Katharina Schendel wurde 1979 in Karlsburg geboren und studierte Geschichte, Kommunikationswissenschaften und Japanologie. Nach längeren Aufenthalten in Tokio und London zog es sie in ihre Heimat Thüringen zurück. Heute lebt sie dort mit ihrem Mann und ist im Bereich Marketing und Öffentlichkeitsarbeit tätig. »Tod an der Gera« ist ihr erster Kriminalroman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: photocase.de / cydonna
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-237-1
Thüringen Krimi
Originalausgabe
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Für Dorothea und Holger – meine Helden
Teil 1
1
Wenn Maik Brennike geahnt hätte, dass er am Montag sterben würde, dann hätte er das Wochenende blaugemacht. Er wäre bis zum späten Nachmittag im Bett geblieben, um sich ganz seinen drei Lieblingsbeschäftigungen hinzugeben: Schlafen, Fernsehen und Nichtstun. Nach dem Aufstehen hätte er sich ein ordentliches Frühstück gegönnt, mit Sekt statt Bier und mit Bratkartoffeln, Rühreiern und kross gebratenem Speck statt der üblichen fünf Zigaretten. Dann wäre er zu seiner Mutter gefahren und hätte das Kriegsbeil begraben. Das nach all der Zeit langsam schon an zu rosten, und tief in seinem Inneren empfand er tatsächlich so etwas wie Liebe für sie. Nur fiel es ihm schwer, das zuzugeben. Ja, er wäre zu ihr gefahren, hätte sie gedrückt und ihr gesagt, dass er sie lieb habe und sie sich bloß keine Sorgen um ihn machen solle. Dass sie nicht schuld an seinem verkorksten Leben sei. Am Abend hätte er sich mit seinen Kumpels getroffen und die Party des Jahrhunderts steigen lassen. Die Discos und Kneipen der Umgebung gecheckt, ein paar Mädels aufgerissen und sich mit seiner bevorzugten Mischung aus Marihuana, Wodka und lauter Musik in knallbunte Sphären geraucht.
Doch Maik Brennike hatte keine Ahnung, dass sein Leben sehr bald enden würde. Über den Tod machte er sich keine Gedanken. Das hatte er noch nie getan. Nicht einmal, als sein Vater gestorben war. Darum spulte er auch an diesem Wochenende das gleiche Programm ab wie schon in den ganzen Wochen und Monaten zuvor.
Am Samstagmorgen torkelte er schlaftrunken in sein winziges Bad, schaute in einen verdreckten, kaputten Spiegel, der über dem Waschbecken hing, und gähnte. Er bleckte kurz die windschiefen Zähne, dann hielt er seinen Kopf unter den Wasserhahn. Das eiskalte Wasser verursachte einen heftigen Schmerz, als würde sein Kopf in einen Schraubstock gespannt und langsam zermalmt werden. Nach einer Weile ließ der Schmerz nach, und ein Gefühl der Erlösung machte sich in ihm breit. Er tauchte wieder auf, rubbelte erst sein Gesicht, dann seine stoppeligen matschbraunen Haare trocken.
Maik blickte noch einmal in den Spiegel. Wie Anfang vierzig sah er aus, obwohl er gerade erst einundzwanzig geworden war. Strafmündig. Das Wort dröhnte unheilvoll in seinen Ohren.
In den Knast wollte er nie wieder. Das war der Antrieb, der ihn dazu brachte, jeden Abend den Wecker zu stellen, jeden Morgen aufzustehen und den Kopf unter den Wasserhahn zu halten. Sechs Monate Jugendgefängnis hatten ihm voll und ganz gereicht. Mehr war nicht nötig. Danke auch.
Maik Brennikes Karriere als Kleinkrimineller hatte damit begonnen, dass er mit sechzehn die Schule geschmissen hatte und in das blühende Geschäft mit Partydrogen eingestiegen war. Ein waschechter Dealer war er gewesen. Ganz schön cool. Damals. Doch heute sah es anders aus. Sozialdienst und Ausbeuterjobs standen nun auf dem Plan. Für Spaß und Action blieb ihm kaum noch Zeit.
Maik beendete seine morgendliche Körperpflege mit einem billigen Deospray und steckte sich eine Kippe an. Die erste des Tages war immer die Beste.
In der Küche kramte er in einer Dose etwas Kaffeepulver zusammen, entschied sich dann kurzfristig doch für ein kühles Bier. Bei der zweiten Zigarette griff er zum Telefon und wählte die Nummer von Natalie. Sie war seine längste Beziehung bisher: Seit dreieinhalb Monaten hatten sie regelmäßigen Telefonsex. Heute brachte sie ihn besonders gut in Fahrt, und Glimmstängel Nummer drei ging dabei drauf.
Die Zigarette danach genoss er, indem er einfach nur dasaß und ins Leere glotzte. Bei Kippe fünf blätterte er in einem uralten Comic-Heft. An der Stelle, wo Tom der Kater auf eine Rakete geschnallt durch die Luft saust und die kleine Maus Jerry triumphierend das Streichholz auspustet, musste Maik herzhaft lachen.
Zehn Minuten nach neun verließ er seine Wohnung. Die Frühlingssonne schien hell, und es roch nach frischem nassem Grün. In den Bäumen zwitscherten vergnügte Vögel. Er drückte sich die Kopfhörer seines MP3-Players in die Ohren. Im Takt dumpfer Bässe stapfte er in Richtung Schlossgarten. Er achtete nicht auf die Menschen um ihn herum, und auch die frisch erblühten Tulpen und Narzissen fielen ihm nicht auf. Der Weg war für ihn wie eine muffige Röhre aus grauem Beton, und er ging ihn stur und gedankenleer geradeaus.
Sein sozialer Sühneplan sah vor, dass er täglich vier Stunden im Schlossgarten den Dreck wegmachte. Man hatte ihn dazu verdonnert, dort, wo er früher nachts mit seinen Kumpels gefeiert und selbst jede Menge Müll produziert hatte, den Abfall von anderen Menschen wegzuräumen. Im Namen des Volkes. Es war wirklich zum Kotzen.
Was da alles rumlag. Alte Zeitungen und leere Verpackungen waren ja noch harmlos. Aber schmutzige Klobürsten, madenzerfressene Brotreste oder benutzte Kondome waren wirklich eine Schweinerei. Am meisten ekelte er sich vor den braunen Hundehaufen, die überall auf den Wiesen vor sich hin stanken.
Sie waren eine ganze Gruppe von Müllsammlern. Bis auf ihn und den alten Frank, der ebenfalls Pech gehabt hatte und hier seine Strafe ableistete, waren es in der Hauptsache Ein-Euro-Jobber.
So ein Fuck-Mist. Maik klaubte mit der Stockzange leere Bierflaschen und verstreut herumliegende Kippen auf.
Er sah in den Himmel. Ein Flugzeug zog hoch über ihm hinweg und hinterließ einen langen weißen Kondensstreifen im verlockenden Blau. Schon lange träumte er davon, wegzugehen und das alles hier hinter sich zu lassen. Einfach abdüsen. Nach New York oder Chicago.
Arnstadt war keine Weltmetropole. Ein kleines verschlafenes Kaff, das war es. Und ein dreckiges dazu. Was hielt ihn hier nur fest? Er war wirklich eine Memme.
Nach getaner Arbeit ruhte er sich auf einer Parkbank aus und aß eine Bratwurst. Dann nahm er den Bus und fuhr in die Stadtilmer Straße. Die Pizzeria »Mio Mario« hatte ihn vor einigen Wochen als Lieferjungen eingestellt. Miese Bezahlung und eine Schrottkarre von Lieferauto, aber immerhin ein Job.
Zwölf Lieferungen waren es an diesem Abend. Wie ein Roboter fuhr er durch die dunklen leeren Straßen, suchte nach Hausnummern und streckte fremden Menschen lauwarme Pizzaschachteln entgegen. Nicht ein einziges Mal gab es Trinkgeld für ihn. Natürlich nicht.
Kurz vor Mitternacht stopfte er eine Pizza Margarita in sich hinein. Viel lieber hätte er eine mit Schinken und Bockwurst gegessen, doch wenn es schon mal was umsonst gab, konnte man nicht so wählerisch sein. Dann trottete er nach Hause und fiel wie ein Stein ins Bett.
Am Sonntag wiederholte sich das Szenario, allerdings mit zwei Ausnahmen. Natalie hatte ihren Anrufbeantworter eingeschaltet und war nicht zu erreichen. Und Maik Brennike, der sich durch einen weiteren öden Tag schleppte, kam nie wieder zu Hause an.
Es passierte auf dem Heimweg. Maik nahm wie immer die Abkürzung durch den Schlossgarten. Wie immer war er tief in seine Musik versunken. Sein Blick war nach unten gerichtet, und er lief arglos durch die Dunkelheit.
Völlig unerwartet traf ihn ein harter Schlag und ließ ihn ohnmächtig zu Boden gehen.
Als er die Augen wieder aufschlug, pochte ein dumpfer Schmerz in seinem Kopf. Er lag auf dem Rücken und sah über sich die Sterne blinken. Sonst war alles dunkel. Seine Arme und Beine waren taub, und auch mit größter Anstrengung konnte er sie nicht bewegen. Auf der Suche nach der Ursache dieses Problems drehte er den Kopf zur Seite.
Er sah einen dicken eisernen Strang, der unter seinem Haupt entlangführte und sich zu seinen beiden Seiten in der Dunkelheit verlor. Etwas weiter konnte er einen zweiten, parallel laufenden Strang erkennen.
Maik erschrak. Seine Handgelenke waren direkt neben seinem Kopf an eine Bahnschiene gefesselt.
Nur einen halben Meter von ihm entfernt lag sein MP3-Player. Aus den Kopfhörern dröhnten die Bässe. Auch seine Beine waren gefesselt, woran, konnte er aber nicht erkennen. Er versuchte sich loszureißen, doch die Fesseln gaben keinen Millimeter nach.
Sein etwas zögerlicher Versuch, um Hilfe zu schreien, verebbte kläglich in der Dunkelheit. Wer würde ihn hier schon hören können? Doch höchstens derjenige, der ihn hierhergebracht hatte. Ob der Kerl ihn beobachtete? Sich daran aufgeilte, wie er völlig hilflos auf den Schienen lag?
»Komm raus, du Wichser!«, schrie Maik. »Macht dich das etwa an?«
Doch niemand antwortete ihm. Er war allein, umgeben vom dunklen Schatten der Bäume rechts und links der Gleise. Allmählich kroch die Kälte in seinen Körper, der immer mehr schmerzte.
»Feigling!«, schrie er wieder in die Nacht hinein. »Was habe ich dir denn getan?«
Ja, das war eine gute Frage. Was hatte er eigentlich getan? Zugegeben, er hatte in der Vergangenheit ziemlich viel Mist gebaut und sich dabei nicht immer nur Freunde gemacht. In der Drogenszene gab es Leute, die verstanden absolut keinen Spaß. Doch soweit er sich erinnerte, hatte er seine offenen Rechnungen stets beglichen. Fünfmal war er zusammengeschlagen worden, und immer hatte man ihn an Ort und Stelle liegen gelassen. Damit war die Sache erledigt gewesen. Diesmal war es anders, und sosehr Maik auch überlegte, er kam nur zu einem Schluss: Er musste einem völlig Verrückten in die Hände gefallen sein.
Da hörte er entfernt ein Geräusch, das ihn für einen winzigen Moment mit Hoffnung erfüllte. Es war ein sanfter, singender Ton. Doch diese sonderbare Musik drang nicht aus der Dunkelheit zu ihm, sondern schien direkt aus dem Gleis zu kommen. Wenige Augenblicke später begann der Boden unter ihm leicht zu vibrieren, und er vernahm ein Pochen, das nicht von seinem Herzen stammte. Ein Zug näherte sich.
Maik riss die Augen auf und gab einen verzweifelten Schrei von sich. »Verdammt!«
Er zog und zerrte an den Fesseln, bäumte sich auf und versuchte, wenigstens seinen Kopf in Sicherheit zu bringen. Doch es war sinnlos. Er schaffte es gerade, ihn ein paar Zentimeter anzuheben.
Das Pochen wurde lauter, und die Vibration des Bodens stärker. In der Ferne konnte er ein Licht sehen.
Maiks Herz hämmerte jetzt so schnell, als hätte er Ecstasy eingeworfen. Er schrie. Immer näher kam das Geräusch. Er schrie lauter. Immer näher kam das Licht. Schon war es gleißend hell.
Das Wummern in den Gleisen raubte ihm fast den Verstand. Maik schrie aus Leibeskräften. Der Zug war jetzt fast da.
Gebannt starrte er in die riesigen Scheinwerfer der Lokomotive. Wie ein Reh auf der Autobahn, kurz bevor es von einem Lastwagen erfasst wurde, war er zu völliger Bewegungslosigkeit verurteilt. Selbst wenn er nicht gefesselt gewesen wäre, hätte er keinen Finger mehr krümmen können.
Seine Schreie verstummten.
Mach’s gut, Mama. Es tut mir leid.
Die letzten Sekunden seines Lebens zogen sich wie eine Ewigkeit hin. Dann zerquetschte das schwere Eisenrad des Zuges seinen Schädel wie eine reife Wassermelone.
2
Willy Immelmann naschte für sein Leben gern. Ob Schokoladenzipfel, Krokantsplitter, Marzipankugeln, Baiserhauben oder Nougattrüffel – er liebte alles, was süß und klebrig war. Die kleinen Verführungen waren ebenso zahlreich wie teuer, doch Hüftgold, Zahnersatz und Bluthochdruck schienen dem Achtundvierzigjährigen ein akzeptabler Preis zu sein. Denn was soll’s, sagte er sich. Man lebt schließlich nur einmal.
Seine Leidenschaft hatte Willy Immelmann zu seinem Beruf gemacht. Er war gelernter Konditor und hatte vor zwölf Jahren seine Meisterprüfung abgelegt. In der Gothaer Straße besaß er ein dreistöckiges Haus, in dem er mit seiner Frau Roswita und seinen Töchtern Isabell und Vanessa wohnte und eine florierende Konditorei betrieb. Über das Geschäft konnte er wahrlich nicht klagen, seine Torten waren beliebt, und er genoss bestes Ansehen in der kleinen Stadt.
Mit ihm in der Backstube arbeitete sein Auszubildender Pascal, ein lieber, doch tollpatschiger Junge, der gern während der Arbeitszeit ein Nickerchen hielt. Zudem schien Pascal mehr Interesse an den Töchtern seines Meisters als am Erlernen der Backkunst zu haben. Um den Verkauf kümmerte sich Immelmanns Schwester Ute, seine Töchter halfen in den Ferien aus, und wenn es seine Zeit zuließ, stand er auch selbst gern hinter der Ladentheke, um den Kontakt zu seinen Kunden zu pflegen.
In der Immelmann’schen Feinbäckerei konnte man nicht nur traumhafte Torten und zuckersüßes Gebäck kaufen, hier befand sich auch, gleich nach dem Friseurgeschäft »Struppelpeter« in der Kohlgasse, der wichtigste Umschlagplatz für das alltägliche innerstädtische Gemunkel. Es war gar nicht nötig, dass Immelmann hinaus auf die Straße ging, und auch das teure Zeitungsabonnement hätte er sich eigentlich sparen können. Der Stadtklatsch drang sowieso bis in seine Backstube.
Manchmal schien es ihm, als ob die Leute eigentlich bloß zum Knetschen herkamen und so ganz nebenbei Kuchen oder Sonntagsbrötchen kauften. Meistens drehte es sich um die kleinen und großen Sorgen des zwischenmenschlichen Alltags: So erfuhr man in der Konditorei von den Liebeleien, Ehekrächen, Schwangerschaften, Vaterschaftstests, Scheidungen, Krankheiten und geriatrischen Gebrechen seiner Mitbürger, beziehungsweise man erfuhr das, was andere darüber zu wissen glaubten.
Doch seit dem gestrigen Tag war das anders. Seither sprachen die Menschen nur noch von dem schrecklichen Unglück, das sich in der Nacht zugetragen hatte. Ein junger Mann war unweit der Gera auf den Zuggleisen gleich hinter dem Schlossgarten gefunden worden. Viele tuschelten von Selbstmord.
Schlimm, wenn junge Menschen so verzweifelt waren und keinen anderen Ausweg mehr sahen. Das Leben einfach so wegzuwerfen …
Nein, das wäre nichts für Immelmann. Er könnte das nicht. Unter keinen Umständen. Das Leben war zu süß.
Die Verlockungen seiner Erdentage beschränkten sich für Konditormeister Immelmann nicht nur auf Naschwerk, sondern betrafen auch die holde Weiblichkeit. Einer schönen Frau konnte er genauso wenig widerstehen wie einem Stück Schwarzwälder Kirschtorte.
Zum Beispiel Frau Ballschuh, die junge Lehrerin aus der Fröbelstraße, die war wirklich eine Sünde wert. Wie die ihm immer zulächelte. Einfach herrlich! Daraus könnte noch etwas werden, dachte er und lächelte verschmitzt.
Bei diesem speziellen Laster lag der Preis jedoch um einiges höher, deshalb achtete Immelmann peinlichst darauf, dass seine Frau nichts von seinen gelegentlichen Seitensprüngen erfuhr. Doch das war nicht immer einfach an einem Ort, wo Gerüchte schneller entflammten als das Stroh in der Scheune.
Die sonst so unerschütterliche Ruhe und Beschaulichkeit des Ortes behagten ihm sehr. Er mochte die kauzige kleine Stadt und ihre Bewohner. Thüringen war Immelmanns Heimat, hier fühlte er sich verwurzelt und daheim. In Großstädten lebten die Menschen anonym und nahmen sich gegenseitig gar nicht wahr. Hier kannte man sich, bildete eine Gemeinschaft und stand sich bei in der Not.
Die familiäre Urlaubsplanung hatte Immelmann ein paarmal in andere Städte und Länder geführt. Doch nirgendwo war es so schön wie hier. Nirgendwo gab es dieses besondere Grün, das, einmal tiefdunkel und geheimnisvoll, dann wieder strahlend und funkelnd wie ein Smaragd, den Betrachter so fest in seinen Bann zog und die Dichter und Denker jeder Epoche inspiriert hatte. Völlig zu Recht wurde Thüringen das grüne Herz Deutschlands genannt. Die sanften Hügel und dichten Misch- und Nadelwälder waren einzigartig. Pascal, der gerne die Bücher von Tolkien las, sprach von Thüringen als dem »Auenland«. Denn wo sonst gab es Feengrotten, eine Drachenschlucht oder einen Königsstuhl?
Wozu brauchte man schon den Rest der Welt? Hier gab es doch alles, und das in Hülle und Fülle. Bereits Immelmanns Großvater hatte immer gesagt: Bleib im Lande und nähre dich redlich!
Ja, Willy Immelmann fühlte sich genau am richtigen Fleck, die Sonne schien, und sein Leben hätte nicht besser sein können. An diesem Morgen hatte er schon Cappuccino-Sahne-Schnitten, Mohnbrösel, Bienenstich, Kirschkrönchen und Schokoladen-Pfefferminz-Torten gebacken. Jetzt bereitete er sein berühmtes Thüringer Mandelgebäck zu. Dafür verrührte er Eier, Zucker, gemahlene Mandeln, Vanille und einen Schuss Bittermandelöl. Es war wichtig, den Teig lange und gründlich zu rühren, dann wurde das Gebäck weich und zart. Das würde Pascal wohl nie begreifen. Der ungeschickte Azubi machte gerade eine Pause und saß draußen auf einer Bank in der Sonne. Wahrscheinlich schlief er schon wieder.
Glücklich naschte Immelmann vom Teig. Ein bisschen viel Mandelöl vielleicht. Er fügte noch mehr Zucker und Vanille hinzu, rührte geduldig und kostete erneut. Seltsam, irgendwas schmeckte heute anders als sonst. Was war denn nur los?
Winzige Schweißperlen traten auf seine Stirn. Hatte er etwas falsch gemacht? Das war ihm ja seit seiner Ausbildungszeit nicht mehr passiert. Die Schweißperlen vermehrten sich. Erschöpft wischte er sie mit dem Ärmel ab, öffnete die Fensterluke und ließ sich auf einen kleinen Holzschemel fallen. Ihm war plötzlich ganz heiß und schwindlig, und er fühlte sich schwach. Die Backstube drehte sich wie ein Jahrmarktskarussell. Seine Kehle war trocken und rau. Wasser, er brauchte Wasser. Wie ein Verdurstender streckte er die Arme aus.
Den Wasserhahn erreichte Immelmann nicht mehr. Nach nur zwei Schritten knickten seine Beine ein, und er rang nach Luft. Verzweifelt klammerten sich seine Hände an der Tischplatte fest. Er sah nach oben und erblickte das Fläschchen mit dem Mandelöl.
Da wusste er es.
Der süße Tod war jetzt ganz nah.
3
Am Mittwochnachmittag um fünfzehn Uhr zweiundvierzig fand Hausmeister Jacobi den Dozenten der Arnstädter Kunstakademie, Joachim Kümmel, erhängt in seinem Atelier.
Die Schlinge des drei Zentimeter dicken Seiles war an einem sorgfältig polierten Haken befestigt, der tief in einem schwarz lackierten Holzbalken steckte.
Der Körper des Toten war nackt und mit verschiedenen Acrylfarben bemalt. Auf Brust, Bauch und Rücken leuchteten verschnörkelte Ornamente aus Indischgelb, Karmesinrot und Phthalogrünblau. Umgeben von Skizzen, Porträtzeichnungen und zwei Meter großen Ölgemälden, die an die Wände gelehnt und zu Dutzenden gestapelt waren, baumelte die Leiche wie ein makabres Kunstwerk von der Decke. Die schlaffe kalkweiße Haut des Mannes war zur Leinwand degradiert.
Noch am Tag zuvor hatte Joachim Kümmel diese Farben selbst benutzt. Sein neuestes Werk »Höllenengel« stand feucht und unvollendet auf der Staffelei.
Der Vierzigjährige war vor gut einem Monat von Hamburg in die thüringische Provinz gezogen und hatte seine Lehrtätigkeit an der Kunstakademie begonnen. Das altehrwürdige Gebäude strahlte Eleganz und Erhabenheit aus. In der Mitte des von Kastanienbäumen und Rosensträuchern umsäumten Vorplatzes plätscherte eine Wasserfontäne. Mild und weise lächelten vier Steinfiguren über dem majestätischen Eingangsportal.
Kümmels Atelier befand sich in einem Seitengebäude, das durch einen Laubengang mit dem Haupthaus der Akademie verbunden war. Die unmittelbar an das Atelier angrenzende Wohnung war nur zur Hälfte möbliert, ein halbes Dutzend Umzugskartons und ein weiteres halbes Dutzend Bücherkisten kündeten noch von seinem Einzug. Überhaupt präferierte er einen modernen, puristischen Stil aus Leder und Chrom. Auf Vorhänge verzichtete er ganz, damit die Welt ungehindert zu ihm hereinstrahlen konnte.
Von dem großen Fenster seines Ateliers aus konnte er auf den Vorplatz der Akademie schauen. Auf der rechten Seite lag das Schlossmuseum, ein ehemaliges Fürstliches Palais aus dem frühen 18. Jahrhundert. Die großzügige Dreiflügelanlage war zur Hälfte renoviert und träumte in ihrem Dornröschenschlaf vom Glanz vergangener Zeiten. An dem unsanierten Teil der Fassade hatte man eine Kunststoffplane angebracht, die mit historischen Szenen und Persönlichkeiten der Stadt bemalt worden war.
Kümmels Blick folgte oft den vorbeitippelnden Fußgängern auf den Bürgersteigen der schmalen Straße, die sich zwischen Museum und Akademie entlangschlängelte. Die Menschen gingen hier um ein Vielfaches langsamer als in der norddeutschen Hansestadt. Leichtfüßig schlenderten und bummelten sie durch ihre kleine heile Welt und schienen damit äußerst glücklich zu sein. War es nicht das, wovon er immer geträumt hatte? Ein Ruhepol, ein entschleunigter Kosmos?
Eigentlich hätte ihm die Umstellung von Groß- zu Kleinstadt Schwierigkeiten bereiten müssen, doch tatsächlich war es ganz das Gegenteil. Denn er war hierhergekommen, um ein neues Leben zu beginnen. Das alte, in dem sich seine Frau von ihm hatte scheiden lassen, weil einige aufgebrachte Alsterwegpassanten ihn wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angezeigt hatten, taugte nicht mehr viel. In seiner neuen Heimat wusste kaum jemand, dass er wegen seines unkontrollierbaren Zwangs, sich öffentlich zu entblößen, im Zentralcomputer der Polizei gemeldet war.
Die Kunst hatte ihm bei der Bewältigung seiner Situation sehr geholfen. Er wusste jedoch, dass es auch die Kunst sein würde, die ihn früher oder später dazu bringen würde, wieder das zu werden, was er in seinem innersten Kern war: ein hochkreativer Exhibitionist.
In der neuen Umgebung hoffte er Ruhe zu finden. Ruhe und Konzentration. Vormittags hielt er vor etwa zwanzig Jungstudenten Vorlesungen zur Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts sowie Praxisseminare zur Malerei. Ansonsten bevorzugte er die völlige Abgeschiedenheit. Auch von seinen Kollegen sonderte er sich ab und vertiefte sich stattdessen in seine Arbeit. Seitdem die Akademie ihre Tore geöffnet hatte, war er wirklich produktiv gewesen. Vierzehn Ölgemälde hatte er geschaffen, an dem fünfzehnten arbeitete er gerade. Das Zentrum des Gemäldes »Höllenengel« bildeten blassblaue, ineinander verschlungene Körper, umgeben von aufdringlichem Rot und Orange, das zuerst in zaghaften Spritzern und zum Rand hin immer verschwenderischer aufgetragen war. Er wollte eine Explosion malen, einen wilden orgastischen Schrei.
Es musste raus aus ihm. Alles. Diese ganze Flut an Gefühlen, gegen die er so besessen ankämpfte. Er strebte nach dem Gefühl totaler Leere in sich. Nur dann wäre er wirklich frei. Doch jedes Mal, wenn er es fast geschafft hatte, tauchten neue Emotionen in ihm auf. Gedankenfetzen, verzerrte Bilder aus seiner Vergangenheit. Es kommt zurück, dachte er. Alles kommt wieder zurück. Ein nie endender Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gab.
Am Mittwoch hatte er nicht gemalt. Stattdessen hatte er sich vor seinen Bildern entkleidet. Verzückt hatte er sich ganz seinem Verlangen hingegeben und diese neue Situation genossen, in der er seine Nacktheit unbeschwert und ohne Bedenken ausleben konnte, in der die Bilder für ihn zum Leben erwachten und zu Betrachtern wurden. Ja, sie hatten ihn betrachtet. Aufrichtig, still und ohne Vorurteil.
Gegen dreizehn Uhr hatte er sich eine Tasse Tee aufgebrüht, sich nackt an seinen Küchentisch gesetzt und einen kunsthistorischen Aufsatz gelesen.
Zwei Stunden später existierte Joachim Kümmel nicht mehr.
4
In Arnstadt ist der Hund begraben, dachte Steffen Michalski und gähnte. Fiffi, der kleine West Highland Terrier mit dem zottigen weißen Fell, war der Liebling seiner Nachbarin gewesen. Jetzt lag Frau Lehmkuhl im Krankenhaus, Fiffi unter der Erde, und das war alles seine Schuld.
Er hatte den Köter ja gar nicht überfahren wollen, und doch war es ihm ganz recht, dass das laute Gekläffe jetzt endlich ein Ende hatte.
Mit Tieren konnte Steffen im Allgemeinen recht wenig anfangen, außer wenn sie mit einer knusprig braunen Kruste vor ihm auf dem Teller lagen. Sie waren zeitaufwendig, kosteten Geld und machten jede Menge Dreck. Warum sich andere Menschen Haustiere anschafften, blieb ihm ein absolutes Rätsel.
Steffen Michalski war sechsunddreißig Jahre alt, kahlköpfig, muskulös und stark gebräunt. Letzteres rührte von einem Solarium namens »SunFun« her, das er dreimal wöchentlich besuchte. Menschen mit blasser Haut fand er total langweilig und unattraktiv.
Zusammen mit seiner Frau Annette und drei Angestellten betrieb er eine kleine Wäscherei in einem Gewerbegebiet am Rande der Stadt. Die Geräte stammten noch von seinen Schwiegereltern, denen die Firma früher gehört hatte, und waren daher nicht gerade auf dem neuesten Stand. Umso mehr funkelte und blitzte sein neuer Sportwagen.
In der Wäscherei war Steffen für Einkauf, Wartung und Vertrieb zuständig; er kümmerte sich um die Anschaffung der Reinigungsmittel, um die regelmäßige Kontrolle der Maschinen sowie um die Abholung der schmutzigen und Auslieferung der sauberen Wäsche. Die Routine, die diese Arbeit mit sich brachte, war ihm nur recht. Er sehnte sich nicht nach Abwechslung.
Seine Freizeit verbrachte er am liebsten damit, seinen Sportwagen zu tunen. Mit unvergleichlicher Hingabe hatte er den Scirocco bereits mit Chromfelgen, Spoilerschwert und Heckschürzenansatz versehen. Besonders stolz war er auf die Lackierung, ein knalliges Lamborghini-Orange.
Annette meckerte oft, weil er so viel Zeit mit seinem Hobby verbrachte. Für sie war ein Auto einfach nur ein Transportmittel, um von A nach B zu gelangen. Das sah man auch an ihrem klapprigen Hundefänger, der hauptsächlich als Betriebswagen genutzt wurde.
Alle zwei Wochen traf Steffen sich zum Doppelkopf-Stammtisch mit Klaus, Andreas und Dirk, seinen ehemaligen Schulkameraden. Das waren feuchtfröhliche Abende, an denen die guten alten Zeiten gefeiert wurden. Meistens kehrte er erst gegen Morgen mit leeren Taschen und bleischwerem Kopf wieder heim. Auch deswegen hatte es mit Annette schon heftigen Krawall gegeben. Sie verstand ihn eben einfach nicht.
Der Donnerstag fing für Steffen Michalski alles andere als gut an. Zum ersten Mal fluchte er laut, als er feststellte, dass die abonnierte Tageszeitung nicht geliefert worden war, das nächste Mal, als ihm bei seinem Morgengeschäft das Klopapier ausging. Dann würgte er den Motor seines Sportwagens ab, und auch Fiffi und die alte Frau Lehmkuhl fielen ihm wieder ein. Er überlegte einen Moment lang, ob er sie im Krankenhaus besuchen sollte, doch das war vielleicht keine so gute Idee. In der Wäscherei ging heute alles drunter und drüber. Seine Frau war wie vom Erdboden verschwunden, und ständig kamen Anrufe, die er entgegennehmen musste. Gegen zwölf Uhr zog er den Stecker der Telefonleitung und spielte eine Runde Moorhuhnjagd am Computer. Um drei fuhr er zum »SunFun«, das jedoch aus technischen Gründen geschlossen hatte. Er versuchte, Annette auf dem Handy zu erreichen, doch das Display war und blieb tiefschwarz.
Am späten Nachmittag rempelte er auf dem Bürgersteig mit einer jungen Frau zusammen und war daraufhin so aufgebracht, dass er eine Weile lautstark herumpöbelte.
Auch der Abend verlief so ganz anders, als er es gewohnt war. Kurz vor halb acht betrat er die Wäscherei, um wie jeden Tag seinen Rundgang zu machen und zu schauen, ob alle Maschinen ausgeschaltet waren. Eigentlich konnte er sich auf seine Angestellten verlassen, aber heute blinkte doch tatsächlich ein kleines orangerotes Licht, das zeigte, dass eine Maschine noch in Betrieb war.
Annette, die dumme Kuh. Machte sich einfach aus dem Staub und ließ ihn mit dem ganzen Kram allein. Er hatte überhaupt keine Lust mehr, nach Hause zu fahren. Sollte sie doch auf ihn warten. Er würde hier im Büro schlafen, es war ja nicht das erste Mal. Immerhin gab es hier eine Couch und einen Fernseher. Mehr brauchte er heute nicht mehr. Nicht nach so einem Scheißtag. Er ließ sich auf das beigefarbene Sofa fallen und sah sich eine Serie an, bei der viel geballert wurde. Schon bald fielen ihm die Augen zu.
In seinem Traum lag er an einem weißen Strand unter einer großen Palme, vor ihm ein sanft rauschendes türkisfarbenes Meer, aus dem langsam eine glutrote Sonne stieg. Höher stieg sie, immer höher. Er genoss die Wärme. Sie durchflutete jeden Millimeter seines Körpers und betankte ihn mit neuer Energie. Behaglich rekelte er sich im warmen Sand. Das war das Paradies.
Doch die Sonne hörte nicht auf zu steigen, und die Hitze war schon bald nicht mehr angenehm. Es wurde so heiß, dass er sich nach Schatten sehnte oder nach kühlem Wasser. Auch lag ein merkwürdiger Geruch in der Luft.
In dem Moment öffnete er die Augen. Vor ihm, wo eben noch der Fernseher gestanden hatte, erhob sich eine Feuerwand. Gleißend helle, meterhohe Flammen fraßen sich in Wände, Boden und Mobiliar. Steffen Michalski sprang auf und versuchte, sich einen Weg aus dem Inferno zu bahnen. Doch er war bereits umzingelt. Wie Giftschlangen, die ihre Beute anvisierten, kamen die Flammen auf ihn zu. Immer näher. Unaufhaltsam. Der beißende Rauch schnürte ihm die Kehle zu. Er spürte, wie seine Kleidung versengte und wie sich schmerzhafte Blasen auf seinem Körper bildeten. Es war, als würde sich seine Haut Stück für Stück ablösen. Immer tiefer kroch die brennende Glut in ihn hinein. Er krümmte sich vor Schmerzen. Die höllische Qual raubte ihm das Bewusstsein. Dann verschlang ihn das Feuer wie ein hungriges Ungetüm.
5
Jakob Wackernagel starrte auf das Blatt Papier, das er gerade beschrieben hatte.
Die Worte waren wohlbedacht. In Zeiten der Bedrängnis sollten sie Trost spenden und den lähmenden Schmerz ein wenig lindern. Wenn es jemandem gelingen konnte, für die tragischen und grausamen Ereignisse der letzten vier Tage die passenden Worte zu finden, dann ihm, dem Seelsorger der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde.
Vier Menschen waren plötzlich aus dem Leben gerissen worden, und das auf eine Weise, die ihm zu denken gab.
Erst der junge Maik Brennike, den er getauft und konfirmiert hatte und dessen Mutter er als tugendhafte und vorbildliche Christin kannte. Maik war mit seiner lauten und ablehnenden Haltung schon immer eines seiner schwarzen Schafe gewesen und hatte seiner Mutter viel Kummer bereitet. Wie oft war Erika Brennike zu ihm gekommen und hatte ihm aus Sorge um ihren Sohn ihr Herz ausgeschüttet. Furchtbare Angst hatte sie um ihn gehabt. Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte. Nun waren ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. Jetzt war ihm etwas zugestoßen. Ein Güterzug hatte ihn überrollt. Dass man im ganzen Ort von Selbstmord sprach, machte die Sache nicht einfacher.
Am Dienstag war der ebenso beleibte wie beliebte Konditor Willy Immelmann verstorben. Mitten in seiner Backstube, aus heiterem Himmel. Das Geschäft war daraufhin geschlossen und das gesamte Haus von der Polizei auf den Kopf gestellt worden. Zur genauen Todesursache hatte sich noch niemand geäußert, jedoch kursierten die tollsten Gerüchte in der Stadt. Schlaganfall, meinten einige. Herzversagen infolge außerehelichen Beischlafs, meinten andere. Von Mord wollte niemand gern sprechen.
Am Mittwoch dann der dritte unnatürliche Todesfall. Ein Neubürger, der vor Kurzem erst aus dem Norden zugezogen war, hatte sich anscheinend erhängt. Er war den Einwohnern noch völlig unbekannt; man wusste nur, dass er Lehrer an der neuen Kunstschule gewesen war.
Das hatte ja so kommen müssen, munkelten die Leute. Die Akademie war von Anfang an mit sehr gemischten Gefühlen in Arnstadt aufgenommen worden. Denn das Gebäude war bis vor wenigen Monaten noch das traditionsreiche Gymnasium der Stadt gewesen, dessen Schließung für reichlich Unmut in der Bevölkerung gesorgt hatte. Jakob Wackernagel kannte die Meinung der Bürger, und er teilte sie. Viele seiner Gemeindemitglieder, wie auch er selbst, waren Schüler dieses Gymnasiums gewesen und fühlten sich noch immer eng mit ihrer alten Schule verbunden. Es war, als hätte man der Stadt ein lebenswichtiges Organ entrissen oder einfach an einem anderen Ort neu eingepflanzt, für Folgen und Nebenwirkungen völlig blind. Es war wahrlich kein guter Start für die Akademie gewesen.
Und als wäre das alles noch nicht genug, hatte am gestrigen Abend im Gewerbegebiet ein entsetzlicher Brand gewütet und den Besitzer der Wäscherei Michalski in den Tod gerissen. Das Sirenengeheul der Feuerwehr war in der ganzen Stadt zu hören gewesen.
Pfarrer Wackernagel zog die Stirn kraus. Jeder Todesfall war für sich allein schon ungewöhnlich und bemerkenswert, aber gleich vier in so kurzer Zeit … Da steckte mehr dahinter. Und es war nicht der Allmächtige, der hier seine Finger im Spiel hatte.
Jakob Wackernagel entsprach so gar nicht dem konservativen Bild des stillen und unauffälligen Gemeindepfarrers. Bereits die äußere Erscheinung des Sechsundvierzigjährigen hätte in konservativeren Kirchenkreisen für Empörung gesorgt. Seine kurzen kupferroten Haare waren so wild und widerspenstig wie der Mann selbst, der sich nicht davor scheute, unangenehme Fragen zu stellen und Missstände laut anzuprangern. Wäre er ein paar Jahrhunderte früher geboren, hätte man ihn mit Sicherheit auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Um seinem Lebensgefühl Ausdruck zu verleihen, trug er am liebsten eine alte, zerschlissene Bluejeans, die er vor drei Jahren während eines Urlaubs in Südamerika gegen seine Bermudashorts eingetauscht hatte, dazu ein Che-Guevara-T-Shirt aus eben jener Zeit und ausgetretene kastanienbraune Mokassins. Nur zu den Gottesdiensten schlüpfte er in die lange schwarze Soutane, in der er sich jedes Mal wie eine überdimensionale Fledermaus fühlte.
Doch auch dann, wenn er die Kluft seines Amtes trug, steckte die Seele eines Rebellen in ihm. Seine Predigten waren legendär. Denn statt des faden liturgischen Singsangs und des monotonen Gebrabbels, das niemand verstand, nutzte er die Kraft des klaren Wortes, gewürzt mit bissigen Anekdoten und messerscharfen Pointen, um auf üble Zustände innerhalb der Gemeinde aufmerksam zu machen. Wackernagel war sich seiner Verantwortung, aber auch seiner Macht vollkommen bewusst, und mit seiner aufgeschlossenen und lebenslustigen Art gelang es ihm spielend, die Menschen in die Kirche zu locken. Besonders die Jugendlichen, die unter Klerikern als die am schwierigsten zu erreichende Zielgruppe galten, rannten ihm die Tür ein. Das lag vor allem an den regelmäßigen Kinoabenden und dem jährlich stattfindenden Rockkonzert, welche seiner Initiative entsprungen waren.
Liebesfilme und Rockmusik unter dem Dach der Kirche war nicht nur eine ungewöhnliche und verrückte Idee, die den Nerv der jungen Generation traf, sondern auch die praktische Umsetzung von Wackernagels religiöser und mitmenschlicher Überzeugung. »Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.« Diesen Ausspruch von Mahatma Gandhi hatte er sich zu seinem Lebensmotto gemacht. Konkret bedeutete das für ihn, sich Zeit für seine Mitmenschen zu nehmen, ihnen zuzuhören, zu trösten, beizustehen, Mut zuzusprechen, Wege zu begleiten und Lasten mitzutragen. Es bedeutete für ihn aber auch, sich einzumischen, wenn es sein musste, anderen auf die Füße zu treten und das auszusprechen, was andere nur zu denken wagten. In vielen Belangen war er das Sprachrohr der Gemeinde.
Aus eben jenem Grund wurde Jakob Wackernagel nicht nur verehrt, sondern auch gefürchtet. Man könnte auch sagen, dass er einigen Menschen ein Dorn im Auge war.
»Die Post ist da«, rief seine Frau Marie, mit der er seit sechsundzwanzig Jahren glücklich verheiratet war, und streckte ihm eine Handvoll Briefe entgegen.
Der Leiter des Bachchors Erwin Fiebel schrieb aus Anlass der schaurigen Ereignisse und hatte eine Liste von Chorälen für den morgigen Gottesdienst beigefügt. Der Thüringer-Bratwurst-Verein schickte eine Einladung zum jährlichen Sommerfest, und der städtische Geschichtsverein kündigte seine neueste Veröffentlichung an.