Nr. 539

 

Das Experiment der Cynos

 

Mit dem Suchkommando auf Heytschapan – dem Planeten der Wiedererwachten

 

von H. G. EWERS

 

 

Auf Terra und den anderen Menschheitswelten schreibt man Mitte Juni des Jahres 3442.

Trotz ihrer geringen Anzahl haben Perry Rhodan und die von der galaxisweiten Intelligenzretardierung nicht betroffenen Terraner im Kampf gegen das Chaos und gegen die Macht des Schwarms bereits Großes geleistet.

Auch auf der Erde selbst sind inzwischen bedeutsame Fortschritte zu verzeichnen gewesen. Die meisten Menschen dort haben ihre frühere Intelligenz teilweise wieder zurückgewonnen und nutzbringend eingesetzt. Das gilt besonders für die Männer und Frauen der MARCO POLO. Sie kehrten an Bord des Flaggschiffs zurück und erlangten, als sie in den Schwarm eindrangen, ihre Intelligenz völlig zurück.

Mit der voll bemannten und voll kampffähigen MARCO POLO und ihren Beibooten verfügt Perry Rhodan nun über eine beachtliche Streitmacht, mit der es gelingen sollte, die Herrscher des Schwarms in Unruhe zu versetzen.

Doch bevor die weiteren Ereignisse im Schwarm geschildert werden, blenden wir um zum galaktischen Raum außerhalb des Schwarms – zum Planeten der Wiedererwachten und dem EXPERIMENT DER CYNOS ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Oronk Ayai – Der Idiot von Heytschapan.

Nat Illbain – Ein Späher des Solaren Imperiums.

Siponta Drakow – Anführer einer Freihändlergruppe.

Dalaimoc Rorvic – Ein neuer Mutant aus Tibet.

Peltrow Batriaschwili, Bescrilo Nonderver und Riev Kalowont – Rorvics Begleiter.

Tatcher a Hainu – Initiator einer Männerrevolte.

1.

 

Oronk Ayai sah, wie der Wortch von den zuschnappenden Schotthälften getötet wurde. Er kroch näher und roch an dem warmen Fleisch. Die Versuchung, davon zu essen, war groß. Doch stärker war das alte eingeschliffene Verhaltensschema, das fast wie ein ererbter Instinkt wirkte.

Die Nahrung einer fremden Welt ist Gift!

Der Impuls des Unterbewusstseins rief Abscheu hervor. Oronk kroch zurück. Er war nicht in der Lage, das Fleisch des Wortchs anzurühren, obwohl sein ausgemergelter Körper nach Nahrung schrie. Unter einer defekten Kühlschlange hatte sich eine kleine Wasserpfütze gebildet. Ihr Anblick aktivierte den eingeschliffenen Automatismus nicht; Oronk Ayai schlürfte das lauwarme Nass, bis kein Tropfen mehr vorhanden war. Dann kroch er über den harten Glasfaserbeton weiter.

Nicht, dass Ayai gewusst hätte, wo er sich befand und was die Dinge seiner Umwelt bedeuteten. Für ihn waren Umwelt und er eine untrennbare Einheit, ein aufeinander abgestimmter Mechanismus. Zumindest war es einmal so gewesen. Aber seit langer Zeit gab es dieses harmonische Verhältnis nicht mehr. Ein Faktor hatte sich als minderwertig erwiesen – und dieser Faktor hieß Mensch. Oder, genauer, Oronk Ayai.

Oronk Ayai – ein zum Skelett abgemagerter großer Mann mit wirrem blondem Haar, blondem Vollbart, halberloschenen Augen und verschmutzter Kleidung.

Der Mann stieß gegen ein Hindernis. Er wollte es umgehen, aber da verließen die Kräfte ihn. Seine Stirn prallte dumpf gegen den Boden. Nach einiger Zeit, Oronk hätte niemals sagen können, wieviel Zeit verstrichen war, ertönte ein scharfes Klicken hinter der linken Schläfe, gleich darauf hinter der rechten.

Etwas in Oronks Gehirn regte sich, etwas, das vor langer Zeit erloschen war, etwas, das Oronk nicht erklären konnte.

Doch mochte sein Geist sich auch niemals mehr im vollen Lichte baden können, eine winzige Kerzenflamme genügte, um die Pfade träger Gedanken einigermaßen zu erhellen.

Oronk Ayai stemmte sich mit den Händen in kniende Haltung. Sein Kopf pendelte dabei kraftlos hin und her, während die Hände gleich halbbetäubten, großen Spinnentieren eine senkrechte Wand hinaufkrochen.

Als die Hände eine ebene Platte ertasteten, zog Oronk sich daran entlang. Seine Knie scharrten über den Boden, die Augen schielten aus dem pendelnden Kopf nach oben, bis sie entdeckten, wonach sie gesucht hatten.

Eine Automatkonserve!

Für Oronk Ayai war es nur ein Ding, aus dem schmackhafte Nahrung kam, wenn man den Finger in eine Vertiefung presste. Er schloss die Augen, während sein Zeigefinger suchte und endlich die Vertiefung mit dem Knopf fand.

Ein schwaches Summen ertönte, dann erwärmte sich die Konservendose, der Deckel sprang auf. Oronk griff nach dem Löffel an der Innenseite des Deckels und aß mit einer Art sorgfältiger Hast. Nichts von dem kostbaren Inhalt ging verloren. Das, was am Boden und der Innenwand hing, holte Oronk mit den Fingern aus der Dose.

Danach wälzte er sich auf den Rücken, streckte sich aus – und war wenige Sekunden später eingeschlafen ...

Als er erwachte, fühlte er sich schon erheblich besser. Seine Augen sahen die Umwelt klarer als zuvor, und er vermochte einzelne Gegenstände aus der Ganzheit herauszulösen und ihnen Namen oder Begriffe zuzuordnen.

Beispielsweise den Namen Bildschirm für eine Galerie von Trivideokuben, in denen dreidimensional und farbig eine wüstenartige vegetationslose Landschaft abgebildet wurde.

Die Bergwüste von Pelukatan, Planet Heytschapan, Eppyla-Pharo-System, Entfernung zur Erde 12.103 Lichtjahre, zum »Kopf« des unheilbringenden Schwarmes der Gelben Eroberer 7009 Lichtjahre.

Doch diese Daten hätten Oronk Ayai nichts oder nicht viel gesagt, wenn jemand sie ihm genannt hätte.

Aber es gab niemanden, der sie ihm hätte nennen können!

Oronk starrte auf die gelblich-braunen Staubschleier, die einen scheinbar schwerelosen Tanz über dem Sand, den schroffen Felsen und Geröllhalden aufführten. Die Sonne äugte matt und blass durch eine gelb, rosa und grau gefärbte Staubglocke, die in der Hochatmosphäre schwebte. Für kurze Zeit tauchte auf dem Kamm einer Düne eine Kette von Lebewesen auf, die sich in seltsam schwankendem Gang vorwärts bewegten. Es waren Guels, die auf ihren anspruchslosen Tschapans durch die Wüste ritten, um nach jenen glasartigen Kristallen zu suchen, nach denen jemand – Oronk wusste nicht mehr wer – verrückt gewesen war. Kurz darauf verschwand die Kolonne der Reiter in einer Senke, und Oronks Interesse erlosch.

Er stand vollends auf, atmete einige Male tief durch und ging danach zielstrebig in einen gekachelten Raum. Vor langer Zeit hatte er sich gemerkt, welchen Schaltknopf er drücken musste, um die Wohltat dieses Ortes auszulösen.

Die Automatik entkleidete ihn, wusch und duschte ihn gründlich, stutzte Haar und Bart, verabfolgte Pediküre und Maniküre, pflegte Zähne und Zahnfleisch. Ihre Sensoren ermittelten außerdem, dass die Person, die ihre Dienstleistung beanspruchte, physisch indisponiert war. Sie rief einen Medoroboter herbei, der Oronk Ayai untersuchte und im vollautomatischen Recreation Center ablieferte.

Etwa achtundvierzig Stunden später wurde Oronk aus dem Erholungszentrum entlassen. Seine physische Verfassung war gut; er hatte sich schnell erholt und wieder Fleisch angesetzt. Als er sich für kurze Zeit im Feldspiegel betrachtete, sah er einen hochgewachsenen, etwas mageren Adonis mit kurzgeschnittenem blondem Haar, blondem Vollbart und blauen Augen.

Ayai streckte seinem Spiegelbild die Zunge heraus, kratzte sich unter den Achseln und schlenderte, fröhlich pfeifend, in den Küchensektor. Er stieß einen Jubelruf aus, als er seinen liebsten Freund, den Küchenroboter, erblickte, ein Aggregat von zehn Meter Breite und drei Meter Höhe, mit zahlreichen Knöpfen, Kontrollen und flackernden Lämpchen.

Hier war Oronks Reich, hier kannte er sich aus wie kaum ein anderer es gekonnt hätte!

Er beschloss, zur Feier des Tages eine »Ente der acht Kostbarkeiten« zu speisen. Seine Finger hüpften in freudiger Erregung über die Schalttasten. Auf kleinen Kontrollbildschirmen erkannte Oronk, dass noch genügend zellstabilisierte Tiefkühlenten vorhanden waren. Auch an Zutaten mangelte es nicht.

Oronk leitete den Auftauvorgang ein, mischte genau abgemessene Mengen Reis mit Perlgraupen, tastete Zucker, Zwiebel, Sojasoße, Mandeln und Kastanien in »Bereitstellung«, vergewisserte sich, dass auch Datteln, Lotosnüsse und Rosinen vorhanden waren. Den gekochten Reis mit den Perlgraupen entzog er der Kontrolle des Küchenroboters, denn die weiteren Arbeiten erschienen ihm zu diffizil, als dass eine Maschine sie durchführen könnte. Oronk ließ Reis und Perlgraupen auf einem Sieb abtropfen, vermischte sie mit dem größten Teil der übrigen Zutaten, nahm die Ente aus dem Automaten und füllte sie mit der Masse. Danach schob er sie in eine Pfanne, übergoss sie mit einem dreiviertel Liter Wasser, fügte den Rest der Sojasoße und Zwiebel sowie Sherry und Ingwer dazu und ließ alles eine Stunde lang kochen. Dann wendete er die Ente, gab den übrigen Zucker bei, ließ eine weitere Stunde kochen. Zum Schluss tat er die Fülle in eine Schüssel, tranchierte die Ente und richtete sie, in ihre ursprüngliche Form zusammengesetzt, auf der Fülle an.

Als er sein Meisterwerk betrachtete, tat es ihm leid, es zu zerstören, indem er es verspeiste. Er begab sich auf die Suche nach einem hungrigen Mitmenschen, der kultiviert genug war, um Bewunderung für eine gelungene »Ente der acht Kostbarkeiten« zu empfinden und sie gemeinsam mit dem Schöpfer des Kunstwerkes zu verspeisen.

Eine Zeit lang irrte Oronk Ayai in seiner Behausung umher – die ein Stützpunkt der Solaren Abwehr war, was er aber nicht wusste. Immerhin erinnerte er sich an zehn und acht Terraner, Männer und Frauen, denen er vor längerer Zeit mit seinen Kochkünsten gedient hatte. War das Wochen her – oder Monate – oder Jahre? Oronk Ayai erinnerte sich außerdem daran, dass diese Männer und Frauen, seine Freunde, sich einige Zeit lang äußerst merkwürdig benommen hatten.

Doch er fand niemanden in der Station, außer robotischen Geräten. Deshalb beschloss er schließlich, nach draußen zu gehen und sich in der Bergwüste umzusehen. Irgendwo mussten seine Freunde doch geblieben sein.

Er ging den Leuchtschildern nach, die ihm den Weg zum Hauptausgang wiesen. Vor der Schleuse schrak er zusammen, als eine mechanische Stimme sagte: »Es wird davor gewarnt, die Außenwelt ohne entsprechende Schutzkleidung zu betreten. Ihnen, Mr. Ayai, empfehle ich eine Aptan-Ausrüstung. Nehmen Sie bitte die Dienste von HUGOH-3 in Anspruch, Sir!«

Oronk wartete geduldig, bis die 1,50 Meter große humanoide Maschine mit dem eiförmigen Schädel ihn erreichte. Er wusste nicht, dass die Typenbezeichnung HUGOH für »Haus- und Garten- oder Hofroboter« stand, aber er wusste, dass diese Roboter zu den dienstbaren Geistern seiner Behausung gehörten.

HUGOH-3 arbeitete geschickt, und nach wenigen Minuten verließ Oronk Ayai den Stützpunkt in der aus einer Kombination, einem Kapuzenumhang, einer Energieausrüstung und verschiedenen Versorgungseinheiten bestehenden Aptan-Ausrüstung.

Wenige Schritte vor dem Außenschott stieß er auf den ersten Toten. Das Skelett steckte noch in einer Aptan-Ausrüstung, die sich mit Sand gefüllt hatte. Etwa zehn Meter davon entfernt lagen zwei weitere Leichname, beziehungsweise ihre Gerippe. Neben ihren – in Handschuhen steckenden – Fingerknochen lagen Strahlwaffen.

Plötzlich duckte Oronk sich. Etwas verdunkelte die Sonne. Als er aufsah, entdeckte er ein elliptisches Fahrzeug, das langsam aus dem Himmel herabsank. Jemand beugte sich über den Bordrand und rief etwas.

Oronk verstand nicht, was die Person sagte; er erkannte nur, dass es keiner seiner Freunde war.

Und niemand außer seinen Freunden hatte etwas in seiner Heimat zu suchen!

Oronk Ayai wandte sich um und lief mit flatterndem Umhang auf das Außenschott der Stationsschleuse zu. Das wurde von der Besatzung des Luftfahrzeuges offenbar nicht gern gesehen, denn wenige Sekunden später schlug ein Hagel von Giftnadelgeschossen in Oronks Körper. Die aus kristallisiertem Lähmungsgift bestehenden winzigen Nadeln lösten sich in Oronks Körper auf und wurden über die Blutbahn verteilt.

Aber die Wirkung blieb aus.

Ayai erreichte das Schott, das sich vor ihm öffnete und hinter ihm wieder schloss. Keuchend vor Angst und Wut, rannte er zu dem Raum, auf dessen Eingangsschott in leuchtenden grellroten Buchstaben FIRE CONTROL stand. Oronk wurde von niemandem aufgehalten. Offensichtlich hatte die Überwachungsautomatik erkannt, dass ein wirklicher Notstand eingetreten war – und dass sie in Ermangelung anderer Menschen einen Idioten an die Feuerschaltungen lassen musste.

Oronk Ayai stürzte zum Feuerleitpult und drückte wahllos Knöpfe und bunte Schaltplatten. Auf einem Bildschirm sah er, wie das elliptische Fahrzeug von einem grünen Leuchten ausgelöscht wurde. Andere Bildschirme zeigten einen Pulk Flugpanzer, der auseinanderstob, als ein Werfergeschoss mit Fusionssprengkopf in ihm explodierte. Dann meldete eine seelenlose Automatenstimme den Anflug diskusförmiger Raumschiffe.

Oronk drückte weitere Knöpfe und Schaltplatten. Danach verließ er FIRE CONTROL und lief zu der Tür mit der Aufschrift HYPERRADIO STATION. In dem Raum dahinter, so wusste er, befand sich etwas, mit dem man Hilfe herbeirufen konnte, wenn man in größter Not war.

Und Oronk glaubte, dass er in allergrößter Not war.

Er aktivierte das Hyperfunkgerät und drückte auch hier wahllos Knöpfe, Schalter und Platten ein. Damit erreichte er naturgemäß überhaupt nichts – bis er zufällig die Schaltplatte drückte, auf der rötlich glühende Buchstaben folgende Worte formten: EMERGENCY CALL ...

 

*

 

Nat Illbain hatte ein ungutes Gefühl, als eine Robotstimme aus dem Interkom von Imperium-Alpha ihm mitteilte, er möge sich unverzüglich bei Major Szturkov melden.

Verbittert kaute er auf der Unterlippe, während er auf dem Sichtschirm der Produktionspositronik den letzten Abschnitt seines neuesten Trivideo-Kriminalspiels anstarrte, das höchstwahrscheinlich niemals gesendet werden würde, weil es nicht genügend Vollintelligente gab, die sich dafür interessierten. Die Verdummungs-Restriktion war nur eine teilweise gewesen.

Nat schaltete das Gerät aus, schnallte sich seinen Waffengurt um und musterte sich vor dem Feldspiegel, um zu prüfen, ob er in seiner derzeitigen Verfassung vor Major Szturkovs kritischem Auge bestehen könnte.

Er sah das Spiegelbild eines 1,90 Meter großen, hageren Mannes mit hohlen Wangen, brandrotem kurzem Kraushaar und Howalgoniumohrringen. Die Dienstkombination saß halbwegs normal. Nat schloss die drei obersten Magnetknöpfe seiner Jacke und verbarg damit den wolligen roten Haarpelz, der seine Brust bedeckte.

Schwach grinsend salutierte Captain Illbain vor sich selbst, wandte sich um und ging zu dem Liftschacht, der ihn in die Regionen beförderte, in denen der Einsatzstab der Notzentrale des Solaren Imperiums untergebracht war.

Vor dem Schott zu Major Szturkovs Arbeitsraum aktivierte Nat Illbain den Türmelder und sagte: »Captain Illbain wunschgemäß zur Stelle, Major.«

Das Schott öffnete sich.

Als Nat eintrat, stand Braska Szturkov mit vor der Brust verschränkten Armen mitten im Zimmer. Er warf Illbain einen finsteren Blick zu und grollte: »Sie sind nicht wunschgemäß, sondern befehlsgemäß zur Stelle, Captain Illbain. In den Dienstvorschriften der Solaren Abwehr gibt es keinen Passus, der von einem Wunsch spricht, wenn ein Vorgesetzter einen dienstgradmäßig ihm unterstellten Mitarbeiter zu sich beordert.«

»Diese Dienstvorschriften wurden vor dem 29. November 3440 Erdzeit ausgearbeitet, Major«, erwiderte Nat ungerührt. »Fast zwei Jahre nach diesem historischen Datum, das den Eintritt der allgemeinen Intelligenz-Retardierung kennzeichnet, herrscht ein derartiger Mangel an dienstgradmäßig anderen Menschen unterstellten Mitarbeitern, dass die in der Überzahl befindlichen Vorgesetzten sich vor der Erwähnung eventueller Befehlsgewalt hüten sollten.«

»Die Notstandsgesetze des Solaren Imperiums ...«, begann Szturkov mit erhobener Stimme. Dann winkte er ab und sagte grinsend: »Lassen wir den Unsinn, Nat. Setz dich und höre mir zu!«

Er holte eine Flasche aus schwarzem Glassit aus dem für Geheim-Informationsbänder reservierten Fach seines Arbeitstisches und goss eine goldgelbe Flüssigkeit in zwei Plastikbecher.

Nat Illbain musterte seinen Vorgesetzten aufmerksam. Braska war sein Schwager und, im Unterschied zu ihm selber, regulärer Offizier der Solaren Abwehr. Illbain hatte früher zehn Jahre bei der Einsatzflotte der SolAb gedient, war dann jedoch ins Zivilleben zurückgekehrt. Nachdem das erste böse Chaos der Verdummung auf der Erde überwunden war, hatte Nat sich in IMPERIUM ALPHA gemeldet und war von Solarmarschall Galbraith Deighton in seinen alten Dienstrang eingesetzt worden.

»Zum Wohle!«, sagte Braska und leerte seinen Becher. Seine tiefliegenden Augen musterten Nat; die Brauen stachen wie gesträubtes Skunkshaar ab. Das lange gelbe Haar wurde durch einen Mittelscheitel geteilt und war an den Seiten leicht gelockt, was die Derbheit von Szturkovs Erscheinung ein wenig milderte.

Nat leerte seinen Becher schweigend.

Braska Szturkov, von einigen niedrigen Dienstgraden heimlich »Sturkopf« genannt, wartete fast noch eine Minute, ehe er bedächtig sagte: »Wir haben einen neuen Einsatzbefehl, Nat. Deighton persönlich zitierte mich vor einer Stunde zu sich und erklärte mir, worum es ging – soweit er es selber ahnte.«

Er blickte seinem Schwager in die Augen.

»Hast du schon einmal etwas von Heytschapan oder dem Eppyla-Pharo-System gehört?«

Nat schüttelte den Kopf.

»Ganz bestimmt nicht.«

»Ich hatte bis vor einer Stunde auch keine Ahnung, dass es so etwas wie den Planeten Heytschapan überhaupt gibt. Nun, jedenfalls wurde vor rund vier Jahren ein Geheimstützpunkt der SolAb auf Heytschapan angelegt. Unsere Kollegen traten als Angehörige einer großen Freihändlergruppe auf, die sich aus dem Bund der Freihändler von Boscyks Stern gelöst haben. Diese Freihändler hatten auf Heytschapan ausbeutungswürdige Howalgoniumvorkommen entdeckt und gingen daran, die Schwingquarze in großen Mengen zu gewinnen.

Etwa 220.000 Freihändler landeten auf Heytschapan, errichteten provisorische Niederlassungen und begannen mit dem Bau von Howalgoniumgewinnungsanlagen und Städten. Kurz vor dem Eintreten der Verdummungswelle hatte die Hauptsiedlung mit dem Namen Weyko-Prada eine Einwohnerzahl von 52.000 Personen.«

»Interessant«, meinte Nat ironisch. »Aber weshalb interessiert sich der Solarmarschall heute dafür? Niemand braucht neue Schwingquarze für Funk-, Ortungs- und Feuerleitgeräte auf Hyperbasis.«

»Jemand hat im Geheimstützpunkt der SolAb auf Heytschapan den vorprogrammierten vollautomatischen ECTTE aktiviert, Nat«, erwiderte Szturkov ernst.

»Den auf die Erde gerichteten Notruf«, murmelte Captain Illbain. »Und nun sollen wir beide wohl nachsehen, warum?«

»Du hast es erraten. Wir starten in zwei Stunden mit einer Space-Jet. Falls du hier noch etwas zu erledigen hast, dann beeile dich bitte.«

Nat ließ die Schultern hängen.

»Ich wüsste nicht, was ich auf der Erde zu erledigen hätte, Braska.« Zumindest gab es keine Privatangelegenheiten für Captain Nat Illbain auf der Erde mehr, seit alle seine Verwandten und Freunde bis auf Braska in den ersten Tagen des Verdummungschaos umgekommen waren.