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Michael Gerwien

Alpengrollen

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: @ FrozenDaiquiri / photocase.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-3590-4

Widmung

Sakrischen Dank an

Lilli und Patrick

Johan de Blank

Und vor allem an Claudia Senghaas

1

Sie hörte Schritte von weit her. Sehen konnte sie nichts. Der Sack, den sie ihr über den Kopf gezogen und am Hals festgeschnürt hatten, ließ das nicht zu. Nur für ihren Mund war eine Öffnung ausgespart, durch die sie ihr vor ein paar Stunden Wasser gegeben hatten. Und irgendeinen ekelhaften Brei. Wann genau das gewesen war, konnte sie nicht sagen. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr. Wusste nicht, wie lange sie schon hier auf dem kalten Boden lag. Dass er feucht war und aus Stein oder Fliesen sein musste, konnte sie mit den Händen spüren.

Jetzt öffnete jemand die Tür. Ein eisiger Windhauch zog zu ihr herüber. Sie betete zu Gott, dass man ihr nicht wieder eine von diesen Spritzen gab, die sie so schwindelig machten. Und so müde. Ihre Arme und Beine taten weh. Die engen Fesseln schnitten in die Gelenke ein. Sie konnte sich kaum noch bewegen. Hatte immer wieder geweint in den letzten zwei Tagen. Sich immer wieder gefragt, wie sie nur in diese ausweglose Situation hatte geraten können. Doch so sehr sie sich auch den Kopf zermarterte, sie kam nicht darauf. Konnte sich lediglich daran erinnern, dass sie mit ihren Freundinnen beim Skifahren gewesen war. Auf dem Nachhauseweg am frühen Abend hatten sie dann im Eiscafé in der Stadt noch etwas getrunken. Und dann … Nichts mehr … Zappenduster. Als hinge ein dicker schwarzer Vorhang vor ihrer Erinnerung. Schon eine ganze Zeit lang spürte sie ihre Füße nicht mehr.

Jemand trat neben sie und redete in einer Sprache zu ihr, die sie nicht verstand. Der barsche Tonfall machte ihr Angst. Sie spürte wieder die Plastikflasche von vorhin an ihrem Mund. Schluckte gierig. Hatte großen Durst. Dann flehte sie mit zitternder Stimme blind in den Raum hinein, sie doch bitte, bitte wieder freizulassen. Ihre Familie würde ganz sicher gut für sie bezahlen. Die wäre sehr reich. Man müsste sie nur anrufen. Keine Antwort. Stattdessen traf sie eine Hand hart im Gesicht. Sie begann zu weinen. Bekam den nächsten Schlag ab. Diesmal auf den Hinterkopf. Sie spürte wieder diesen Stich in ihren Arm und wurde müde. Hörte auf einmal nur noch wie durch einen dicken Wattebausch. Alles in ihr begann sich zu drehen. Dann kippte sie seitlich auf den Boden und blieb regungslos liegen. Das Geräusch des Schlüssels im Türschloss bekam sie nicht mehr mit.

2

»Ja, soll das da vielleicht eine anständige Halbe sein? Da fehlen doch mindestens zwei Fingerbreit.« Im Großen und Ganzen gab es nur zwei Dinge, die der Münchener Exkommissar Max Raintaler absolut nicht leiden konnte: verlogene Verbrecher und schlecht eingeschenktes Bier.

Die Kellnerin warf ihm einen genervten Blick zu. »Es hat ja niemand gesagt, dass Sie Ihr Bier unbedingt hier bei uns trinken müssen!«, meinte sie schnippisch.

Nun, wenn man es jetzt genau betrachtete, gab es doch eher drei Dinge, die Max nicht mochte: verlogene Verbrecher, schlecht eingeschenktes Bier und arrogante Serviererinnen.

»Ihnen geht es wohl zu gut«, erwiderte er. »Ich trinke mein Bier immer noch da, wo ich will. Schauen Sie bloß zu, dass Sie mir auf der Stelle eine volle Halbe bringen. Ja, wo samma denn?«

Wenn der Raintaler drauf und dran war, ungemütlich zu werden, tat man besser, was er sagte. Das wussten die vielen Gewalttäter und Betrüger, die er im Laufe seiner Karriere überführt und hinter Gitter gebracht hatte. Und gerade ahnte es auch die vorlaute Tablettträgerin der bayerischen Traditionsgaststätte gleich beim Marienplatz. Sie murmelte etwas in der Art wie: na gut, na gut, bekam einen roten Kopf, nahm sein Glas und lief damit zur Theke.

»Das glaubt dir doch niemand«, klärte Max währenddessen die vier japanischen Touristen auf, die mit ihm am Tisch saßen. »Bringt die ein schlecht eingeschenktes Bier und wird auch noch frech. Ja, wo gibt’s denn so was?«

Die beiden Ehepaare verstanden kein Wort. Aber sie hatten mitbekommen, wie beeindruckend ein bayerischer Bariton klingen konnte. Und da sie sich fast sicher waren, dass der athletisch gebaute Ureinwohner mit dem Dreitagebart vor ihnen nicht nur eine kräftige Stimme hatte, lächelten sie ihn einfach nur freundlich an. Und hofften, dass er friedlich blieb.

»So. Bitte, der Herr.« Die Kellnerin war mit einem vollen Bierglas zurück und knallte es schwungvoll vor Max auf den Tisch.

»Ja, wunderbar«, antwortete der. »Genau so muss eine richtige Halbe in Bayern ausschauen. Bier bis zum Eichstrich und eine schöne Krone oben drauf. Jetzt wären da nur noch zwei Tipps, Fräulein. Und weil Sie offensichtlich neu hier drinnen sind, gebe ich die Ihnen sogar kostenlos.«

»Na, da bin ich ja gespannt.«

»Dürfen Sie auch. Nummer eins. Wenn Sie ein Bier servieren, stellen Sie es vorsichtig hin. Sonst schwappt es am Ende über. Und dann müssen Sie bloß wieder extra laufen. Wegen einem Lappen. Nummer zwei. Lassen Sie in Zukunft Ihre Finger vom Rand des Glases weg. Das obere Drittel gehört dem Gast. Oder soll der die ekelhaften Bazillen, die Sie von der Toilette oder von Ihrem Wechselgeld an den Fingern haben, etwa mittrinken?« Er bedachte sie mit einem langen, fragenden Blick aus seinen stahlblauen Augen.

»Sie haben natürlich recht. Entschuldigen Sie.« Die junge Frau musste sich schwer zusammenreißen, damit ihr nicht postwendend die nächste spitze Bemerkung herausrutschte. Zum Beispiel, dass sie sich bestimmt öfter die Hände wasche als er. Aber schließlich hatte sie nicht ewig Zeit, mit diesem renitenten Menschen hier herumzustreiten. Also seufzte sie nur kurz resigniert auf, verdrehte die Augen und entfernte sich wieder.

»Prost, die Herrschaften!« Max hob sein Glas und stieß mit den Japanern an, die inzwischen damit begonnen hatten, alles in dem großen, aber trotzdem urgemütlichen Gastraum zu fotografieren: vom Schirmständer über die üppige Faschingsdekoration bis zu den beleuchteten Hinweisschildern für den Notausgang. Auch der aschblonde Exkommissar blieb nicht verschont. Jeder von ihnen wollte sich mit ihm an der Seite ablichten lassen. Natürlich jedes Mal mit erhobenem Glas. Und mit einem breiten »Cheese« im Gesicht.

Nach der dritten, gut eingeschenkten und sehr zuvorkommend kredenzten Halben bezahlte er und ging. Ich weiß schon, warum ich inzwischen mein Bier lieber bei mir im Viertel trinke, dachte er, als er durch die Tür in die winterlich frühe Dunkelheit trat. Hier in der Stadt ist es einfach zu teuer geworden. Und dann bescheißen sie dich noch beim Einschenken. Nicht zu fassen. Das hat es doch früher nicht gegeben. Höchstens auf der Wiesn. Aber da ist man es ja seit jeher gewohnt. Und dann die vielen betrunkenen Deppen, die hier schon um halb sechs überall herumgeistern. Von wegen gemütliche Wirtshaustradition. Das war einmal und ist nicht mehr.

Das Lokal, das meine Eltern in Sendling hatten, das war halt noch eine echte Münchener Gaststätte. Da bekam jeder noch etwas Anständiges aufgetischt für sein Geld. Nicht diesen modernen Einheitsfraß. Und einen herben Spruch von der Bedienung gab es höchstens, wenn einer nicht mehr stehen konnte. Das waren noch Zeiten. Die kommen sicher nicht wieder. Genauso wenig wie die Mama und der Papa. Gott hab sie selig.

Genau betrachtet, gab es heute für ihn nur eine Wirtschaft in München, in der es immer noch so schön war wie damals. Und das war ›Monikas kleine Kneipe‹. Seine Freundin Monika Schindler hatte sie vor ein paar Jahren unten in Thalkirchen aufgemacht. Am Rande der Isarauen. Nicht weit von seiner Wohnung entfernt. Ein winziger, dunkel getäfelter Gastraum, aber ein paar sehr nette Stammgäste und ein anständiges Bier. Ab und zu gab es sogar Livemusik. Und hervorragend kochen konnte Monika obendrein. Was wollte man mehr? Seit seiner Frühpensionierung vor zwei Jahren half Max ihr manchmal beim Ausschank oder beim Servieren. Oder führte das Geschäft alleine, während sie mit ihren Freundinnen im Urlaub weilte. Schließlich kannte er das Prozedere bestens von Kindheit an.

Max und Monika. Was für ein Gespann. Offiziell waren sie ja nicht wirklich zusammen. Sie fuhren meist separat in die Ferien. Jeder von ihnen lebte sein eigenes Leben. Manchmal sahen sie sich wochenlang nicht. Doch dann verbrachten sie wieder tagelang jede Minute zusammen. Bis sie nach einer Weile wieder getrennte Wege gingen. Ihre Freunde und Bekannten schüttelten seit Jahren nur den Kopf über dieses eigenwillige Hin und Her.

Draußen fing es gerade wieder an zu schneien. Es war einer dieser nasskalten Januartage, knapp oberhalb der Nullgradgrenze, an denen man am besten erst gar nicht vor die Tür ging. Überall stieg man bis hoch zu den Knöcheln in grauem Matsch und braunem Dreck herum. Letztes Jahr war er um diese Zeit auf den Malediven gewesen. Tauchen. Sonnen. Baden. Herrlich! Seit er von Tante Isolde, der Schwester seiner verstorbenen Mutter, vor zwei Jahren ihre hübsche Zweizimmerwohnung und einen ansehnlichen Geldbetrag geerbt hatte, konnte er sich solch einen Luxus ab und zu leisten. Und tat es auch. Voller Dankbarkeit.

Gleich morgen zum Beispiel würde er für eine Woche zum Skifahren in die Berge verreisen. Und zum Skirennengucken. Nach Kitzbühel. Für einen Tagesausflug war er schon oft dort gewesen, aber übernachtet hatte er noch nie. Und beim Hahnenkammrennen, dem wohl spektakulärsten und gefährlichsten Abfahrtslauf, den der Skiweltcup zu bieten hatte, war er auch noch nie vor Ort dabei gewesen. Damit er das diesmal auf keinen Fall verpasste, hatte er sein Zimmer in einem exklusiven Wellnesshotel vorsorglich bereits im Oktober fest gebucht.

Der eisige Wind peitschte ihm riesige, wassergetränkte Schneeflocken ins Gesicht. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, um überhaupt noch erkennen zu können, wo er lang musste.

Ursprünglich hatte er vorgehabt, zu Fuß nach Hause zu gehen. Doch das war ihm jetzt eindeutig zu ungemütlich. Also nichts wie ab, quer über den Viktualienmarkt zum Bus. Und wenn er dann später in Thalkirchen angekommen war, würde er noch kurz bei Monika reinschauen. Ihre Kneipe lag praktischerweise genau auf dem Weg von der Endhaltestelle zu ihm nach Hause.

Auf dem Markt hatten die Obst- und Gemüsestände wie jeden Sonntag geschlossen. Max hatte für Gemüse und Obst sowieso noch nie allzu viel übrig. Erklärtes Objekt seiner Begierde war schon immer die Bratwurst. Schon zu seinen Dienstzeiten konnten er und sein alter Freund und Exkollege Franz Wurmdobler so gut wie keinen Tag an dem kleinen, grünen Holzhäuschen beim Eingang des bunten Schlemmerparadieses vorbeigehen, ohne sich eine Rote vom Grill zu holen. Da dort heute ebenfalls geschlossen war, marschierte er mit einem kurzen Seufzer des Bedauerns auf den Lippen direkt weiter zur Haltestelle.

Der Bus kam nicht. Steckte wohl irgendwo fest. Wieder mal typisch. Aber auch kein Wunder bei dem Sauwetter. Egal, er würde schon irgendwann eintrudeln. Während er weiter so dastand und wartete, tauchte auf einmal ein altes Kräuterweiblein mit von Falten durchfurchtem Gesicht vor ihm auf.

»Da, schauen Sie her, junger Mann«, kam es krächzend aus ihrem zahnlosen Mund. »Frischer Salbei. Der ist gut gegen Erkältung. Nur ein Euro das Säckchen.«

»Na gut. Wenn Sie meinen.« Max kaufte ihr zwei Säckchen ab, obwohl er keine Ahnung hatte, was er damit sollte. Doch sie sah so aus, als könnte sie jeden Cent brauchen. Außerdem, wer weiß? Im Moment fühlte er sich zwar ziemlich gesund. Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Der Winter zog sich schließlich noch in die Länge. Seit ein paar Jahren kam er ihm sogar jedes Jahr noch endloser vor. Drohte da etwa bald eine Eiszeit? Dabei redeten doch alle überall immer nur von globaler Erwärmung.

Eine Viertelstunde später drückten die dicken Reifen des 52ers den Matsch auf der Straße vor ihm platt. Endlich. Er stieg ein und stempelte seine Streifenkarte ab. Dabei stießen ihm wieder einmal die seiner Meinung nach viel zu hohen Fahrpreise auf. So viel Geld für so viel Verspätung! Egal. Ein Taxi wäre noch teurer. Und im Sommer würde er sowieso wieder mit dem Radl fahren. Er setzte sich ganz hinten im Wagen auf den letzten freien Platz.

Als sie die Isar überquerten, kam er ins Schwärmen. Wo kann es wohl schöner sein als in meinem geliebten München, sogar an einem derart hässlichen Wintertag? Zufrieden lächelnd, blickte er über die verschneite Flusslandschaft Richtung Süden. Würde man sich die nächste Brücke und die Häuserreihen links und rechts des Ufers wegdenken, könnte man gerade genauso gut durch die weite Eislandschaft Sibiriens fahren. An der Endhaltestelle stieg er aus und marschierte das kurze Stück über die rot lackierte Holzbrücke nach Thalkirchen hinüber. Der Weg führte ihn direkt am Zoo vorbei. Seine Mutter hatte den Geruch nach Dung und Heu, der von den Gehegen aus bis auf die Straße herüberwehte, immer gehasst. Er dagegen mochte ihn. Malte sich jedes Mal, wenn er hier entlangging, aus, dass es in den Steppen Tansanias oder Kenias genauso riechen müsse. Ein Stück Afrika im Süden von München. Das war der Tierpark für ihn schon als Kind gewesen. Und er war es heute noch. Sibirien, Afrika und Bayern. Fast die ganze Welt in einer Stadt. Wo gab es das denn sonst? Bestimmt nirgends. Einfach genial.

3

Zehn Minuten später öffnete er, bis auf die Knochen durchnässt, die Tür zu ›Monikas kleiner Kneipe‹ und trat ein.

»Ja, Max! Hallo, mein Lieber!« Monika lachte ihn herzlich an und entblößte dabei zwei Reihen makelloser, blendend weißer Zähne. »Ein rechtes Sauwetter! Stimmt’s?«, fuhr sie fort. »Hoffentlich reißt es morgen auf, wenn du zum Skifahren gehst. Schön, dass du vorher noch hergefunden hast. Wenn du mir deine nassen Sachen gibst, hänge ich sie gleich zum Ofen rüber.« Sie streckte ihm auffordernd ihren Arm entgegen.

Er reichte ihr seine Jacke und seinen Pullover. »Mein Hemd und das Unterhemd sind auch total nass, Moni. Ich glaube, ich ziehe mich lieber gleich ganz um, bevor ich mir noch den Tod hole.« Er gab ihr einen kurzen, verspäteten Kuss zur Begrüßung und schniefte künstlich, so als ob ein zumindest nahezu lebensbedrohlicher Schnupfen ihn bereits erwischt hätte.

»So schlimm wird’s ja hoffentlich nicht gleich werden.« Monika kannte die hypochondrischen Anwandlungen ihres Lebensabschnittsgefährten seit Jahren und nahm seine steten Befürchtungen deshalb prinzipiell nicht so ernst. Was auf der anderen Seite natürlich fatal enden könnte, wenn er tatsächlich einmal etwas Schlimmes hätte. Das wusste sie auch.

»Aber du hast schon recht«, fügte sie deshalb schnell hinzu. »Zieh dich lieber um. Und wenn du schon unterwegs bist, darfst du gleich noch in den Keller gehen und ein neues Fass anschließen. Das Bier ist aus. Und rasier dich mal wieder. Du stachelst wie ein Brombeerstrauch.«

»Geht klar! Mach ich!«, rief er im Weggehen. Red du nur. Das mit dem Bier mache ich natürlich, aus reinem Egoismus. Aber mein Bart ist immer noch meine Sache. Der wird rasiert, wann ich es will, und damit basta!

Während er die knarrende alte Holztreppe zu ihrem Schlafzimmer im ersten Stock hinaufstapfte, wo er immer ein paar Kleidungsstücke für den Fall der Fälle deponiert hatte, begab sich Monika fröhlich pfeifend in ihre winzige Küche, um seine Lederjacke und seinen Pulli aufzuhängen. Als sie in den Schankraum zurückkam, stand auf einmal Anneliese an der Bar. Sie hatte gar nicht gehört, wie ihre beste Freundin hereingekommen war, und schaute dementsprechend überrascht drein.

»Ja, hallo, Annie. Was machst du denn hier? Sonntag ist doch normalerweise dein Couch- und Betttag«, wunderte sie sich.

»Hallo, Moni. Bitte gib mir einen Schnaps. Ich glaube, den kann ich jetzt gebrauchen.« Anneliese ging zur Garderobe und hängte ihren nassen Lodenumhang ein Stück weit neben den Haken mit den Zeitungen, damit diese nicht auch noch durchweichten. Dann rieb sie ihre kalten Hände gegeneinander und setzte sich mit sorgenvoller Miene auf einen der bequemen, mit Kuhfell bezogenen Barhocker, die Monika einmal sehr günstig während eines Freundinnenurlaubs in Kroatien erstanden hatte.

Max hatte die Ungetüme aus massivem Eichenholz später mit einem geliehenen Transporter dort für sie abgeholt. Eigentlich waren zwei Tage dafür vorgesehen. Er kam jedoch erst nach einer Woche wieder. Natürlich hatte sie ihn gefragt, wo er denn so lange gesteckt habe. Der viele Slibowitz und die netten Leute hätten ihm keine andere Wahl gelassen, hatte er nur lapidar gemeint. Außerdem hätten sie, wie sie ganz genau wüsste, vor allem auf ihren Wunsch hin keine feste Beziehung, da müsse er sich ja dann wohl auch nicht rechtfertigen.

»Einen Schnaps. Gern, Frau Rothmüller. Aber du und harter Alkohol?« Monika runzelte erstaunt die Stirn. »So kennt man dich ja gar nicht«, fuhr sie fort. »Was ist denn los? Ist was passiert?«

»Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Aber ich mache mir schreckliche Sorgen wegen Sabine. Sie ist vor einer Woche zum Skifahren verreist und seit vorgestern habe ich nichts mehr von ihr gehört. Keine SMS, kein Anruf. Und erreichen kann ich sie auch nicht. Ich habe auf einmal furchtbare Angst, dass ihr was passiert sein könnte.« Anneliese nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich flink ein paar kleine Tränen aus ihren wasserfest geschminkten, tiefgrünen Augen.

»Aber geh, Annie. Was soll ihr denn passiert sein? Sabine ist 18 und volljährig. Da meldet man sich halt nicht mehr jeden Tag daheim bei der Mama. Das ist doch ganz normal.« Monika tätschelte ihrer Freundin beruhigend den Arm. Wahrscheinlich genießt Sabine einfach nur die Gelegenheit, den Fittichen ihrer überstrengen Gluckhenne von Mutter endlich einmal für ein paar Tage entkommen zu sein, überlegte sie, während sie zum Kühlschrank ging, um den Obstler zu holen. Als sie gleich darauf mit der Flasche zurück war, schraubte sie flink den Deckel ab und schenkte Anneliese einen Doppelten ein. Und sich selbst auch. Aus purer Solidarität.

»Stimmt schon, Moni. Normalerweise würde ich dir da auch recht geben. Aber sie hat vorgestern noch gesagt, dass sie sich morgen, also, von heute aus gestern, wieder melden will. Und wenn Sabine so was sagt, dann kann man sich hundertprozentig auf sie verlassen. Schon immer. Volljährig hin oder her. Verstehst du?« Mit zittrigen Fingern nahm Anneliese ihren Schnaps in die Hand. Hob ihn zum Mund. Prostete Monika zu. Und schluckte den Inhalt todesmutig in einem Sitz hinunter.

»Bäh!«, stieß sie aus, sobald sie wieder reden konnte. »Und das trinken die Männer hier andauernd zum Bier. Das ist ja ekelhaft. Ja, pfui Teufel!« Sie schüttelte angewidert ihren blonden Pagenkopf.

»Jeder hat seinen persönlichen Geschmack, Annie. Bei den Männern wie bei den Getränken. Stimmt’s?« Monika liebte ihren Obstler. Sie bekam ihn direkt von einem privaten Erzeuger in der Südsteiermark, den sie und Max kennengelernt hatten, als sie vor drei Jahren im Herbst zum Wandern dort waren. Kopfschüttelnd über Annelieses anhaltende Grimasse grinsend, räumte sie die leeren Gläser rüber zu ihrer neuen Edelstahlspüle.

»Wenn du damit jetzt auf meinen Ex anspielen willst, gebe ich dir recht. Die Ehe mit Bernhard war ein sauberer Griff ins Klo. So ein unsäglicher Egoist! Lässt der mich und seine Tochter einfach sitzen.« Anneliese starrte angesichts der Erinnerung an diese unerfreuliche Episode in ihrem Leben einen kurzen Moment lang konzentriert ins Leere.

»Wegen mir wäre es mir ja egal«, meinte sie dann. »Ich suche mir schon was Neues. Alles, was noch kommt, kann ja nur besser werden. Aber Sabine hätte ihn bestimmt noch ein paar Jahre gebraucht. Er müsse sich jetzt endlich mal selbst verwirklichen! Am liebsten auf seiner Segeljacht! Dass ich nicht ganz laut lache! Hat man so einen Schmarrn schon gehört? Egal. Aus, vorbei, vergessen. Sabine und ich kommen schon alleine klar. Mein Gott. Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Könntest du mir bitte einen Espresso machen? Der Geschmack von diesem Schnaps im Mund ist unerträglich.« Sie schnäuzte noch einmal beherzt in ihr Taschentuch. Immer, wenn ihr einfiel, dass sie ja eigentlich jedes Recht hatte, nach wie vor wütend auf Bernhard zu sein, fühlte sie sich gleich etwas besser. Egal, weswegen es ihr vorher schlecht gegangen war.

»Klar mach ich dir einen Kaffee. Und wegen Sabine können wir ja gleich noch Max fragen. Der zieht sich oben gerade was Trockenes an.« Monika drehte sich um und setzte die Espressomaschine in Gang.

»Was? Max ist da? Ja, super. Der kann mir doch bestimmt weiterhelfen. Der war doch jahrelang bei der Kripo. Mein Gott! Den habe ich in der Aufregung ja ganz vergessen.« Endlich. Ein kleines Licht am Ende des Tunnels. Annelieses Körper straffte sich.

»Na, siehst du. Jetzt trink erst mal deinen Kaffee. Und dann sehen wir weiter.« Monika stellte ihr den dampfenden Espresso und die bemalte Zuckerdose aus Italien hin, die sie vor Jahren vom Markt in Pesaro mitgenommen hatte.

»Danke, Moni. Lieb von dir.« Anneliese hob die winzige Tasse zum Mund und schlürfte in kleinen Schlucken. Doch es half nicht viel. Die Reste des hochprozentigen Klaren klebten ihr immer noch wie Holzleim auf der Zunge. Während sie weitertrank, kam Max die Kellertreppe neben der Küche heraufgepoltert. Als er oben war, drehten sie sich kurz nach ihm um und Monika prustete laut los.

»Ja, um Himmels willen! Wo hast du das denn her?«, rief sie entsetzt.

Selbst Anneliese konnte trotz ihrer Sorgen ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Vor ihnen stand ein fescher, knapp über 50-jähriger Herr in grauen Knickerbockern, farbigen Wollkniestrümpfen, braunen Filzpantoffeln und einem uralten, aber auf wundersame Weise immer noch intakten roten Skipulli. Ein Bild von einem Mann. In den 30er-Jahren hätte Max in diesem Outfit unter Garantie jeden Schönheitswettbewerb für Herren gewonnen, wenn es einen solchen damals schon gegeben hätte.

»Wieso? Es steht mir doch hervorragend. Das nehme ich morgen nach Kitzbühel mit. Das ist perfekt fürs Wellnesshotel. Servus, Annie.«

»Servus, Max.«

»Geh, hör doch auf zu spinnen. Damit gehst du nirgends hin. Das riecht ja alles total muffig. Aber jetzt sag doch endlich. Wo hast du das Zeug denn gefunden?« Monika konnte immer noch nicht aufhören zu gackern. Sie stand rückwärts gegen den Tresen gelehnt und hielt sich mit beiden Händen den Bauch.

»In deiner alten Truhe neben dem Kleiderschrank. Ich wollte nur mal kurz schauen, welche geheimen Schätze du darin vor mir verbirgst. Sind das noch Sachen von deinem Vater? Von mir ist das Zeug garantiert nicht.«

»Von meinem Vater auch nicht, du neugieriger Expolizist«, schimpfte sie ihn mit Lachtränen in den Augen. »Ach, Mensch. Aber jetzt fällt es mir wieder ein. Genau. Das gehörte meinem Onkel Frieder aus Konstanz. Der hat die Klamotten mal bei meinen Eltern liegen lassen. Ich konnte mich nie mehr so recht davon trennen. Fragt mich nicht, warum. Ich weiß es nicht.«

»So schlecht finde ich die Kombination gar nicht.« Anneliese ließ sich von der allgemeinen guten Laune anstecken. »Damit kann Max glatt den Vogel auf jedem Kostümball abschießen«, scherzte sie. »Und beim Après-Ski sowieso.«

»Eben«, bestätigte Max und sah Monika trotzig an.

»Aber waschen muss man die Sachen vorher auf jeden Fall.« Monika zupfte kopfschüttelnd an dem alten Pullover herum.

»Blödsinn. Ich habe alles gründlich ausgeschüttelt, bevor ich es angezogen habe. Ich will ja keinen Ausschlag bekommen.«

»Ausgeschüttelt? Etwa im Schlafzimmer?« Sie blickte ihn, das Schlimmste befürchtend, entsetzt an.

»Nein, natürlich zum Fenster raus. Ich kenne deine Staubhysterie ja schließlich.« Max verdrehte die Augen. Diese Frauen immer mit ihrem Sauberkeitsfimmel, haderte er. Und dann trauen sie einem noch nicht mal zu, einen Pulli ordnungsgemäß auszuschütteln.

»Gott sei Dank. Aber so angezogen in Kitzbühel auftauchen? Unter den ganzen Reichen und Prominenten? Also, ich weiß ja nicht.« Sie schüttelte erneut den Kopf.

»Übrigens, weil du gerade Kitzbühel erwähnst«, sagte sie dann. »Annelieses Tochter Sabine ist irgendwo da unten und meldet sich schon seit zwei Tagen nicht mehr. Und zu erreichen ist sie auch nicht. Könntest du da morgen mal nach dem Rechten sehen? So als alter Exkriminaler.«

»Ich weiß nicht. Eigentlich will ich ja Urlaub machen. Kein Stress und so. Wo ist sie denn genau?«

»Sie ist mit zwei Freundinnen in so eine kleine, billige Pension in St. Johann gefahren«, erklärte Anneliese jetzt die Situation mit aufgeregter Stimme. »Ich hätte ihr ja ein anständiges Hotel bezahlt. Aber die andern beiden Mädchen wollten da unbedingt hin. Seit zwei Tagen hat sie keiner dort mehr gesehen. Und angerufen hat sie auch nicht mehr. Ich mache mir große Sorgen. Normalerweise ist Sabine nämlich absolut zuverlässig.« Sie zog vorsorglich ihr bereits tränenfeuchtes Stofftaschentuch aus der Handtasche. Bestimmt würde sie gleich wieder weinen. Das wusste sie genau.

»Ach, das wird sich schon alles aufklären, Annie«, beruhigte sie Max. »Sicher meldet sie sich schon bald wieder. Glaube mir. Bei der Kripo hatten wir solche Fälle andauernd. Und meistens war nichts dahinter. Vielleicht hat sie sich in einen feschen Tiroler verknallt, wie meine Mutter dereinst. Dass dabei nur etwas Gescheites rauskommen kann, siehst du ja an mir.« Und vielleicht genießt sie es auch nur, endlich einmal ein paar Tage ohne Überwachung zu verbringen, dachte er.

»Ja, aber da hätte sie sich doch trotzdem bei mir gemeldet. Hundertprozentig. Ich kenne doch mein Kind.« Anneliese bekam wieder feuchte Augen.

»Okay, okay. Wenn es dich beruhigt, frage ich morgen mal nach ihr rum. Ich bin aber überzeugt, dass sie einfach bloß einen kleinen Flirt mit einem Jungen hat. Und dass sie deswegen an nichts anderes denkt. Ganz bestimmt.«

»Na, hoffentlich hast du recht. Aber wissen würde ich das halt trotzdem gerne.«

»Ich kümmere mich darum, Anneliese. Ver­sprochen. So, und jetzt trinken wir erst mal einen schönen Obstler. Zur Beruhigung und gegen die ganzen Erkältungsviren in der Luft. Was meint ihr?« Max hatte keine Lust mehr auf das Thema. Das würde sich schon alles finden mit Sabine. Aber nicht hier und nicht jetzt.

»Pfui Teufel, nein!«, brach es aus Anneliese heraus.

Monika grinste nur und schüttelte langsam den Kopf. »Ich hatte gerade schon einen, Max. Außerdem muss ich den ganzen Abend noch arbeiten.«

»Na gut, dann trink ich halt alleine.« Er stapfte entschlossen hinter die Theke. Dort zapfte er sich ein frisches Bier von dem Fass, das er vor seinem Auftritt als Dressman im Keller angeschlossen hatte, und schenkte sich einen Doppelten dazu ein. Anneliese verabschiedete sich kurz darauf von ihnen. Sie wollte unbedingt daheim erreichbar sein, falls Sabine auf dem Festnetz anrufen würde. Bevor sie hinausging, versprach ihr Max noch mal, sich auf jeden Fall in Kitzbühel nach Sabine umzusehen. Sie solle sich keine Sorgen mehr machen und lieber versuchen zu schlafen, gab er ihr auch noch mit auf den Weg.

Mit der Zeit füllte sich das kleine Lokal. Und jeder nasse Neuankömmling lachte sich zuerst einmal über den bayerischen Hercule Poirot in Filzpantoffeln kaputt. Der Herr Exkommissar Raintaler hinter dem Tresen sah auch zu komisch aus. Klar, dass es wieder mal ein höchst amüsanter Abend wurde in ›Monikas kleiner Kneipe‹. Zu fortgeschrittener Stunde holte Max Monikas Westerngitarre aus der Wohnung über dem Lokal und gab, wie er das ab und zu gerne tat, ein paar seiner persönlichen Lieblingsstücke zum Besten. Melancholische Songs wie ›Crossroads‹ von Calvin Russel oder ›Hurt‹ von Johnny Cash und ein paar schnellere wie ›Am I Wrong‹ von Keb’ Mo’ oder ›I Hear You Knocking‹ von Smiley Lewis. Er interpretierte die lässige amerikanische Blues- und Countrymusic so gefühlvoll, dass es den konzentriert lauschenden Bayern aus der Stadt vor Ergriffenheit die Tränen in die Augen trieb. Entsprechend frenetisch fiel der Applaus danach aus. Wie meistens, wenn Max spielte.

Als die Gäste auf dem Nachhauseweg waren, half er Monika noch beim Aufräumen, umarmte, herzte und küsste sie zum Abschied und ging ebenfalls heim. Zügig. Ohne einen der üblichen Umwege einzuschlagen, die ihn sonst noch oft in weitere Lokalitäten führten, wie zum Beispiel in die Pilsbar gleich bei ihm ums Eck. Nichts da. Morgen war es schließlich so weit. Sein erster Wellnessurlaub mit integriertem Sportprogramm stand an. Da wollte er auf jeden Fall zeitig aufstehen, um zu packen, seine neuen Ski und die Skischuhe aus dem Keller zu holen und den guten alten Dachständer auf seinen guten alten R4 zu schrauben. Hoffentlich ist Sabine nicht doch etwas passiert, dachte er, bevor er einschlief. So lange überhaupt nicht erreichbar zu sein, ist ja schon sehr merkwürdig. Herrschaftszeiten. Aber das sagt man einer besorgten Mutter als alter Profi natürlich nicht.

4

Der feuchte Schnee klatschte so unerbittlich gegen die Frontscheibe, dass die abgenutzten Wischblätter nicht mehr mit ihrer Arbeit nachkamen.

»Warum vergesse ich eigentlich jedes Mal, die Scheißdinger endlich auszutauschen?«, grantelte Max genervt. Er konnte die Lichter seines Vordermannes kaum erkennen.

Kurz vor dem Irschenberg war er, wie schon so oft an dieser neuralgischen Stelle der A8, im Stau gestanden. Aber nachdem er dann ein paar Kilometer weiter in die A93 Richtung Kufstein eingebogen war, kam er relativ flott voran. Schon bald würde er die Grenze hinter sich lassen. Dann Kufstein Süd raus und auf der Landstraße weiter bis nach Kitzbühel. Bevor er in sein Hotel eincheckte, würde er aber erst noch nach St. Johann weiterfahren und dort auf jeden Fall gleich mal wegen Sabine nachfragen. Versprochen war schließlich versprochen. Und wenn er ganz ehrlich war, hatte ihn außerdem bereits der alte Jagdtrieb wieder gepackt. Schon gestern, als Anneliese von Sabines Verschwinden erzählt hatte.

Die Lautstärke des Radios fuhr automatisch hoch. Der Verkehrsfunk meldete sich zu Wort. »Die Autofahrer Richtung Kufstein und Brenner werden gebeten, vor Tiefenbach langsam zu fahren. Stau wegen einer Baustelle bis Kufstein Süd.«

»Herrschaftszeiten, was soll denn das schon wieder? Eine Baustelle mitten im Winter. Ausgerechnet! Jedes Mal derselbe Schmarrn, wenn man in die Berge fährt. Egal, wo. Egal, wann«, haderte er sauer.

Einen knappen Kilometer lang konnte er noch mit normaler Geschwindigkeit weiterfahren. Dann musste er abbremsen. Und stand. Ende Gelände. Normalerweise konnte man von hier aus immer schon einen Blick auf das Kaisergebirge erhaschen. Heute nicht. Keine Berge zu sehen. Nicht einmal die, die ganz in der Nähe standen. Nur neblige Suppe rund um ihn herum. Wenn die Baustelle wirklich erst hinter Kufstein ist, wie es das Radio gerade gemeldet hat, dauert es ja ewig, bis ich da ankomme. Das sind ja locker noch 20 Kilometer bis dorthin. Vielleicht sollte ich lieber gleich hier bei Tiefenbach rausfahren und auf der Landstraße mein Glück versuchen. Über Oberaudorf, Kiefersfelden. Sonst erfriere ich hier am Ende noch. Wer weiß?

Gedacht, getan. Er startete unter holprigem Stottern den Motor, fuhr auf dem Standstreifen vor bis zur Ausfahrt und war schon bald ungestört auf der Landstraße unterwegs. Den Anlasser werde ich demnächst mal anschauen lassen, schwor er sich.

Gleich im nächsten Ort entdeckte er eine kleine Metzgerei am Straßenrand und hielt davor an, um sich auf den gerade erlebten Schreck in der Morgenstunde erst mal ein zweites Frühstück zu gönnen. Ein Paar Weißwürste und ein Schluck zu trinken täten ihm jetzt bestimmt gut. Und warum auch nicht? Er hatte Hunger. Und Urlaub. Er stieg aus, sperrte den Wagen ab und ging hinein.

»Grüß Gott, der Herr.« Die großgewachsene, ältere Frau hinter dem Verkaufstresen lächelte ihn erwartungsvoll an.

»Grüß Gott, die Dame.« Max lächelte freundlich zurück.

»Was darf’s denn sein?«, erkundigte sie sich mit schiefgelegtem Kopf.

»Haben Sie warme Weißwürste?«

»Aber sicher. Und stellen Sie sich vor, wir verkaufen sie sogar. Wie viele hätten Sie denn gern?« Sie grinste frech, aber nicht unsympathisch.

»Zwei Stück, bitte. Und ein alkoholfreies Weißbier hätte ich gern dazu. Und eine Brez’n. Und viel süßen Senf natürlich.« Max legte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ans Kinn und überlegte kurz, ob er etwas vergessen hatte. Nein, das war alles. Oder? Ja. Doch. Mehr brauchst du nicht, Raintaler.

»Kommt sofort«, meinte die Verkäuferin. »Das Bier können Sie sich gerne aus dem Kühlschrank da drüben nehmen und die Würste bringe ich Ihnen, sobald sie heiß sind. Setzen Sie sich ruhig schon einmal.« Sie deutete auf die gemütliche Brotzeitecke mit den Stehtischen und Barhockern links von Max. »Ein Glas bekommen Sie gleich von mir«, fuhr sie dann fort. »Übrigens, die Knickerbocker stehen Ihnen sehr gut. Sieht man ja kaum noch heutzutage. Mein Erwin, Gott hab ihn selig, hatte die auch immer an. Vor allem, wenn er beim Wandern war.« Für einen Moment sah sie ein klein wenig nachdenklich aus. Und ein bisschen traurig.

»Aha. Ja, danke.« Max grinste geschmeichelt, nahm sich eine der Tageszeitungen, die auf dem hintersten Tisch auslagen, und setzte sich.

›Favorit Moser für das Hahnenkammrennen beim Training schwer gestürzt. Wird er überhaupt am Abfahrtslauf teilnehmen können?‹, stand gleich auf der ersten Seite.

Ja, da schau her. Der Christian Moser gestürzt. Da haben die anderen ja endlich auch mal eine Chance. Das wird bestimmt spannend am Samstag. Hoffentlich stürze ich nicht selbst in der Zwischenzeit. So ein Beinbruch ist schnell passiert. Wird schon schiefgehen. Schließlich bin ich ein Superskifahrer. Ja, und der gute Christian Moser etwa nicht? Doch. Eigentlich schon.

Egal. Schluss jetzt mit den dummen Gedanken. Er las weiter. Nach zehn Minuten kamen seine Weißwürste.

»Kann sein, dass in einer von den Würsten der Finger von unserem Lehrbuben drin ist. Also, vorsichtig essen … Nein, nein. Ach wo. War bloß ein Witz«, ergänzte die Metzgerin schnell, als sie sein verdutztes Gesicht bemerkte.

Sie schien richtig Spaß an ihrem Job zu haben. Mehr, als man ihr auf den ersten Blick zugetraut hätte. Oder war sie von Haus aus so schräg drauf?

»Geht in Ordnung. Wenn ich ihn finde, sage ich Bescheid«, scherzte Max nach der kurzen Irritation gut gelaunt zurück.

Schmunzelnd erinnerte er sich an seinen verstorbenen Vater. Je näher man Österreich kommt, um so skurriler werden die Leute, hatte der immer gesagt. Dass er selbst ein waschechter Innsbrucker gewesen war, der das schließlich wissen musste, hatte dem Spruch natürlich zusätzliches Gewicht verliehen. Ja, die Eltern. Fünf Jahre war es jetzt schon wieder her, dass sie auf der Fahrt nach Italien ihren Unfall hatten. Keiner von beiden hatte es überlebt. Max hatte sich sehr alleine gefühlt damals. Trotz Monika und seinem besten Freund Franz, die ihn getröstet und aufgemuntert hatten. Verwandte oder Geschwister außer Tante Isolde gab es nicht. Und die lebte inzwischen auch nicht mehr. Seitdem stand er ganz ohne Familie da. Er vermisste sie alle bis heute. Ganz besonders Vaters Humor und Mutters Fürsorge.

Er legte die Zeitung wieder auf die Ablage zurück. Außer der Nachricht über den Unfall des Favoriten für das Rennen war nichts Interessantes dringestanden. Wie redet man eigentlich mit einem fast erwachsenen Mädchen wie Sabine, fragte er sich. Ist man streng und schafft ihr an, dass sie auf der Stelle ihre Mutter anrufen soll? Oder macht man es mehr auf die Kumpeltour? Du selbst hast ja keine Kinder. Woher sollst du es also so genau wissen? Egal. Dir wird schon was einfallen, Raintaler. Ganz blöd bist du ja auch nicht. Vorausgesetzt natürlich, du findest sie. Er zog den dampfenden prallen Würsten gekonnt die Haut ab und begann mit Appetit zu essen. Den Scherz mit dem abgeschnittenen Finger hatte er schon wieder vergessen. Absichtlich.

»Ach ja, du mein geliebtes Skifahren«, murmelte er nach ein paar Bissen melancholisch vor sich hin.

In seiner Jugend war er selbst jahrelang Skirennen gefahren. Mit beträchtlichem Erfolg. Wäre damals am liebsten selbst Profi geworden. Doch dann hatten ihm die Eltern einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Schule gehe vor, hatte es geheißen. Außerdem bräuchten sie seine Hilfe im Lokal. Ganz abgesehen davon, dass die Sache ein reichlich teurer Spaß wäre. Max hatte zwar dicke Tränen vergossen, aber die Entscheidung letztlich akzeptiert. Ganz aufgegeben hatte er seine große Leidenschaft aber nie. Bis heute stand er auf der Piste, sobald sich eine günstige Gelegenheit dazu ergab. Am liebsten allein. Die meisten seiner Freunde konnten nämlich nicht mit ihm mithalten, wenn er richtig loslegte. Schon gar nicht im Steilen oder im Tiefschnee. Und andauernd stehen bleiben zu müssen, um auf jemanden zu warten, war ihm schlicht zu langweilig.

Die Pokale, die er als Jugendlicher gewonnen hatte, standen immer noch in seinem Wohnzimmer auf Tante Isoldes wertvollem Sideboard aus Eichenholz. Fein säuberlich aufgereiht. Und entgegen seiner sonstigen unübersehbaren Schwächen als Hausmann, polierte er sie sogar regelmäßig. Bis sie nur so funkelten und blitzten.

Als er aufgegessen und bezahlt hatte, verabschiedete er sich von der lustigen Metzgerin. Mit gemischten Gefühlen angesichts der nach wie vor nass herabfallenden grauen Pracht eilte er zu seinem Auto, startete den Motor und fuhr los. Keine 20 Meter weiter lenkte er sein Gefährt wieder auf den Gehsteig und blieb stehen. Was war denn das gerade für ein merkwürdiges Geräusch? Er stieg aus, um nachzusehen. Auch das noch. Einen Platten. Links hinten. Und das bei diesem Mistwetter. Na, Mahlzeit! So wird das nichts mit dem Skiurlaub. Hatte er überhaupt Werkzeug dabei? Eilig durchwühlte er den Kofferraum. Dann fiel es ihm wieder ein. Als er letztes Jahr den Platten auf der Nürnberger Autobahn gehabt hatte, war auch kein Werkzeug zu finden gewesen. Damals hatte er den Pannendienst gerufen und sich fest vorgenommen, Wagenheber, Schraubenschlüssel und Ersatzrad in den Kofferraum zu legen, sobald er wieder daheim sei. So weit, so gut. Anscheinend hatte er es sich nicht fest genug vorgenommen. Er sperrte ab, spannte seinen Regenschirm auf, ging die Straße das kurze Stück zurück und betrat die Metzgerei erneut.

»So schnell sieht man sich wieder!«, scherzte die ältere Dame, die erfreut lächelnd von ihrer Verkaufstheke aufblickte, als sie ihn hereinkommen hörte.

Sie schien über jede Ablenkung in ihrem leeren Geschäft froh zu sein. Kein Wunder. Allzu viele Fremde verirrten sich offensichtlich nicht hierher. Was andererseits auch wieder logisch war. Die meisten preschten ja mit weit über 100 Sachen auf der Autobahn vorbei.

»Ja, leider!«, erwiderte Max, dem gerade gar nicht nach Späßen zumute war. »Einen wunderschönen Platten habe ich! Kennen Sie eine Autowerkstatt in der Nähe, bei der ich kurz anrufen könnte?«

»Eine Werkstatt? Aber sicher. Der Moser Bertl hat eine Werkstatt. Ich kann gleich dort für Sie anrufen, wenn Sie das möchten.« Sie legte den Packen gemischte Frischwurst, den sie gerade in der linken Hand hielt, neben sich und hob fragend die Brauen.

»Das wäre großartig. Vielen Dank!«