Nr. 121
– Im Auftrag der Menschheit Band 112 –
Die Schwelle zum Nichts
Es geschieht in ferner Vergangenheit – ein Sternenvolk überschreitet die Grenze der Dimensionen
von Kurt Mahr
Auf den Stützpunkten der USO, den Planeten des Solaren Imperiums und den übrigen Menschheitswelten schreibt man Ende November des Jahres 2842 – eines Jahres, dessen erste Hälfte äußerst turbulent verlief, wie die vorangegangenen Ereignisse eindeutig bewiesen.
Jetzt herrscht in der Galaxis relative Ruhe. Der Aufbau des Solaren Imperiums geht kontinuierlich voran. Von den üblichen Geplänkeln und Reibereien an den Grenzen des Imperiums abgesehen, gibt es nach der erfolgreichen Ausschaltung des Plasma-Mutanten gegenwärtig keine Schwierigkeiten für die Menschen und die mit ihnen verbündeten Sternenvölker.
Man hat also allen Grund, mit Optimismus in die Zukunft zu schauen. So glaubt man wenigstens, denn man weiß zu diesem Zeitpunkt noch nichts von einem Ereignis, das sich, obwohl es sich fern von der Erde und in ferner Vergangenheit abspielte, in zunehmendem Maße auch auf die Menschheit selbst auszuwirken beginnt.
Alles begann in dem Augenblick, da ein fremdes Sternenvolk die Grenze der Dimensionen überschritt – DIE SCHWELLE ZUM NICHTS ...
Possert Egk Flangkort – Ein Biophysiker macht eine furchtbare Entdeckung.
Poola Sangtru – Flangkorts Lebensgefährtin.
Sagnin Lorafa – Eine Versuchsperson verschwindet.
Napral Egk Simenk und Gernok Egk Subra – Mitglieder des Regierenden Rates von Toulminth.
Timpeh – Ein Mann aus dem »Krankenland«.
Durch ein großes Fenster beobachtete Possert Egk Flangkort die Versuchsperson. Sie saß in einem Sessel, dessen Form die ideale Mischung von Bequemlichkeit und körperlichem Stimulus darstellte. Der Sessel stand in einem Raum, der mit erlesenem Geschmack eingerichtet war. Von der anderen Seite war das Fenster, durch das Flangkort blickte, nicht zu sehen. Seine Stelle wurde von einem Bild eingenommen, das die Versuchsperson mit Interesse studierte. Die Versuchsperson war Sagnin Lorafa, die intelligenteste Frau, die Flangkort je kennen gelernt hatte, aber eben doch eine Frau, wodurch das Experiment bedeutend vereinfacht wurde.
Flangkort drehte an einem Stellknopf. Auf beiden Seiten des Fensters wurde Musik hörbar, eine Folge wohltönender Harmonien, die Beruhigung ausstrahlten und gleichzeitig zum Nachdenken anregten. Auf den Skalen seiner Messgeräte las Flangkort die Reaktion seiner Versuchsperson auf die allmählich lauter werdende Musik ab. Sagnin Lorafa war von der eigenartigen Melodie angetan. Sie gefiel ihr. Ihr Interesse wandte sich von dem Bild ab und der Musik zu. Zusätzliche emotionelle und logische Zentren ihres Bewusstseins wurden aktiviert. Sie näherte sich dem Punkt, an dem das menschliche Dasein bei körperlichem Wohlbefinden, dem Gefühl wohliger Geborgenheit und aktivem Bewusstsein, den Zustand höchster Vollkommenheit erreicht.
Und dann geschah es. Plötzlich begannen Sagnin Lorafas Umrisse zu verschwinden. Die Gestalt der Frau verwandelte sich in ein nebelhaftes, konturloses Gebilde, das einen Atemzug lang über dem Sessel zu schweben schien und kurz darauf verschwand. Fassungslos starrte Possert Egk Flangkort durch das große Fenster. Nicht, dass er einen solchen Ausgang seines Experiments nicht erwartet hätte. Jetzt jedoch, da er ihn vor Augen hatte, erschien er ihm so ungeheuerlich, dass er eine Zeitlang seinen Augen nicht traute, sie immer wieder zusammenkniff und von neuem öffnete, bis er ganz sicher war, dass Sagnin Lorafa tatsächlich nicht mehr in dem Sessel saß.
Er schaltete die Musik ab. Ein wenig unsicher erhob er sich und öffnete die Tür, die in den Versuchsraum führte. In der Luft lag ein Hauch des Parfüms, das Sagnin Lorafa bevorzugt hatte. Der Sessel war noch warm von der Berührung ihres Körpers. Aber Sagnin selbst war unwiderruflich verschwunden. Possert Egk Flangkort fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es war eine Geste der Hilflosigkeit. Er hatte den Versuch angestellt, um die Richtigkeit einer wissenschaftlichen Hypothese zu beweisen. Das war ihm gelungen. Aber jetzt, da sich die Hypothese als richtig erwiesen hatte, erschrak er vor der ungeheuren Gefahr, der sich die Bewohner dieses Planeten ahnungslos näherten.
Oder interpretierte er die Dinge falsch? War, was er für eine Gefahr hielt, vielleicht eine natürliche Entwicklung, die den Menschen, nachdem er einen gewissen Status erreicht hatte, auf ein Niveau noch höherer Vollkommenheit überführte – eine Entwicklung also, gegen die der Mensch sich nicht sträuben sollte? An dieser Stelle geriet Possert Egk Flangkort, der schon immer für die Einheit von Wort und Gedanken plädiert hatte, in einen semantischen Konflikt. Der Status nämlich, den der Mensch erreichen musste, bevor sich die von Flangkort gefürchtete Entwicklung vollzog, war der Status der Vollkommenheit. Vollkommenheit jedoch war ein absoluter Begriff, der sich nicht steigern ließ. Der Begriff »höhere Vollkommenheit«, den er soeben in Gedanken geprägt hatte, war in Wirklichkeit ein Unsinn. Jede Entwicklung, die vom Status der Vollkommenheit aus weiterführte, schloss automatisch den Verlust der Vollkommenheit in sich. Es war ähnlich, wie wenn einer auf dem Nordpol eines Planeten stand: es war ihm unmöglich, weiter nach Norden zu gehen.
Davon ausgehend, war Flangkort gezwungen, die Entwicklung, die auf den Status der Vollkommenheit folgte, in der Tat für gefährlich und bedrohlich zu halten. Vor allen Dingen, da er nicht wusste, welchen Zustand diese Entwicklung zum Resultat haben würde. Er hatte Sagnin Lorafa, die ideale Versuchsperson, in den Zustand der Vollkommenheit versetzt, dem sie, wie fast alle anderen Bewohner dieser Welt, ohnehin schon ziemlich nahe gewesen war. Als die Vollkommenheit eintrat, war Sagnin verschwunden. Sie befand sich nicht mehr auf dieser Welt. Sie war in ein übergeordnetes Kontinuum aufgestiegen. Sie war unsichtbar geworden für die Menschen, die der Vollkommenheit zwar nahe waren, sie aber noch nicht erreicht hatten. Was empfand Sagnin Lorafa in diesem Augenblick? War sie glücklicher als zuvor? Das konnte nicht sein. Denn der Zustand der Vollkommenheit war ihr ja genommen worden. War sie glücklicher als wenige Augenblicke vor ihrem Verschwinden, als der Zustand der Vollkommenheit noch nicht ganz erreicht war, als an der Vollkommenheit noch ein winziges Quantum fehlte? Auch unwahrscheinlich; denn der Vorgang des Verschwindens war so drastisch, dass er auch im Befinden der Verschwundenen eine grundlegende Änderung erzielen musste.
Also, schloss Possert Egk Flangkort, ist es besser, kurz vor dem Erreichen des Zustandes der Vollkommenheit innezuhalten.
Flangkort war Theoretiker. Er kannte das Ziel, das er erreichen wollte. Über die Mittel, deren er bedurfte, über die Taktik, die er anzuwenden hatte, würde er sich später den Kopf zerbrechen.
*
Auf dem Planeten Toulminth, dem vierten von sieben Satelliten, die die Sonne Ovendeno umkreisten, waren Astronomie und Astrophysik seit Tausenden von Sonnenumläufen wohletablierte Wissenschaftszweige. Die Bernaler – so nannten sich die Bewohner des Planeten – wussten, dass ihr Sonnensystem Bestandteil eines übergeordneten Systems war, einer Sterneninsel, die die Form einer flachen Scheibe hatte und mit mehreren Spiralarmen weit in den Weltenraum hinausgriff. Die Bernaler wussten auch, dass die Sonne Ovendeno unweit des Zentrums dieser Scheibe lag, inmitten des Gebietes größter Sternendichte, die diese Sterneninseln aufzuweisen hatten. Seit Jahrtausenden beherrschten die Bernaler die Raumfahrt – ohne dass sich jedoch seit den Tagen der Raumfahrtpioniere auch nur ein einziger Bernaler jemals von der Oberfläche seines Planeten bis auf nennenswerte Distanz gelöst hätte. Denn in den Tagen der Pioniere war offenbar geworden, dass die Bernaler die harte Korpuskularstrahlung, die von Ovendeno und den benachbarten Sonnen in überreichem Maße ausging, nicht vertrugen. Die Absorption selbst geringer Strahlungsmengen verursachte im Körper des Bernalers drastische Umschichtungen, die in kürzester Zeit zu Krankheit oder Tod führten. Es war bezeichnend für die Mentalität der Bernaler, dass sie von den beiden Alternativen, entweder auf die bemannte Raumfahrt gänzlich zu verzichten oder riesige schwer gepanzerte Raumschiffe zu bauen, die erstere gewählt hatten. Denn nach bernalischer Logik musste zwischen dem Wert des Ziels und dem Aufwand, der nötig war, um es zu erreichen, eine Relation bestehen. Da man aber den Wert der Erkenntnisse, die mit Hilfe der bemannten Raumfahrt zu erzielen waren, nicht kannte und auch nicht abschätzen konnte, ließ sich kein Aufwand errechnen, der dem Wert des Zieles entsprochen hätte. Also verzichteten die Bernaler darauf, sich selbst in den Raum hinauszubegeben. Die bernalische Raumfahrt war vollrobotisiert.
Schon früh in ihrer Geschichte hatten die Bewohner des Planeten Toulminth zu politischer Einheit gefunden. Die Oberflächengestalt von Toulminth, die nur einen einzigen riesigen Erdteil aufwies, hatte dazu beigetragen. Kriege hatte es auf Toulminth schon seit Jahrtausenden von Sonnenumläufen nicht mehr gegeben. Dafür waren andere Probleme aufgetaucht, das der zunehmenden Industrialisierung zum Beispiel, in deren Verlauf das Land seiner natürlichen Schönheit beraubt, die klaren Bäche und Flüsse verschmutzt und die Luft mit schädlichen Gasen angereichert wurden. Oder das Problem der Überbevölkerung, der Albtraum einer Welt, die auf jedem Quadratmeter bewohnbarer Oberfläche mehrere Menschen zu erhalten hatte.
Die Bernaler hatten alle diese Probleme gelöst. Durch logisches Überlegen hatten sie sich selbst davon überzeugt, dass Umwelt und Lebensstandard miteinander in Beziehung standen und dass der Lebensstandard sich nur bis zu einer gewissen Grenze steigern ließ. Mit Hilfe dieser Erkenntnis hatten sie das Ausmaß bestimmt, bis zu dem die Industrie wachsen durfte, und genau an dieser Grenze hatten sie das Wachstum angehalten. Sie hatten ebenso verstanden, sich klarzumachen, dass die natürlichen Instinkte des Menschen Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb, nur solange von Nutzen waren, als für den Bestand der Gesellschaft oder der Art Gefahr existierte. Da es keine der beiden Gefahren mehr gab, hielten es die Bernaler für vernünftig, diese Instinkte zu unterdrücken. Sie hörten auf, für die Verteidigung von Toulminth gegen hypothetische Angreifer Geld auszugeben, und sie verzichteten darauf, weiterhin wie Tiere einem Drang nachzugeben, dessen Streben nur auf die Befriedigung seiner selbst abzielte. Im Laufe der Zeiten hatte sich die Zahl der Bewohner des Planeten Toulminth auf knapp eine Milliarde eingependelt. Soviel konnte die paradiesische Welt mühelos ernähren, und auf ihrer Oberfläche war genügend Platz, so dass die Menschen Bewegungsfreiheit hatten und nicht in der unwürdigen Enge großer Städte zu wohnen brauchten.
Es gab keine Armut auf Toulminth. Jeder hatte zumindest das, was er brauchte. Die Technologie war so weit fortgeschritten, dass menschliche Arbeitskräfte für die Bewältigung alltäglicher Aufgaben nicht mehr gebraucht wurden. Das Volk der Bernaler war zu einem Volk von Forschern geworden, in dem jeder, frei von den Bürden des vortechnischen Alltags, seinen Verstand einsetzen konnte, um der Natur ihre letzten Geheimnisse zu entlocken. Die Befreiung von aller materiellen Sorge hatte bei den Bernalern nicht, wie in anderen Fällen beobachtet, zur Dekadenz geführt. Den Bernalern eigen war eine geistige Regsamkeit, eine unersättliche Wissbegierde, die die Stagnation behinderte. Es gab gesellschaftliche Schichtungen auf Toulminth. Während die unteren Strata sich damit beschäftigten, die existierende Technik zu verbessern, also etwa Motoren zu entwickeln, die noch leistungsfähiger und noch dauerhafter waren als alles bisher dagewesene, richten die oberen Schichten ihr Augenmerk auf die Erforschung noch unerschlossener Wissensgebiete. So hatte zum Beispiel schon seit langem der Verdacht bestanden, dass dieses vierdimensionale Kontinuum aus Raum und Zeit, in dem sich Sonnen und Planeten befanden und das die robotgesteuerten bernalischen Raumschiffe durchkreuzten, in ein übergeordnetes Gebilde eingebettet sein müsse, in dem andere Naturgesetze galten als im bekannten Raum. Einer von Possert Egk Flangkorts besten Freunden, Sigmar Kjellon, befasste sich besonders mit dieser Hypothese und behauptete, die Bernaler würden eines Tages ohne Zuhilfenahme von Raumschiffen von Weltenkörper zu Weltenkörper reisen können, indem sie sich mit Hilfe einer geeigneten Maschinerie durch jenes übergeordnete Kontinuum, den so genannten Hyperraum, bewegten.
So war Toulminth zu einer Insel der Vollkommenheit geworden. Eine paradiesische Welt, bewohnt von Menschen, die durch logisches Denken und aus der Erkenntnis des Notwendigen eine Gesellschaft geschaffen hatten, die nahezu frei von Fehlern war. Natürlich ließ sich das Unvollkommene nicht völlig ausrotten. Die Statistik wollte es, dass hin und wieder Menschen geboren wurden, die an der Vollkommenheit zerbrachen, in ihr in pathologischer Verdrehung den Gipfel der Unvollkommenheit sahen. Den meisten dieser Unglücklichen konnte mit Mitteln der hochentwickelten Neurologie und Psychiatrie geholfen werden. Diejenigen, bei denen kein Mittel verfing, sonderte man ab und brachte sie in einem Gebiet unter, das die Bernaler »das Krankenland« nannten.
Die Regierung des Planeten Toulminth bestand aus Wissenschaftlern – eine nahezu triviale Feststellung, da sich jeder erwachsene Bernaler mit Recht einen Wissenschaftler nennen konnte. Die an der Regierung Beteiligten bildeten eine lockere Organisation, die in Funktion trat, wann immer es erforderlich war, und deren Mitglieder das Recht hatten, zwischen ihrem Vor- und Familiennamen das Bestimmungssymbol »Egk« zu tragen. Possert Egk Flangkort war seit vielen Jahren Mitglied des regierenden Gremiums. Von Haus aus war er Biophysiker und beschäftigte sich mit der Erforschung der Zusammenhänge zwischen der belebten und der unbelebten Welt.
Im Verlauf dieser Forschungen war ihm der Verdacht erwachsen, dass der Zustand der Vollkommenheit, auf den die bernalische Zivilisation zusteuerte, keineswegs so eindeutig erstrebenswert sei, wie man allgemein glaubte. Schon von der Logik her bereitete es Schwierigkeit, sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn die Vollkommenheit einmal erreicht sei. Entfiel für den vollkommenen Menschen nicht jegliche Triebkraft für weitere Betätigung?
Possert Egk Flangkort jedoch sah eine noch weitaus größere Gefahr. Die Lehre von den Zusammenhängen zwischen belebter und unbelebter Welt, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Hauptsache von Flangkort selbst weiterentwickelt worden war, schien darauf hinzudeuten, dass diese Zusammenhänge sich für einen Menschen oder gar eine Gesellschaft in dem Augenblick, in dem der Punkt der Vollkommenheit erreicht wird, auf drastische Weise ändern. Es war, als sei die bisherige Welt für den nun Vollkommenen zu klein geworden, als enthielte seine Vollkommenheit einen Sprengstoff, der in diesem Augenblick zur Detonation gebracht wurde und die Grenzen des bisherigen Lebensbereiches zerfetzte.
Um sich für diese Theorie einen Beweis zu verschaffen, hatte Flangkort den Versuch mit Sagnin Lorafa angestellt. Nun war er seiner Sache sicher. Er musste jetzt darangehen, der Welt von seiner Entdeckung Kunde zu geben. Die bisherige Entwicklung der bernalischen Zivilisation musste angehalten oder auf einen anderen Kurs gebracht werden. So wie bisher durfte es auf keinen Fall weitergehen.
*
Sigmar Kjellons Haus lag in einem Hain rotblauer Sugub-Bäume. Es hatte die typische Schüsselform bernalischer Architektur, eine sanfte Wölbung, im Zenit etwa zwölf Meter hoch, mit den Schüsselrändern auf dem Boden ruhend. Nach Südwesten hin hatte Kjellon einen würfelförmigen Vorbau errichten lassen, dessen rückwärtiger Teil mit der Schüssel verschmolz. Das Gebäude war in irisierender, grünlich-gelber Farbe ausgeführt und bildete einen farbenprächtigen, jedoch harmonischen Gegensatz zu dem Sugub-Wäldchen.
Im innersten Raum des Hauses, der großen Kuppelhalle, in der Sigmar Kjellon seine Forschungen betrieb, saßen der Hausherr und Possert Egk Flangkort einander gegenüber.
»Ich sehe keine Möglichkeit«, erklärte Sigmar, »dass der Hyperraum jemals die Heimat des Menschen werden könnte. Die menschlichen Sinnesorgane sind nicht dafür geschaffen, sich mit einem übergeordneten Kontinuum auseinanderzusetzen. Der Mensch, der unversehens in den Hyperraum versetzt würde und sich eine Zeitlang darin aufhalten müsste, könnte seine Umgebung überhaupt nicht wahrnehmen. Er würde in einem finsteren Abgrund schwimmen oder meinetwegen in einem milchig-weißen, konturlosen Nichts.«
Er sah seinen Besucher aufmerksam an.
»Was bewegt dich zu dieser Frage, mein Freund?«, wollte er wissen.
Possert beschloss, seine Karten auf den Tisch zu legen.
»Ich befürchte, dass die bernalische Gesellschaft in Kürze gezwungen sein wird, sich mit einem neuen Lebensraum vertraut zu machen. Nach meiner Ansicht wird dieser Raum ein übergeordnetes Kontinuum sein, etwa wie der Hyperraum, den zu erforschen du dich bemühst.«
Er schilderte dem Freund seine Überlegungen. Possert brauchte sich nicht mit langatmigen Erklärungen grundlegender Dinge aufzuhalten. Sigmar folgte ihm mühelos. Possert sprach fast eine Stunde lang. Als er geendet hatte, herrschte zunächst Schweigen.
»Das ist eine erschreckende Theorie«, sagte Sigmar schließlich. »Aber eben doch nur eine Theorie. Nach meiner Ansicht werden wir den Zustand der Vollkommenheit niemals erreichen.« Er sah auf und lächelte spöttisch. »Merkwürdig, wie man immer versucht ist zu sagen: den Zustand der vollständigen Vollkommenheit. Als ob es eine unvollkommene Vollkommenheit gäbe! Wir werden ihm immer näher kommen etwa so, wie die Experimentalphysik dem absoluten Nullpunkt der Temperaturskala beliebig nahekommen kann, ohne ihn jedoch jemals zu erreichen. Und dieses letzte Stückchen, das uns von der Vollkommenheit trennt, wird dazu beitragen, dass deine Befürchtungen nicht wahr werden.«
Er sah Possert Egk Flangkorts große, braune Augen mit dem Ausdruck resignierender Trauer auf sich gerichtet.
»Aber irgendwie kann ich dich damit nicht überzeugen, wie?«, fragte er.
»Nein, dazu ist es zu spät«, antwortete Possert. »Ich habe mich überzeugt, bevor ich zu dir kam.«
»Überzeugt? Wovon?«
»Von der Richtigkeit meiner Hypothese. Von der Richtigkeit der Befürchtung, dass der Mensch, der den Zustand der Vollkommenheit erreicht, dieses Universum verlässt und in einen anderen Raum, eine andere Zeit übertritt.«
Sigmar Kjellon war sichtlich überrascht.
»Wie kannst du dich überzeugt haben? Du meinst, du hast ...«
Die Bestürzung ging mit ihm durch. Er fand die richtigen Worte nicht mehr, den Satz zu vollenden.
»Jawohl, ich habe ein Experiment durchgeführt, mit einem Menschen«, bestätigte Possert. »Ich habe Sagnin Lorafa meine Sorgen vorgetragen. Sie wollte mir ebenso wenig glauben wie du. Sie bot sich selbst als Versuchsperson an. Sie wollte mir beweisen, so sagte sie, dass ich mich unnötig sorge. Du kennst Sagnin. Sie ist eine der klügsten Frauen, die unsere Gesellschaft jemals hervorgebracht hat. Aber sie ist eben eine Frau, und bei Frauen spielen im Gesamthaushalt des Bewusstseins die Emotionen eine wenigstens ebenso große Rolle wie logische Vorgänge, im Gegensatz zum Mann, bei dem die logischen Prozesse im Vordergrund stehen. Eine Frau von Sagnins Kaliber war also das ideale Objekt für einen Versuch, in dessen Verlauf die Versuchsperson den Zustand der Vollkommenheit erreichen sollte.«
Er zögerte.
»Sprich weiter!«, forderte Sigmar ihn auf.
»Der Versuchsraum war eine wahre Idylle –