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ISBN 978-3-492-96847-8

Februar 2016

Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

© 1999 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: ullstein bild/ Corbis

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Mein wichtigstes Werk ist mein Leben

Simone de Beauvoir

Johanna von Orléans

Ein Bauernmädchen glaubt unbeirrbar an seine Bestimmung – und führt den König zum Sieg

Ein Bauernmädchen reitet zum König

Mit einem Gefolge von sechs Männern reitet ein siebzehnjähriges Bauernmädchen durch Lothringen. Sie wagen sich nur im Dunkeln auf den Weg, bei Tagesanbruch schlüpfen sie in abgelegene Scheunen, denn sie durchqueren ein von Engländern und Burgundern besetztes Land; und es herrscht Krieg.

Wenn sie in ein Dorf reiten, um etwas Brot und Wein zu besorgen, begegnen sie alten Männern und Frauen, die dort ausharren, obwohl sie sich kaum noch sattessen können, weil die Äcker brachliegen und auf den Wiesen nur noch vereinzelt Kühe weiden. Wer nämlich kräftig und mutig genug war, setzte sich in die vom Krieg verschonten Gebiete ab; und die Daheimgebliebenen müssen damit rechnen, daß durchziehende Soldaten ihre letzten Hühner schlachten und die Getreidefelder zertrampeln.

Johanna und die Männer frieren nicht selten in ihren feuchten Kleidern, denn im Februar 1429 regnet es häufig. Die Flüsse führen Hochwasser; Furten werden sich erst wieder im Sommer bilden, und weil sich die Flößer nicht in die reißende Strömung wagen, müssen die Reiter Brücken suchen – obwohl sie dabei riskieren, entdeckt und aufgegriffen zu werden.

Trotz der Strapazen läßt das Mädchen die Männer nie ausschlafen: Johanna springt nach einer Rast stets als erste hoch und brüllt die Männer an, wenn sie nicht rasch genug aufbrechen. Woher nimmt sie die Kraft? Was treibt sie vorwärts?

Der Bauerntochter stehen ein königlicher Bote, ein Bogenschütze und zwei Edelmänner mit ihren Dienern zur Verfügung. Bevor sie sich in Vaucouleurs an der Maas auf den Weg machten, hatte der Anführer dem Stadtkommandanten schwören müssen, Johanna sicher nach Chinon zum König zu bringen. Auf ihre Begleiter ist sie angewiesen, weil sie weder die sechshundert Kilometer lange Strecke kennt noch Näheres über die Kriegslage weiß und es selbst in Friedenszeiten nicht wagen dürfte, ihr Heimatdorf ohne männlichen Schutz zu verlassen.

Ein Schäfer, an dem der Trupp vorbeireitet, nimmt nur Männer wahr, denn Johanna ist groß, schlank und schmal in den Hüften, sie schneidet ihr schwarzes Haar kurz und kleidet sich wie ein Junker: Schon von weitem fällt der wehende Umhang ins Auge. Lange Strümpfe mit Ledersohlen umhüllen die Beine. Hin und wieder faßt sie unter ihr Hemd und zupft an der kurzen Hose, einem Wäschestück, das sie erst seit wenigen Tagen trägt, denn Mädchen und Frauen haben unter den Röcken nichts an.

Selbst wenn sie sich zwischen den nach Schweiß riechenden Männern zum Schlafen ins Heu legt, wagt es keiner, sie zu berühren. Die Jungfrau bleibt zugeknöpft und begeistert sich nur, wenn sie von ihrer Sendung spricht: dem Auftrag, Frankreich zu retten.

Endlich überqueren die Reiter die Loire. Von da an brauchen sie sich nicht mehr zu verstecken, denn in diesem Gebiet halten die Territorialherren dem französischen König die Treue.

Rasch verbreiten sich Gerüchte und Nachrichten über Johanna. Mit Karl VII. will sie sprechen! Wird der König das Dorfmädchen empfangen? Was macht sie so selbstbewußt, daß sie es wagt, vor ihn hinzutreten? Eine Jungfrau will Karl VII. zur Krönung in Reims verhelfen und die Engländer aus Frankreich vertreiben! Von Gott sei sie dazu ausersehen. Gewiß, auf so ein Wunder hoffen die Franzosen. Aber weiß sie denn nicht, wieviele Frauen bereits auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, weil sie behaupteten, über besondere Kräfte zu verfügen, während Vertreter der Kirche sie für Hexen hielten?

Nach einem zehntägigen Ritt, ein paar Stunden von Chinon entfernt, diktiert die Analphabetin abends im Quartier einen Brief an den König, in dem sie ihr Kommen ankündigt und ihre Mission beschreibt. Damit schickt sie ihren Herold voraus.

Am nächsten Tag steigt sie in einem Gasthaus von Chinon ab und wartet ungeduldig auf eine Nachricht aus dem Schloß.

Der Hundertjährige Krieg

Warum hoffen die Franzosen so verzweifelt auf ein Wunder? Weil sie sich seit hundert Jahren gegen die Engländer wehren müssen: Seit das französische Königshaus der Kapetinger 1328 ausgestorben ist, machen die englischen Könige der Dynastie Valois das Erbe streitig und versuchen, ihren eigenen Anspruch auf die französische Krone mit militärischen Mitteln durchzusetzen.

Karl der Weise, der Frankreich von 1364 bis 1380 regierte, eroberte die meisten der bis dahin an die Engländer verlorenen Gebiete zurück. Aber als sich nach seinem Tod herausstellte, daß sein Sohn Karl VI. geisteskrank war, entzündete sich an der Frage, wer die Regentschaft führen sollte, ein neuer Machtkampf – dieses Mal zwischen dem Herzog von Orléans, der dem Haus Valois treu blieb, und dem Herzog von Burgund, der sich mit den Engländern verbündete.

Im Oktober 1415 schlugen dreizehntausend Engländer das mehr als dreimal so große französische Ritterheer in die Flucht. Der vierundzwanzig Jahre alte Herzog Karl von Orléans, den man zunächst für tot gehalten und auf dem Schlachtfeld liegengelassen hatte, wurde gefangengenommen.1

Die Könige von England und Frankreich starben 1422 innerhalb weniger Wochen. Während die Anhänger der Valois den Dauphin Karl VII. als französischen König ausriefen, übernahm für den erst neun Monate alten englischen Thronfolger dessen Onkel Herzog Johann von Bedford die Regentschaft.

Als der geisteskranke König starb und von seinem Sohn abgelöst wurde, schöpften die Franzosen neue Hoffnung. Aber bald merkten sie, wie schwach Karl VII. war: »In seiner überängstlichen Frömmigkeit hörte er dreimal täglich die Messe und hielt jede liturgisch vorgeschriebene Andacht peinlich genau ein ... Zur Finanzierung des Krieges gegen England verpfändete er seine Juwelen und beinahe die Kleider am Leib; aber er fand keinen Gefallen am Krieg und überließ ihn Ministern und Feldherren, deren Begeisterung und Fähigkeiten im Widerspruch zu ihren Eifersüchteleien standen.«2

Mit vereinten Kräften schoben England und Burgund den Herrschaftsbereich Karls VII. auf das Territorium südwestlich der Loire zusammen; und in den besetzten Regionen widerstanden nicht mehr als zehn isolierte Orte dem Feind. Der französische König krallte sich im Tal der Loire fest, um nicht völlig den Halt zu verlieren, aber der englische Regent und der Herzog von Burgund beabsichtigten, ihm auf die Finger zu treten.

Die Stimmen

Das Reich des noch ungekrönten Königs endete im Osten an der Maas. Am westlichen Ufer des Flusses liegt Domrémy, der Ort, in dem Johanna 1412 zur Welt kam.

Sie war das dritte von vier Kindern einer Bauernfamilie. Die Mutter stammte aus einem Nachbardorf; der Vater war aus der Champagne gekommen und hatte sich in Domrémy Respekt verschafft.

Wie die anderen Mädchen des Dorfes half Johanna von klein auf beim Säen und Ernten, Füttern und Melken, Putzen und Flicken – aber im Alter von dreizehn Jahren sonderte sie sich ab und entwickelte eine auffallende Frömmigkeit. Das geschah, nachdem eine Horde englischer und burgundischer Soldaten das Vieh aus Domrémy fortgetrieben, den Ort geplündert und die Kirche in Brand gesteckt hatte.

Johanna begann Stimmen zu hören.

»Als ich dreizehn Jahre alt war, hatte ich eine Stimme von Gott, die kam, um mich zu leiten.«3 Im Garten erschien ihr der Erzengel Michael mit einer Engelschar. Sie sah auch zwei Frauen: die heilige Katharina, die Schutzpatronin eines Nachbardorfes, und die heilige Margareta, deren Statue trotz des Feuers in der Kirche von Domrémy unbeschädigt geblieben war. Anfangs fürchtete sich Johanna vor den verwirrenden Erscheinungen, aber bald freute sie sich, wenn die Heiligen zu ihr sprachen, und es gelang ihr allmählich, sie absichtlich herbeizurufen. Solange sie in Domrémy blieb, behielt sie freilich das Geheimnis für sich.

Weil Domrémy im Sommer 1428 erneut von Soldaten heimgesucht wurde, flüchtete Johannas Familie mit anderen Dorfbewohnern nach Süden in die zehn Kilometer entfernte Stadt Neufchâteau. Von dort aus sah Johanna die heimischen Felder brennen. Jeden Tag erfuhr sie Neuigkeiten über den Krieg und sie hörte, wie besorgte Leute einander fragten: »Wird Karl VII. in der Lage sein, die Engländer und die Burgunder aus Frankreich zu vertreiben?« »Aber wißt ihr schon, was man sich erzählt?« flüsterten sie sich zu: »Frankreich wurde durch eine Frau4 verraten; aber eine Jungfrau wird kommen, um das Land zu befreien.«

Als die Sechzehnjährige nach zwei Wochen mit ihrer Familie heimkehrte, forderte eine Stimme sie auf, sich nach Vaucouleurs zu begeben, eine gut befestigte Stadt zwanzig Kilometer nördlich von Domrémy, die zu Karl VII. hielt, obwohl sie auf burgundischem Gebiet lag. »Die Stimme sagte mir, daß ich nicht länger bleiben könne, wo ich war, und daß ich die Belagerung der Stadt Orléans aufheben müsse. Sie befahl mir außerdem, zu Robert de Baudricourt in die Festung Vaucouleurs zu gehen, deren Stadtkommandant er war. Er würde mir Leute geben, die mit mir gingen. Ich antwortete, daß ich ein armes Mädchen sei, das nicht zu reiten und Krieg zu führen verstünde.«5

Heute halten wir Visionen für Halluzinationen: Wir gehen davon aus, daß Johanna damit unbewußt auf ihre Angst reagierte und die Stimmen ihre Hoffnungen wie ein Echo reflektierten. »Die ›Stimmen‹ bieten uns eine direkte psychologische Materie, denn ihre Ermahnungen, Anweisungen, Ratschläge, Ermutigungen, Absichten, Hoffnungen und Versprechungen sind nur die Triebe, Sehnsüchte, Absichten, Hoffnungen und Wünsche Johannas, die unbewußt durch ein allegorisches System ausgedrückt werden, das seine Gestalten von einer kollektiven ›mit religiösen Vorstellungen gesättigten Mentalität‹ ableitet: Johannas ›Stimmen‹ sind Johanna selbst.«6

Damals glaubten die Menschen an Feen, Elfen, Kobolde, Hexen, Gespenster; Erde und Himmel waren nicht klar voneinander abgegrenzt: Niemand bezweifelte, daß sowohl Gott und die Heiligen als auch der Satan das irdische Geschehen über Mittelsmenschen beeinflußten. Das Problem bestand allenfalls darin, zwischen göttlichen und teuflischen Eingebungen zu unterscheiden – aber dafür gab es die Inquisition.

Heimlich bereitete Johanna ihren Aufbruch vor: Sie überredete einen Onkel, sie in sein Haus zu holen. Ihren Eltern log er vor, sie wolle seiner Frau helfen, die gerade ein Kind geboren hatte; aber nach wenigen Wochen quartierte sich Johanna in Vaucouleurs ein, statt nach Hause zurückzukehren.

Um dem Stadtkommandanten ihr Anliegen vorzutragen, ging sie zur Festung, doch die Posten wiesen sie mit hämischen Bemerkungen zurück. Johanna gab nicht auf, sondern kam wieder und wieder.

Robert de Baudricourt wollte sie zunächst zu ihren Eltern zurückschicken und dem Vater empfehlen, sie mit Ohrfeigen zu empfangen. Dann holte er Erkundigungen über sie ein und beobachtete, was geschah, wenn ein Priester ihr – aus sicherer Entfernung – das Kreuz hinhielt: Da sie sich nicht in Schreikrämpfen wand, sondern demütig niederkniete, verwarf er den Verdacht, sie sei vom Teufel besessen, und nach einigen Wochen empfahl er sie dem König in Chinon.

Der Empfang beim König

Im Kronrat wird darüber gestritten, ob Karl VII. Johanna empfangen soll oder nicht: Einige Mitglieder treten dafür ein, sie kurzerhand wieder nach Hause zu schicken, aber eine andere Fraktion, die zunächst mehr über sie herausfinden will, setzt sich durch.

Also suchen einige der königlichen Ratgeber Johanna in ihrem Quartier in Chinon auf, um sie – so neugierig wie es ihre steife Würde erlaubt – zu befragen. Die unerfahrene Bauerntochter mißtraut den feinen Herren; erklärt ihnen zögernd, daß der Himmel sie beauftragt habe, dem König zu helfen und sie mit ihm selbst sprechen wolle.

Tatsächlich wird sie am zweiten Abend ihres Aufenthalts in das die Stadt überragende Schloß gerufen. Ungestüm springt sie vom Pferd. Ohne auf ihren niedrigen Stand zu achten, führt ein Graf sie gemessenen Schrittes durch die Flure an den Wachen vorbei in die Empfangshalle. »Der Saal war von fünfzig Fackeln erleuchtet und gedrängt voll mit über dreihundert Menschen einer glanzvollen Versammlung von Soldaten, Höflingen und Prälaten, von denen einige feindselig eingestellt, andere leichtfertig belustigt, alle aber neugierig waren, dieses neue Schauobjekt zu sehen ...«7 Die Grüppchen brechen ihre Gespräche ab; es wird so still, daß das Knistern der Fackeln zu hören ist. Johanna läßt sich von der ungewohnten Szenerie nicht überwältigen und zeigt »kein Anzeichen von Unschlüssigkeit, Ratlosigkeit, Schüchternheit oder Verlegenheit«.8 Ein Spalier öffnet sich, ihr Begleiter führt sie vor einen der Herren und sagt: »Du stehst vor dem König.« Aber Johanna durchschaut die Täuschung: »Der ist es nicht. Ich würde den König erkennen, obwohl ich ihn nie gesehen habe.«9 Karl VII. betritt den Saal, unauffälliger gekleidet als die meisten der Höflinge, die ihn aufgrund einer Weisung kaum beachten. Es ist charakteristisch für ihn, daß er sich nicht gleich zu erkennen gibt, sondern erst versucht, sich einen Eindruck von Johanna zu verschaffen. Aber dafür bleibt ihm keine Zeit, denn sie überlegt nicht lang, geht geradewegs auf ihn zu, blickt in sein überraschtes Gesicht, senkt erst einige Meter vor ihm den Kopf, beugt ein Knie und begrüßt ihn: »Edelster Dauphin [so nennt sie ihn, bis er gekrönt ist], ich bin gekommen, von Gott gesandt, um Hilfe zu bringen – Euch und dem Königreich Frankreich.«10 Der Angesprochene deutet auf einen prunkvoller gekleideten Herrn und behauptet: »Ich bin nicht der König. Der König steht dort.« Aber Johanna erwidert: »In Gottes Namen, edler Fürst, Ihr seid es und kein anderer.«11

Die Anwesenden sind verblüfft: Wie konnte sie den König erkennen? – Gewiß ließ sich Johanna vor dem Empfang beschreiben, wie der König aussieht: den melancholischen Blick, das schüchterne Auftreten und die schlurfende Art zu gehen. »Ein Trauerkloß ... und dabei erst 26.«12

Karl VII. spricht mit dem Mädchen, das aufrecht vor ihm steht und wie ein Edelmann aussieht. Er hört sich an, was Johanna ihm über ihre Sendung berichtet. Anfangs schweift sein Blick noch zwischen den Umstehenden herum, dann beugt er sich vor, die Querfalten auf seiner Stirn weichen Runzeln über der Nasenwurzel, und er schaut ihr fragend in die Augen: »So werde ich meinen Feinden widerstehen?«

Den König hat Johanna für sich eingenommen, aber kann sie auch die Kirche – deren Segen für das Vorhaben unerläßlich ist – von ihrer Sendung überzeugen?

Die Prüfung

Zwei, drei Wochen später begleitet ein königliches Gefolge das Bauernmädchen in die hundert Kilometer südlich von Chinon gelegene Stadt Poitiers.

Gleich nach ihrer Ankunft diktiert Johanna einen Brief an die Engländer: »König von England und Ihr, Herzog von Bedford, der Ihr Euch Regent von Frankreich nennt, ... gebt dem König des Himmels Sein Recht! Übergebt der Jungfrau, die von Gott, dem König des Himmels, gesandt ist, die Schlüssel von allen guten Städten in Frankreich, die Ihr eingenommen und geschädigt habt! Sie ist hierhergekommen durch Gott, den König des Himmels, um das königliche Blut zurückzufordern. Sie ist gern willens, Frieden zu schließen, wenn ihr von Euch Gerechtigkeit widerfährt und Ihr von Frankreich ablaßt und zurückerstattet, was Ihr Euch angeeignet habt. ... König von England; wenn Ihr es nicht tut, so wißt: Ich bin Kriegsherr, und wo immer ich auf Eure Soldaten in Frankreich stoße, werde ich sie vertreiben, ob sie wollen oder nicht. Und wenn sie nicht gehorchen, so werde ich sie töten lassen. Ich bin hierher von Gott, dem König des Himmels, gesandt, um Euch Mann für Mann aus ganz Frankreich zu schlagen ...«13

Eine Chance, ihre Mission durchzuführen, hat Johanna nur, wenn sie Jungfrau ist. »Denn Jungfrauen sind dagegen gefeit, vom Teufel besessen zu sein, eine Jungfrau kann also nicht zugleich Hexe sein. In einer Welt, in der jeder, der Außergewöhnliches leistet, mit einer der beiden außerirdischen Mächte, Gott oder Teufel, im Bunde sein muß, käme bei einer Jungfrau nur Gott in Frage. Und dann: Jungfrauen genießen einen Sonderstatus. Sie sind Grenzgängerinnen – nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen den Sphären des Irdischen und Überirdischen. Jungfrauen werden daher übernatürliche Fähigkeiten zugetraut...«14 »Sie konnten Erlöser gebären – oder selbst Erlöser werden.«15 Wenn Johanna glaubhaft machen kann, daß sie eine von Gott auserwählte Jungfrau ist, kommt es nicht mehr auf ihre niedrige Herkunft an; im Gegenteil, sie steht dann mit dem König auf einer Stufe, denn auch er beruft sich auf die göttliche Legitimation.16

Sie muß deshalb in Poitiers eine Prüfung ihrer Jungfräulichkeit über sich ergehen lassen und vor einem Untersuchungsausschuß der Kirche wochenlang Fragen beantworten. »Was sagten die Stimmen?« »Welchen Auftrag haben sie dir gegeben?« »Warum kleidest du dich wie ein Mann?« Als ein Dominikaner von ihr wissen möchte, in welcher Sprache sich die Stimmen an Johanna wenden, antwortet sie schnippisch: »In einer schöneren als der Euren.«17 Da lachen selbst die ehrwürdigen Kirchenmänner, denn der Fragesteller benutzt den ungehobelten Dialekt einer mittelfranzösischen Landschaft.

Nachdem sich das Tribunal von ihrer Lauterkeit überzeugt hat, kehrt sie nach Chinon zurück, wo der Kronrat sich dafür ausspricht, sie mit den Soldaten nach Orléans ziehen zu lassen.

Die Lage Frankreichs ist so verzweifelt, daß die königlichen Berater auf keine Chance verzichten wollen, zumal mit der Entscheidung kein Risiko verbunden ist: Sollte es nicht gelingen, Orléans von den englischen Belagerern zu befreien, würde die Anwesenheit Johannas dies auch nicht verschlimmern. Aber im Fall des Erfolgs kann die Jungfrau als Hoffnungsträgerin der Franzosen aufgebaut und zur Abschreckung der gegnerischen Streitkräfte eingesetzt werden.

Die Befreiung von Orléans

Orléans kommt im Hundertjährigen Krieg eine strategische Bedeutung zu, weil es sich um das Zentrum eines politisch besonders engagierten Herzogtums, eine Stadt mit dreißigtausend Einwohnern, einen wichtigen Binnenhafen und entscheidenden Loire-Übergang handelt: Gelänge es den Engländern, den Ort zu erobern, könnte sich Karl VII. auch in seinem Rückzuggebiet südlich der Loire nicht mehr halten.

Ein fünftausend Mann starkes englisches Heer marschierte im Oktober 1428 vor Orléans auf. Die Truppenstärke reicht jedoch nicht aus, um Orléans vollständig abzuriegeln, etwa zu verhindern, daß mitunter eine Schweineherde in die belagerte Stadt getrieben wird.

Johanna schließt sich einem Nachschubtransport an: Dreitausend Mann sichern vierhundert Schlachttiere und sechzig Wagen auf dem Weg von Blois nach Orléans.

Ein Waffenschmied paßte ihr eine wertvolle Rüstung an, »genau richtig für ihren Leib«: Helm, Harnisch, Arm- und Beinschienen. Die Panzerung schützt vor Schwerthieben und Lanzenstichen, Pfeilschüssen und Steinschleudern; andererseits müssen selbst kräftige Ritter darauf achten, daß sie wegen des Gewichts nicht aus dem Sattel kippen.

Jean d’Aulon führt ihre persönliche Begleitmannschaft, zu der zwei weitere Edelleute, der Beichtvater, Johannas Brüder Jean und Pierre sowie zwei Herolde und zwei Pagen gehören: eine Eskorte wie sie normalerweise nur hochrangigen Offizieren zusteht.

Weil die Engländer den Herzog von Orléans gefangen halten, kümmert sich dessen fünfundzwanzig Jahre alter Halbbruder Johann der Bastard18 um die Verteidigung der Stadt.

Er kommt dem französischen Konvoi am 28. April 1429 ein Stück entgegen und wendet sich an Johanna: »Ich bin froh über Eure Ankunsft.« Aber sie hält sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf, denn sie bemerkte gerade, daß Orléans auf der anderen Seite des Flusses liegt; wütend ist sie, weil die königlichen Befehlshaber eine Marschroute am südlichen Loire-Ufer gewählt hatten, um den Engländern aus dem Weg zu gehen. Da sie darauf brennt, nach all den zeitraubenden Vorbereitungen endlich in die Schlacht zu ziehen, fühlt sie sich vor den Kopf gestoßen und läßt sich nur schwer davon überzeugen, daß es in diesem Fall nicht aufs Kämpfen ankommt, sondern auf die zuverlässige Versorgung der zu befreienden Stadt.

Im Augenblick zweifelt Johann der Bastard selbst an dieser Entscheidung, denn seine Leute müssen den Nachschub nun auf Booten und Flößen gegen die Strömung über den Fluß bringen, doch der Wind bläst ihnen genau entgegen. Unschlüssig steht er am Ufer. In diesem Augenblick dreht der Wind und er kann Befehl geben, die Segel zu setzen. »Von diesem Augenblick an setzte ich große Hoffnung auf die Jungfrau, mehr noch als vorher«,19 erinnert er sich später.

Am Nachmittag des folgenden Tages reitet Johanna an der Seite des Kommandanten und mit einem Gefolge von Edelleuten in Orléans ein. Schon von weitem sind die Trommler und Trompeter zu hören. Dann taucht das in Blois für Johanna genähte weiße Banner auf: damit schreitet ein Fahnenträger dem Zug voran. Jubelnd drängen sich die Bewohner um Johannas Pferd, küssen ihr die Hände und den Saum ihres Umhangs, während die Kinder wie bei einer Prozession brennende Kerzen in der Hand halten. Das also ist die von Gelehrten geprüfte, von Gott gesandte Jungfrau, die gekommen ist, um Orléans zu befreien!

Vertraut man ihr das Kommando über einen Truppenteil an? Häufig wird Johanna zur Heerführerin verklärt, aber das Bild ist falsch: Die aristokratischen Offiziere glauben an ihre Sendung, aber sie würden keine Befehle eines Mannes aus dem Volk befolgen, und schon gar nicht die eines unerfahrenen Bauernmädchens. Johanna mag eine Visionärin sein, aber worauf es bei der Kriegsführung ankommt, kann sie nicht sehen, und wie sollte sie ohne militärische Kenntnisse eine Einheit führen? Nein, ihre Rolle wird eine andere sein.

Einer der beiden Herolde, die Johanna ins englische Hauptquartier schickt, um die Gegner zum Abzug aufzufordern, wird gefangengenommen. Sie tobt, denn sie versteht: Durch diesen Verstoß gegen das Kriegsrecht drücken die Engländer aus, daß sie die Jungfrau und deren Sendung mißachten.

Mit einem Pfeil läßt sie einen Fehdebrief ins feindliche Lager schießen.

Am 7. Mai frühmorgens erschallen in Orléans die Fanfaren.

Die königlichen Truppen greifen die in einer Festung vor der Stadt verschanzten Feinde an. In den vorderen Reihen sehen die Soldaten Johanna: Hoch aufgerichtet sitzt sie im Sattel und reckt ihr Banner zum Himmel.

Ihre Landsleute rennen gegen das Bollwerk an, werden zurückgeworfen, sammeln sich, stürmen erneut nach vorn – aber die Engländer wehren die Attacken ab.

Um die Mittagszeit hilft Johanna mit, eine der zahlreichen Sturmleitern an die Festungsmauer zu lehnen; da trifft sie der Bolzen einer Armbrust an einer ungepanzerten Stelle unterhalb des Halses. Sie stürzt zu Boden. Kameraden tragen sie weg und legen sie im Schutz einiger Sträucher ins Gras. Laut schreit sie auf, als ihr ein Soldat das Geschoß herausreißt. Ein anderer reicht ihr ein Amulett, aber Johanna weist es zurück: »Ich würde lieber sterben, als das tun, was ich für Sünde halte und gegen Gottes Willen.«20 Sie wimmert vor Schmerz, während ihr zwei Männer den Harnisch öffnen, die Wunde mit Olivenöl beträufeln, Speck auflegen und sie verbinden.

Nach kurzer Zeit sehen die Angreifer das Mädchen mit dem weißen Banner erneut an ihrer Spitze.

Gegen Abend ermatten die Franzosen und glauben nicht mehr, die Engländer überwältigen zu können.

Wenn sie Orléans aufgeben, ist der Krieg entschieden!

Lange redet die Jungfrau auf den Kommandanten ein, bis sie ihn davon abbringt, den Rückzug zu befehlen. Johanna stürmt nach vorne. Ihr Fahnenträger steigt bereits in den Burggraben hinunter, da greift sie aus irgendeinem Grund nach ihrem Banner, packt es an einem Zipfel und rüttelt daran. Die Franzosen, die das für ein Zeichen halten, greifen noch einmal an – und nun gelingt es ihnen, die englische Abwehr zu überwinden und die Feinde aus der Festung zu vertreiben.

Ist das nicht paradox? Gerade weil sie die Realität nicht wahrhaben will, glaubt Johanna noch an den Sieg, wenn die erfahrenen Soldaten aufgrund ihrer wirklichkeitsnäheren Einschätzung der Lage bereits aufgeben – und am Ende behält die Bauerntochter recht.

»Sie tritt auf mit einem simplen Programm, das auf wenigen simplen Ideen beruht ... Und nur, weil sie die wirklichen Zusammenhänge nicht kennt oder schlicht ignoriert, gelingt es ihr, zu denken und zu wollen, was andere für unmöglich halten.«21 »Ihr Mut und ihre Überzeugung waren übermenschlich. Sie waren von der Art, die keinen Zweifel und kein Hindernis kennt. Ihr ungebrochener Glaube war das Geheimnis ihrer Stärke. ... Ihre Grundehrlichkeit war es, was sie befähigte, verzagte Männer mitzureißen und widerstrebende Fürsten ihrem Willen zu beugen.«22

Am nächsten Morgen verlassen die Engländer auch die anderen Stellungen: Für einige Zeit stehen die feindlichen Heere einander drohend gegenüber. Ein Chronist schildert diesen Sonntag morgen: »... räumten die Engländer ihre Schanzen, hoben ihre Belagerung auf und zogen in die Schlacht. ... Darum kamen die Jungfrau und mehrere andere tapfere Kriegsleute und Bürger mit großem Aufgebot aus Orléans heraus und stellten sich vor ihnen in Schlachtordnung auf, eine ganze Stunde lang und einander sehr nahe, doch ohne sich zu berühren.«23 Johanna schärft ihren Leuten ein, sich an das sonntägliche Kampfverbot zu halten, im Fall eines englischen Angriffs jedoch unverzüglich zurückzuschlagen.

Nach einiger Zeit zieht die englische Streitmacht ab.

Orléans ist frei!

Den Erfolg verdanken die Franzosen ihren gut geführten Truppen – und Johanna, weil sie durch ihre unerschütterliche Siegeszuversicht die Soldaten mitriß. Die wundergläubigen Zeitzeugen sehen in der gelungenen Befreiung von Orléans das erhoffte Zeichen: Offensichtlich wurde die Jungfrau von Gott gesandt, um den Franzosen zu helfen; gewiß wird sie auch den zweiten Teil ihrer Mission erfüllen und Karl VII. zur Krönung nach Reims führen. In dieser Zuversicht scharen sich die Franzosen um ihren König, und es entsteht ein französisches Nationalgefühl: »Der alte Glaube und der neue Patriotismus«24 verbinden sich zu einer unwiderstehlichen Kraft. Die Jungfrau von Orléans, die ein zu Boden getretenes Frankreich seelisch wieder aufrichtet,25 wird zum »Symbol der Freiheit und zur Integrationsfigur des nationalen Befreiungskampfes.«26

Niemand beeinflußt 1429 den Verlauf der Geschichte mehr als sie; ihr Auftreten stellt eines der bedeutendsten Ereignisse des Hundertjährigen Krieges dar, vielleicht sogar »eines der merkwürdigsten bzw. wunderbarsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit«.27

Aber nicht aus Dankbarkeit, sondern wegen der Propagandawirkung beeilt sich die königliche Kanzlei, die Jungfrau von Orléans zur Heldin einer von Gott gewünschten Rettung zu stilisieren und eine Legende zu begründen.28

Die Krönung in Reims

Die Jungfrau drängt nun darauf, mit dem Dauphin geradewegs nach Reims zu ziehen: »Erlauchter Dauphin, haltet nicht so langen und ausgedehnten Rat! Kommt so bald wie möglich nach Reims, um Eure würdige Krone zu empfangen!«29

Aber der König will zuerst die englischen Garnisonen aus der Umgebung des Loire-Übergangs bei Orléans vertreiben, um zu verhindern, daß die Feinde das Loch in der Front schließen. Denn was nützte ihm die Krönung, wenn er anschließend nicht zurückkehren könnte und obendrein vom Nachschub abgeschnitten wäre?

Der siegreiche Loire-Feldzug festigt das Ansehen der Jungfrau: Wenn sie den Männern Mut macht, können ihnen die Gegner offenbar nicht widerstehen. »Die Feinde fliehen, sobald sie Johanna von Orléans erblicken!« Das gehört zwar in den Bereich der Legende, aber die Vorstellung von ihren übernatürlichen Kräften wirkt wie ein Stabmagnet: Während sich zahlreiche englische Soldaten vor einem Einsatz auf dem Kontinent drücken, weil sie das Mädchen wie eine Hexe fürchten, verbreitet es auf der anderen Seite Hoffnung und zieht immer neue Freiwillige an, die sich in die königliche Armee drängen und sie rasch auf zwölftausend Mann anwachsen lassen.

Die militärischen Aussichten der Franzosen sind selten günstiger: die eigenen Truppen hoch motiviert, das Volk begeistert, die gegnerischen Streitkräfte geschlagen und hoffnungslos. Das königliche Heer könnte in vier Tagen nach Paris marschieren, um die Feinde aus der Hauptstadt zu vertreiben, aber Karl VII. nutzt weder den eigenen Schwung noch die Verwirrung der Feinde, sondern verhandelt mit Herzog Philipp dem Guten von Burgund, weil er glaubt, zuerst die feindliche Allianz spalten und die Burgunder auf seine Seite ziehen zu müssen.

Allerdings zieht er mit seinem Heer tief in das besetzte Gebiet, zur traditionsreichen Krönungsstadt Reims30. Am 16. Juli – einen Monat nach dem Loire-Feldzug – überbringt ihm eine Abordnung die Schlüssel der Stadt, und die englischburgundische Garnison macht sich davon. Begleitet von Würdenträgern und Truppenführern reiten Karl VII. und Johanna noch am gleichen Tag durch die von neugierigen Bürgern gesäumten Straßen. Die Nacht verbringt Karl in der gotischen Kathedrale. Am anderen Morgen werden die Tore geöffnet; die Orgel ertönt. Prälaten und Herzöge, der Magistrat und die Patrizier der Stadt nehmen ihre Plätze in der nach Weihrauch duftenden Kirche ein, während sich das Volk auf dem Platz davor drängt, um nichts von der fünf Stunden dauernden Zeremonie zu versäumen.

Die Bischöfe tragen ihre goldverzierten Prunkornate, Karl VII. ist zunächst nur mit einem langen weißen Hemd bekleidet. Mit dem Gesicht nach unten liegt er auf dem Boden vor dem Altar, bis ihn der Erzbischof auffordert zu knien und ihn an Stirn, Brust, Schultern und Armgelenken salbt. Nachdem er den Krönungseid gesprochen hat, helfen ihm die Bischöfe in einen karminroten Mantel. Der leuchtend blaue Umhang, den sie ihm um die Schultern legen, ist mit silbernen Bourbonen-Lilien bestickt. Als der Erzbischof dem König die Krone aufsetzt, kann sich die Jungfrau, die mit ihrem Banner neben dem Altar steht, nicht mehr zurückhalten: Sie kniet schluchzend vor Karl VII. nieder und umfaßt seine Beine.

Auf Umwegen nach Paris

Die burgundischen Unterhändler verständigen sich mit ihren französischen Verhandlungspartnern auf einen vorerst zweiwöchigen Waffenstillstand. Karl VII. übersieht, daß er sich damit verpflichtet, zwei Wochen lang abzuwarten, während die Engländer ebenso wie die Burgunder die gewonnene Zeit eifrig nutzen, um ihre Stellungen zu verstärken. Obwohl Johanna das burgundische Doppelspiel zunächst ebensowenig wie der König durchschaut, hält sie nichts von dem Waffenstillstand und drängt statt dessen zum Aufbruch, um Paris gewaltsam zu befreien. Sie neigt mehr zum Kämpfen als zum Verhandeln. Anders als die bedenkenlose Draufgängerin zaudert der König: Aufgrund seiner Bildung und der ihm zugetragenen Nachrichten verfügt er über eine komplexere Vorstellung von der Lage und muß mehr Argumente gegeneinander abwägen, bevor er eine Entscheidung treffen kann. Es fehlt ihm aber auch an Zuversicht und Selbstvertrauen.

Während sich das königliche Heer in Compiègne endlich auf den Angriff vorbereitet, erhält Johanna folgenden Brief des Grafen von Armagnac: »Hochverehrte Herrin, ich wende mich in aller Bescheidenheit an Euch und bitte Euch um Gottes willen angesichts der gegenwärtigen Spaltung der heiligen allgemeinen Kirche in Sachen der Päpste31 um Rat: Denn es gibt drei, die einander das Papsttum streitig machen: Der eine, der sich Martin V. nennt, lebt in Rom, und ihm gehorchen alle christlichen Könige; der zweite, der sich Papst Clemens VII. nennt, lebt in Peñiscola im Königreich Valencia. Von dem dritten, der sich Papst Benedikt XIV. nennt, weiß niemand, wo er sich aufhält ... Ich bitte Euch nun inständig, Unseren Herrn Jesum Christum anzuflehen, daß Er uns durch Euch zu wissen tue, welcher der drei genannten Päpste der wahre sei und welchem man von nun an gehorchen solle: Martin, oder Clemens, oder Benedikt, und welchem wir glauben sollen, im geheimen oder offen, denn wir sind unbedingt bereit, nach dem Willen und Gefallen Unseres Herrn Christus zu handeln.«

Johanna antwortet: »... Darüber kann ich Euch im Augenblick nicht die Wahrheit sagen, ehe ich nicht in Paris oder anderswo in Ruhe bin, denn im Augenblick beschäftigt mich die Kriegführung zu sehr. Aber sobald Ihr wißt, daß ich in Paris bin, sendet mir einen Boten, und ich lasse Euch ehrlich und nach bestem Vermögen wissen, wem Ihr glauben sollt, so wie ich es durch den Rat meines allerhöchsten Herrn, des Königs der ganzen Welt, erfahre, und was Ihr zu tun habt.«32

Wegen des bevorstehenden Kampfes kümmert sich die Jungfrau wieder verstärkt um das Seelenheil der Soldaten, aber als sie eine Lagerdirne verjagt und dabei mit dem flach gehaltenen Schwert zuschlägt, bricht die Klinge. Ein böses Omen?

Am 8. September halten Johanna und die Truppenführer das Warten nicht mehr aus. Die Jungfrau spricht mit ihrem Beichtvater:33

»Ich will die Gräben von Paris überschreiten.«

»Heute?«

»Ich weiß: am Tag von Mariae Geburt. – Gott wird mir verzeihen.«

»Prüfe dich wohl, Johanna, an einem Feiertag zu kämpfen, ist eine schwere Sünde. Eine noch schwerere ist es, gegen sein Gewissen zu handeln.«

»Ich habe mich entschieden.«

»Du bist ganz bleich.«

»Ich habe heute morgen gebetet, mit aller Kraft. Meine Stimmen waren da. Sie haben mir nicht verboten, zu kämpfen.«

»Haben sie dir geraten, zu kämpfen?«

Johanna schüttelt den Kopf: »Sie haben mir viele Dinge gesagt, viele gute und viele freundliche.«

»Warum weinst du?«

»Nun, weil ich Komplimente eigentlich nicht wollte. Was ich wollte, war ein Befehl, eine Anweisung. Doch nichts, nichts; weder dafür noch dagegen. Vorher war es klar, es war einfach: Orléans, danach Reims. Und was ist jetzt? Was soll ich machen?«

»Du solltest bist morgen warten. Ein Wort von dir, und sie lassen die Vorbereitungen ruhen.«

»Nein, ich will Paris. Es ist das Herz des Königreichs ...«

»Was willst du von mir? «

»Eure Absolution; ich will Euren Segen.«

»Gott sei mir dir.« Er macht das Kreuzzeichen. »Ego te absolvo. Amen.«

»Amen.« Und nach einer Pause murmelt sie: »So wird es gehen.«

Wieder ist Johanna mit ihrem Banner in den vorderen Reihen zu sehen. Vor einem tiefen Festungsgraben, hinter dem die mächtige Stadtmauer aufragt, kommen sie zum Stehen. Johanna verlangt von den Männern, daß sie Karren und Reisig ins Wasser werfen und Bretter darüber legen, damit sie auf die andere Seite gelangen können. Inmitten des Lärms prüft sie mit einer Lanze die Wassertiefe. In diesem Augenblick durchschlägt ein Armbrustbolzen ihre Beinschiene. Sie wird fortgetragen, verbunden und kann nicht mehr aufstehen. »Und als sie getroffen war, verlangte sie nur noch eindringlicher, alle sollten sich über die Mauern hermachen und die Stellung nehmen.«34 Von ihrem Platz aus kann sie zwar den Franzosen nicht länger Mut machen, aber sie verfolgt deren vergebliches Anrennen gegen die Pariser Stadtmauern laut schimpfend – und gegen Abend protestiert sie gegen den vom König befohlenen Rückzug.

Die Gefangennahme

Einige Wochen nach der Niederlage begleitet Johanna eine kleine Armee, die gegen einen Abenteurer auszieht, der sich vom burgundischen Herzog dafür bezahlen läßt, daß er mit seiner Bande gegen die Franzosen kämpft.

Was für ein Abstieg!

Jean d’Aulon, der bei Johanna geblieben ist, wird am 28. Mai 1456 in Lyon schildern, was vor einer Festung des Gegners geschieht, als die königstreuen Soldaten nach einem gescheiterten Ansturm abziehen und Johanna zurückbleibt: »Ich fürchtete Schlimmes, bestieg ein Pferd, hielt sogleich auf sie zu und fragte sie, was sie da so allein täte und warum sie sich nicht wie die anderen zurückziehe. Und sie? Sie nahm ihren Helm vom Kopf und sagte mir: ›Ich bin nicht allein. Ich habe in meiner Gefolgschaft noch fünfzigtausend Mann. Und ich werde von hier nicht weichen, bis die Stadt unser ist!‹ Und ich versichere, daß sie in diesem Augenblick nicht mehr als vier oder fünf Männer bei sich hatte.«35 Wie bei der Befreiung von Orléans lassen sich die Soldaten durch die unbeirrbare Zuversicht der Jungfrau auf einen neuen Angriff ein, der ihnen zum Sieg verhilft.

Trotzdem scheitert der Feldzug gegen die burgundischen Söldner.

Als sich Herzog Philipp der Gute sicher genug fühlt, versucht er nicht länger, seine wahren Absichten zu verbergen: Er zieht im Frühjahr 1430 Truppen zusammen und bereitet sich auf neue Schlachten vor. Karl VII. sieht ein, daß er sich von dem Burgunder täuschen ließ. Und während dieser einen klaren Plan verfolgt und mit englischer Unterstützung rechnen kann, ist der französische König auf die kommende Konfrontation nicht vorbereitet.

Im Mai 1430 – ein Jahr nach der Befreiung von Orléans – reitet Johanna an der Spitze von Freischärlern nach Compiègne, denn Philipp der Gute zieht eine starke Streitmacht um die nordfranzösische Stadt zusammen. Aber Johanna wagt einen Ausfall: Sie führt fünfhundert Männer zu einem der feindlichen Truppenlager, und weil man sich dort in Sicherheit wähnt, gelingt die Überrumpelung.

Doch zufällig reitet zur gleichen Zeit der burgundische Befehlshaber Johann von Luxemburg mit einigen Offizieren zu dem überfallenen Stützpunkt und beobachtet von einem nahegelegenen Hügel aus, was sich dort abspielt. Sofort galoppieren Reiter zurück, holen Verstärkung. Auf diese Weise gelingt es den Burgundern, die Angreifer nach Compiègne zurückzudrängen.

Der Stadtkommandant ließ während des Ausfalls die über die Oise führende Brücke besetzen, um den Freischärlern den Rückzug zu sichern, aber als die Burgunder seine Männer in die Flucht schlagen, befiehlt er, das Stadttor zu verriegeln.36

Ein Chronist berichtet über das Geschehen vor dem verschlossenen Tor: »Und die Jungfrau, die ihre weibliche Natur verleugnete, bekam die ganze Last zu spüren und bemühte sich sehr, ihre Truppe zu retten, indem sie als Kommandant und als die Tapferste der Herde hinter ihnen und die letzte blieb ... Einen [burgundischen] Bogenschützen, einen unbeugsamen und recht mürrischen Mann, verdroß es sehr, daß eine Frau, von der man immerfort gehört hatte, so viele tapfere Männer zurückschlagen sollte, er packte sie bei ihrem Umhang aus Goldstoff und zog sie vom Pferd, so daß sie flach auf den Boden fiel.«37

Im Kerker

Nach einigen Tagen läßt Johann von Luxemburg seine an Händen und Füßen gefesselte Gefangene auf dem Rücken eines Pferdes in eine Festung bringen. Um aus ihrem Kerker zu entweichen, reißt die Achtzehnjährige Bretter aus dem Fußboden; den ahnungslosen Turmwächer sperrt sie ein, aber von der Torwache wird sie entdeckt und aufgegriffen. In einer anderen Burg springt sie von einem Turm, zwanzig Meter tief. Wollte sie fliehen oder sich das Leben nehmen? Jedenfalls erwacht sie nach kurzer Zeit aus ihrer Bewußtlosigkeit und stellt fest, daß sie sich nur leicht verletzte.

Während der französische König weder ein Lösegeld noch einen Gefangenenaustausch anbietet, um die im Jahr zuvor gefeierte und für politisch-militärische Zwecke ausgenutzte Jungfrau von Orléans zu retten, hängen sich die Engländer wie Kletten an sie und setzen alles in Bewegung, um sie zu vernichten. Übersieht Karl VII., daß er damit selbst in Mißkredit gebracht werden soll? Die Engländer wollen nicht nur Johannas lähmende Wirkung auf ihre Truppen beseitigen, sondern zugleich beweisen, daß Karl VII. seine Krönung einer Ketzerin verdankt.

Monatelang verhandelt der französische Bischof Pierre Cauchon im Auftrag des Herzogs von Bedford mit den Burgundern über die Herausgabe der Gefangenen. Die Universität von Paris drängt: »Wir sehen mit äußerstem Erstaunen, daß sich die Übergabe dieser gemeinhin die Jungfrau genannten Frau zum Schaden des Glaubens und der kirchlichen Rechtsprechung so lange verzögert.«38

Die Engländer treiben in der Normandie eine Sondersteuer ein, um Ende 1430 ein Vermögen für die Auslieferung Johannas bezahlen zu können.

Pierre Cauchon soll auch das kirchliche Gerichtsverfahren leiten. Der Herzog von Bedford wählt dafür einen Ort, an dem er weder einen Aufstand der Bevölkerung noch einen Angriff des französischen Königs fürchtet: Rouen, die bedeutende Hafenstadt an der Seine, die sich 1419 nach monatelanger Belagerung ergab.

Die Vertreter der Kirche wollen mit dem Prozeß zwar beweisen, daß Johanna von Orléans keine übernatürlichen Kräfte zur Verfügung stehen, aber um ganz sicherzugehen, daß sie nicht durch einen Zauber entflieht, sperren sie die Jungfrau nicht in ein Kloster, sondern in einen der Türme des Stadtschlosses und lassen einen engen Eisenkäfig für sie schmieden. Der wird zwar nicht benutzt; aber man legt ihr Fußeisen an und verbindet diese mit einer kurzen Kette, um ihr das Gehen zu erschweren. Nachts wird sie damit an einen mächtigen Holzklotz gefesselt.

Acht englische Kriegsknechte bewachen sie.

Während die französischen Soldaten ihr Idol niemals sexuell belästigten, machen sich die englischen Bewacher einen Spaß daraus, die wehrlose Gefangene durch obszöne Gesten zu erschrecken und ihr eine Vergewaltigung zumindest anzudrohen.

Der Prozeß

Am 9. Januar 1431 eröffnet Pierre Cauchon das Verfahren.

Ein Notar ermittelt in Johannas Heimat gegen sie, befragt mehr als ein Dutzend Zeugen, erfährt jedoch nichts Belastendes. (Cauchon wird deshalb so wütend, daß er sich weigert, ihm die Reisekosten zu erstatten.)

Seit dem Tag, an dem sie ihr Heimatdorf verließ, hört Johanna auf ihre Stimmen, auf niemand sonst, und es gibt keinen Menschen, dem sie sich anvertraut. Einen Verteidiger lehnt sie ab. Allein tritt sie den bis zu sechzig Gelehrten und Würdenträgern gegenüber, spitzfindigen Doktoren der Theologie, die im Gegensatz zu dem Bauernmädchen Erfahrung mit solchen Gerichtsverfahren haben. »Nie trat ihre Glaubensgewißheit, ihre Lauterheit, ihre Standhaftigkeit, ihre geistige Kraft und Wachheit heller zutage, und nie war sie menschlicher, rührender und größer in ihrer Menschlichkeit.«39

Gelegentlich ermahnt Johanna die durcheinander auf sie einredenden Herren, ihre Fragen der Reihe nach zu stellen. Unerschrocken sagt sie aus, und kaum jemals verliert sie ihre Standfestigkeit. Selten läßt sie sich von einer der Autoritätspersonen einschüchtern; nie gibt sie auf. Mitunter geht sie sogar zum Angriff über, etwa wenn sie Pierre Cauchon droht: »Du sagst, du bist mein Richter. Sei mit dem, was du tust, vorsichtig, denn ich bin in Wahrheit von Gott gesandt, und du begibst dich in große Gefahr.«40

Erstaunlich ist es, wie sie sich in der für sie ungewohnten verbalen Auseinandersetzung zurechtfindet; wach und instinktiv umgeht sie viele der ausgelegten Fallen, zum Beispiel als sie gefragt wird: »Johanna, seid Ihr gewiß, im Stande der Gnade zu sein?« (Das könne niemand wissen, lehrt die Kirche. Also: Behauptet Johanna, im Zustand der Gnade zu sein, wird ihr das als ketzerische Anmaßung ausgelegt; sagt sie das Gegenteil, gibt sie ihre Schuld zu.) Sie erwidert auf die Fangfrage: »Wenn ich es nicht bin, möge mich Gott dahinbringen, wenn ich es bin, möge mich Gott darin erhalten!«41

Bisweilen reagiert sie mit Spott und Ironie, obwohl sie weiß, daß es um Leben und Tod geht: Ob die heilige Margareta englisch geredet habe? »Warum sollte sie englisch sprechen, da sie nicht auf der Seite der Engländer ist?«42