Ingeborg Jacobs

Stanislaw Petrow:
der Mann, der
den Atomkrieg
verhinderte

Wer rettet uns das nächste Mal?

eBook Edition

Das Buchprojekt wurde initiiert von Lothar Rudolf, respekt.tv.

Die Texte der Uhren stammen von der Internetseite http://thebulletin.org/timeline und wurden von der Autorin für das Buch ins Deutsche übersetzt. Ausgenommen hiervon ist die Uhr auf Seite 218.

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ISBN 978-3-86489-599-9
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2015
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

1 Annäherung an einen Helden unserer Zeit

Erste Kontaktaufnahme

Bei Stanislaw Petrow in Frjasino

Stimmungsumschwung

Stanislaw Petrow – Der Mann, der die Welt rettete: der Film

2 Auf dem Weg zum Weltende?

Anekdoten und bombastische Bestattungen

Ein sowjetisches Leben

Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg

Dowerije – Vertrauen zwischen der UdSSR und den USA

Jurij Andropow, der »böse Onkel«

Andrej Sacharow – Atomphysik und Menschenrechte

Angst vor Protesten im Land

Ein Friedensengel aus Amerika: Samantha Smith

3 Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges

Herbst 1983

Serpuchow-15, Raketenfrühwarnzentrum

26. September 1983, der Tag, an dem alles anders war

Der Ernstfall

Aufklärung des Vorfalls vom 26. September

Warnschuss im Sommer

Ergebnis der Untersuchungen

Weder Beförderung noch Bestrafung

Ein weiteres Interregnum

4 Zeitenwende: Glasnost – Perestroika – Schocktherapie

Das Geheimnis wird gelüftet

Wechselseitige Annäherung

Frischer Wind

Ein Idol tritt ab

Sacharows politisches Erbe

Harte Zeiten

5 Was das Ganze für uns bedeutet

6 Claus Kleber

Laudatio auf Stanislaw Petrow, Träger des

Dresden-Preises

Anmerkungen

Literatur

1 Annäherung an einen Helden unserer Zeit

»Kennen Sie den Mann, der die Welt rettete?«, fragte mich Lothar Rudolph, Gründer der Initiative »Respekt! Kein Platz für Rassismus«, im Herbst 2014 auf der Buchmesse in Frankfurt. »Ein Russe ist das ...« Und ich musste zugeben, dass ich zwar die Geschichte, nicht aber den Mann kannte.

»Sie und ich, wir alle, die wir vor 1983 geboren wurden, müssen ihm ewig dankbar sein. Jedes Jahr sollten wir an dem Tag, an dem das passiert ist, unseren Geburtstag feiern«, bekam ich zur Antwort. »Versuchen Sie doch einmal, einen Kontakt herzustellen, diesen Mann müsste man doch gerade jetzt, wo in der Ostukraine Krieg herrscht und unser Russlandbild zerstört ist, nach Deutschland einladen. Er müsste in Schulen und Universitäten sprechen, ... erzählen, wie er 1983 einen Atomkrieg abgewendet hat, obwohl das sowjetische Computersystem einen Angriff amerikanischer Raketen meldete.«

Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, so der Name des Mannes, der die Welt rettete, war schnell gefunden. Ebenso seine Anschrift in Russland. Mit der Telefonnummer war es schwieriger, die erfuhr ich von Karl Schumacher, der, so dachte ich, Stanislaws Interessen in Deutschland vertrat. Karl Schumacher – der ein Bestattungsunternehmen im Ruhr gebiet leitet – erzählte, dass er selbst von Petrows Geschichte aus der auflagenstärksten deutschen Tageszeitung erfahren hatte. Der Titel »Verarmt und traurig« hatte ihn angesprochen, mehr aber noch die Geschichte. Karl Schumacher hatte sich jahrelang von den Atomraketen auf beiden Seiten bedroht gefühlt. Und nun erfuhr er, die Angst, die er damals verspürte, war wohlbegründet.

»In den 1980er Jahren gab es die Gutehoffnungshütte, einen großen Stahlproduzenten und Anlagenbauer, noch«, erklärt er mir am Telefon. »Unser Haus stand keine 500 Meter entfernt von diesem Industriegelände. Wir waren uns sicher, das Ruhrgebiet und die Hütte gehörten zu den Zielen der sowjetischen Raketen. Hätte Stanislaw Petrow einen Fehler gemacht, so hätte dies das Ende für meine Familie und mich bedeutet.«

Im Spätherbst 1998 fuhr Karl Schumacher auf gut Glück mit einem Freund nach Frjasino, einer Stadt nordöstlich von Moskau. Dort lebt Petrow seit Mitte der 1980er Jahre.

»Ich wollte etwas für den Mann tun, der uns das Leben gerettet hatte, der Meinung war ich damals und bin ich heute noch. Und ich wollte ihn natürlich kennenlernen, neugierig bin ich nämlich auch. Wir sind einfach von Moskau aus mit dem Taxi zu ihm gefahren, denn wir hatten gehofft, dass Stanislaw bei der Kälte, die an dem Tag herrschte, zu Hause sein würde«, erzählt Schumacher.

»Und so war es dann auch. Zwei Stunden haben wir uns mit ihm in seiner kleinen Küche unterhalten, er kann ja ein wenig Englisch, mein Bekannter ebenso viel Russisch. Mit drei Sprachen, Händen und Füßen ging es dann. Bevor wir uns verabschiedeten, haben wir ihn nach Deutschland eingeladen. Er hat sofort zugesagt, ich glaube, er freute sich, aber gleichzeitig hatte er auch ein wenig Angst, dass er immer noch als Geheimnisträger gelten könnte und deshalb vielleicht nicht in den Westen reisen dürfte.«

Das Geld für das Visum und die Reise ließen die beiden Deutschen ihm da.

»Vierzehn Tage ist er dann bei mir gewesen. Grüßen Sie Petrow von mir. Ich hoffe, es geht ihm gut, er ist ja nicht mehr der Jüngste. Und sagen Sie ihm, er soll mal auf meine Mails antworten!«

Wie die meisten meiner Generation erinnere ich mich gut an meine damalige Angst vor einem Atomkrieg, die Freunde und Bekannte gleichermaßen erfasst hatte. Selbst die, die sich nicht hatten davon abhalten lassen, zur Bundeswehr zu gehen und nun bei NATO-Alarm die Kaserne nicht verlassen durften. Vielleicht gerade sie. Ich erinnere mich an die großen Friedensdemonstrationen 1981 und 1983 im Bonner Hofgarten, an Willy Brandt, Heinrich Boll, Gerd Bastian und Petra Kelly, die – in meiner Erinnerung – die Abschaffung der Atomwaffen in West und Ost forderten. An die Nachbarn, die mich, als ich naiv erzählte, Russisch lernen zu wollen, aufforderten, doch »nach drüben« zu gehen. Und daran, wie ich vor einem der Kölner Kinos auf meine Freundinnen wartete, die den Film The Day After – Der Tag danach ansahen. Lange vor dem Ende des Films war ich weinend hinausgestürmt. Anschließend diskutierten wir heftig darüber, ob man in diese von der totalen Auslöschung bedrohte, wahnsinnige Welt noch Kinder setzen konnte. Was sollte man ihnen antworten, falls sie an einem Tag X die Frage stellten: »Warum habt ihr dieses Inferno nicht verhindert? Wenn ihr doch wusstet, was Atomkrieg bedeutet, und wie gefährlich das atomare Wettrüsten ist?«

Das Jahr 1983 und die damaligen Diskussionen über Atomwaffen gerieten mit den erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre schnell in Vergessenheit. Der Eiserne Vorhang war zerrissen, mit dem Ende des Kalten Krieges hatte eine neue Zeitrechnung angefangen. In Russland fand ich gute Freunde, wurde auf meinen Reisen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion stets mit offenen Armen empfangen. Manches Mal war dies für mich als Tochter eines ehemaligen Wehrmachtsangehörigen beschämend. Insbesondere in Wolgograd, das bis 1961 Stalingrad hieß. Aber auch in den anderen von der Wehrmacht besetzten, verwüsteten, ausgehungerten Städten und Gebieten der früheren Sowjetunion.

Woher nahmen die Russen ihre Großherzigkeit? In den Niederlanden und in Frankreich hatte ich als Jugendliche und junge Erwachsene Ablehnung erlebt. In der Bretagne waren in den 1970er Jahren sogar einmal, als man mich als Deutsche erkannte, Steine geflogen.

Das angstbesetzte Wort »Atomkrieg« löste nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine Albträume mehr aus, es verschwand peu ä peu vollständig aus meiner Vorstellung und meinem Vokabular, wurde undenkbar. Und bei »Atomwaffen« dachte ich an Hiroshima und Nagasaki, schreckliche Ereignisse am anderen Ende der Welt, in einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Sie drangen nur einmal, allerdings sehr intensiv, unauslöschlich in meine Gegenwart. Vor genau zwanzig Jahren, 1995, bei einem Dokumentarfilmfestival in Japan. Da stand ich vor Mauerresten, auf denen sich menschliche Umrisse abzeichneten. Sprach mit Überlebenden des Atombombenabwurfs über Nagasaki, mit Strahlenopfern. In Japan nennt man sie Hibakusha.

Erst im vergangenen Jahr tauchte mit den blutigen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine und der erneuten verbalen Konfrontation von Ost und West das totgeglaubte Angstwort »Atomkrieg« wieder auf. Zuerst nachdem in der russischen Presse mehrfach von Atomwaffen die Rede gewesen war, später in den Gesprächen mit meinen Freunden in Wolgograd. Seitdem ist ein Atomkrieg aus überzogener Alarmbereitschaft, wegen eines Fehlers oder geplant durch Terroristen wieder zu einer ernstzunehmenden Bedrohung geworden.

Erste Kontaktaufnahme

Das Jahr 1983 gilt gemeinhin als eines der gefährlichsten Jahre des Kalten Krieges. Damals hatte Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow Millionen Menschen – auch mir – das Leben gerettet, war es mir nach dem Gespräch auf der Buchmesse durch den Kopf gegangen. Ob er, der bereits von vielen Journalisten befragt worden war, wohl bereit wäre, mit mir zu sprechen? Ich zögerte, bis ich die Nummer wählte, die ich von Karl Schumacher erhalten hatte. Wie in Russland üblich, meldete sich Stanislaw Petrow nicht mit seinem Namen. Eine kurze Nachfrage, dann war klar: Der freundliche Mann mit der angenehmen Stimme am anderen Ende der Leitung war der Gesuchte.

Stanislaw Petrow erzählte begeistert, er sei vor wenigen Tagen aus Deutschland zurückgekehrt, wo er in Berlin einen weiteren Preis in Empfang genommen habe: »Cinema for Peace«. Er nannte den englischen Namen, musste ihn zweimal wiederholen, bis ich verstand. Ob der Preis für den Film The Man Who Saved the World sei, den der dänische Regisseur Peter Anthony mit ihm in der Hauptrolle gedreht hatte, wollte ich wissen.

Nein, dieser Film sei noch gar nicht fertig, war die Antwort von Petrow. Er möge den Titel nicht, und er habe auch nicht die Welt gerettet, sondern einfach nur seinen Job ganz gut gemacht, fügte er ein wenig unwirsch hinzu, und ein Held sei er schon gar nicht.

Gut vier Wochen sei er mit der Filmcrew in Amerika unterwegs gewesen, sprudelte es aus ihm heraus, er habe Kevin Costner und Robert De Niro getroffen, mit ihnen über Krieg und Frieden diskutiert. Das sei sehr interessant gewesen. Aber leider hätten die dänischen Dokumentarfilmer aus ihm einen »Hooligan«, dieses Wort existiert auch im Russischen, machen wollen. Dazu hätte er in den schlimmsten Tönen fluchen sollen, dabei sei dies nicht seine Ausdrucksweise.

War der Film wirklich noch nicht fertig? Ich war irritiert, erzählte irgendetwas von Filmfesten, bis ich begriff, Stanislaw Petrow kannte den Film, der 2014 bereits auf mehreren Festivals vorgeführt worden war, nicht. Merkwürdig.

Ob er denn, falls wir ihn einladen, noch einmal nach Deutschland kommen würde, lautete eine meiner abschließenden Fragen.

Ja, nach Deutschland käme er gerne, könne jederzeit reisen, er habe seit kurzem ein Drei-Jahres-Visum. Alles weitere könnten wir bei einem persönlichen Treffen in Frjasino besprechen.

Mitte Februar 2015 fuhr ich nach Moskau zu einer Veranstaltung von russischen Oppositionellen und zu Petrow nach Frjasino. Fast ein halbes Jahr war ich nicht in Russland gewesen, hatte aus der Ferne beobachtet, wie in den russischen Medien Stimmung gegen den Westen gemacht wurde. Am Telefon hatte ich mich mit der Tochter meiner besten Freundin zerstritten, da sie nicht wahrhaben wollte, dass man nicht alles glauben darf, was die russischen Medien berichten. Und ich hatte erlebt, dass man mich »Putinversteher« nannte, wenn ich dafür plädierte, die Annexion der Krim als geschickten, wenn auch völkerrechtswidrigen Schachzug Putins hinzunehmen und die Sanktionen zu beenden, die die Menschen in Russland nur auf die Seite Putins treiben.

Im Moskauer Sacharow-Zentrum war mein Russland, das ich Ende der 1980er Jahre erleben durfte, versammelt: kritische, aufgeschlossene Frauen und Männer, Literaten, Journalisten, Bürgerrechtler und aufgeklärte Menschen, auf der Suche nach Demokratie und Freiheit. Als ich am Abend nach Frjasino weiterfuhr, war für mich klar: Solange es solche Menschen gibt, ist Russland nicht verloren, können wir zu dem gegenseitigen Verständnis und Vertrauen zurückkehren, die wir in den 1990er Jahren mühsam aufgebaut haben.

Bei Stanislaw Petrow in Frjasino

Von Moskau nach Frjasino nahm ich den Vorstadtzug, der erstaunlich gut besetzt war. Je weiter wir die Hauptstadt hinter uns ließen, desto mehr Schnee war gefallen. Am Bahnhof Frjasino standen ein paar Taxen, 150 Rubel sollte die Fahrt zum Hotel kosten, zwei Euro. Dass Frjasino zu dem guten Dutzend russischer Wissenschaftsstädte gehört, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Statt neuer Häuser sah ich nur schäbige Fassaden. Rechts und links der Straße türmten sich schmutzige Schneehügel, das Taxi fuhr Schlangenlinien, um den Schlaglöchern auszuweichen. Und auch das Hotel hatte den Namen nicht verdient, es entpuppte sich als eine Art Miniwohnheim für Auszubildende von »Istra« – »Funke« – einer Fabrik für Radioelektronik, die bereits in den 1930er Jahren gegründet wurde. Als ich im Zimmer das Licht anschaltete, rannten ein paar Kakerlaken in ihr Versteck. Mangels Übung gelang es mir nicht, ihnen den Garaus zu machen, diesen Biestern, die für mich Inbegriff der »tiefsten Sowjetunion« sind. Mit der Nostalgie der Menschen schienen sie zurückgekehrt zu sein. Doch es war zu spät, um nach Moskau zurückzufahren und eine ordentliche Bleibe zu suchen, zwei Nächte würde ich durchhalten.

Am nächsten Morgen war es kalt. Ein leichter Wind wehte mir ein paar Schneeflocken ins Gesicht, als ich mich über festgetretenen Schnee und Glatteis auf den Weg zu Stanislaw Petrow machte. Aber es war hell, die Sonne schien. Frjasino zeigte sich in russischem Bilderbuch-Winterwetter, deshalb störte es mich nicht, dass ich ein wenig suchen musste, bis ich das Haus fand, in dem Stanislaw Petrow wohnt. Eine ältere, gut gekleidete Dame öffnete die Haustür des sicher zehn- oder fünfzehnstöckigen Plattenbaus, klopfte sich den Schnee vom Mantel. Mit den Worten: »Sie wollen bestimmt zu meinem Nachbarn? Alle Ausländer wollen zu ihm«, bedeutete sie mir mitzukommen. Wir stiegen die Treppe hinauf, eine Katze begleitete uns.

»Er füttert sie immer«, erklärte die Frau und verschwand in ihrer Wohnung, bevor ich ihr eine Frage stellen konnte. Gerne hätte ich ihren Namen und die Telefonnummer erfahren.

Erst nach dem zweiten Klingeln öffnet sich Stanislaw Pet- rows Wohnungstür.

»Guten Tag, ich dachte, Sie rufen noch einmal an, bevor Sie kommen«, begrüßt er mich freundlich. »Ich hätte Sie an der Hauptstraße abgeholt.«

Stanislaw Petrow hat eine angenehme Stimme, ein gutes Gesicht, wache Augen. Ich betrete die Wohnung eines alten Witwers, ein wenig schmuddelig, unaufgeräumt. Petrow hat offenbar noch nicht mit mir gerechnet, und so entschuldige ich mich für eine Viertelstunde, um noch ein wenig Geld zu wechseln.

Als ich zurückkomme, hat sich Petrow umgezogen, der Müll ist weggeräumt. In einer Ecke sitzt die Katze beim Frühstück. Ich frage noch, ob ich unser Gespräch aufzeichnen darf, stelle das Diktiergerät an, dann unterhalten wir uns. Über das Attentat auf Charly Hebdo und die Pressefreiheit, die Ukraine, die Krankheit seiner Frau Raissa, die schwierigen 1980er Jahre in der Sowjetunion, den 26. September 1983 und was dieser für sein Leben bedeutete. Hin und wieder fällt Stanislaw Petrow eine russische Anekdote ein, für uns beide Grund zum Lachen. Unser Gespräch wird nur von kleinen Pausen unterbrochen, in denen er rauchend an der Fortotschka, dem Fensterchen im Fenster, steht. Ein paarmal ist es schwierig, seinen Ausführungen zu folgen, als er über Satellitenkonstellationen und militärische Algorithmen spricht oder allzu schnell von einem Stationierungsort zum nächsten springt. Fast immer beantwortet Petrow meine Fragen. Nur die Namen von militärischen Vorgesetzten oder die Stationen der Kommandokette erfahre ich nicht. Sein »Wozu wollen Sie das wissen?« erlaubt nur vorsichtiges Nachhaken.

»Als die ersten ausländischen Journalisten kamen, wurde mein Leben mit einem Schlag interessanter«, erzählt Stanislaw Petrow. »Von da an bekam ich Post und Besuch aus der ganzen Welt. Manche Menschen schickten Geld, von Kevin Costner kamen 500 Dollar. Manche standen unangemeldet vor der Tür wie Karl Schumacher. Er war der erste, der mich ins Ausland eingeladen hat. Danach war ich noch öfter im Westen, vor allem in Deutschland, Dänemark und den USA.«

Wie zum Beweis zeigt mir Petrow seinen Reisepass mit dem von der deutschen Botschaft ausgestellten Drei-Jahres-Visum, voller Stolz trägt er die Preise herbei, die man ihm in New York, Baden-Baden, Dresden und Berlin verliehen hat. Er arrangiert sie auf dem Küchenschrank: ein originales Stückchen Berliner Mauer, eine große bemalte Keramikfigur auf einem Marmorsockel, eine Bronzeskulptur und eine Hand, die den Erdball hält, beide aus Kristall.

»Das war der erste Preis, den ich 2006 in den USA erhalten habe«, erklärt Stanislaw Jewgrafowitsch. Mir scheint, dies ist der einzige Preis, der zu ihm passt. Bei meinem Versuch, die Kristallkugel im Gegenlicht zu fotografieren, fängt die Digitalkamera ein paar überraschende Reflexionen der untergehenden Sonne ein, unsichtbar für das bloße Auge. Ich zeige Petrow das Bild.

»Sehen Sie«, sagt er, »ich habe eben davon gesprochen, dass der Kosmos immer wieder neue Überraschungen für uns bereit hat. Und nun haben wir das Gleiche hier auf der Erde.«

Während ich noch ein paar Fotos von ihm mache, erzählt mir Stanislaw Petrow von den schwierigen Dreharbeiten mit den Dänen. Aber auch davon, wie sehr es ihn gefreut habe, dass er Kevin Costner, seinen Lieblingsschauspieler, treffen konnte.

»Außerdem habe ich damals gebeten, in Amerika einen Mann treffen zu können, der seinerzeit an einer ähnlichen Position saß wie ich, quasi mein Gegenüber.«

Stanislaws Worte lassen mich aufhorchen.

»Den haben sie nicht gefunden, aber Bruce Blair, einen Historiker, der Anfang der 1970er Jahre in einer amerikanischen Militärbasis Dienst hatte, in deren Betonsilos atomar bestückte Interkontinentalraketen des Typs Minuteman waren. Bruce war dafür zuständig, die Raketen im Falle eines Falles zu starten. Und mit dem habe ich mich lange unterhalten, seine Frau hat übersetzt«, erzählt Petrow. »Sie hat in Moskau studiert, Bruce dort lange gearbeitet.«

Ob er denn den Film inzwischen gesehen habe, möchte ich wissen. Und erhalte dieselbe Antwort wie Ende des vergangenen Jahres am Telefon: Der Film sei noch nicht fertig.

In der Zwischenzeit ist es dunkel geworden, und es hat wieder kräftig zu schneien begonnen. Stanislaw Petrow bringt mich bis vor die Tür, zeigt mir den kürzesten Weg durch die Wohnblocks zurück zum Hotel. Dort will ich meinen Rucksack deponieren und noch etwas spazieren gehen. Ich muss nachdenken über das, was ich am Nachmittag erfahren habe. Durch dichtes Schneetreiben folge ich der Hauptstraße Richtung Bahnstation, so kann ich mich nicht verlaufen.

Was ist das für ein Mann, dieser Stanislaw Petrow? Warum ist er so verarmt und einsam? Was ist mit seinen Kindern, Freunden, den Verwandten seiner Frau? Warum kümmert sich niemand um ihn? Kann ich das herausfinden? Und was ist mit dem Film The Man Who Saved the World? Warum kennt Petrow den Film offensichtlich nicht?

Als ich am nächsten Tag wiederkomme, berichte ich Stanislaw von meinen Plänen, einen langen Artikel oder sogar ein Buch über ihn zu schreiben. Von der Idee eines Buches ist er nicht sehr begeistert, denn das bedeute Arbeit für ihn. Und er habe keine Zeit, weil eine Augenoperation anstehe, er habe den grauen oder grünen Star. Bevor ich mich verabschiede, kommen wir überein, dass ich das Interview bearbeite und wir uns dann noch einmal im April oder Mai treffen. Ich solle aber die dänische Filmproduktionsfirma fragen, ob dies mit dem Vertrag, den sie mit ihm geschlossen haben, vereinbar sei. Als ich ein paar Tage später mit dem Produzenten spreche, sieht dieser kein Problem in meinem Buchprojekt.

Stimmungsumschwung

Ende März rufe ich Stanislaw Petrow wieder an. Doch der Mann, der den Hörer abnimmt, ist weder der Stanislaw vom vergangenen November noch der, den ich sechs Wochen zuvor ein wenig kennenlernen durfte. Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow ist wie verwandelt und lehnt ein weiteres Treffen kategorisch ab. Es gehe ihm nicht gut – wie beinahe in jedem Frühjahr, erklärt er. Außerdem habe sein Sohn keine Arbeit und ließe sich von ihm durchfüttern. Ende April, Anfang Mai könne ich mich ja noch einmal melden

Ich schicke Glückwünsche zum Tag des Sieges am 9. Mai, einem der wichtigsten gesetzlichen Feiertage in Russland, und rufe kurz an, doch er bleibt bei seiner ablehnenden Haltung. Und so lasse ich ihm noch einmal Zeit – bis zum 1. Juli. An diesem Tag erwische ich ihn morgens, er ist freundlich, freut sich offensichtlich über meinen Anruf und bittet mich, am Abend noch einmal anzurufen. Doch da erlebe ich statt des erwarteten netten Gesprächs einen aufgebrachten Stanislaw Petrow, der mir Sätze entgegenschleudert, in denen von Verbot, Enttäuschung und Müdigkeit die Rede ist. Er wolle mit niemandem mehr sprechen.

Was war passiert? Hatten die dänischen Kollegen oder gar der FSB, der heutige russische Inlandsgeheimdienst, ihm verboten, weitere Interviews zu geben? Hatte er den Film The Man Who Saved the World in der Zwischenzeit gesehen, hatte ihm jemand darüber berichtet? Gab es darin eventuell Szenen, die ihm missfielen? Den Film, der ja, wie erwähnt, bereits 2014 auf verschiedenen Festivals gezeigt worden war, gab es bereits auf DVD, und Mitte Mai 2015 war er in England, anschließend in Dänemark in die Kinos gekommen.

Stanislaw Petrow – Der Mann, der die Welt rettete: der Film

Mitte Juli halte ich diese DVD endlich in Händen. 105 Minuten »Die erstaunliche, wahre Geschichte von Oberstleutnant Petrow« in Russisch mit englischen Untertiteln warten auf mich. Der Film beginnt mit dokumentarischem Material, das Raketenstarts und den Einschlag eines Gefechtskopfes zeigt. Ein Gefechtskopf mit nuklearer Bewaffnung: Er explodiert in einem orange-goldenen Atompilz, der in wenigen Sekunden den Bildschirm füllt. Die ersten Bilder zeigen Petrow, wie er, auf seinem zerschlissenen Sofa vor dem Fernseher sitzend, eine Bierflasche öffnet. Ich bin entsetzt. Er nimmt einen Schluck, muss die Flasche absetzen. Der Schaum steigt hoch, läuft über seine Hand, ergießt sich auf den Fußboden. Stanislaw Petrow – es ist der echte, kein Zweifel – lacht über sich selbst, stößt einen Fluch aus. Wie ein russischer Muschik, ein einfacher, derber Bauer. Alle Russen fluchen.

Welche Meinung Stanislaw Petrow über Journalisten hat, erfahren wir in der nächsten Filmszene. Wieder harte Flüche, dann öffnet Petrow einem älteren Ausländer und dessen Dolmetscherin freundlich die Tür, bietet Tee an, den die beiden angesichts von Dreck und Chaos nur mit Widerwillen annehmen. Als die Sprache auf Petrows Familie kommt, schlägt die Stimmung schlagartig um. Er sei zum Militär gegangen, weil seine Eltern sich nicht um ihn kümmern wollten, erfahren wir. Fragen zu seiner Mutter will er nicht beantworten, stattdessen schreit er die Journalisten an. Wieder flucht Stanislaw Petrow. Und wird handgreiflich, bis alle den Raum überstürzt verlassen haben. Die bemüht dokumentarische Szene endet im Schwarz. Darauf erscheint der Text »a true Störy«. Das soeben Gesehene und das, was folgt, sollen also die Realität, die Wahrheit abbilden, Stanislaw Petrow und seine echte Lebensgeschichte. Alle Russen sind grob. So sieht er aus, der russische Held, dem wir unser Leben verdanken. Im Film. Ich habe einen anderen Menschen kennengelernt, freundlich, intelligent, mit guten Manieren.

Durch Zufall stoße ich auf einen Artikel in der Financial Times, online erschienen Mitte Mai 2015. Er fasst das Verhältnis des Films zur Wirklichkeit treffend zusammen: Die Filmemacher scheinen nicht die Absicht gehabt zu haben, einen Film über Stanislaw Petrows Leben machen zu wollen, sondern sein Leben so darzustellen, als sei es ein Film.1 In allen Szenen spielt Stanislaw Petrow sich selbst, wenn es um das Geschehen auf der Gegenwartsebene geht. Ein Kunstgriff, der den Wahrheitsgehalt unterstreichen soll und dem Zuschauer suggeriert, er werde Zeuge des »wahren Lebens«. Doch Petrow spielt das, was das Drehbuch vorschreibt. Er flucht wider Willen, spricht auswendig gelernte, sehr informative Sätze über die Folgen eines Atomkrieges.

All dies erlaubt die künstlerische Freiheit einem Regisseur und Autor, solange er nicht allzu überschwenglich mit dem Schild »dies ist die Wahrheit« hantiert. Dem Genre des Dokumentarfilms hat der Film The Man Who Saved the World einen Bärendienst erwiesen.

Viel wichtiger ist etwas anderes: An Stanislaw Petrow, seinen und unseren Helden, scheint der Regisseur nicht gedacht zu haben, als er ihm den Stempel des unkontrollierten, ungebildeten russischen Säufers aufdrückte. Da nutzt es auch nichts, den Grund hierfür in einer lieblosen Mutter, der früh verstorbenen Ehefrau und – angeblichen – Kinderlosigkeit zu sehen. Was im Westen eventuell als Entschuldigung Bestand hat, zählt in Russland, wo manch einer Petrows Tat anzweifelt oder in ihm einen Vaterlandsverräter sieht, nicht. Man kann nur hoffen, dass der Film dort keine Beachtung findet. Denn es ist genau dieses Russland, in dem Petrow seinen Lebensabend verbringen wird. Verarmt, vereinsamt, verbittert.

Wer aber ist Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow? Warum gelang es ihm, den Dritten Weltkrieg zu verhindern? Welche Folgen hatte dies für sein Leben? Das vorliegende Buch versucht eine Annäherung an diesen Helden wider Willen und eine aufregende Zeit. Und es sucht nach Antworten auf die Frage, welche Bedeutung all dies heute für uns hat.