann man im internationalen Kontext sicherlich nicht mehr von frühzeitig sprechen – die Chancen einer Digitalisierung wahrnimmt und deren Risiken erkennt – nicht zuletzt, weil Schüler/innen eine zeitgemäße und interessant gestaltete Schule erwarten dürfen. Die Kultusministerkonferenz schreibt in ihrer Strategie zur »Bildung in einer digitalen Welt« weiter:
»Mit zunehmender Digitalisierung entwickelt sich auch die Rolle der Lehrkräfte weiter. Die lernbegleitenden Funktionen der Lehrkräfte gewinnen an Gewicht. Gerade die zunehmende Heterogenität von Lerngruppen, auch im Hinblick auf die inklusive Bildung, macht es erforderlich, individualisierte Lernarrangements zu entwickeln und verfügbar zu machen. Digitale Lernumgebungen schaffen hier die notwendigen Freiräume; allerdings bedarf es einer Neuausrichtung der bisherigen Unterrichtskonzepte, um die Potenziale digitaler Lernumgebungen wirksam werden zu lassen.« (KMK 2017: 13)
Dieser Ansatz sollte schon im Universitätsstudium für Lehrkräfte so aufgenommen werden, dass auch in der universitären Lehre digitalisierte und individualisierte Lernarrangements didaktisch reflektiert zum Einsatz kommen, sowie ebenfalls in der zweiten Lehrerausbildungsphase, dem Referendariat. Zukünftige Lehrer/innen-Generationen müssen so ausgebildet werden, dass sie wissen, wie ein hilfreicher und motivierender Einsatz digitaler Medien zu gestalten ist. Entgegen einer oberflächlichen und unreflektierten Begeisterung oder einer reflexartigen Ablehnung neuer technischer Entwicklung sollen deren pädagogische und didaktische Möglichkeiten selbst erlebt und weiterentwickelt werden. Last, but not least sollten für die dritte Lehrerbildungsphase, die Fort- und Weiterbildung, entsprechende Angebote verstärkt vorgehalten werden, schließlich sind nahezu 800.000 aktive Lehrende in den deutschen Schulen weitgehend ohne Ausbildungsinhalte zu digitalen Medien und Medienkompetenz in den Schuldienst eingetreten. Idealerweise kommen auch hier digitale Medien wie Lern- bzw. Erklärvideos zur Anwendung, sodass Lehrkräfte diese im Kontext digitaler Lehr-Lern-Arrangements, z. B. des Blended Learnings oder Flipped Classrooms, als Lernende selber kennen- und einsetzen lernen.
Ausdrücklich verzichten wollen wir in diesem Buch auf ein Extrakapitel zu Medienkompetenz-Grundlagen, wie z. B. dem Datenschutz, dem sicheren Navigieren im Internet oder den ethisch-moralischen Dimensionen, die im Kontext der Digitalisierung von Schule und Bildung gründlich zu beachten sind. Dazu gibt es inzwischen ein umfangreiches Angebot von Ratgebern wie z. B. bei klicksafe.de oder dem Medienpass NRW. Auch sind diese Themen mittlerweile fester Bestandteil der entsprechenden Lehramts-Curricula in allen Bundesländern und müssen hier nicht wiederholt werden. Es sei an dieser Stelle aber ausdrücklich auf den Datenschutz und den Schutz der Persönlichkeitsrechte verwiesen, wenn es z. B. darum geht, Videos auf Videoplattformen wie YouTube hochzuladen, die im Unterricht von Schüler/innen selbst produziert wurden und bei denen möglicherweise die Schüler/innen selbst zu sehen sind. Hinweise zur praktischen Medienarbeit finden sich in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches.
Last, but not least ist den vielen Autorinnen und Autoren und Interviewpartnerinnen und -partnern aus dem In- und Ausland zu danken, die bereit waren, ihre Erfahrungen zu teilen2. Ohne ihre Hinweise und Einblicke, Rückfragen und Anmerkungen wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Ihre Beiträge verstehen sich vielfach nicht als Endprodukte, sondern eher als Zwischenstationen oder Wegmarken auf dem weiteren Weg der Nutzung von Lernvideos im Unterricht. Allen gemeinsam ist die Begeisterung für das neue Medium, das ja letztlich so neu gar nicht mehr ist, aber nun im Zuge neuer digitaler Entwicklungen sein Potenzial besser ausspielen kann. Für die Kinder des 21. Jahrhunderts brauchen wir auch eine Schule des 21. Jahrhunderts, in der ihre Motivation und Neugier wach bleibt, die sie auf eine deutlich veränderte Berufs- aber auch Lebenswelt exzellent vorbereitet und die reflektiert die Chancen und Gefahren neuer Entwicklungen im Blick behält. Und dass die Arbeit mit Lernvideos nicht bedeutet, alles, was sich bewährt hat, über Bord zu werfen, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass wir ein Buch herausgeben anstatt ein Erklärvideo zu drehen …
Lernende und Lehrende haben in den 2010er-Jahren Erklärvideos und Tutorials überraschend schnell in ihre eigenen Medienrepertoires integriert. Werden hier die ursprünglichen Ziele des Bildungsfernsehens eingelöst? Welche Besonderheiten bzgl. des Formates Erklärvideo und der Plattform YouTube gilt es dabei zu berücksichtigen? Im Beitrag von Gerhard Tulodziecki (Kap. 2.1) wird zunächst die geschichtliche Entwicklung des Bildungsfernsehens in Deutschland nachgezeichnet. Karsten D. Wolf analysiert, warum es Erklärvideos besser als traditionellen Formen des Bildungsfernsehens gelingt, eine breite Zielgruppe zu erreichen (Kap 2.2). Abschließend werden in einer Reihe von Interviews (Kap. 2.3) mit zentralen Personen des Bildungsfernsehens (Joachim Bublath) und YouTubern (Derek Muller – Veritasium; Johann Carl Beurich – DorFuchs, Kai Schmidt – LehrerSchmidt; Alex Giesecke – SimpleClub; sowie Nicole Valenzuela – musstewissen) besondere Aspekte der Gestaltung von Erklärvideos im Kontext von YouTube erläutert.
Gerhard Tulodziecki
Der emeritierte Professor für Allgemeine Didaktik und Medienpädagogik an der Universität Paderborn, Dr. Gerhard Tulodziecki, ist eine zentrale Gestalt der Medienpädagogik in Deutschland. Aktuell prägt er zusammen mit Bardo Harzig und Silke Grafe die Diskussion um den Begriff der Medienbildung. In den 1980er-Jahren entwickelte er ein Konzept zur handlungs- und entwicklungsorientierten Medienpädagogik für die Schule. In den 1970er-Jahren führte Gerhard Tulodziecki Begleituntersuchungen zu Projekten des öffentlichen Schulfernsehens durch.
Als es 1952 nach vorlaufenden Versuchen sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zu einem regelmäßig ausgestrahlten Fernsehen kam, galt es als selbstverständlich, dass ihm neben der Informations- und Unterhaltungsfunktion auch kulturelle Aufgaben und ein Bildungsauftrag zukommen. Damit stand das Fernsehen in der Tradition sowohl des Hörfunks als auch des Lehr- oder Unterrichtsfilms, denen schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Bildungsaufgaben zugewiesen worden waren. Mit dem Bildungsauftrag des Fernsehens war zugleich die Hoffnung verbunden, die – nach dem Ende des Naziregimes eingeführten – politischen Strukturen in West- und Ostdeutschland im Bewusstsein der Menschen zu stabilisieren: sei es im Sinne westlicher Demokratien, sei es im Sinne des Sozialismus. Für die Entwicklung in Deutschland war zudem wichtig, dass die Verbreitung des Fernsehens sowohl in westlichen Ländern, z. B. Großbritannien und USA, als auch in östlichen Ländern, z. B. in der Sowjetunion, vorangetrieben wurde.
In den 1950er-Jahren entsprachen sowohl das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Westdeutschland als auch das staatlich gelenkte Fernsehen in der DDR dem Bildungsauftrag vor allem durch Sendungen aus den Bereichen Information (z. B. Berichterstattung und Diskussionen zu wichtigen politischen Ereignissen), Kultur (z. B. Übertragung von Musikereignissen und Theateraufführungen), Wissenschaft (z. B. Naturwissenschaft und Technik) oder Kinder und Jugend (z. B. Zoobesuche und andere Tiersendungen) (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Insofern ging es (noch) nicht um ein zielgerichtetes Bildungsprogramm, sondern um Sendungen, von denen man unterstellte, dass ihre Inhalte (auch) für die Bildung bedeutsam seien – allerdings ohne einen expliziten Bildungsbegriff.
In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden in West- und Ostdeutschland (allgemeine) Sendungsformate, die man als bildungsrelevant betrachten kann, weiterentwickelt oder neu eingeführt, z. B. politische Magazine, Wissenschaftssendungen, Dokumentationen zu anderen Ländern, Ratgebersendungen, Wirtschaftsmagazine, Sprachkurse sowie Kinder- und Jugendprogramme. In der DDR hatte dabei das Kinderfernsehen einen besonders hohen Stellenwert. Es galt als wichtiger Bestandteil einer Erziehung zur »allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit«. In Westdeutschland konzentrierte man sich beim Kinderfernsehen dagegen auf Programme zur Förderung der sozial-kognitiven Entwicklung von Vorschulkindern, z. B. mit der Sendereihe »Sesamstraße« (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2017). Des Weiteren entstand in Ost und West das Schulfernsehen als zielgerichtetes Bildungsprogramm. So strahlte der Norddeutsche Rundfunk ab 1961 Versuchssendungen aus und ab 1964 gab es ein regelmäßiges Schulfernsehprogramm des Bayerischen Rundfunks. Anfang der 1970er-Jahre konnte in allen westdeutschen Bundesländern auf ein Schulfernsehprogramm zurückgegriffen werden (vgl. z. B. Merkert 1977). Auch in der DDR wurde im Laufe der 1970er-Jahre ein regelmäßiges Schulfernsehprogramm eingerichtet. Zudem etablierte sich mit dem Telekolleg des Bayerischen Rundfunks ab 1967 ein Medienverbund, mit dem Erwachsene die so genannte »Mittlere Reife« und ab 1972 auch die »Fachhochschulreife« erwerben konnten.
Als Hintergrund für die Entwicklung zielgerichteter Bildungsprogramme kann u.a. der Wettstreit der politischen Systeme in Ost und West gelten, der zu besonderen Bildungsbemühungen führte – in den westlichen Bundesländern vor allem in der Folge des so genannten »Sputnik-Schocks« von 1957. Außerdem wurden verstärkte Bildungsmaßnahmen durch Gerhard Picht (»Die deutsche Bildungskatastrophe«, 1964) angemahnt. Als günstige Bedingung für Bildungssendungen kam in Westdeutschland hinzu, dass mit der Einrichtung des »Zweiten Deutschen Fernsehens« (1961) den Landesrundfunkanstalten das Recht eingeräumt wurde, Dritte Fernsehprogramme zu betreiben, sodass mehr Sendekapazität für Bildungsprogramme zur Verfügung stand. Erweiterte Möglichkeiten für Bildungsprogramme ergaben sich 1969 durch die Einrichtung eines Zweiten Programms auch für die DDR.
In den Fernsehprogrammen in Ost und West haben die oben beispielhaft genannten und für Bildung potenziell bedeutsamen Sendungsformate in den Bereichen Information, Kultur, Wissenschaft, Beratung, Kinder und Jugendprogramm auch in den folgenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle gespielt und sind bis heute bedeutsam. Dabei waren die äußeren Bedingungen allerdings einem erheblichen Wandel unterworfen. So änderten sich z. B. die technischen Bedingungen durch die Einführung des Farbfernsehens (Ende der 1960er-Jahre) und die verbesserten Möglichkeiten der Magnetbandaufzeichnungen (1970er-Jahre) sowie durch die bis heute zunehmende Digitalisierung. Zudem kam es in Westdeutschland 1984 zur Einführung des Dualen Rundfunksystems mit öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehveranstaltern. Das Duale System wurde nach der Wiedervereinigung auf ganz Deutschland übertragen und prägt auch heute die Fernsehlandschaft (vgl. RStV – Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien 2016).
Mit Blick auf das Bildungsfernsehen ist zunächst wichtig, dass im Rundfunkstattsvertrag (RStV) ein Vollprogramm – sei es öffentlich-rechtlicher oder privater Art – definiert ist als »Rundfunkprogramm mit vielfältigen Inhalten, in welchem Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung einen wesentlichen Teil des Gesamtprogramms bilden« (§ 2 Abs. 2). Außerdem wird festgelegt, dass die in der ARD zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten »das Spartenprogramm ARD-Alpha mit dem Schwerpunkt Bildung vom BR« veranstalten (§ 11 b Abs. 2).
Bezüglich des Schulfernsehens haben die Entwicklungen seit der Einführung des Dualen Systems dazu geführt, dass immer mehr Rundfunkanstalten ihr früheres Schulfernsehprogramm zurückgefahren oder ganz eingestellt haben. Dies war zum einen durch die Konkurrenz zum Privatfernsehen bedingt und zum anderen durch die – für ein Massenmedium – relativ geringen Nutzungszahlen. So wird Schulfernsehen heute nur noch vom Bayerischen Rundfunk (ausgestrahlt bei ARD-Alpha) und vom Südwestrundfunk gemeinsam mit dem Westdeutschen Rundfunk produziert (ausgestrahlt unter »Planet Schule«). Mit dem Rückgang des Schulfernsehens war zum Teil die Neukonzeption von spezifischen Wissenssendungen verbunden, z. B. »Alles Wissen« beim Hessischen Rundfunk oder »Planet Wissen« beim Westdeutschen Rundfunk und Südwestrundfunk in Zusammenarbeit mit ARD-Alpha. Zugleich hat die Einführung des Privatfernsehens zu verstärkten Versuchen geführt, Wissens- bzw. Bildungsangebote in unterhaltsamer Weise im Sinne von Info- oder Edutainment zu gestalten und so größere Zielgruppen zu erreichen. Für jüngere Zuschauer/innen spiegelt sich diese Entwicklung bis heute z. B. in Sendungen wie »Wissen macht Ah!« oder »Checker Tobi« wider. Viele solcher Sendungen sind auch über die Webseiten der Rundfunkanstalten abrufbar.
Mit der Entwicklung des Bildungsfernsehens und seiner Ausprägung als Schulfernsehen waren immer wieder Hoffnungen oder Annahmen verbunden, von denen hier nur vier herausgegriffen und in aller Kürze kommentiert werden sollen:
Fernsehen bildet: Mit dieser Annahme wird die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Fernsehen und Bildung aufgeworfen. Dazu wurde schon in den 1960er-Jahren betont, dass Bildung nur durch die geistige Tätigkeit des Subjekts entstehe und das Fernsehen insofern letztlich nicht bilden könne (vgl. z. B. Wasem 1965). Theodor Adorno (1959) geht – mit Blick auf die Entwicklungen in den USA – sogar davon aus, dass durch das Fernsehen als Teil der »Kulturindustrie« keine Bildung, sondern nur eine eher schädliche »Halbbildung« erzeugt werde. In anderer Weise resümiert Helmut Schelsky: »Die Weltkenntnis des normalen Alltagslebens ist die Voraussetzung jeder Bildung eines modernen Menschen; diese Weltkenntnis vermitteln sehr wesentlich die Massenkommunikationsmittel; also: Ohne Massenkommunikationsmitttel keine Bildung!« (1965, S. 64) – womit sich ein »Bogen« zu dem 2009 verabschiedeten und bis heute aktuellen Manifest »Keine Bildung ohne Medien!« ergibt (vgl. Niesyto 2011).
Lehren durch oder mit Fernsehen ist dem herkömmlichen Lehrerunterricht überlegen: Schon frühe Zusammenfassungen empirischer Untersuchungen zum Schulfernsehen zeigen keine generelle Überlegenheit des Fernsehens gegenüber dem herkömmlichen Unterricht, belegen jedoch zugleich, dass man auch mit dem Fernsehen lernen kann (vgl. z. B. Issing 1977; Tulodziecki 1977). Unter Umständen stellen sich beim Lernen mit Fernsehen sogar schlechtere Ergebnisse ein, weil die Lernenden aufgrund visueller Präsentationen glauben, alles zu verstehen, und sich deshalb bei der Rezeption in mentaler Hinsicht weniger anstrengen (vgl. z. B. Weidenmann 1993). Am ehesten führt eine Verbindung zwischen Fernsehen und personal geführtem Unterricht zu besseren Lernergebnissen – im Sinne des so genannten Kontextmodells, verstanden als Fernsehen mit vorbereitendem und nachbereitendem Lehrerunterricht, gegebenenfalls mit weiteren Lernmaterialien. Aber auch in diesen Fällen sind die Lernergebnisse letztlich stärker vom zugrunde liegenden Lehr-Lern-Konzept als vom Fernsehen als Medium abhängig (vgl. Tulodziecki/Herzig/Grafe 2010).
Das Fernsehen kann Lehrermangel ausgleichen oder fehlende Lehrerqualifikationen ersetzen: Mit dieser Erwartung wurden verschiedene Schulfernsehreihen für Bereiche produziert, in denen keine hinreichende Zahl ausgebildeter Lehrkräfte zur Verfügung stand oder curriculare Neuerungen angestrebt wurden, z. B. Einführung der Mengenlehre oder Fremdsprachen. Dazu bedurfte es zunächst allerdings weiterer Materialien, z. B. in Form schriftlicher oder auditiver Texte, gegebenenfalls mit genauen Anleitungen für lehrergeleitete Übungsphasen. Wenn diese Angebote auch zu einzelnen Erfolgen geführt haben (dabei zum Teil eher als Mittel der Lehrerfortbildung, denn als Lernmittel für Schüler/innen), haben sie sich für den Schulbereich letztlich nicht bewährt – u.a. wegen der Vernachlässigung sozialer Bedürfnisse beim Lernen sowie der Schwierigkeit, ein Programm für heterogene Lerngruppen bereitzustellen (vgl. Tulodziecki/Herzig/Grafe 2010). Vergleichbare Produktionen sind insgesamt eher für den Bereich der Erwachsenenbildung als für den Schulbereich geeignet.
Fernsehen führt zu einer Demokratisierung der Bildung: Diese Hoffnung ist u.a. mit den Annahmen verbunden, dass (a) durch Bildungsfernsehen auch sozial oder regional benachteiligte Schichten erreicht werden, (b) sich mithilfe des Fernsehens die Wissenskluft zwischen Privilegierten und Benachteiligten verringern lässt, (c) sich durch das Fernsehen »Bildungsreserven« erschließen lassen. Wenn es bezüglich dieser Annahmen zum Teil auch kleinere Erfolge gibt, z. B. durch das Telekolleg, ist bezogen auf die Breite der Bevölkerung doch eher Skepsis angebracht. Diese hängt damit zusammen, dass (a) ein grundsätzlich förderliches Angebot noch lange nicht dessen Nutzung garantiert, (b) eine bildungsrelevante Rezeption von Sendungen motivationale und kognitive Bedingungen voraussetzt, die gerade bei benachteiligten Bevölkerungsschichten (noch) nicht erwartet werden können, und (c) bei der Erschließung von »Bildungsreserven« durch Fernsehen in der Regel für die Lernenden ein deutlich höherer motivationaler, kognitiver und zeitlicher Aufwand erforderlich ist als unter »normalen« schulischen Bedingungen.
Manche der damit angesprochenen Probleme gelten, wenn auch unter veränderten Bedingungen, ebenso für die Bereitstellung von audiovisuellen Lernmaterialien auf Videoplattformen bzw. Webseiten im Internet. Sollen entsprechende Angebote nicht nur einer kurzfristigen klausur- oder prüfungsrelevanten Aneignung von Wissen, sondern der Bildung dienen, müssen sie in die Auseinandersetzung mit Problemlagen, Entscheidungsfällen, Gestaltungsfragen oder Beurteilungsanforderungen eingebunden sein, die für Gegenwart oder Zukunft der Lernenden bedeutsam sind.
Adorno, T. W. (1959): Theorie der Halbbildung. In: Adorno, T. W.: Gesammelte Schriften. Band 8. Soziologische Schriften I. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 93–121.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2017): Deutsche Fernsehgeschichte in Ost und West. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/deutsche-fernsehgeschichte-in-ost-und-west/ [Letzter Zugriff: 08.06.2018].
Issing, L. J. (1977): Vergleichsuntersuchungen und Untersuchungen über die Wirkung spezieller Variablen. In: Eßer, A. (Hrsg.), Handbuch Schulfernsehen. Ein Kompendium für Studium, Fortbildung und Praxis. Weinheim und Basel: Beltz, S. 123–140.
Merkert, R. (1977): Entstehung und Entwicklung des Schulfernsehens in der Bundesrepublik Deutschland. In: Eßer, A. (Hrsg.), Handbuch Schulfernsehen. Ein Kompendium für Studium, Fortbildung und Praxis. Weinheim und Basel: Beltz, S. 70–90.
Niesyto, H. (Hrsg.) (2011): Keine Bildung ohne Medien! Positionen, Personen, Programm und Perspektiven. München: kopaed.
Picht, G. (1964): Die Deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Olten und Freiburg: Walter.
RStV – Rundfunkstaatsvertrag für Fernsehen und Telemedien (Neunzehnter Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 1. Oktober 2016). Online verfügbar unter: https://www.rbb-online.de/unternehmen/der_rbb/struktur/grundlagen/rundfunkstaatsvertrag.file.html/170301-Rundfunkstaatsvertrag_in_Kraft_seit_1-10-2016.pdf [Letzter Zugriff: 08.06.2018].
Schelsky, H. (1965): Müssen Massenmedien bilden? In Evangelischer Presseverband für Bayern (Hrsg.), Kann ein Massenmedium bilden? München: Evangelischer Presseverband für Bayern, S. 49–67.
Tulodziecki, G. (1977): Schulfernsehen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Zusammenstellung von Ergebnissen aus Begleituntersuchungen zu Projekten öffentlichen Schulfernsehens. Köln: Verlagsgesellschaft Schulfernsehen.
Tulodziecki, G./Herzig, B./Grafe, S. (2010): Medienbildung in Schule und Unterricht. Grundlagen und Beispiele. Bad Heilbrunn: Klinkhardt/UTB.
Wasem, E. (1965): Bildungsprogramme im Fernsehen aus der Sicht des Pädagogen. In: Jugend, Film, Fernsehen, 2(9), S. 115–119.
Weidenmann, B. (1993): Instruktionsmedien. München: Hochschule der Bundeswehr, Institut für Erziehungswissenschaft und Pädagogische Psychologie.