Über die Autorin
Elisabeth Steinkellner, geboren 1981 in Niederösterreich, machte eine Ausbildung zur Sozialpädagogin und studierte Kultur- und Sozialanthropologie in Wien. Sie ist Autorin von Kurzprosa, Lyrik und Kinderbüchern (mit Bildern von Michael Roher) und lebt mit ihrer Familie in Baden bei Wien. Rabensommer, das mit dem Hans-im-Glück-Preis ausgezeichnet wurde, ist ihre erste Veröffentlichung bei Beltz & Gelberg.
»Der Leser staunt, stutzt, taumelt mit Juli Atemzug für Atemzug in die nicht greifbare Zukunft, und Steinkellner beobachtet genau und findet entsprechende, teils überraschende Bilder.« Aus der Jury-Begründung zum Hans-im-Glück-Preis 2014
Impressum
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-74916-1 Print
ISBN 978-3-407-74610-8 E-Book (EPUB)
© 2017 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 Beltz & Gelberg
Lektorat: Barbara Gelberg
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Cornelia Niere, München
Bildnachweis: plainpicture/Hanka Steidle aus der Kollektion
Rauschen; shutterstuck/Ihar Kaskevich (Raben)
Gesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Printed in Germany
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Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Erster Teil

  
  
Ronjas Lippen schmecken nach Rauch, und ich spüre, dass sie an einer Stelle rissig sind, da kratzen sie leicht an meinen. Ich mag solche kleinen Unebenheiten an Ronja, wie rissige Lippen zum Beispiel. Der Wind fährt ihr von hinten ins Haar und ihre Locken beginnen sich zu drehen und zu tanzen und mich dabei an Wangen und Hals zu kitzeln.
Der warme Nachtwind hat es in sich. Ich stelle mir vor, dass in Nächten wie dieser mehr Kinder geboren werden als sonst. Und auch mehr gezeugt. Und die Katzen verkriechen sich in den Büschen, weil ihnen diese eigenartige Stimmung verdächtig ist. In windigen Nächten passieren mehr Unfälle und es kommt häufiger zu plötzlichen Todesfällen, habe ich mal irgendwo gelesen. Aber eigentlich ist das jetzt alles egal, denn Ronja küsst mich, und ihre Zunge bewegt sich im Rhythmus eines Songs, der ihr vermutlich gerade im Kopf herumschwirrt.
Als ich kurz die Augen öffne und an Ronjas Wange vorbeischaue, bemerke ich, dass Niels gerade zu uns herübersieht. Zuschaut, wie wir beide mit unseren Zungen beschäftigt sind. Er guckt ein bisschen seltsam, aber mehr nicht, dann dreht er den Kopf wieder weg und ruft irgendwas in Richtung von August. Es scheint ihn nicht besonders irritiert zu haben, uns zuzusehen. Was bedeutet, dass er betrunken ist. Total betrunken sogar, denn wäre er auch nur halbwegs nüchtern, hätte in seinem Blick Ärger geblitzt und ich wüsste, wir würden später deswegen Streit haben. Aber da war nichts in seinem Gesicht, fast gar nichts, nur ein kurzes Aufflackern von Verwunderung, aber nicht mehr, und das heißt, er ist so betrunken, dass er sich morgen an nichts erinnern wird.
Ronja riecht süß, sie riecht nach Vanille, sie riecht nach einer lauen Juninacht, wie heute eine ist. Unsere Lippen lassen voneinander ab, wir kichern ein bisschen, so wie wir es immer tun nach einem Kuss wie diesem, und dann drehen wir die Köpfe und blicken eine Weile einfach in die Lichter der Stadt, die von da unten als bunte Punkte und Streifen zu uns hoch leuchten, zu uns auf unseren Hügel herauf. Und es gibt nichts zu sagen, wir müssen nur schauen, sonst ist nichts zu tun.
Ronja legt den Arm um mich und den Kopf an meine Schulter, und im nächsten Moment spüre ich, dass sich auch auf meiner anderen Schulter ein Kopf niederlässt, und noch bevor ich hinsehen kann, weiß ich schon, es ist der von August. August schnurrt leise vor sich hin, ganz dicht an meinem Ohr, er hat auch schon eine Menge getrunken. Wir haben ein bisschen über die Stränge geschlagen, ein paar Flaschen Wein mehr als sonst und auch eine Flasche Cognac war dabei. Aber es gibt eben was zu feiern.
August hebt den Kopf, und sofort weht der Wind die Wärme von meiner Schulter, sodass sich die Stelle plötzlich kühler und verlassener anfühlt als der Rest meines Körpers. Aber dann legt August seinen Arm um meine Taille und die Wärme kehrt zurück. Und seinen anderen Arm legt er um Ronjas Rücken, schließt damit den Kreis, und einige Minuten stehen wir so zu dritt, umarmt und ohne etwas zu sagen.
Dann ist plötzlich Niels da und drängt sich dazwischen. Nicht zwischen Ronja und mich, auch nicht zwischen August und mich. Er drängt sich zwischen Ronja und August und kurz bin ich überrascht darüber. Ich fange seinen Blick auf, aber der ist konturlos und glasig.
Zu viert stehen wir in einem winzigen Kreis, ganz eng, so vertraut wie langjährige Freunde eben, und sogar noch ein bisschen enger und vertrauter, wie betrunkene langjährige Freunde eben. August schiebt den Kopf ein kleines Stück nach vorne und klimpert mit den Wimpern, spitzt die Lippen und macht schmatzende Geräusche in das kleine bisschen Luftraum, das zwischen uns geblieben ist. Ronja macht es ihm ohne zu zögern nach. Kussgeräusche schwirren durchs Dunkel wie ein Schwarm verliebter Käfer. Dann treffen sich ihre Lippen und weichen nicht wieder zurück. Kurz sehen wir ihnen zu, Niels und ich, einen Moment lang, bevor wir uns auch einklinken, ohne noch einen Blick gegenseitigen Einverständnisses gewechselt zu haben. Als hätte uns alle ganz plötzlich eine große Sehnsucht übermannt. Und ich denke: Es ist gut, Ronjas Lippen an meinem einen Mundwinkel zu spüren und Augusts an meinem anderen, die einen fühlen sich vertraut an, die anderen aufregend. Nur Niels’ und meine Haut treffen sich in dieser Position nicht, aber wie Niels schmeckt, weiß ich ohnehin.
Dann prustet Ronja los, macht sich frei und läuft weg, »Muss mal Pipi«, gluckst sie und ist kurz darauf hinter einem Busch verschwunden. August grinst ihr hinterher. Ich suche Niels’ Blick, der diesmal meinem standhält und nicht abdriftet. Er lächelt ein bisschen, ein bisschen belämmert, aber ich schaue vermutlich so ähnlich drein.
Augusts Arm liegt immer noch um meinen Körper, die Hand ist ein bisschen tiefer gerutscht, das fällt mir jetzt ganz plötzlich auf. Liegt nun auf meinem Hintern, und kurz hoffe ich, dass es Absicht ist, verscheuche den Gedanken aber sofort, schüttle dabei wie zur Verstärkung den Kopf, und Niels bemerkt es und lacht. »Was’n los?«, lallt er. Schnell schiebe ich meine Hand in die von Niels und August lässt seine von meinem Hintern rutschen und verschränkt seine Finger mit denen meiner freien Hand. Dann ist auch Ronja zurück und greift nach August. Diesmal stehen wir nicht im Kreis, sondern schnurgerade nebeneinander, Hand in Hand, wie eine richtig schöne Kindergartenreihe, und man könnte meinen, gleich würden wir beginnen, ein Gedicht aufzusagen. Tun wir aber nicht, stattdessen sehen wir stumm den Lichtern der Stadt beim Glitzern zu. Und irgendwie kriecht dieses Glitzern langsam den Hügel herauf, uns auf die Haut, und dann leuchten wir alle, als wären wir von einer feinen Goldschicht bedeckt.
Augusts Handy klingelt. »Scheiße«, flucht er, »wer ruft denn jetzt an?« Er würgt das Klingeln ab. »Verdammt, der ganze Moment im Arsch.« Aber länger hätten wir es ohnehin nicht ausgehalten, es wäre zu kitschig geworden, und irgendjemand hätte angefangen, darüber Witze zu reißen.
Wir lassen uns in die Wiese sinken, liegen eine Weile einfach so herum im schwarzen Gras. Hin und wieder bewegt sich etwas Glühendes durch die Luft, verharrt wenige Zentimeter vor zwei leicht geöffneten Lippen, dann knistert es und kurz darauf hängt Rauch über uns und es riecht nach Tabak und Gewürzen. Ich spüre, wie mir die Kühle der Nacht Gänsehaut auf die Arme legt. Irgendwo in meinem Rucksack ist ein Pulli, fällt mir ein, aber der Rucksack erscheint mir weiter weg als der Polarstern und meine Trägheit siegt über das Kältegefühl. Ich schließe die Augen, höre dem Surren in meinem Kopf zu und denke: Die Nacht hat einen Namen. Diese Nacht hat auf jeden Fall einen Namen! Ich weiß nicht, welchen, mir fallen nur lächerliche Hundenamen ein, Hannibal und Amadeus und so, die passen aber alle nicht. »Welchen Namen hat diese Nacht?«, rufe ich laut, und August sagt prompt: »Lolita«, und Ronja sagt: »Francesco«, und Niels sagt: »Hä?« Er versteht es nicht. Wieso versteht er das bloß nicht? Was ist das nur, das uns trennt?
Aber bevor ich weiter darüber nachdenken kann, dringt ein Geräusch in mein Bewusstsein. Ein Brummen. Zuerst ganz leise, dann immer deutlicher. Klingt wie ein Mofa, das sich knatternd den Hügel heraufmüht. Kommt immer näher und kommt auf jeden Fall hierher, denn hier ist das Ziel und außerdem der Weg zu Ende. Niemand reagiert, obwohl wir es mit Sicherheit alle hören und wissen, das ist das Aus für diesen Abend, denn hier oben kann man sich nicht aus dem Weg gehen.
Das Brummen verstummt schlagartig, und kurz darauf stolpern sie auch schon heran, kichernd und zappelig, kaum älter als vierzehn, vermutlich frisch verliebt. Setzen sich ein Stück weiter weg ins Gras und beginnen zu knutschen, was nicht zu überhören ist. »Müssten die um diese Uhrzeit nicht längst zu Hause sein?«, knurrt Niels so laut, dass die beiden kurz voneinander ablassen und verunsichert zu uns herübersehen, aber Ronja, versöhnlich: »Na los.« Sie steht auf, sucht den Boden nach leeren Flaschen ab, trägt sie zum Mülleimer und greift sich ihren Rucksack. Wir anderen trotten ihr hinterher.
Der Weg nach unten ist steil und dunkel und zweimal rutsche ich fast auf dem Schotter aus. Der Mond hat sich bisher nicht blicken lassen, aber jetzt kommt er als fein geschwungene Linie hinter den Wolken hervor. »Schön für euch«, sage ich laut und meine das junge Liebespärchen, aber niemand fragt nach.
Unten angekommen, stehen wir wieder im Kreis, aber diesmal kein Viererküssen, sondern Schuhspitzenstarren. Wer wird wohl den Anfang machen, denke ich und weiß es doch schon. »Also, wir gehen dann mal«, sagt Niels. Sagt es für uns beide, ungefragt. Und ich würde sie so gern mitnehmen, Ronja und August, mit zu Niels, anstatt sie gemeinsam davonschlendern zu lassen. Ob Ronja wohl noch zu August mitkommen wird, frage ich mich, obwohl ich weiß, dass es nicht so sein wird. Und vor allem, selbst wenn, dann würde da nichts laufen, gar nichts, ebenso wenig wie in all den Jahren, in denen wir vier nun schon Freunde sind. Vielleicht würden sie reden, einen Film ansehen oder Milch trinken, gegen den Geschmack von zu viel Rauch und Alkohol. Trotzdem fühlt sich der Gedanke seltsam an, und ich weiß nicht mal so recht, warum.
In Niels’ Zimmer ist es stickig. Ich öffne das Fenster und setze mich aufs Fensterbrett, sofort kommt der Wind und zerzaust mir das Haar. Das Klangspiel im Fensterrahmen klimpert laut. Der scheint heute gar nicht müde zu werden, dieser schlaflose Wind, dem geht es ähnlich wie mir.
Niels zieht sein Shirt über den Kopf, streift Hose und Unterhose gleichzeitig ab und legt sich nackt ins Bett. Ich sehe ihm zu, warte. Das Windspiel klirrt an meinem Ohr und schrillt als Echo in mir nach. Was ist das nur, denke ich, was ist heute anders als sonst? Es kann doch nicht sein, dass es bloß die eine Zahl ist, die sich da ändert.
»Kommst du?«, fragt Niels, und ich gleite vom Fensterbrett und ziehe mich ebenfalls aus, so langsam ich kann. Lege mich neben ihn und suche das Glitzernde an ihm. Aber das ist schon kurz nachdem wir uns von Ronja und August getrennt haben verkrustet und jetzt fällt es in groben Schuppen ab. Ich streiche die Goldschuppen mit einer unwirschen Handbewegung vom Leintuch ab und sie fallen zu Boden und lösen sich in Luft auf. »Was machst du denn?«, fragt Niels hörbar irritiert, und ich fühle mich ertappt.
Er macht keine Anstalten, mich zu berühren, keine Anstalten, mit mir schlafen zu wollen, und ich selbst habe auch keine Lust, mich näher an ihn heranzurollen. Ich sehe stattdessen an die Decke und denke plötzlich, was ich eigentlich gar nicht denken wollte, aber die Worte springen mir in den Kopf, und ich bin nicht schnell genug, um sie rechtzeitig zu verscheuchen: Vielleicht, denke ich, fühlt er sich so an, der Anfang vom Ende.
Ich blicke vorsichtig zu Niels. Versuche, in seinem Gesicht Spuren des Anfangs zu finden, nicht des Anfangs vom Ende, sondern unseres Anfangs. Dieses spezielle Flackern vielleicht. Denke, dass wir ja beide betrunken sind und morgen früh die Welt wieder anders aussehen wird.
Niels hat schon die Augen geschlossen und atmet schon schwer. Ich will etwas sagen, irgendwas, doch da murmelt Niels: »Gute Nacht, Juli.« Und dreht sich weg, seinen Kopf zur Wand, und mitten in dieser Bewegung sagt er noch was, etwas, das ich nur mit Mühe verstehe: »Ach ja, und alles Gute zum Geburtstag.«
Achtzehn. Acht und zehn. 18. Drei mal sechs. Neun mal zwei. So ist das also.
Als ich vor einigen Jahren an diese Schule gekommen bin, mussten wir am ersten Schultag alle nacheinander aufstehen und unsere Namen sagen. Ich bin aufgestanden und habe »Juli« gesagt, und sofort ist einer aufgestanden, der hat »August« gesagt. Die ganze Klasse hat gejohlt und da sind wir nun beide gestanden, ich bin rot geworden und August hat verschmitzt in meine Richtung gegrinst, so wie er eben ist. Dem ist eben nie etwas peinlich, der steht so fest und sicher auf seinen beiden Beinen, dass ihm nichts und niemand etwas anhaben kann.
Ronja habe ich bereits gekannt und Niels ist mir lange Zeit gar nicht richtig aufgefallen. Aber irgendwann bin ich morgens aufgewacht und hatte das Gefühl, wir wären schon seit tausend Jahren beste Freunde.
Und jetzt sind wir alle achtzehn, und ich war die Letzte, die diese magische Schwelle überschritten hat. Und dann, ein paar Tage später, habe ich auch noch den Schulabschluss, die Matura*, gemacht. Irgendwie, so ganz nebenbei, wie es mir jetzt vorkommt, obwohl das natürlich so nicht stimmt. Sicher war ich aufgeregt, und ich glaube mich auch zu erinnern, dass die Wochen davor bis zum Rand mit Lernen gefüllt waren. Aber jetzt, im Nachhinein, kommt mir das alles so unwirklich vor. Als hätte ich einfach eines Tages ein Zeugnis in meiner Tasche entdeckt und da wäre mein Name draufgestanden, und ich hätte gedacht: Ach ja, da war doch irgendwas, muss wohl der Abschluss gewesen sein.
Niels’ Jahresnoten waren so schlecht, dass er gar nicht zu den Prüfungen antreten durfte und noch ein zusätzliches Jahr aufgebrummt bekommen hat. »Da ist nichts zu machen, Niels«, haben die Lehrer gesagt und bekümmert die Stirn gerunzelt, zumindest so getan als ob. Jedenfalls muss er jetzt die Klasse wiederholen. Und natürlich ist er wütend und enttäuscht, sehr sogar, wahnsinnig sogar, auch wenn er es sich meist nicht anmerken lässt. Und wir anderen bemühen uns, gleichgültig zu wirken, ist doch nur ein Blatt Papier, das jetzt zufällig in unserer Tasche steckt. Und Niels ringt sich ein kleines Lächeln ab, aber im nächsten Moment tritt er mit voller Wucht gegen einen Mülleimer.
Ich gehe zu ihm, will ihn von hinten umfassen, aber noch bevor meine Arme ihn berühren können, versetzt es mir schon einen elektrischen Schlag, so aufgeladen mit Wut ist Niels. Also nehme ich meine Arme zurück und sage sanft: »Hey, Niels, hey.« Aber das ist doch alles scheiße und das wissen wir alle. Ich werfe Ronja und August einen ratlosen Blick zu und Ronja kommt, übernimmt, greift vorsichtig nach Niels’ Schulter und dreht ihn herum zu sich. Und er lässt sich in den Arm nehmen, vergräbt das Gesicht in ihren dunklen Locken, flucht leise, aber es ist gut, es ist gut jetzt.
Ich spüre einen kleinen Stich, weil ich weiß, dass Niels mich nicht in dieser Rolle gewollt hätte. Dass es Ronja sein musste, tut weh, obwohl es in Ordnung ist. Das geht schon klar unter besten Freunden. So wie Ronja und ich eben manchmal Küsse austauschen, wenn uns danach ist. Obwohl das für Niels nicht wirklich klargeht, da wird er ärgerlich: »Was soll das, ich küsse doch auch niemanden außer dir.« »Ist doch nur freundschaftlich«, sage ich, »wieso verstehst du das nicht? Ist eben so unter besten Freundinnen.« »Wie bitte kann ein Kuss freundschaftlich sein?«, regt er sich auf, kapiert das einfach nicht. Vielleicht würde ich es auch nicht kapieren an seiner Stelle, keine Ahnung, er und August küssen sich ja nicht. Aber für mich ist die Sache klar: schön und vertraut, wie eine innige Umarmung zum Beispiel. Und dagegen hat er ja auch nichts einzuwenden. Genau das macht er ja gerade, sich inniglich umarmen, mit Ronja, nicht mit mir.
Unter anderen Umständen wäre ich also an dieser Stelle eifersüchtig, wären wir nicht alle so eng befreundet und wüsste ich nicht, dass zwischen Ronja und Niels ohnehin nie was sein würde. Denn da ist nie etwas zwischen Ronja und irgendwem sonst. Ronja mit der Hippie-Mutter. Die ihr diesen Hippie-Namen gegeben hat. Ronja wie Ronja Räubertochter. »Aber Ronja Räubertochter ist doch absolut cool«, sage ich. »Ja«, sagt Ronja, »aber eben von den Hippie-Eltern dieser Welt als Name für ihre Hippie-Kinder okkupiert.« »Hippie-Eltern zu haben, ist doch auch total cool«, sage ich. »Nein«, sagt Ronja, »nicht so sehr, wie du dir das vorstellst.« Aber dann sagt sie: »Na ja, es gibt Schlimmeres.«
Schlimmeres als Hippie-Eltern und Hippie-Namen, aber nichts Schlimmeres für Ronja, als nur nach ihrem Aussehen beurteilt zu werden, das tatsächlich der Wahnsinn ist. »Pfff ...«, faucht sie, »wenn mir im Schwimmbad der Bikiniträger runterrutscht, können sie gar nicht wegsehen, aber wenn ich sage, ich will mal Trickfilme machen oder in Neuseeland Pinguine beobachten, gähnen sie gelangweilt.«
Ronja küsst nie, zumindest fast nie, mich manchmal, und es gab da auch zwei, drei Jungs, aber mehr ist da nicht, finito. »Du könntest sie alle haben«, sage ich. »Genau«, sagt sie, »genau deshalb.« Weil sie weiß, dass keiner ihrer Verehrer ihre rissigen Lippen bemerken würde. Deshalb will Ronja lieber Trickfilme machen als mit irgendwem vögeln, deshalb liest sie Judith Butler, aber die, die ihr hinterherhecheln, fragen: »Wer is’n das?« Und sie hecheln, obwohl Ronja nicht mal Make-up oder schicke Kleidung trägt, nichts Knappes oder Kurzes, tief Ausgeschnittenes oder Durchsichtiges, bloß Jeans und T-Shirt, aber sie wirkt. Ronja wirkt. Und lässt sich trotzdem nicht beirren, die macht ihr eigenes Ding, geht ihren eigenen Weg und Gruppenzwänge und so was können ihr nichts anhaben.
Und darin treffen sie sich, Ronja und August.
Und manchmal frage ich mich, wie Niels und ich da dazupassen.
Und manchmal frage ich mich, wie Niels und ich überhaupt zusammenpassen.
Eine Weile schlendern wir einfach durch die heiße Stadt. Gehen, wohin unsere Beine uns tragen, es gibt kein Ziel und keinen Plan. Irgendwann lassen wir uns auf der Brücke nieder, der einzigen Brücke in dieser Kleinstadt. Da dürfen keine Autos drüberfahren, ist nur für Fußgänger und Fahrradfahrer. Wir sehen nach oben ins Blau, blinzeln, weil die Sonne in den Augen brennt, und sehen nach unten ins Grün, ins grüne Wasser des Flusses, der da unter uns so träge fließt. Und die Beine haben wir zwischen die Gitterstäbe des Geländers gesteckt, und da baumeln sie jetzt, acht schlenkernde Gliedmaßen und unten dran acht Füße mit insgesamt vierzig Zehen.