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Sonja Roos

Für immer und ein Vierteljahr


Roman




Roos, Sonja: Für immer und ein Vierteljahr. Hamburg, acabus Verlag 2019

Originalausgabe


ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-640-7

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-639-1

Print: ISBN 978-3-86282-638-4


Lektorat: Patricia Ebel, acabus Verlag

Satz: Emilia Kröger, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© acabus Verlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Prolog

»Willst du mich heiraten?« Bis gerade hatte sie noch entspannt und mit geschlossenen Lidern neben ihm gelegen, doch nun fuhr sie hoch, ihre katzenhaften Augen auf ihn gerichtet mit einer Mischung aus Überraschung und Unglauben.

»Über so etwas macht man keine Witze«, sagte sie dann, ließ ihren Blick aber auf ihm ruhen. Ihr schlanker Körper war zu ihm gewandt und ihr Kopf auf einem Arm abgestützt, sodass er an ein Raubtier denken musste, das auf der Lauer lag, schön, wild, abwartend.

Er drehte sich zu ihr, seine Körperhaltung ein Spiegel ihrer. »Ich mache keine Witze«, beteuerte er ernsthaft.

Sie betrachtete ihn eine Weile, während ihre Pupillen wie ein Scanner über sein Gesicht huschten.

»Marc, du bist bereits verheiratet«, stellte sie dann überflüssigerweise fest.

Er ließ sich in die Kissen fallen. Ja, sie hatte Recht. Er war verheiratet – zumindest auf dem Papier. »Ich will jetzt wirklich nicht über meine verkorkste Ehe reden«, sagte Marc missmutig und drehte sich leicht von ihr fort. Doch nun, wo sie das Thema angeschnitten hatte, konnte er nicht verhindern, dass seine Gedanken wie von selbst zu seiner Frau wanderten. Er hatte Jana von Gödlitz auf einer Wohltätigkeitsgala kennengelernt, auf der er für ein paar Euros kellnerte, um sein Studium zu finanzieren. Sie war ihm sofort aufgefallen. Schmal und mit großen, rehbraunen Augen lehnte sie an einem der Stehtische. Sie trug ein kurzes, schwarzes Kleid, das ihre Figur umschmeichelte, und die Haare zu einem Dutt hochgesteckt, sodass er sofort an Audrey Hepburn in »Frühstück bei Tiffany« denken musste. Er war zu ihr geschlendert, um etwas Geistreiches zu sagen, während er ihr ein Horsd’œuvre anbieten wollte. Stattdessen stolperte er und warf die Platte mit den Lachshäppchen quasi auf sie. Sie starrte ihn im ersten Moment entsetzt an, so wie er sie. Doch dann brach sie in schallendes Gelächter aus, das so ansteckend wirkte, dass er selbst ebenfalls lauthals lachte, obwohl ihn der kleine Auftritt später seinen Job kostete. Er erinnerte sich, wie er im Anschluss an die Veranstaltung vor der Tür auf sie gewartet hatte, nervös, von einem Fuß auf den anderen tretend, eine Zigarette in der Hand und ein Grinsen im Gesicht. Damals glaubte er, die Frau seines Lebens getroffen zu haben. Wie sehr man sich doch täuschen konnte.

Heute, 15 Jahre später, hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Marc überlegte, wann genau seine Ehe gescheitert war, doch er konnte keinen Zeitpunkt benennen. Gefühlt lebten sie schon lange aneinander vorbei. Sie stritten nicht einmal mehr. Stattdessen begegnete Jana ihm mit kalter Höflichkeit oder Herab­lassung. Alles glitt an ihr ab wie an einem Eiszapfen. Und nichts drang heraus. Als er Lydia von seiner Frau erzählte, gab sie ihr gleich den passenden Beinamen »Eiskönigin«.

Leider hatte er auch den Draht zu seinem Sohn verloren. Schon seit Jahren kam er nicht mehr an den Jungen heran. Nun war Julius dreizehn und die Sache hoffnungslos verfahren. Sie sahen sich kaum noch und jeder Versuch seinerseits, Konversation zu betreiben, endete damit, dass Juli ihn stehen ließ wie einen Idioten, einer Antwort kaum würdig. Die Kälte im Haupthaus hatte ihn bereits vor zwei Jahren ins Gartenhaus getrieben und obwohl er dort alle Annehmlichkeiten wie eh und je genoss, war dieses Provisorium nun mal kein echtes Heim.

Und dann war Lydia in sein Leben getreten. Sie wollte eine Ausbildung als Anwaltsgehilfin in der Kanzlei seines Schwiegervaters machen, wo auch er seit dem Studium arbeitete. Es war bereits ihr dritter beruflicher Neustart, weshalb sie schon Mitte zwanzig war. Sie schien Marc trotzdem so jung, spontan und lebenslustig zu sein; das genaue Gegenteil dessen, wie er sich fühlte. Zudem himmelte sie ihn so offensichtlich an, er konnte gar nicht anders, als schlussendlich ihrem Charme zu erliegen. Die Ausbildung brach sie ab, doch ihm war sie treu geblieben. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte sie auch kein Problem mit dem Status der Geliebten, doch mit der Zeit wurde sie ungeduldig und forderte mehr Zugeständnisse. Und sie hatte Recht.

Lydia holte ihn aus seinen Gedanken. »Was ist denn mit diesem Ehevertrag? Du hast immer gesagt, wenn du dich scheiden lässt, kriegst du nichts«, erinnerte sie ihn. Sie hatte sich zurück in die Kissen fallen lassen, sodass sie Kopf an Kopf lagen und beide zur Decke starrten. Er ließ seine Finger spielerisch über ihren Arm fahren, über die unglaublich weiche Haut in der Armbeuge, weiter abwärts, wo er suchend nach ihrer Hand tastete. Er spürte ein kurzes Zögern, bevor ihre Finger ineinander glitten.

Der gottverdammte Ehevertrag. Er war damals so verliebt gewesen, dass ihm das Schriftstück nicht relevant erschienen war. Er konnte jedoch durchaus verstehen, warum sein Schwiegervater seine einzige Tochter durch diesen Vertrag abgesichert hatte. Marc war arm wie eine Kirchenmaus gewesen, sein Vater ein Trinker, seine Mutter schon lange tot und begraben. Er hatte nichts gehabt außer seinem guten Aussehen und seinem Verstand, während Jana von Gödlitz nicht nur einem alten Adelsgeschlecht entstammte, sondern auch noch unverschämt reich war.

Rückblickend wäre es sinnvoll gewesen, sich anwaltlich beraten zu lassen. Denn das Vertragswerk sah vor, dass er mit genauso viel aus der Ehe gehen würde, wie er hineingegangen war – mit nichts. Etwas, das er fürchtete, wie der Teufel das Weihwasser. Marc wusste, wie sich Armut anfühlte, wusste, was es hieß, mit hungrigem Magen zu Bett zu gehen, weil wieder kein Geld für Essen da war. Er spürte noch heute die abfälligen Blicke der Menschen, wenn sein Vater auf der Bank wieder einmal betteln musste, um den Überziehungskredit noch einmal nach hinten auszuweiten.

Nach all den Jahren im Hause von Gödlitz hatte Marc sich entsprechend eingerichtet in dieser Welt des Geldes und der damit verbundenen Annehmlichkeiten. Die Autos, die Ferienhäuser in Südfrankreich und in Florida, die Bediensteten. Und er musste sich eingestehen, dass er auch das Ansehen und die Macht genoss, die mit dem gut gefüllten Bankkonto einhergingen. Wenn er Jana verließ, würde er all das verlieren und zudem noch seinen Job, denn er konnte sich kaum vorstellen, dass der alte von Gödlitz ihn danach auch nur einen Tag weiter beschäftigen würde.

Seine Gründe, an dieser Farce einer Ehe festzuhalten, waren also eindeutig monetärer Natur. Janas Motive waren ihm da schon rätselhafter. Vermutlich ging es um den guten Ruf, der in diesen Kreisen fast so viel zählte wie das Geld. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie ihn ansonsten schon lange ganz vor die Tür gesetzt hätte.

Lydia war nun näher zu ihm gerückt, ihre vollen Brüste streiften dabei wie zufällig seinen Arm. Als er leise aufstöhnte, sah er ihr siegessicheres Lächeln, das er mit einem leidenschaftlichen Kuss auslöschte. Als sie eine Viertelstunde später verschwitzt und atemlos nebeneinanderlagen, fasste er einen Entschluss. Es wurde Zeit, dass er aufhörte, wie ein Schlafwandler durch sein Leben zu streifen. Er musste jetzt endlich aufwachen und es in die Hand nehmen.

Entschlossen drehte er sich wieder zu ihr um. »Lydia Lohmann, ich weiß nicht genau, was die Zukunft bringen wird, aber ich weiß, dass ich sie mit dir verbringen will. Wenn du mich willst, dann werde ich endlich einen Schlussstrich ziehen. Dann werde ich sie verlassen. Lydia, ich habe das eben ernst gemeint – heirate mich!«

Sie betrachtete ihn einen Augenblick nachdenklich. »Aber du hast gesagt, dass du bei einer Scheidung alles verlieren würdest, Marc. Dass du dann arm wärst.« Sie klang wenig begeistert bei dieser Aussicht.

»Mein Freund ist der beste Scheidungsanwalt der Stadt, wir werden sehen, was er da machen kann.«

Sie wirkte beruhigt und strahlte ihn an. »Also gut, ja. Ja, ich werde dich heiraten«, sagte sie und zog ihn erneut zu einem wilden Kuss in ihre schlanken Arme. »Und mein Ring?«, fragte sie nach einigen Momenten vorwurfsvoll an seinen Lippen. Er hatte das hier nicht geplant, nicht lange durchdacht. Es war mehr eine spontane Eingebung, der er gefolgt war. Marc sah sich suchend um und angelte dann unter dem Bett nach einer leeren Coladose. Er riss den Verschluss ab und schob den Metallring über Lydias schmalen Finger. Sie betrachtete sein Werk einen Augenblick lang kühl und blickte dann mit einem Funkeln in den Augen zu ihm auf. »Den tauschen wir morgen gegen einen von Cartier. Ich habe einen wunderschönen gesehen in der Stadt beim Juwelier, aus Platin mit einem fetten Stein. Meine Schwester wird vor Neid grün anlaufen.« Sie lachte kurz und sah ihn dann flehentlich an. »Du musst mit mir kommen und ihn dir ansehen, bitte, Marci«, bettelte sie und hüpfte dabei aufgeregt vor ihm auf der Matratze herum.

»Okay, ich kann mir morgen Nachmittag frei nehmen«, sagte er und lächelte gutmütig. Sie hatte einen tollen Ring verdient, sie hatte lange genug gewartet und er auch.

Kapitel 1

Marc warf an einer Ampel einen kurzen Blick in den Rückspiegel und sah, dass er immer noch lächelte. Es fühlte sich gut an, dass er endlich eine Entscheidung getroffen hatte, was auch immer bei der Sache herauskommen würde. Er wollte kein Statist mehr sein in seinem eigenen Leben, er wollte endlich wieder die Hauptrolle übernehmen.

Auf dem Weg zurück zur Kanzlei drehte er gut gelaunt das Radio laut und pfiff zu den Klängen eines belanglosen Popsongs. Einer plötzlichen Eingebung folgend hielt er an einem Schnellrestaurant, um einen Latte Macchiato für seine Vorzimmerdame Frau Kling zu besorgen, weil er um ihre heimliche Vorliebe für solche Kaffeemischgetränke wusste. Er hoffte, dass er sich mit dieser Nettigkeit ihr Schweigen für heute erkaufen konnte, da er vermutete, dass sein Schwiegervater Frau Kling regelmäßig als Spionin einsetzte, um über alles, was er tat, informiert zu sein. Und Marc war nicht erpicht darauf, dass der Alte erfuhr, wer heute sein 12-Uhr-Termin war. Die Vorzimmerdame schien auch Stunden später noch so milde gestimmt, dass sie den Besucher persönlich zu ihm ins Büro führte, anstatt wie sonst die Gegensprechanlage zu benutzen.

»Herr Karmann, Herr Willms ist jetzt hier«, sagte sie und strahlte ihn an, sodass ihre schon faltig gewordenen Züge plötzlich einen Anflug längst verblühter Schönheit bekamen.

»Schicken Sie ihn herein«, sagte er und zwinkerte ihr zu, was ihm einen erneuten, fast liebevollen Blick einbrachte. »Marc«, sagte sein langjähriger Freund und damaliger Trauzeuge, während er an Frau Kling vorbei ins Zimmer kam. Diese blieb erwartungsvoll stehen, bis Marc ihr bedeutete, sie könne gehen, woraufhin sie widerwillig die Tür hinter sich zuzog und die beiden Männer damit endlich allein ließ.

Marc stand auf und umrundete den großen Mahagonischreibtisch, hinter dem er täglich saß, um seinen Freund mit einer Umarmung zu begrüßen. »Hannes, es ist eine Ewigkeit her«, sagte Marc und klopfte seinem Kumpel bei der Um­­armung mehrfach kräftig auf die Schulter.

»Nicht meine Schuld, du bist ja immer zu beschäftigt, wenn ich mal Zeit habe. Was gibt es?« Johannes Willms ließ sich in den breiten Ledersessel vor Marcs Schreibtisch sinken. Marc ging zu einem kleinen Sekretär und holte eine Flasche Single Malt heraus, die er seinem Gast entgegenhielt. Wie immer war Johannes Willms nicht abgeneigt. Schon zu Studienzeiten hatte er gerne und oft das Glas gehoben, ähnlich wie Marc, dem jedoch meistens das Geld für ausladende Zechgelage fehlte. Während er die bernsteinfarbene Flüssigkeit in zwei Gläser laufen ließ, betrachtete er seinen Freund. Johannes wog seit ihrer ersten Begegnung mindestens zwanzig Kilo mehr, außerdem hatte sich sein Haaransatz ziemlich weit nach hinten verschoben. Seine geröteten Wangen und sein Wohlstandsbauch waren eindeutige Zeichen, dass er auch heute noch gutem Essen und teurem Alkohol gerne und oft zusprach.

Sie hatten sich an der Uni in Göttingen kennengelernt. Johannes Willms und er saßen im ersten Semester Strafrecht nebeneinander und fanden dabei diverse Gemeinsamkeiten. Ihre Abneigung zu lernen etwa, ihre Lust am Feiern, oder ihr Hang zu schönen Frauen. Es waren wilde erste Jahre gewesen, doch sie kriegten beide die Kurve. Während Marc bei seinem Schwiegervater in eine gut gehende Kanzlei für Wirtschaftsrecht eingestiegen war, betrieb Johannes mit einem anderen ehemaligen Kommilitonen eine mittlerweile florierende Praxis für Familienrecht und hatte sich in der Stadt vor allem einen Namen mit schwierigen Scheidungsfällen gemacht. Marc war bei der Terminwahl für ihr Treffen heute entsprechend zuerst sichergegangen, dass sein Schwiegervater den ganzen Tag außer Haus war.

»Du hast mich doch nicht der alten Zeiten wegen heute hierher gebeten«, sagte Johannes, nachdem er sein Glas geleert und es dann wenig sanft auf die teure Oberfläche von Marcs Schreibtisch gestellt hatte. Frau Kling hätte einen Herzinfarkt bekommen bei dem Anblick. Sie bestand immer darauf, dass die Klienten Untersetzer benutzten, um die wertvollen Kanzleimöbel zu schützen. Marc riss seinen Blick von dem Glas los und blickte seinem Freund nun in die Augen.

»Ich will dich engagieren«, sagte er und sah kurz die Überraschung im sonst so kühl kalkulierenden Blick seines Gegenübers aufleuchten. Ansonsten verriet Johannes’ Gesicht nichts. Das übliche, perfektionierte Pokerface.

»Wenn ich mich recht erinnere, hast du einen ziemlich eindeutigen Ehevertrag«, sagte sein Freund, während er mit einem Nicken andeutete, dass er nichts gegen ein zweites Glas Whiskey einzuwenden hatte. Marc holte die Flasche und schenkte ihnen beiden nach.

»Du erinnerst dich richtig. Wenn kein Wunder geschieht, bin ich im Anschluss arm wie eine Kirchenmaus.«

Johannes nickte. »Und dir ist auch klar, dass dein Schwiegervater dafür sorgen wird, dass du so schnell beruflich kein Bein mehr auf den Boden bekommen wirst? Er ist gut vernetzt, kaum einer wird dich einstellen, wenn der alte von Gödlitz es nicht will.«

Marc nickte bedächtig. »Ich weiß das, darum bist du hier, ich zähle da auf deine Finesse.«

Sie schwiegen beide. Johannes räusperte sich. »Okay, wenn du fest entschlossen bist, dann wollen wir mal sehen, wie wasserdicht die Sache ist. Schick mir den Vertrag zu. Ich werde ihn durchgehen. Wir treffen uns dann …« Er ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen, während seine Finger über den Bildschirm seines Smartphones glitten. »Am Donnerstag, achtzehnhundert, wieder hier?«

Marc blickte zur Tür, hinter der Frau Kling vermutlich trotz seines Bestechungsversuches lange Ohren machte. »Lieber bei dir, es wird so schon genug Gerede geben darüber, dass heute der bekannteste Scheidungsanwalt der Stadt einen Termin beim Gatten von Jana von Gödlitz hatte. Wir wollen doch nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen.«

Johannes lächelte, ein gefährliches Lächeln. »Nein, da hast du Recht, das wollen wir nicht. Komm zu mir nach Hause, Maria kann uns etwas zu essen zaubern«, sagte Johannes mit einem Zwinkern, bevor er den Rest Whiskey zwischen seinen fast wulstigen Lippen verschwinden ließ, die sich anschließend zu so etwas wie einem Lächeln verzogen. Dann rieb er sich die Hände. »Ich freue mich immer über einen dreckigen Streit, vor allem gegen Leute, die meinen, dass sie quasi ein angeborenes Recht darauf haben, zu gewinnen.« Johannes klopfte seinem Freund kumpelhaft auf die Schulter, bevor er mit einem Blick auf seine Rolex aus dem Büro eilte. Marc ließ sich in seinen Stuhl fallen. »Keine Termine mehr für heute, Frau Kling«, sagte er durch die Gegensprechanlage, bevor er sich selbst in den Vertrag vertiefte, der ihn noch an seine Frau band. Noch.

Nachmittags dröhnte ihm der Schädel. Er war die vielen Seiten immer und immer wieder durchgegangen, doch es blieb dabei, er hatte sich damals in Ketten legen lassen. Nichts mit Zugewinngemeinschaft. Ihr Geld, ihre Häuser, ihr Erbe. Alles gehörte ihr, ihm blieb de facto nichts, denn er hatte auch nicht viel gespart, stattdessen gut gelebt von seinem Gehalt, gerade zu Beginn ihrer Ehe. Damals war es ihm wie ein Vermögen vorgekommen, als er seine erste Lohnabrechnung bekam. Er bestand deshalb darauf, die Urlaube zu bezahlen, überraschte Jana mit Schmuck und Geschenken und verrückten Ideen, wie zum Beispiel einfach so nach New York zu fliegen, um Coldplay im Madison Square Garden zu sehen. Und dann war da ja auch noch die Sache mit seinem Vater. Die letzten Jahre hatten viel Geld verschlungen, weil sein Vater neben einer ausgeprägten Alkoholabhängigkeit auch eine veritable Spielsucht hatte. Er verlor Unsummen beim Onlinepoker oder anderen Glücksspielen. War er nüchtern genug, um das Haus zu verlassen (für das Marc im Übrigen ebenfalls bezahlte), trug er sein Geld in die Spielhallen, wobei er zu den meisten im näheren Umkreis bereits Zutrittsverbot hatte. Es wäre ein Leichtes gewesen, seinen alten Herrn seinem Schicksal zu überlassen. Fakt aber war, dass Marc außer seinem Vater keine nennenswerte Familie mehr besaß, und gerade angesichts der Probleme mit Jana und Julius brachte er es nicht übers Herz, auch noch mit ihm zu brechen. Stattdessen bezahlte er die unzähligen Rechnungen, was sich anfühlte, wie gegen eine Hydra zu kämpfen: Hatte man einen Kopf abgeschlagen, wuchsen zwei neue nach.

Marc fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und rieb sich dann mehrfach übers Gesicht, um die Müdigkeit und die beginnende Verzweiflung zu vertreiben. Es lag jetzt alles in Johannes’ geschickten Händen, denn im Moment sah es so aus, dass er nichts zu erwarten hatte. Er ließ sich mit der Stirn auf die kalte, harte Platte seines Schreibtischs sinken und seufzte. Er brauchte jetzt ganz dringend ein Wunder.

Erst das Vibrieren seines Smartphones ließ ihn aus seiner Verzweiflung auftauchen. Er zog das Handy aus seiner Hosentasche und sah aufs Display. Lydia. Sie hatte ihm ein Bild von einem Ring geschickt. »Ich habe schon mal einen ausgesucht. Du hast mich zur glücklichsten Frau gemacht. Viel Erfolg, wenn du es heute der Eiskönigin beichtest. Denk an dich, in Liebe, L.« Marc stöhnte auf und fuhr sich wieder mit den Händen durchs Haar, bis die Strähnen wild von seinem Kopf abstanden. Es gab kein Zurück mehr. Er hatte Johannes kontaktiert, Lydia den Antrag gemacht; er würde die Sache jetzt durchziehen. Egal wie. Mit neuer Entschlossenheit stand er auf und machte sich auf den Weg nach Hause. Er parkte den Porsche Cayenne in der Hofeinfahrt, schlug aber nicht wie sonst den Weg zum Gartenhaus ein, sondern ging zum Haupthaus.

Marc stand einen Augenblick unschlüssig vor der riesigen Eingangstür. Er hatte natürlich einen Schlüssel, aber es fühlte sich komisch an, als würde er in ihre Privatsphäre eindringen. Seine Finger spielten mit dem Schlüsselbund in seiner Hosentasche. Die Entscheidung, ob er einfach aufschließen sollte, wurde ihm abgenommen, als Olga, die Haushälterin, die Tür vor seiner Nase aufriss. »Herr von Gödlitz, Ihre Frau ist oben«, sagte sie. Die Überraschung in ihrer Stimme war deutlich zu hören, da sie den Herrn des Hauses seit geraumer Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Marc überlegte kurz, ob er Olga daran erinnern sollte, dass er immer noch Karmann hieß. Jana war nämlich damals nicht bereit gewesen, sich von ihrem Namen zu trennen und er wollte sich nicht mit fremden Federn schmücken. Also hatten sie beide ihre Namen behalten, Julius hieß natürlich wie sie. Er ließ Olga den Fauxpas durchgehen und nickte nur freundlich, während er an ihr vorbei durch die große, marmorne Halle schritt.

Das Haus war ihm fremd geworden. Es war ohnehin nie wirklich sein Zuhause gewesen, da es ein Geschenk ihres Vaters zur Hochzeit gewesen war. Der alte von Gödlitz hatte ihnen die Schlüssel zu dem Anwesen damals überreicht, zusammen mit den Tickets für die Karibikkreuzfahrt und einem Fiat Spider Cabriolet für Jana. Er zögerte einen Moment an der massiven Holztreppe, bevor er, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben lief. Er wollte es hinter sich bringen, wollte den Schritt machen, bevor ihn sein Mut wieder verließ. Ohne zu klopfen, öffnete er die Tür zum Schlafzimmer. Jana saß mit dem Rücken zu ihm gewandt vor ihrem Schminktisch. Geistesabwesend fuhr sie mit einer silbernen Bürste durch ihr langes, braunes Haar. Er blieb stehen und räusperte sich, damit sie auf ihn aufmerksam wurde. Sie drehte sich um. Er hatte schon vor langer Zeit verlernt, ihren Gesichtsausdruck zu lesen. Früher hätte er geschworen, eine tiefe Traurigkeit in ihren braunen Augen zu sehen, vielleicht sogar Angst. Doch so abrupt, wie diese Emotionen dort aufgetaucht waren, verschwanden sie auch. Stattdessen betrachtete Jana ihn nun wieder mit unterkühlter Herablassung.

»Was willst du hier? Hast du dich verlaufen?« Die Schärfe ihrer Frage wurde noch betont durch ihre fast bis zum Haaransatz heraufgezogene Augenbraue. Sie drehte sich wieder um und bürstete weiter ihr Haar. So, als sei er ein lästiges Insekt, dessen sie nach eingehender Betrachtung nun überdrüssig war.

»Ich will die Scheidung.« Da, es war heraus. Er spürte, wie seine Beine weich wurden und hätte sich am liebsten dort an der Wand herabgleiten lassen. Nur wollte er ihr diesen Triumph nicht gönnen. Einen Moment schien die silberne Bürste innezuhalten und er meinte, ihre Hand leicht zittern zu sehen, während ihr Rücken ein Stück gerader wurde und sie mit Entschlossenheit die rituelle Bewegung vom Ansatz bis zur Spitze fortführte. Das Schweigen dehnte sich aus. Fast schon glaubte er, dass sie ihn nicht gehört hatte, als sie kaum hörbar die Luft ausstieß und die Bürste mit etwas zu viel Wucht auf dem kleinen Schminktisch absetzte.

»Dein Timing war schon immer bescheiden«, sagte sie, noch immer den Rücken zu ihm gewandt.

»Was hat das mit Timing zu tun? Unsere Ehe ist seit Jahren nicht mehr existent. Wenn überhaupt mit meinem Timing etwas nicht stimmt, dann, dass ich mit diesem Schritt viel zu lange gewartet habe.« Er war ein Stück in den Raum gekommen, um wenigstens im Spiegel ihr Gesicht zu sehen. Es machte ihn schier wahnsinnig, mit ihrem fast schmerzhaft durchgedrückten Rücken reden zu müssen. Plötzlich fuhr sie herum. Ihre Maske hatte eindeutig Risse bekommen, denn auf ihrer hellen Haut machten sich hektische, rote Flecken breit. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, fast so, als sei sie gerannt. Auch, wenn er sich eben noch über ihre kühle Begrüßung geärgert hatte, spürte er nun Mitleid in sich aufkeimen, wie er sie so aufgewühlt und verletzlich dort sitzen sah, sprachlos, mit sich ringend. Er versuchte, etwas weniger barsch zu klingen. »Jana, wir führen doch schon seit Jahren keine Ehe mehr. Nur noch auf dem Papier. So kann es nicht weitergehen.«

Sie hatte sich wieder umgedreht und spielte am Griff der silbernen Haarbürste. »Dir ist schon klar, dass wir einen Ehevertrag haben, Marc.« Ihre Stimme war schneidend wie ein Messer und seine milde Stimmung war verschwunden.

Er verschränkte die Arme und sah sie finster an. »Du kannst an meinem Entschluss nichts mehr ändern. Ich werde zu Lydia ziehen, Olga soll meine Sachen packen. Alles Weitere können wir durch Anwälte klären lassen.«

Marc fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren lebendig, er war endlich aktiv geworden. Egal, wohin ihn dieser Schritt brachte, dieser Moment hatte etwas Rauschhaftes nach all den Jahren, in denen er sein Leben untätig durch seine Finger hatte gleiten lassen. Sie hatte ihn im Spiegel betrachtet, doch nun wandte sie den Blick von ihm ab und starrte stattdessen auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen und noch immer den Griff der silbernen Bürste umklammert hielten. Sie schwieg weiter.

»Wenn du mir sonst nichts mehr zu sagen hast, dann gehe ich jetzt packen.« Er drehte sich um und zog die Tür hinter sich zu. Erleichterung durchströmte ihn, er hatte es getan. Er war stolz auf sich und das war er schon lange nicht mehr gewesen. Seine Füße flogen mit jungenhafter Leichtigkeit die große Treppe hinunter.

Das Gartenhaus war eher ein Gästehaus. Es war groß, mit vier Schlafzimmern und zwei Bädern und einem eigenen kleinen Pool auf der Terrasse. Er hatte das Haus immer gemocht. Es war anheimelnder als der große Palast, den sie zu Beginn ihrer jungen Ehe bezogen hatten. Das Gartenhaus besaß irgendwie Charakter, Wärme. Er würde es vermissen. Marc nahm einen tiefen Schluck aus seinem Whiskeyglas und ließ seinen Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Den Fernseher würde er mitnehmen, ebenso die teure Dolby-Surround-Anlage. Ein paar Bücher und das Bild, auf dem Julius mit einer Zahnlücke lächelte. Mehr gehörte ihm hier nicht. Er lief wieder ins Schlafzimmer und begann, wahllos Kleidungsstücke aus dem Schrank in seinen Koffer zu werfen, als es klopfte. Er nahm an, dass Olga kam, um ihm beim Packen zu helfen und rief einfach »Herein«, ohne nachsehen zu gehen. Er hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss und vernahm leise Schritte, die vor seinem Schlafzimmer Halt machten.

»Olga, Sie können im Bad beginnen. Die Sachen im oberen Schrank zuerst«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Das sanfte Räuspern, das er daraufhin vernahm, kam eindeutig nicht von der eher rustikalen Haushälterin. Marc drehte sich überrascht um. Sie stand in der Tür, so wie er eben. Unsicher, weil es sein Terrain war. Ihr Blick huschte durch den Raum. Marc konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal hier drin gewesen war. Sie, so hatte es den Anschein, ebenfalls nicht, denn sie nahm erst einmal alles um sich herum auf, ehe sie ihn wieder ansah.

»Ich will mit dir reden«, sagte sie dann und drückte, wie es ihre Gewohnheit war, ihren Rücken dabei durch.

»Es gibt nichts mehr zu reden, Jana. Es ist alles gesagt«, antwortete er betont ruhig und drehte sich wieder zu seinem Koffer um, als er hörte, wie sie tief Luft holte und ein zittriges »Bitte, Marc« ausstieß. Sie wartete nicht ab, ob er ihrer Bitte Folge leisten würde, sondern ging einfach voran in seine Küche. Er starrte auf die leere Stelle an der Schlafzimmertür, an der sie gerade noch gestanden hatte und schüttelte verwundert den Kopf. Seit Jahren hatte Jana ihn nur noch angeschwiegen, er fragte sich, warum sie nun reden wollte. Neugierig ging er hinter ihr her. Sie hatte an der Küchentheke Platz genommen, die sich in der Mitte des Raumes rund um eine Kochinsel schmiegte und an der vier Barhocker zum Verweilen beim Kochen einluden. Wieder sah er auf ihren Rücken, der gespannt wirkte wie ein Bogen kurz vor dem Abschuss. Die einzige Bewegung kam von ihrem braunen Pferdeschwanz, der über ihre Schultern fiel und sachte hin und her schwang.

»Ich habe dir ein Angebot zu machen«, sagte sie geschäftsmäßig. Er spürte ob ihres herablassenden Tons den alten Zorn in sich aufsteigen.

»Sieh mich wenigstens an, wenn du mit mir redest, ich bin nicht einer deiner gottverdammten Angestellten«, brach es aus ihm heraus, während er ihr das Wort abschnitt. Sie zuckte kurz zusammen, als hätte er sie geohrfeigt. Wieder der tiefe Atemzug. Dann, ganz langsam, fuhr sie auf dem drehbaren Barhocker zu ihm herum. Der Blick aus ihren kaffeebraunen Augen kam voller Verachtung auf seinem Gesicht zum Ruhen. Ihre eine Augenbraue fuhr wieder in den Haaransatz, bevor sie bemüht ruhig erneut das Wort ergriff. »Ich weiß, dass du pleite bist, dass du deinen Job verlieren wirst und damit auch für deinen Vater die Geldquelle versiegt. Du müsstest dann auf all das hier verzichten, weil wir das damals so festgelegt haben. Und ich weiß, wie sehr du Armut hasst, weil du weißt, wie sie sich anfühlt.«

In diesem Moment hasste er sie. Dafür, dass sie den Finger auf seinen wunden Punkt legte, dass sie ihn daran erinnern musste, wie erbärmlich er dastehen würde ohne sie.

»Worauf willst du hinaus, Jana?«, fragte er, sich nur mühsam beherrschend.

»Ich biete dir an, auf den Ehevertrag zu verzichten. Ich teile alles mit dir und ich werde meinen Vater bitten, dich nicht rauszuschmeißen, auch wenn wir geschieden sind.«

Die Überraschung über ihr Angebot ließ ihn etwas taumeln, so als hätte ihn ein unsichtbarer linker Haken getroffen. Er ließ sich auf einen Stuhl etwas entfernt von ihr fallen. »Und was bitte willst du als Gegenleistung?«, fragte er, denn ihm war klar, dass sie solche Angebote nicht aus Nächstenliebe offerierte.

»Ich will ein Vierteljahr, Marc. Du wirst drei Monate wieder mit uns leben. Du wirst deine Geliebte in dieser Zeit nicht sehen und nicht kontaktieren. Du wirst versuchen, eine Beziehung zu Juli aufzubauen, denn er braucht dich gerade mehr denn je.« Sie schluckte kurz, bevor sie weitersprach. »Zudem wirst du dein Bestes auf der Arbeit geben, damit mein Vater keinen Grund hat, sich später nicht an die Abmachung zu halten. Das sind meine Bedingungen.« Ihr Blick ließ keinen Zweifel an der Aufrichtigkeit ihrer Worte und doch glaubte Marc, sich verhört zu haben. »Um mich mehr um unseren Sohn zu kümmern, muss ich doch nicht wieder mit dir unter einem Dach leben«, sagte er perplex.

»Mein Geld, meine Bedingungen«, schoss sie zurück.

»Du bist irre. Du bist vollkommen übergeschnappt. Warum solltest du das wollen? Ich habe dir eben gesagt, dass ich die Scheidung will.«

Sie schluckte hörbar. »Ich habe meine Gründe, aber die können dir egal sein. Du kannst auf mein Angebot eingehen und nach dem Vierteljahr mit der Hälfte unseres Vermögens und erhobenen Haupts aus der Sache rausgehen, oder du kannst wie ein feiger Hund das Weite suchen. Doch ich garantiere dir, du wirst den Absturz aus dieser Höhe nicht über­stehen. Genauso wenig, wie deine Beziehung mit diesem Betthäschen, denn jeder weiß, dass sie dein Geld mindestens genauso anziehend findet wie dich.« Ihr Blick blieb vielsagend an seiner Kreditkartenabrechnung hängen, die auf dem Küchentisch lag. »Ganz zu schweigen von deinem alten Herrn, der dann niemanden mehr hat, der ihn bei den diversen Inkassounternehmen auslöst. Mach dir nichts vor, Marc, ohne Geld bist du nichts wert, nicht für sie, nicht für deinen Vater und nicht mal für dich selbst.« Marc ballte seine Hände zu Fäusten, damit er nicht aufsprang und sie ihr um ihren schlanken, gemeinen Hals legte. Miststück.

»Mehr als das«, sagte sie und stand betont grazil auf. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er die Beleidigung laut ausgesprochen hatte. Sie ging in Richtung Tür, drehte sich dann aber noch einmal zu ihm um. »Ich gebe dir bis morgen Abend Zeit, mein Angebot zu durchdenken, Marc. Rede mit deiner Gespielin. Sie wird es sicher verstehen, zumal du ihr danach weiterhin ihren durchaus aufwändigen Lebensstil finanzieren kannst.«

»Das ist Erpressung, Jana, dafür solltest selbst du dir zu schade sein«, sagte er verächtlich. Doch sie zuckte nur die Schultern.

Die Hand schon am Türgriff, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Oh, und du wirst mich in diesen drei Monaten auf Händen tragen. Und das meine ich nicht im übertragenen Sinne. Ich will, dass du mich jeden Morgen die Treppe herunter und jeden Abend wieder hinaufträgst. Das sind meine Bedingungen.« Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen wie einen Idioten, mit offenem Mund und ungläubigem Blick.

Kapitel 2

Marc stürmte wütend zu seinem Porsche und fuhr danach ziellos durch die Stadt. Während die Welt vor ihm zu einer Kulisse aus Farben und Formen verschwamm, ging er noch einmal die merkwürdige Begegnung mit seiner Frau durch. Mit ihrem Angebot hatte sie ihn kalt erwischt – und nachhaltig verwirrt. Marc schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen, doch auch das brachte nicht mehr Klarheit in die Situation. Alles, was er wusste war, dass er sich wieder hatte reizen lassen. Mit ihrer unterkühlten Herablassung traf sie jedes Mal einen wunden Punkt in seinem Inneren. Wie sehr er es hasste, wenn Jana so war. Ihr Verhalten kehrte dann auch seine schlechteste Seite nach außen, die gemeine, sarkastische, bittere Seite, sodass sie zusammen ungefähr so gut funktionierten wie ein Streichholz und eine in Benzin getauchte Lunte. Marc brachte den Porsche vor Lydias Haus zum Stehen, doch ließ den Motor laufen. Was zum Himmel sollte er ihr sagen? Dieses Angebot, das Jana ihm da gemacht hatte, war zu verrückt, um es überhaupt laut auszusprechen. Er fuhr mit der Hand über seinen Mund, fühlte die Bartstoppeln, die sich dort seit dem Morgen ausgebreitet hatten. Was zum Henker bezweckte Jana damit? Marc schüttelte den Kopf, denn er konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie hatte ihn doch herausgedrängt. Aus ihrer Ehe, aus dem Leben seines Sohnes, aus dem gemeinsamen Haus. Warum wollte sie ihn gerade jetzt wieder zurückholen? Und was sollte diese komische Frist? Ein Vierteljahr? Was würde das ändern?

Fahrig drehte er zunächst das Radio lauter, dann wieder leiser. Danach zog er die Sonnenblende herunter, als ob dort eine Antwort zu finden sei. Dabei fiel ein altes Foto von Juli herunter. Er war darauf vielleicht vier oder fünf und stand neben Marc im Garten. Marc erinnerte sich an den Tag, als das Bild aufgenommen worden war. Juli war kurz zuvor von der Schaukel gefallen. Er und Jana waren zu ihm geeilt und hatten ihn getröstet und Jana hatte ihm ein großes Pflaster mit Bob dem Baumeister auf sein aufgeschürftes Knie geklebt. Danach hatte sie ihn dafür gelobt, wie tapfer er sei und gesagt, dass sie ein Foto von ihrem großen kleinen Mann machen wollte. Marc hatte ihm die letzten, verräterischen Tränen abgewischt, während Jana die Kamera geholt hatte. Und dann, als Juli einfach kein Lächeln gelingen wollte, hatte Marc ihn so lange gekitzelt, bis er kicherte und strahlte und Jana hatte genau in diesem Moment auf den Auslöser gedrückt. Sein Herz zog sich bei der Erinnerung schmerzhaft zusammen. Gleichsam traf ihn die Erkenntnis, wie sehr er seinen Sohn in den letzten Jahren vernachlässigt hatte. Marc seufzte. Er musste dringend etwas gutmachen. Wohin auch immer Janas merkwürdiges Angebot führte, wenn er es annahm, war das vielleicht ein Weg zurück zu seinem Sohn. Marc strich liebevoll über das Foto und steckte es zurück an seinen Platz hinter der Sonnenblende, bevor er mit einem tiefen Seufzer aus dem Wagen stieg, um mit Lydia zu sprechen.

»Das ist doch ein Trick, eine Falle. Sie hat irgendetwas vor.« Lydia ging vor ihm auf und ab wie ein Tiger in Gefangenschaft. Ihre grünen Katzenaugen glühten förmlich vor Wut. »Du willst diesem Irrsinn doch nicht etwa zustimmen?«, fragte sie und ihre Stimme wurde einen Hauch schriller. »Marc?« Sie war stehen geblieben und sah ihn herausfordernd an. Als er nicht antwortete, begann sie erneut, den Raum mit unruhigen Schritten zu durchqueren. »Sie will einen Keil zwischen uns treiben, dieses raffinierte Biest«, schloss Lydia nach einer kurzen Pause.

»Ich habe keine Ahnung, was sie damit bezweckt, Lydia. So verfahren, wie die Situation zwischen Jana und mir zuletzt war, würde es mich wundern, wenn ihr Angebot etwas damit zu tun hätte, unsere Ehe zu retten.« Er hatte barscher geklungen, als beabsichtigt, und Lydia betrachtete ihn nun aus zusammengekniffenen Augen.

»Was war eigentlich der Auslöser dafür, dass eure Ehe den Bach runtergegangen ist?«

»Da kamen mehrere Faktoren zusammen, Lydi. Das würde jetzt zu lange dauern, es zu erklären.« Sie schnaubte kurz und zog missbilligend die Stirn in Falten, weil er nicht mehr dazu sagen wollte. Doch als er begann, mechanisch seinen verspannten Nacken zu massieren, wurden ihre Züge wieder weicher.

»Soll ich?« Lydia war hinter ihn getreten und fuhr sanft über seine Hände. An ihrem Finger spürte er den sündhaft teuren Verlobungsring, den sie am Nachmittag auch ohne seine Hilfe, aber mit seiner Kreditkarte erstanden hatte. Ihm war klar, dass Lydia auch den Luxus liebte, den er ihr bislang hatte bieten können. Doch er nahm es ihr nicht übel, denn er kam ja selbst aus armen Verhältnissen und wusste, wie befreiend es sein konnte, wenn man nicht jeden Groschen dreimal umdrehen musste. Wie gut es sich anfühlte, sich etwas zu gönnen, ohne vorher auf den Preis zu schauen.

»Ist das so angenehm?«, fragte sie und strich seinen Hals entlang bis zum Haaransatz. Doch Marc nickte nur beiläufig, in Gedanken wieder bei Janas merkwürdigem Angebot.

»Ich könnte mir vorstellen, dass es irgendetwas mit Juli zu tun hat«, sagte er mehr zu sich selbst.

Lydia legte den Kopf schief. »Marc, du denkst doch nicht im Ernst darüber nach, dieses absurde Arrangement mit ihr zu treffen, oder?« Sie hatte aufgehört ihn zu massieren und stand jetzt mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihm. Ihre grünen Augen blitzten wütend.

Er starrte eine lange Zeit schweigend ins Nichts, bis er den Mut fand, sie anzusehen. »Ich habe keine große Wahl, Lydia«, sagte er resigniert und sah, wie sie sich von ihm abwandte, Enttäuschung und Abscheu im Blick.

»Vielleicht gehst du jetzt besser«, stieß Lydia kalt hervor, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Marc holte Luft, um etwas zu erwidern, besann sich dann aber anders und nickte nur kurz. Er ging in den Flur, wo er seine Lederjacke überstreifte, bevor er wortlos die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Auf halbem Weg durchs Treppenhaus hörte er plötzlich erneut eine Tür und dann hektische, klackernde Schritte. »Marc, warte!«, rief sie atemlos. Er blieb stehen und schaute hinauf, wo er ihre Hand über das Geländer gleiten sah, bis sie vor ihm stand, unschlüssig, verlegen. »Siehst du nicht, dass sie jetzt schon einen Keil zwischen uns treibt? Allein die Tatsache, dass du darüber nachdenkst, mit mir Schluss zu machen, um ein Vierteljahr mit ihr heile Welt zu spielen, macht mich verrückt vor Wut – und Angst«, fügte sie bitter hinzu.

»Komm her«, sagte er und zog sie in seine Arme, wo sie hörbar und nicht gerade damenhaft die Nase hochzog. »Es geht ja nicht darum, mit dir Schluss zu machen. Es ist eine Pause. Vielleicht sollten wir es so sehen, wie einen Job, den ich annehme, um danach mit viel besseren Karten wieder zu dir zurückzukehren«, sagte er dicht an ihrem Ohr. Ihr Haar kitzelte ihn dabei an der Nase. Ihr Körper war so warm und weich, ihre Hand fuhr fordernd seinen Rücken herab bis zu seinem Hintern. »Können wir die Diskussion verschieben?«, fragte er heiser, während er sich enger an ihre willigen Kurven presste.

»Okay«, hauchte sie, bevor sie ihn wieder die Treppe hinauf und hinter sich her ins Schlafzimmer zog.

Kapitel 3

Jana von Gödlitz stand in der großen Küche ihres Hauses und goss Weißwein in zwei entsprechende Gläser. »Und ihr wollt es echt nochmal miteinander versuchen? Warum?«, rief ihre älteste Freundin Sandra aus dem Wohnzimmer. Jana drückte den Rücken durch. Eine blöde Angewohnheit, doch das tat sie immer, wenn sie sich für irgendetwas wappnen musste. Mit einem nonchalanten Lächeln bog sie um die Ecke, die beiden Weingläser und eine Schale Nüsse auf einem Tablett balancierend. Sie stellte alles auf den kleinen Glastisch und nahm Sandra gegenüber auf dem Zweiersofa Platz. Geschäftig ließ sie den Wein in ihrem Glas rotieren. »Weichst du mir aus oder hast du mich nicht gehört?«, bohrte Sandra nach.

»Ich weiche dir nicht aus«, antwortete Jana und nippte an ihrem Getränk.

»Warum in Gottes Namen willst du es mit diesem Idioten noch mal probieren? Ich könnte jetzt noch kotzen, wenn ich an die Nacht denke, als ich dich ins Krankenhaus gefahren hab, während er sich durch die Niederlande vögelte.«

Jana verschluckte sich fast an ihrem Wein. Sandra hatte schon immer eine drastische Art gehabt, die Dinge auszudrücken, die so ganz anders war als die höfliche Zurückhaltung, zu der man sie erzogen hatte. Ihr erster Impuls war es einmal mehr, Marc zu verteidigen. »Ich glaube nicht, dass er mich damals betrogen hat«, sagte sie bestimmt, doch Sandra schnaubte nur humorlos.

»Selbst, wenn nicht zu diesem Zeitpunkt, heute tut er es. Seine Affäre mit dieser Lydia ist ja kein großes Geheimnis mehr. Davon abgesehen, habt ihr die vergangenen Jahre aneinander vorbei gelebt, euch mit Missachtung gestraft, euch nicht mal mehr die Tageszeit gegeben. Du hast selbst gesagt, er hatte damals weder den Arsch in der Hose, um dich zu kämpfen, noch um den Kleinen«, schloss Sandra ihre Litanei und nahm ebenfalls einen kräftigen Schluck, bevor sie ihre Freundin erwartungsvoll ansah. Jana seufzte tief.

»Wie sollte er um etwas kämpfen, das er längst verloren hatte, ohne es zu wissen.« Sie hatte mehr mit sich selbst gesprochen, als mit ihrer Freundin, doch Sandra ließ sich nicht so einfach die Zügel bei diesem Gespräch aus der Hand nehmen.

»Du weichst mir immer noch aus. Warum zum Henker willst du ihn denn jetzt zurück?« Sie starrte Jana aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen an.

Jana schien eine Ewigkeit zu brauchen, um zu antworten. Als sie es tat, klang ihre Stimme rau und traurig. »In erster Linie geht es um Juli. Er braucht seinen Vater. Er entgleitet mir immer mehr, hängt mit den falschen Freunden ab, schwänzt die Schule, die Noten gehen in den Keller.« Sie zog ihre Füße an und setzte sich darauf, um das Zittern zu unterdrücken, das sie durchlief. »Vor ein paar Tagen hat ihn eine Nachbarin mit ein paar Schulfreunden drüben am alten Judenfriedhof gesehen. Sie haben geraucht und Bier getrunken.« Sandra sah sie ungläubig an und Jana nickte traurig. Sie konnte es selbst immer noch nicht recht glauben. Doch erst heute Morgen hatte sich wieder gezeigt, wie sehr Juli sich in den vergangenen Monaten verändert hatte.

Sie war müde und verschlafen zu seinem Zimmer gewankt, um ihn für die Schule zu wecken. Doch als sie vorsichtig in sein Zimmer spähte, sah sie, dass sein Bett unberührt war. Jana hatte sich am Türrahmen abstützen müssen, sonst wären ihre Beine unter ihr weggeknickt. Es war nicht das erste Mal, dass sich ihr Sohn nachts aus dem Haus geschlichen hatte. Seit er auf die neue Schule ging, war Juli so anders, verstockt und unnahbar. Jana glaubte, dass es der schlechte Einfluss dieser Jungs war, die behaupteten, Juli sei ihr Freund. Einer Eingebung folgend war sie zurück in ihr Zimmer gegangen, um auf ihr Handy zu sehen. »Ich penn heut bei Basti.« Die Nachricht war nachts um 23.58 Uhr geschickt worden. Wenigstens hatte er sich gemeldet, schoss es ihr durch den Kopf. Auch das war in letzter Zeit keine Selbstverständlichkeit. Erneut beschlich sie das ungute Gefühl, dass Juli ihr entglitt, dass sie keinen Einfluss mehr auf ihn hatte. Dabei waren sie noch vor einem Jahr eine eingeschworene Gemeinschaft gewesen, ein Team, besonders, nachdem Marc ausgezogen war. Julis Versuche, sie zu trösten und zu beschützen und damit den Mann im Haus zu ersetzen, hatten sie gerührt, aber auch traurig und wütend gemacht. Wütend auf Marc, weil er gegangen war, und traurig, weil ihr kleiner Sohn dadurch so schnell erwachsen werden musste. In jedem Fall hatte Juli ihr immer alles erzählt, sie stets an seinem Leben teilhaben lassen und war bemüht, ihr so wenig Sorgen wie möglich zu bereiten. Seine Noten waren durch die Bank gut gewesen und er war bei Schülern und Lehrern in gleichem Maße beliebt.

Doch dann hatte sie sich von ihrem Vater überreden lassen und Juli auf dieser teuren, elitären Privatschule angemeldet und damit begannen die Probleme. Seine Noten waren in den Keller gerutscht, er fand nur schwer Anschluss und wurde zunehmend stiller und in sich gekehrter. Und dann waren diese feinen Früchtchen aufgetaucht. Jana war sich sicher, dass zumindest der eine bereits eine steile Karriere als Kleinkrimineller angetreten hatte. Die anderen waren reiche, verwöhnte, gelangweilte Bengel, denen sie die Gemeinheit hinter der falsch-freundlichen Fassade bereits beim ersten Treffen angesehen hatte.

Jana schüttelte bei der Erinnerung den Kopf. Verzweiflung machte sich wieder in ihr breit. Wie hatte das passieren können? Wie war ihr süßer Sohn, der vor gar nicht allzu langer Zeit noch geschworen hatte, dass er sie eines Tages heiraten und immer lieben würde, zu einem zornigen, introvertierten Teenager mutiert? Vor ihren Augen und ohne, dass sie irgendetwas dagegen tun konnte. Sie holte tief und geräuschvoll Luft und bemerkte dann erst, dass Sandra sie die ganze Zeit über durchdringend gemustert hatte.

»Und du denkst, sein Erzeuger hätte da einen besseren Einfluss auf ihn?« Sandras Stimme klang mehr als skeptisch. Jana hatte keine Ahnung, allerdings auch keine anderen Optionen. Sie würde es versuchen müssen. Für Juli. Egal, wie sie sich dabei fühlte. Egal, wie viel Wut allein Marcs Anblick in ihr auslöste. Müde rieb sie sich über ihr blasses Gesicht und schloss die Augen. »Und was ist mit ihm? Schließlich ist Marc doch jetzt mit dieser billigen Daniela-Katzenberger-Kopie zusammen und trotzdem würde er wieder hier einziehen? Da ist doch was faul? Komm schon, Jana, raus mit der Sprache, was steckt dahinter?«, bohrte Sandra nach. Fast hätte Jana gelacht. Die Sache schien ihr selbst so absurd, dass sie nicht einmal ihrer besten Freundin die Wahrheit sagen konnte. Dass sie nämlich ihren eigenen Mann dazu erpressen musste, dass sie noch nicht einmal wusste, ob er sich überhaupt auf diesen faulen Kuhhandel einlassen würde.

Als Sandra merkte, dass Jana ihr darauf nicht antworten würde, ließ sie das Thema irgendwann ruhen. Sie sprachen stattdessen über Belangloses, über ein Buch, das Sandra gelesen hatte und dessen Titel Jana sich nicht merken konnte. Über Sandras Flirt mit ihrem Kollegen, über die neuen Folgen von »Der Bachelor«. Jana blieb mit durchgedrücktem Rücken und leerem Gesicht sitzen und wünschte sich, endlich alleine zu sein. Sie hatte genug, worüber sie nachdenken musste. Endlich, gegen elf, war Sandra aufgebrochen.

»Du solltest mehr auf dich achten. Du siehst müde aus und abgenommen hast du auch«, sagte ihre Freundin zum Abschied, als sie Jana in eine feste Umarmung schloss. Jana kehrte danach ins Wohnzimmer zurück, um aufzuräumen, als sie die Haustür leise ins Schloss fallen hörte.

»Juli?«, fragte sie ungläubig in die Stille. Er hätte längst im Bett sein sollen, schien sich aber einmal mehr über ihre Anweisungen hinweg gesetzt zu haben. Sie ging in den Flur und schaltete das Licht an. Dort stand er, das Ebenbild seines Vaters, die gleichen grünbraunen Augen, den gleichen zornigen Ausdruck um den Mund. Er war ganz in Schwarz gekleidet, eine Kapuze bedeckte sein rotbraunes, kurzes Haar und er umklammerte mit beiden Händen einen dunkelblauen Rucksack. »Wo kommst du her?«, fragte sie scharf und bemerkte gleich, wie sein ganzer Körper auf Abwehr schaltete.