Die Kinder der Leserunde haben einige wunderbare Piratennamen erfunden, bei denen ich mich für dieses Buch (und für mögliche weitere) bedienen durfte. Mein besonderer Dank geht darum an: Len Tiberius (10 Jahre), Pio Barnabas (8), Marc Philipp (8), Kilian (7), das Kind von Buchrättin (9), Tim (10), Jan Willy (7), Felipe (11), Joana (8), Jasmin (8), Maarten (10), Torben (10) und Miriel (6).
Bereits erschienen:
Der Schatz des Listigen Lars
Gabi Neumayer, geboren 1962, lebt und arbeitet in Bergheim bei Köln. Sie schreibt vor allem für Kinder – unter anderem Science-Fiction-Geschichten, englische Lernkrimis, Bilderbücher und Bände für die Sachbuchreihe »Frag doch mal die Maus«.
Mehr Infos gibt es auf ihrer Homepage: www.gabineumayer.de.
Ich danke meinen TestleserInnen Sandra und Claudia Neumayer, Michael Hamannt und Jürgen Schloßmacher (Testleser und geduldiger Ehemann). Außerdem allen Kindern und Erwachsenen, die im März 2015 an der Leserunde zu »Der Schatz des Listigen Lars« teilgenommen haben.
Für die Kinder der Leserunde zum
»Schatz des Listigen Lars«
Inhalt
Die Prophezeiung der Geheimnisvollen Gloria
Der alte Feind
Der geheime Raum
Rattenparadies
Die Geschichte des Verbannten
Der Sturm des Jahrhunderts
Abgeschnitten
Schlimme Neuigkeiten
Der Fliegende Florian
Eine Kiste voller Geschichten
Mission Mahlstrom
Die Insel der Künstler
Der Strudel
Das Ungeheuer taucht auf
Alles geht schief
Der Kampf der Monster
Gerettet
Der Tobende Tobi
Neue Sorgen
Der Weg in die Freiheit
Ein unerwarteter Fund
Die Kraken-Expertin
Der Schwierige Schorsch
Schweigen ist Gold
Kämpfen für Anfänger
Das unsichtbare Mädchen
Der Aufbruch
Ein Spielzeug für den Kraken
Die Rückkehr
Das Verhör
Berta der Boss und das Geheimnis
Der Feinsinnige Fabio
Lilis Seesack
Briefe
Die Kundige Kathrin
Überlistungsversuche
Mit allen Tricks
Nach Hause
Eltern …
Die Legende vom Haarigen Hugo
Mick und Carlo
Das neue Schiff
Glossar
Inhalt
Der stürmische Wind zerrte an der Schulflagge wie ein gieriger Pirat an seiner Beute. Die Schüler in Micks Klasse hielten ihre Kopftücher fest, und die Seiten der Schulhefte flatterten. Aber für Pistolen-Pia, Micks Klassenlehrerin, war das noch lange kein Grund, unter Deck zu gehen. »Seid ihr die Nachkommen von stolzen Piraten oder verweichlichte Landratten?!«, rief sie gegen das Heulen des Windes an.
Micks beste Freundin Lili verdrehte die Augen. »Was ist da wohl die richtige Antwort?«, sagte sie so leise, dass nur Mick es hören konnte. Mick grinste und sah zu Stevie hinüber. Der versuchte zurückzulächeln, war aber leichenblass. Nicht zum ersten Mal dachte Mick darüber nach, dass Stevies Seekrankheit auf der langen Reise, die vor ihnen lag, zu einem echten Problem werden konnte. Aber bisher war ihm noch keine Lösung dafür eingefallen.
»Apropos stolze Piraten«, rief Pistolen-Pia, »das wird nächste Woche unser Thema sein: Wer waren unsere Vorfahren? Und wie kamen sie ins Vergessene Meer?«
Die Klasse stöhnte. Dieses Thema wiederholte sich jedes Jahr, und alle langweilten sich entsetzlich damit.
»Wenn wir bis dahin überhaupt noch leben«, murmelte ein Junge.
Pistolen-Pia baute sich vor ihm auf und rammte ihr Entermesser in sein Pult. »Wie meinst du das?«
»Na, die Geheimnisvolle Gloria hat doch diesen schrecklichen Sturm vorhergesagt, bei dem wir alle …«
Micks Erzfeind Carlo ließ sein Lineal sinken, mit dem er gedankenverloren einen Säbelkampf ausgefochten hatte. »Red nicht solchen Quatsch!«, fuhr er den Jungen an. »Gloria hat doch keine Ahnung!«
»Na, so was«, raunte Mick Lili zu.
In den letzten Monaten – seit Carlo den Wettlauf um den Schatz des Listigen Lars verloren hatte – hatte er sich verändert. Er hing zwar noch mit seiner Bande herum, quälte aber keine jüngeren Kinder mehr. Am Unterricht beteiligte er sich auch nicht. Stattdessen starrte er unentwegt übers Meer und trainierte ansonsten mit seinem Fechtlehrer. Man munkelte, dass er inzwischen so gut war, dass er beim großen Piratenturnier im Herbst als jüngster Säbelfechter antreten sollte. Warum regte er sich so auf, nur weil Gloria, die die Horoskope in der »Piraten-Post« schrieb, wieder mal eine Vorhersage gemacht hatte?
»Ruhe, ihr beiden!«, schrie Pistolen-Pia gegen den Wind an, der ihnen nun die ersten Regentropfen ins Gesicht trieb. »Na schön, packt eure Sachen, wir gehen unter Deck!«
»Heiliger Thunfisch«, murmelte Stevie, als er hinter Mick und Lili die Treppe hinunterstieg. »Ich hoffe, es gibt Kotztüten da unten.«
»Was haltet ihr von Glorias Vorhersage?«, fragte Mick. Gloria sagte jedes Frühjahr einen schrecklichen Sturm voraus, einfach deshalb, weil es zu dieser Zeit naturgemäß immer Stürme gab. Und das wusste Mick auch genau. Mit seiner Frage wollte er Stevie nur von seinem Elend ablenken.
»Von wegen ›Geheimnisvolle Gloria‹!«, rief Lili empört. »Früher hieß sie ja nicht umsonst ›Geschwätzige Gloria‹, bevor sich diese Schwindlerin umbenannt hat.«
Stevie lachte. »Gloria ist einfach eine gute Geschichtenerzählerin. So gut, dass viele gern glauben möchten, was sie sagt.«
»Hätte ich mir ja denken können, dass du sie in Schutz nimmst«, knurrte Lili. »Geschichtenerzähler unter sich …«
»Also, meine Geschichten sind alle wahr«, erwiderte Stevie.
»Na klar.« Lili verdrehte die Augen.
Mick grinste. Stevies Gesichtsfarbe hatte sich während des Streits deutlich verbessert.
»Ruhe!« Pistolen-Pia schlug mit ihrem Säbel gegen einen Messingkrug, was einen ohrenbetäubenden Lärm machte. »Sonst sitzt ihr alle nach!«
Bloß nicht, dachte Mick. Wenn er nachsitzen musste, schaffte er es nach der Schule nicht mehr zur Werft.
Als der Unterricht zu Ende war, regnete es draußen immer noch, und die Sturmböen hatten kaum nachgelassen. Stevie musste nach Hause, um im Restaurant seiner Eltern, »Zum Fidelen Freibeuter«, auszuhelfen, und Lili wollte in die Bibliothek.
»Ich nehme nicht an, dass du mitkommst?« Sie grinste Mick an.
»Seit du diese neue Brille hast«, erwiderte Mick, »hast du offenbar noch mehr Durchblick als früher.«
Lili knuffte ihn in die Seite. »Allerdings. Und du hast meine rote extrastarke Zweitbrille noch gar nicht gesehen, nimm dich also besser in Acht!«
Als Mick loslief, gesellte sich seine Möwe Penelope zu ihm. Vom Schulschiff aus ging es geradewegs durch den Hauptort von Saphira, dann am Platz der zwölf Palmen vorbei zur Stillen Senke, hinunter zur Weißen Bucht und weiter bis zur Werft von Planken-Peter.
Seit Wochen kam Mick jeden Tag nach der Schule hierher. Und jedes Mal hielt er den Atem an, bevor er in die Halle trat, in der es lag.
Das Schiff, das seine Freunde und er bauen ließen.
Das Schiff, das sie aus dem Vergessenen Meer bringen würde.
Das Schiff, mit dessen Hilfe er herausfinden würde, ob sein Bruder Ben noch am Leben war.
»Tach, Mick.« Planken-Peter hob einen Hammer zum Gruß, bevor er sich in aller Seelenruhe wieder an die Arbeit machte.
Mick wusste, dass Peter nicht langsam oder faul war, sondern einfach sehr sorgfältig arbeitete. Und wenn man bedachte, dass dieses Schiff eine Fahrt ins Ungewisse überstehen sollte …
Mick kam nicht nur jeden Tag in die Werft, weil er die Fortschritte an ihrem Schiff überprüfen wollte. Er mochte alles hier: den Geruch nach Holz, Leinöl und Metall, das Hämmern und das Knarren der Planken. Mick ging um das Holzgerippe herum, das nun jeden Tag mehr wie ein richtiges Schiff aussah. Penelope ließ sich am Bug nieder und sah sich mit ihren schwarzen Knopfaugen um.
»Wie lange noch?«, fragte Mick.
Peter seufzte. »Einen Tag weniger als gestern, Junge.«
»Also ungefähr drei Wochen?«
»Wenn nichts dazwischen kommt.«
»Was könnte denn …« Plötzlich wurde Penelope unruhig. Sie flatterte mit den Flügeln und flog dann in die Halle nebenan.
»Wird da noch ein Schiff gebaut?«, fragte Mick.
Carlo!, schoss es ihm durch den Kopf. Wollte er Mick und seinen Freunden etwa wieder einen Strich durch die Rechnung machen? Aber das konnte nicht sein. Schließlich hatte Carlos Vater ihm nach dem Desaster mit dem »Schwarzen Pfeil« sein Schiff weggenommen. Man munkelte, dass Carlo nicht einmal mehr Taschengeld bekam.
Peter wischte sich den Schweiß von der Stirn und richtete sich auf.
»Das ist nur Gerhards Jacht. In zwei Tagen sind wir damit fertig.«
Mick grinste. Der Goldene Gerhard ließ ständig irgendwas an seiner Jacht umbauen.
»Was ist es denn diesmal?«, fragte er. »Ein goldenes Klo?«
»Wer bekommt ein goldenes Klo?«, krähte es da vom Eingang her, und Micks kleine Schwester Susa kam hereinspaziert.
»Was für ein Glanz in meiner Hütte.« Peter schmunzelte.
Susa drehte sich stolz um sich selbst. »Das ist mein neues Tüllkleid. Fünf Lagen, in Gelb, Rosa, Hellblau, Zartlila und Hellgrün.«
»Wahnsinn«, sagte Peter, und nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, meinte er das wörtlich.
»Was machst du denn hier?«, fragte Mick.
In diesem Moment trat Gordon ein. Er sah müde aus, lebte aber sogleich auf, als sein Onkel Peter ihn in ein Fachgespräch über das Schiff verwickelte. Offenbar hatte Susa sich wieder einmal an Gordon gehängt und ihm den ganzen Weg bis zur Werft mit Einzelheiten über Kleiderstoffe und angesagte Modefarben in den Ohren gelegen.
»Ich wollte dich warnen«, sagte Susa. Sie wischte eine Holzkiste gründlich sauber, bevor sie sich setzte und die aktuelle »Piraten-Post« aus ihrer Schultasche zog. »Hier steht’s«, sagte sie ernst. »Ich les es dir vor.«
Susa hatte die Seite mit den Vorhersagen der Geheimnisvollen Gloria aufgeschlagen. »Susa, ich glaube nicht –«, sagte Mick. Aber seine Schwester hatte schon begonnen: »Es wird ein Sturm kommen, und er wird bald kommen. Ein Sturm, wie ihn das Vergessene Meer noch nie erlebt hat. Ein Sturm, der viel Schaden anrichten und zahllose Menschen in Angst, Schmerz und Verzweiflung stürzen wird.«
»Aber –«
»Das ist noch nicht alles!«, rief Susa und las weiter. »Er wird nicht nur Häuser und Schiffe beschädigen, sondern auch große Pläne zunichtemachen.« Sie faltete die Zeitung zusammen. »Da hast du’s.«
Mick musste sich ein Lachen verkneifen. »Was hab ich?«
Susa sah ihn missbilligend an. »Na, das mit den großen Plänen. Damit meint sie uns! Unseren Plan, nach Ben zu suchen!«
»Nicht so laut«, sagte Mick. »Du weißt doch, dass niemand etwas davon erfahren darf.«
Aber Peter und Gordon hatten ihr Gespräch schon unterbrochen und kamen herüber.
»Selbst wenn ein Sturm kommt«, meinte Peter, »braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Wir haben die Werft damals genau deshalb an dieser geschützten Stelle gebaut. Und bisher ist noch nie etwas passiert.«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen«, meinte Mick. Aber obwohl er von Glorias Vorhersagen nichts hielt, war er doch erleichtert, dass Peter sich so sicher war. Er hatte so lange darauf gewartet, nach seinem großen Bruder zu suchen, da durfte jetzt einfach nichts mehr dazwischenkommen!
Susa war mit Gordon mittlerweile zum Heck des Schiffes gegangen. Mick wollte ihnen gerade folgen, um Gordon aus Susas Fängen zu befreien, als Carlo in die Werft geschlendert kam. Der Fechtsäbel, den er neuerdings immer trug, hing an seinem Gürtel. »Hallo, Mick.«
»Carlo.«
Carlo begann, um ihr Schiff herumzugehen. »Ein richtiges Prachtstück.«
Mick musterte ihn misstrauisch. Bei jedem anderen hätte er so eine Aussage für Bewunderung gehalten – bei Carlo klang es wie eine Drohung. Carlo hatte das Schiff umrundet. Er lächelte. »Ganz schön groß, euer Schiff.«
Mick bemühte sich, ruhig zu bleiben. Nein, Carlo konnte nichts von ihren Plänen wissen, das Vergessene Meer durch die Lichtbarriere zu verlassen.
Mick schwieg. Carlos Grinsen wurde breiter. »Eigentlich ist es zu groß fürs Vergessene Meer, findest du nicht?«
Es war, als hätte Mick einen Schlag in den Magen bekommen. Carlo musste etwas über ihren Plan erfahren haben! Hatte Susa sich verplappert? Oder hatte jemand von den Eltern etwas erzählt? Sonst wusste doch niemand, dass Mick und seine Freunde bei ihrer Schatzsuche im letzten Jahr tatsächlich einen Weg aus dem Vergessenen Meer entdeckt hatten. Und dass sie vorhatten, in der Welt hinter dem Vergessenen Meer nach Ben zu suchen.
Mick atmete tief durch. Nein. Carlo konnte nichts wissen. Und auf keinen Fall durfte Mick sich jetzt etwas anmerken lassen. Mick hoffte, dass sein Lächeln echt wirkte, als er erwiderte: »Kann ein Schiff denn jemals zu groß sein?«
Carlo lachte, seine weißen Zähne blitzten. Mick musste unwillkürlich an einen Hai denken. »Da hast du natürlich recht«, sagte Carlo. »Nur die Welt ist zu klein, stimmt’s?«
Mick hatte das Gefühl, als ob der Boden unter ihm schwankte. Carlo wusste doch etwas, ganz bestimmt! Und Mick musste jetzt schnell etwas erwidern. Irgendetwas Lustiges, um den Schein zu wahren, dass sie nur ein Spiel spielten. Aber ihm fiel nichts ein …
»Mick!«, hörte er da jemanden rufen. Im nächsten Moment war Susa bei ihnen. Sie nahm Micks Hand und flüsterte ihm zu: »Was will der denn hier?«
»Ah, meine gute alte Freundin«, säuselte Carlo. »Na, wie geht’s dir, Susa? Schon aufgeregt wegen der großen Fahrt?«
»Woher weißt du denn –« Susa hielt erschrocken inne. Carlo lachte höhnisch.
Inzwischen war auch Gordon herübergekommen. »Lass sie in Ruhe, Carlo«, zischte er.
Carlo hob die Hände. »Keine Panik. Ich bin nur hier, um euer neues Schiff zu bewundern.«
Susa schnaubte. Carlo sah sie nicht an, sondern legte einfach eine Hand an seinen Säbel. Susa versteckte sich hinter Micks Rücken.
»Na, dann will ich mal wieder. War nett, mit euch zu plaudern.« Und mit diesen Worten schlenderte Carlo aus der Halle.
Gordon sah ihm kopfschüttelnd nach. »Was war das denn für ein Auftritt?«
Mick sagte nichts. Dafür rief Susa, die seine Hand nun losließ: »Der spinnt wohl! Ich bin doch nicht seine Freundin!« Sie sah Mick an. »Und ich hab ihm nichts erzählt, Ehrenwort.«
»Das weiß ich doch«, beruhigte Mick sie. »Geh einfach schon mal vor zur Fähre. Ich komme dann gleich nach.«
Als Susa fort war, sagte Mick: »Gordon, ich glaube, Carlo weiß Bescheid.«
Gordon überlegte eine Weile. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Aber er weiß von unserer großen Fahrt!«
Gordon zuckte die Achseln. »Jeder weiß doch, dass wir eine große Reise in den Sommerferien vorhaben. Das heißt noch gar nichts.«
Mick trat gegen ein Stück Holz, das vor seinen Füßen lag. »Carlo hat ganz klar durchblicken lassen, dass man so ein großes Schiff fürs Vergessene Meer nicht braucht.«
Gordon legte Mick die Hände auf die Schultern und sah ihm in die Augen. »Immer mit der Ruhe, Mick. Carlo weiß gar nichts. Wenn sich irgendwer verplappert hätte und Carlo wirklich wüsste, dass wir das Vergessene Meer verlassen wollen, dann hätte sich das doch längst herumgesprochen, oder?«
Mick ließ sich das Gespräch mit Carlo noch einmal durch den Kopf gehen. Was war denn tatsächlich geschehen? Carlo hatte nur ein paar Andeutungen gemacht, das war alles. »Du hast recht«, sagte er schließlich. »Er kann es nicht wissen.«
»Genau«, sagte Gordon.
»Ich muss weg«, sagte Mick. »Wir sehen uns dann später.« Er rannte los, um die Fähre nach Rubinia nicht zu verpassen. Aber so schnell er auch lief, das schlechte Gefühl in seinem Bauch wurde er nicht los.
Nur wenige Hundert Meter entfernt hieb Carlo in einem halb verfallenen Lagerschuppen mit seinem Säbel auf eine Strohpuppe ein. Er trainierte erst seit wenigen Minuten, aber von der Puppe war schon kaum noch etwas übrig. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht, über Arme und Rücken, doch Carlo hörte nicht auf.
Es war nicht genug. So lange nicht, bis er den Säbelkampf besser beherrschte als jeder andere.
Carlo schnaubte, schlug zu, und die Puppe verlor einen Fuß. Sein Fechtlehrer glaubte wie alle anderen, dass Carlo sich wegen des großen Herbstturniers so anstrengte. Aber das war Unsinn. Sicher, das Preisgeld würde er mitnehmen, denn er konnte es gut gebrauchen. Sein Vater gab ihm ja kein Taschengeld mehr, seit Carlo den Wettlauf um den Schatz des Listigen Lars verloren hatte.
Aber Carlo hatte andere Gründe, zum besten Säbelfechter des Vergessenen Meeres werden zu wollen. Und von denen ahnte niemand etwas, nicht einmal seine dusselige Bande. Carlo würde das Vergessene Meer und all die Schmach, die er erlitten hatte, hinter sich lassen. Er würde wegsegeln und niemals wiederkommen. Und weil es da draußen mit Sicherheit von echten, wilden Piraten nur so wimmelte, musste er vorbereitet sein.
Niemand sonst im Vergessenen Meer schien zu glauben, dass jenseits der Lichtbarriere eine Welt lag, die von Piraten beherrscht wurde. Aber das zeigte nur, wie verweichlicht sie alle waren.
Die einzige Schwachstelle in Carlos Plan war bisher gewesen, dass er keine Ahnung hatte, wie er das Vergessene Meer verlassen konnte. Der größte Teil des Meeres wurde von der Lichtbarriere umschlossen, und im Süden versperrte der Mahlstrom den Weg.
Carlo wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Seit dem Gespräch mit Mick war er sicher, dass sein alter Feind einen Weg aus dem Vergessenen Meer kannte. Micks Schwester hatte sich mal wieder verplappert. Und Mick hatte zwar versucht, cool zu wirken, aber Carlo hatte die Panik in seinen Augen gesehen.
Carlo schlug der Strohpuppe mit einem gekonnten Hieb den rechten Arm ab und grinste. Er hätte seinen eigenen Arm darauf verwettet, dass Micks Bande auf ihrer Ferienfahrt das Vergessene Meer verlassen wollte. Jetzt musste er nur noch herausfinden, wie.
»Ich kann’s nicht glauben, dass ich den Nachmittag in dieser miefigen Bibliothek verbringe«, murrte Lili.
Der Regen hatte sich verzogen, und die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel. Mick, Lili, Stevie und Gordon hatten sich vor der Bibliothek getroffen.
»Du würdest wohl lieber was mit Louis unternehmen?«, neckte Stevie sie. Als Lili ihn entgeistert anstarrte, fügte er hinzu: »Ich hab gesehen, wie er in der Schule knallrot angelaufen ist, als du ihm über den Weg gelaufen bist. Und dann hat er so dämlich gegrinst … oh Mann!«
Er konnte Lili gerade noch ausweichen, die ihre Tasche nach ihm warf. »Du spinnst ja wohl!«, rief sie. »Der Typ glaubt an den Großen Klabautermann, muss ich mehr sagen?«
Die anderen kicherten. Lili versuchte, jeden Einzelnen von ihnen mit Blicken zu töten. Als das nicht funktionierte, riss sie die Tür zur Bibliothek auf und meinte schnippisch: »Also, ich habe zu tun. Ihr könnt ja gern weiter hier rumstehen und euch wie Kleinkinder aufführen.«
Grinsend folgten ihr die anderen in das dunkle alte Gebäude.
»Wer weiß, vielleicht finden wir ein paar ganz neue Geschichten über unsere Vorfahren«, sagte Stevie, als sie in dem staubigen, mit Büchern vollgestopften Raum standen.
»Na sicher.« Lili schnaubte verächtlich. »Als ob in den letzten hundertfünfzig Jahren hier nicht jedes Blatt schon x-mal gelesen worden wäre.« Sie betrachtete angewidert die Regale und Tische voller vergilbter Dokumente und Papiere. Mick konnte es ihr nicht verdenken. Er wäre auch lieber draußen in der Sonne gewesen als hier drinnen, wo es nach altem Papier und Schimmel roch. Aber …
»Wir sind ja nicht nur wegen der Hausaufgaben da«, sagte er. »Vielleicht finden wir auch Informationen über die Welt außerhalb des Vergessenen Meeres. Wenn wir nur die leiseste Ahnung hätten, was uns da draußen erwartet, könnten wir uns viel besser vorbereiten.«
Sie begrüßten den Belesenen Bertram, den Bibliothekar, dann vergrub Stevie seine Nase sogleich in einem übel riechenden Lederband. Mick, Lili und Gordon sahen sich achselzuckend an und machten sich ebenfalls an die Arbeit.
Eine Stunde später trugen sie an einem wackeligen Tisch in einer dunklen Ecke der Bibliothek ihre Ergebnisse zusammen.
»Also, ich hab nichts Neues gefunden«, sagte Mick.
»Nur die alte Geschichte«, bestätigte Lili. »Ich fasse mal zusammen: Vor hundertfünfzig Jahren sind unsere Vorfahren bei einem heldenhaften, erbitterten Kampf ins Vergessene Meer geraten. Wie, das weiß offenbar keiner.«
Gordon nickte. »Was bedeutet, dass sie entweder durch die Lichtbarriere gebrochen sind, so wie wir letztes Jahr, oder dass sie irgendwie den Mahlstrom überwunden haben.«
»Wie auch immer«, sagte Lili, »sie haben ihre Verfolger zwar erfolgreich abgeschüttelt …«
Verfolger?, fuhr es Mick durch den Kopf. Irgendetwas störte ihn an dem Wort.
»… aber als sie weiterfahren wollten, stellten sie fest, dass sie im Vergessenen Meer eingeschlossen waren, zwischen Lichtbarriere und Mahlstrom.«
»Wie kann das sein?«, fiel Mick ihr ins Wort.
»Was meinst du?«
»Wie konnten sie plötzlich eingeschlossen sein?« Warum war ihm das vorher noch nie aufgefallen? »Ich meine«, fuhr er aufgeregt fort, »wenn sie durch die Lichtbarriere gebrochen wären, dann hätten sie doch auf demselben Weg wieder aus dem Vergessenen Meer herausfinden können!«
»Stimmt!«, rief Stevie, was ihm einen strengen Blick des Belesenen Bertram einbrachte.
»Und wenn sie über den Mahlstrom gekommen wären –«
»Dann hätten sie es wohl auch wieder zurück geschafft!«, rief nun Lili. Der Belesene Bertram stand ächzend aus seinem Sessel auf und schlurfte zu ihnen herüber.
»Das bedeutet, dass entweder die ganze Geschichte nicht stimmt«, überlegte Mick laut, »oder es gab den Mahlstrom damals noch gar nicht. Oder …«
»Kinder, so geht das nicht.« Der Belesene Bertram musterte sie streng über den Rand seiner Lesebrille hinweg.
»Tut uns leid, Bertram«, sagte Stevie. »Aber wir sind da einer Sache auf der Spur. Und wenn irgendjemand uns dabei helfen kann, dann du. Schließlich kennt sich niemand mit der Geschichte des Vergessenen Meeres besser aus als du.«
Bertram lächelte geschmeichelt, wobei sich sein Gesicht in lauter Falten legte. Doch als sie ihm erzählten, worauf sie gestoßen waren, schüttelte er bedauernd den Kopf. »Tja, das ist wirklich eine gute Frage. Aber leider wird sie in keinem einzigen der Dokumente hier zufriedenstellend beantwortet, so viel kann ich euch sagen. Wenn es irgendjemand weiß«, er schmunzelte, »dann sind das die Ratten.« Er schlurfte zu seinem Sessel zurück. Mick fragte: »Wie meinst du das?«
Bertram drehte sich um. »Das ist nur so eine Redensart. In der kleinen Kammer da hinten liegen seit Ewigkeiten ein paar alte Kisten mit Papieren, Heften und Kladden. Aber die sind schimmelig, vergammelt und kleben aneinander. Außer mir würde die niemand anfassen. Und ich kann es nicht, weil ich eine Schimmelallergie habe.« Er sah sich traurig um. »Schon der Aufenthalt hier drin bereitet mir Probleme. Aber, na ja, das soll nicht eure Sorge sein.« Gedankenversunken hielt er inne, dann lächelte er. »Die Einzigen, die sich mit diesen Dokumenten beschäftigen, sind die Ratten. Darum nenne ich die Kammer auch ›das Rattenparadies‹.«
»Dürften wir da mal rein?« Mick hielt den Atem an.
»Sicher«, sagte Bertram. »Ich würde mich freuen, wenn jemand die Schätze dort heben könnte. Aber seid nicht enttäuscht, wenn ihr nichts Brauchbares entdeckt. Ich hoffe, ihr habt nichts gegen Ratten?«
»Igitt«, murmelte Gordon.
»Heiliger Thunfisch!«, rief Stevie, und Lili meinte angewidert: »›Heilige Ratte‹ trifft es wohl eher.«
Der Belesene Bertram hatte ihnen außer Handschuhen noch eine Laterne und einige Kerzen in die Hand gedrückt und sich selbst sein Kopftuch vors Gesicht gebunden. Dann hatte er sich so weit wie möglich vom Rattenparadies entfernt. Außerdem hatte er ihnen eingeschärft, dass sie da drin möglichst wenig atmen sollten und dass sie sofort die Tür schließen mussten, wenn sie drin waren. Damit weder Ratten noch der Schimmel entkommen konnten.
Jetzt standen die Freunde mit Kopftüchern vorm Mund im schummrigen Licht der Kerzen im Rattenparadies und rührten sich nicht.
»Ist das eklig«, stieß Lili hervor. Mick verkniff sich einen Schrei, als eine Ratte an ihm vorbeihuschte. Gordon stöhnte leise.
Nur Stevie war bester Laune. »Dann mal los«, sagte er. Mit einer behandschuhten Hand hob er eine Holzkiste an, deren durchgefaulter Boden sogleich durchbrach. Ein nasser Klumpen zusammengeklebter Papiere fiel mit einem hässlichen Schmatzen heraus.
»Betrachtet es einfach als Schatzsuche«, sagte Mick in der Hoffnung, die anderen aufzumuntern. Lili warf ihm einen bösen Blick zu, bevor sie sich mit Todesverachtung einem Stapel schimmliger Kladden zuwandte. Stevie hatte sich bereits in ein halbwegs erhaltenes Schriftstück vertieft. Aber Mick erinnerte ihn, dass sie alles, was brauchbar aussah, nur einsammeln und später an der frischen Luft sichten wollten.
Es dauerte trotzdem mehrere Stunden, bis sie das Rattenparadies wieder verließen. Aber niemand gab auf. Denn eins war klar: An diesen grässlichen Ort wollte keiner von ihnen noch einmal zurück. Und so husteten sie, verscheuchten angewidert neugierige Ratten und wühlten in modrigen Haufen, bis sie alles durchgesehen hatten.
»So wie das Rattenparadies stelle ich mir die Hölle vor«, sagte Lili.
Bertram hatte ihnen erlaubt, alles mitzunehmen, um es zu säubern. Jetzt saßen sie vor dem Wirtshaus von Stevies Eltern am Strand und hatten ihre Funde vor sich ausgebreitet.
»Da hast du recht, Lili. Ich weiß auch nicht, was die Ratten an diesem Ort finden«, meinte Stevie, und alle prusteten los. Dann machten sie sich mit weichen Tüchern, angefeuchteten Lappen, einem Handfeger, Handschuhen und Mundschutz an die Arbeit.
Über Nacht ließen sie die Papiere und Bücher trocknen, und vor Aufregung schlief keiner von ihnen gut. Am nächsten Tag mussten sie dann noch die Schule hinter sich bringen, bevor sie ihre Schätze endlich sichten konnten. Jetzt war auch Susa dabei. »Nachdem wir wieder mal die ganze schmutzige Arbeit erledigt haben«, bemerkte Lili spitz.
Stevie hatte aus der Wirtschaft seiner Eltern einen riesigen Stapel Mangokrapfen mitgebracht, mit dem sie es sich unter den Dattelpalmen gemütlich machten.
»Mit dem neuen Supertopf gebacken«, sagte er strahlend. Das war Stevies erster Wunsch gewesen, als sie den Schatz des Listigen Lars verteilten: ein Topf, mit dem man kochen, braten und backen konnte. »Ach ja, bevor ich’s vergesse: Wisst ihr was von einer Party im ›Fidelen Freibeuter‹ morgen Abend?« Er verscheuchte Penelope von den Krapfen, was die Möwe mit wütendem Kreischen beantwortete.
»Wasch für ’ne Party denn?«, fragte Susa mit vollem Mund.
Stevie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich hab nur im Reservierungsbuch gesehen, dass morgen Abend ein Tisch für unsere vier Familien reserviert ist.«
»Oh, oh …«, machte Lili.
Mick stöhnte. »Dann geht es garantiert um unsere Fahrt in den Sommerferien. Hoffentlich haben sie es sich nicht anders überlegt und wollen uns jetzt verbieten, nach Ben zu suchen!«
Sofort redeten alle durcheinander, bis Gordon sagte: »Es hat keinen Zweck, sich über etwas aufzuregen, was wir noch gar nicht wissen.«
»Stimmt«, sagte Mick. »Vielleicht wollen sie uns ja nur ein bisschen ins Gewissen reden. Damit wir uns da draußen in der Ferne auch brav die Zähne putzen und nicht zu spät ins Bett gehen.«
Susa kicherte.
»Wie auch immer: Morgen wissen wir mehr«, meinte Mick. »Und jetzt an die Arbeit.«
Die Sonne schickte vereinzelte Strahlen zwischen den dunklen Wolken hindurch, die sich am Himmel zusammenballten. An die Stämme der Palmen gelehnt, lasen die fünf sich durch alte Briefe, Verträge, Tagebücher und Gerichtsurteile.
Schon nach wenigen Minuten gab Susa auf. »Puh, ist das langweilig.« Mit spitzen Fingern ließ sie einen gammeligen Kaufvertrag über fünfzig Fässer Wein in den Sand fallen.
»Schnapsidee«, kreischte Penelope, die auf Micks Schulter saß. Alle außer Susa lachten.
Mick hatte keine Ahnung, wie lange sie schon dort saßen, als Stevie plötzlich einen Schrei ausstieß. »Heiliger Thunfisch!« Er starrte ungläubig auf die schmutzige Kladde in seinen Händen, in der er schon eine ganze Weile gelesen hatte. »Ich glaube, ich hab’s gefunden, Leute.«
»›Die Geschichte des Vergessenen Meeres‹«, las Mick vom verblichenen Einband ab. »›Von Christoph dem Chronisten‹. Von dem habe ich noch nie gehört.«
»Ich glaube, das hat niemand«, sagte Stevie. »Hier steht, dass Christoph das hier vor hundert Jahren aufgeschrieben hat.«
»Ist ja der Hammer!«, rief Lili.
»Ich fasse mal zusammen«, sagte Stevie.