Nr. 87
Der Hexenhain
von Paul Wolf
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Mythor, der Sohn des Kometen, hat in der relativ kurzen Zeit, da er für die Sache der Lichtwelt kämpfte, bereits Großes vollbracht. Nun aber hat der junge Held Gorgan, die nördliche Hälfte der Welt, verlassen und Vanga, die von den Frauen regierte Südhälfte der Lichtwelt, erreicht, wo er von der ersten Stunde seines Hierseins an in gefährliche Geschehnisse verstrickt wurde.
Diese Geschehnisse nahmen ihren Anfang im Reich der Feuergöttin, wo Mythor für Honga, einen aus dem Totenreich zurückgekehrten Helden, gehalten wurde. Es kam zur Begegnung mit Vina, der Hexe, und Gerrek, dem Mann, der in einen Beuteldrachen verwandelt worden war. Es folgten Kämpfe mit Luftgeistern und Amazonen, es kam zu Mythors Gefangenschaft, zur Flucht und zu erneuten Kämpfen mit denen, die sich an Mythors Fersen geheftet hatten.
Gegenwärtig setzt Mythor alles daran, den Hexenstern zu erreichen, wo er seine geliebte Fronja, die Tochter des Kometen, in schwerer Bedrängnis weiß.
Doch Mythors Pläne lassen sich noch nicht realisieren – das Schicksal will es anders! Unser Held wird in die Auseinandersetzungen zwischen den Amazonen von Horsik und denen von Narein verwickelt.
Dabei kommt es zu einem Zwischenspiel mit Mythor, Tertish, der Todgeweihten, und der Hexe Vilge. Schauplatz dieses Zwischenspiels ist DER HEXENHAIN ...
Mythor – Der Sohn des Kometen auf den Spuren des legendären Caeryll.
Tertish – Eine Todgeweihte als Mythors Begleiterin.
Vilge – Eine Hexe träumt von der Allmacht.
Pike, Gwit und Ulth – Vilges Vogelwesen.
Kila Halbherz – Eine Entehrte, die nicht sterben kann.
Squir – Kommandantin eines Luftschiffs.
»Burra!«
Ich zucke zusammen, schrecke wie aus einem Traum hoch.
»Ja, ehrenwerte Mutter?«
Die Zaubermutter Zaem ist unvermittelt in meiner Kemenate aufgetaucht, anstatt, wie sonst, mich von einem der Aasenmädchen zu sich holen zu lassen.
Ihre dunklen Augen sind geradewegs auf mich gerichtet, ihr stechender Blick scheint mich zu durchbohren. Die Farben des Regenbogens, die sie an ihrem Mantel und am Barett trägt, scheinen sich zu einem Wirbel zu vermischen.
»Was für seltsamen Gedanken magst du wohl nachhängen, Burra«, sagt sie nachdenklich.
Entsetzen beschleicht mich, weil ich weiß, dass sie mich jederzeit dazu bringen könnte, ihr meine geheimsten Gedanken mitzuteilen. Und das wäre mein Ende.
»Ich stehe zu deiner Verfügung, meine Mutter!«
Ich straffe mich und lege Hand an meine Schwertgriffe.
Aber Zaem winkt ab.
»Es ist noch nicht soweit. Es haben sich Schwierigkeiten ergeben. Ich will das mit dir bereden. Und auch noch einiges andere. Nimm Platz.«
Ich sinke auf mein Lager zurück, sie selbst bleibt stehen und verschränkt die Arme vor der flachen Brust. Sie sieht auf mich herab, nachdenklich und forschend zugleich.
Ich habe fast das Gefühl, als wolle sie mein Innerstes erforschen. Wenn sie wüsste ... Nicht daran denken!
»Es behagt dir hier nicht«, sagt die Zaem.
»Ich habe nichts zu tun«, erwidere ich. »Seit wir in deinen Frostpalast gekommen sind, schon drei volle Wochen lang, bin ich zum Nichtstun verurteilt.«
Wir sind Ende Seelenmond, dem Mond der wankelmütigen Zedra, vom Nassen Grab aufgebrochen und in Zaems Ballon zum Hexenstern geflogen. Aber meine Hoffnungen, im Dienst meiner Zaubermutter kämpfen zu können, haben sich nicht erfüllt. Vielleicht ist das besser so, denn ich weiß, was sie vorhat und von mir verlangen wird, doch bin ich nicht sicher, ob ich diese Tat guten Gewissens werde ausführen können. Ob ich überhaupt dazu in der Lage bin!
Schon einmal – im Nassen Grab – habe ich meiner Zaubermutter zuwidergehandelt, als sie den Tod Mythors befahl, ich ihn jedoch von meinen Kriegerinnen an Bord der Sturmbrecher bringen ließ, um ihn für mich zu retten ... diesen Mann wie Caeryll, einen Krieger Gorgans!
Und vorhin, gerade als mich Zaem in meiner Kemenate überraschte, musste ich daran denken, dass meine Amazonen Mythor inzwischen längst nach Burg Anakrom gebracht haben mussten, wo seine Ausbildung gerade vervollkommnet wird. Wenn meine Aufgabe am Hexenstern erledigt ist, werde ich meine Burg aufsuchen und mich im Schwertkampf mit ihm messen. Dann werde ich wissen, wer stärker ist – die Töchter Vangas oder die Söhne Gorgans.
Wenn Zaem das erführe ...
»Du hast keinen Grund zur Klage!«, sagt meine Zaubermutter streng. »Du hattest Gelegenheit genug, dich im Kampf zu üben.«
Scheinkämpfe! Zaem ließ aus den Farben des Regenbogens Lichtgebilde entstehen, gegen die ich fechten konnte. Ich habe es satt!
»Du brauchtest diese Ruhepause, um in dich gehen zu können«, fährt Zaem fort. »Körperlich bist du voll auf der Höhe – meine beste Amazone. Dir fehlt nur noch die rechte geistige Einstellung. Diese aber erlangst du nur durch Enthaltsamkeit und innere Einkehr. Darum muss ich dich so kurz halten.«
Ich muss an die Aasenmädchen denken, die richtige Quälgeister sind. Sie behandeln mich wie eine Barbarin, und ich könnte sie dafür alle miteinander erwürgen, aber ich darf nicht Hand an sie legen. Enthaltsamkeit! Es gibt nicht einen Mann in der Frostburg, der mir beim Ankleiden und beim Anlegen der Rüstung dienlich sein könnte. Es gibt überhaupt nichts Männliches in Zaems Frostburg – sie hat das andere Geschlecht von ihrer Zacke des Hexensterns verbannt.
»Du bist dieses Leben nicht gewöhnt, ich weiß«, sagt Zaem mit mildem Spott. »Aber für diese kurze Zeit wirst du es ertragen. Ich hoffe, dich schon recht bald verabschieden zu können.«
»Ich bin bereit!«, sage ich. »Es soll endlich getan werden, ich brenne darauf.«
Zaem nickt wissend.
»Du möchtest es endlich hinter dich bringen. Aber siehst du auch die Notwendigkeit dieser Maßnahme ein?«
»Was meine Zaubermutter beschließt, das hat für mich richtig zu sein«, antworte ich unbehaglich.
Zaem schüttelt langsam den Kopf.
»Was du tun wirst, das musst du aus innerer Überzeugung tun«, sagt sie eindringlich. »Wenn ich mich mit dir bespreche, dann nicht, um mich zu rechtfertigen, sondern um dir begreiflich zu machen, warum es geschehen muss. Glaubst du, mir ist deine Missbilligung entgangen, als ich Mythor im Nassen Grab in den Tod schickte? Du empfandest Bewunderung für ihn, weil ich ihn als einen Mann wie den legendären Caeryll bezeichnete. Doch er war eine Gefahr für Vanga. Wie es einst auch Caeryll war, der das Verhängnis über jene Namenlose brachte, die du als Schwarze Mutter kennengelernt hast. Wer weiß, ob diese Zaubermutter ohne den Einfluss Caerylls gescheitert wäre. Vanga braucht die Krieger Gorgans nicht, Fronja keinen Sohn des Kometen! Ich habe Mythor geprüft und für gefährlich befunden, darum musste er sterben. Ich werde dir etwas verraten, Burra, was eigentlich nicht für deine Ohren bestimmt ist. Wenn Fronja sterben muss, damit wir Vanga retten, dann hat Mythor sie auf dem Gewissen.«
»Nein!«, entfährt es mir. Ich kann es nicht glauben.
»Doch, ich weiß es von ihm selbst«, sagt Zaem bestätigend. »Er hat Fronja nicht absichtlich in Gefahr gebracht, sondern unwissentlich. Als ich Mythor in den Katakomben von Acron zum ersten Mal prüfte, da erfuhr ich, dass er, als er noch in Gorgan weilte, Fronjas Bild über dem Herzen trug. Doch ein dämonischer Schatten raubte es ihm und konnte so mittels Bildmagie seinen verderblichen Einfluss auf Fronja nehmen. Seit damals ist unsere Erste Frau von den Dunkelmächten bedroht – und kann nicht mehr gerettet werden. Sie muss von ihrem Schicksal erlöst werden, bevor sie zum Werkzeug dämonischer Mächte werden kann, die Vanga vom Hexenstern aus erobern. Zahdas Glaube, dass der Sohn des Kometen Fronja hätte retten können, gehört ins Reich der Fabel. Männer dürfen in Vanga keine Entscheidungen herbeiführen. Es gibt nur den von mir gewählten Weg, Burra, glaube mir.«
»Dann lass es mich tun!«
»Die Zeit ist noch nicht reif.« Zaem sagt es im Zorn. »Zahda hat es geschafft, die bislang unparteiischen Zaubermütter Zedra und Zirri für sich zu gewinnen. Zusammen mit ihren Verbündeten Zeboa, Zonda und Zumbel haben sie einen Schutzwall um Fronja errichtet, den ich noch nicht durchbrechen kann. Ich muss zu meinem Bedauern gestehen, dass ich noch nicht einmal weiß, auf welche Weise sie die Tochter des Kometen schützen. Aber sie haben einen so starken Zauber gewirkt, dass Fronja keine Träume mehr sendet. Keinen einzigen Traum, zu niemandem mehr auf ganz Vanga!«
Zaem atmet schwer. Aber sie sammelt sich schnell wieder, setzt wieder ihre starre Maske der Unnahbarkeit auf.
»Aber das wird Zahda nichts nützen«, fährt Zaem fort. »Ich habe die Kraft, einen Gegenzauber zu schaffen, der den Schutzmantel von sechs Zaubermüttern sprengen kann. Auch ich bin nicht allein, Zoud, Zanni, Ziole und Zytha sind mit mir. Und ich habe in dir, Burra, eine geeignete Vollstreckerin. Der Tag ist nicht mehr fern, da ich dich holen werde, damit du tust, was unvermeidlich ist.«
»Ich bin jederzeit bereit!«, versichere ich.
»Das genügt nicht.« Zaem bringt ihr Gesicht ganz nahe an meines. »Fronja zu erlösen und Vanga zu retten, muss zu deinem sehnlichsten Wunsch werden, zum einzigen, dich völlig beherrschenden Gedanken. Es muss so sein, als seiest du nur darum geboren worden, um eines Tages Vanga diesen Dienst erweisen zu können.«
Und mit diesen Worten entschwindet sie aus meiner Kemenate.
Die Erinnerung an meine Mutter Gaida, die von ihrem Mann Jodrel vergiftet worden war, wühlt mich auf. Das muss Zaem auch bezweckt haben: Männer sind Gift für Vanga! Aber Zaem kennt nicht den Zwiespalt, in den ich mich dadurch gebracht habe, dass ich Mythor vor dem sicheren Tod rettete. Nur ändert das letztlich nichts. Wenn ich meine Mission am Hexenstern erfüllt habe, werde ich meine Burg aufsuchen und Mythor im Zweikampf töten. Das ist ein würdigerer Tod für einen Krieger, und ich finde, ein Sohn des Kometen hat keinen schlechteren verdient.
Wir lagerten unweit der Absturzstelle von Vilges Ballon. Tertish hatte die erste und vierte Wache übernommen, ich die dritte und letzte. Auf mein Gläsernes Schwert gestützt, darauf vertrauend, dass mich seine Kraft munter hielt, hatte ich über die Ereignisse der letzten Tage nachgedacht. Meine Gedanken drehten sich um Fronjas Schicksal, aber zwischendurch war immer der Name des legendären Caeryll in meinem Geist aufgeblitzt.
Da hörte ich das verräterische Geräusch von irgendwo aus der Morgendämmerung.
Nebel lag über dem Land und gab den Blick nur auf wenige Schritt frei. Ich lauschte einer Wiederholung des Geräusches, und ich brauchte nicht lange zu warten. Ein Scharren, wie von Stiefeln über Fels, war zu hören. Es wiederholte sich wie ein Echo, dann verdreifachte es sich. Die Geräusche kamen nun ganz deutlich von oberhalb des Felsvorsprungs, unter den wir uns vor der Nässe und Kälte der Nacht zurückgezogen hatten. Und dann kollerten einige Steinchen herab, fielen Tertish geradewegs auf die Füße.
Die Amazone schien einen leichten Schlaf zu haben, denn sie schreckte sofort hoch. Ihr erster Blick galt der Handfläche ihrer Linken, die wie leblos neben ihrem gestählten Körper lag. Sie sah kurz auf das Sternmal, das ihr am Letzten Ort von Spayol ins Fleisch geschnitten worden war, dann wandte sie sich mir zu.
Ich hielt den Zeigefinger an den Mund, um ihr Schweigen zu gebieten. Sie verstand, blickte sich wachsam um und richtete sich vorsichtig auf.
Jetzt hörten wir über uns verhaltenes Murmeln. Tertish verzog spöttisch die Mundwinkel; so unvorsichtige Gegner konnte sie nur belächeln. Ich streckte drei Finger aus, um ihr anzuzeigen, mit wie vielen wir es vermutlich zu tun hatten. Tertish nickte. Sie deutete nach links und verwies mich auf die andere Seite.
Gerade als ich mich entlang des Felsüberhangs auf die rechte Seite bewegte, rührte sich Vilge. Sie hatte ihren Kopf beim Schlafen auf die pralle Ledertasche gebettet, als gelte es, einen kostbaren Schatz zu behüten.
Ich wartete, bis sie die Augen aufschlug und mit dem Heben des Kopfes meinen Blick kreuzte, dann gebot ich auch ihr durch ein Zeichen Stillschweigen. Aber sie zeigte nur ein belustigtes Lächeln, erhob sich und formte die Hände am Mund zu einem Trichter. Gleich darauf stieß sie einen schrillen Schrei aus.
Von oben erklangen tumultartige Geräusche und Schritte, die sich hastig entfernten. Bei der überstürzten Flucht traten die Unbekannten einige größere Felsbrocken los, die uns vor die Füße fielen.
»Bist du übergeschnappt?«, fragte Tertish die purpurne Hexe.
»Keineswegs«, gab Vilge lächelnd zurück. »Das waren Diener der Kila Halbherz. Sie sind leicht zu schrecken, aber auch unberechenbar. Es ist besser, sie nicht zu nahe kommen zu lassen.«
»Ich hätte gerne einen von ihnen gefasst, um mehr über diese Kila Halbherz zu erfahren«, sagte ich und blickte Vilge fragend an. Als sie nicht darauf reagierte, fragte ich geradeheraus: »Was hat es mit dieser Frau auf sich?«
»Du wirst es schon noch erfahren, Mythor«, sagte Vilge ausweichend und warf Tertish einen seltsamen Blick zu. Burras Amazone wandte sich ihrem Lager aus Reisig zu und stieß mit dem Fuß hinein, wie um sich zu vergewissern, dass sie darin nichts von ihrer persönlichen Habe vergessen habe. Der Blickwechsel der beiden erschien mir wie eine stumme Absprache, das Thema Kila Halbherz in meiner Gegenwart nicht zu erörtern.
»Brechen wir auf«, beschloss Vilge, warf sich den Purpurmantel um die Schultern, mit dem sie sich zugedeckt hatte und der sie als Hexe des 7. Grades auswies. »Es ist besser, wir machen, dass wir wegkommen, bevor uns Kila mehr ihrer erbärmlichen Kreaturen auf den Hals hetzt.«
Vilge überprüfte den Verschluss ihrer Tasche, bevor sie sie sich über die Schultern warf und den Riemen an ihrem Leibgürtel festhakte. Dann marschierte sie los, ohne sich um uns zu kümmern. Tertish wartete wie ein Wachhund, bis ich zu der Hexe aufschloss, bevor sie sich ebenfalls in Bewegung setzte.
»Wie sollen wir zu Fuß unser Ziel erreichen und rechtzeitig nach Burg Narein zurückkehren?«, fragte ich.
»Wir werden eine Möglichkeit finden«, sagte Vilge knapp.
So kannte ich sie nicht. Auf Burg Narein, wo ich sie in der Bibliothek kennengelernt hatte, war sie überaus zuvorkommend, ja, geradezu aufdringlich gewesen, als sie erfuhr, dass ich die Burgchronik nach Unterlagen über den legendären Mann Caeryll durchforschte. Sie hatte sich mir als Caeryll-Forscherin zu erkennen gegeben und behauptet, dass sie in ihrem Hain im Süden von Ganzak, einige Tagesmärsche von Burg Narein entfernt, eine große Sammlung von Schriften und Relikten von dieser Legendengestalt habe.
Damit köderte sie mich und erwirkte von Swige von Narein die Erlaubnis, mit mir ziehen zu dürfen. Burras Amazonen stellten jedoch die Bedingung, dass wenigstens Tertish als Begleitung mitkam. Die anderen blieben auf der Burg zurück, um sie gegen die Belagerer aus der Sippe der Horsik zu verteidigen. Tertish sollte wohl darauf achten, dass ich nicht das Weite suchte. Doch das war überflüssig. Meine Freunde Gerrek, Scida und Kalisse waren auf Burg Narein zurückgeblieben, und ich würde sie nicht im Stich lassen.
Wir waren nachts mit Vilges Ballon gestartet, um den Belagerungsring der Horsik sicherer überfliegen zu können. Doch die Dunkelheit war nicht unserer Verbündeter. Wir wurden entdeckt, mit Brandpfeilen beschossen und getroffen. Wenigstens gingen wir nicht in einem der feindlichen Lager nieder, sondern landeten dicht an der Grenze zum Innenland, in einem Gebiet, das Vilge als zu Kila Halbherz gehörig bezeichnete. Das schien ihr nicht sonderlich angenehm zu sein, aber sie erklärte nicht, warum das so war. Tertish schien eine Ahnung zu haben, aber auch sie schwieg.
Von der Amazone Burras war nichts anderes zu erwarten. Seit sie am Letzten Ort gewesen war und sich verpflichtet hatte, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, nachdem sie ihren Pflichten als Lebende nachgekommen war, war sie mehr als früher in sich gekehrt. Sie war zu einer »Todgeweihten« geworden, was sich in ihrer ganzen Haltung ausdrückte.
Das hatte auch ich zu achten, darum drang ich nicht weiter in sie, was diese geheimnisvolle Kila Halbherz betraf.
Während wir durch das unwegsame Gelände marschierten, hob sich der Nebel etwas und gab eine trostlose Landschaft frei. Wir bewegten uns entlang eines kaum bewachsenen Berghangs, aus dessen steinigem Boden und seinen Geröllhalden nur gelegentlich Krüppelbäume und dornige Gestrüppe aufragten. Spuren von tierischem Leben fanden sich keine.
Dennoch waren ständig irgendwelche Geräusche um uns, einmal ferner, dann wieder näher. Vilge blieb einige Male stehen, um zu lauschen, und änderte dann die Richtung.
»Werden wir verfolgt?«, erkundigte ich mich.
»Das ist nur der Wind«, behauptete Vilge. Tatsächlich pfiff ein kalter Wind über die Bergflanke, aber er war nicht so stark, dass er Steinlawinen auslösen konnte. Vilge zog ihren Purpurmantel fröstelnd fester und meinte: »Der Herbst macht sich bemerkbar, und Fronja träumt bereits den Winter.«
»Fronja träumt nicht mehr!«, sagte ich, wollte noch etwas hinzufügen, verkniff es mir aber, als Vilge sich herumdrehte und mich erwartungsvoll ansah. Ich fügte nur hinzu: »Es ist weiter nichts.« Vilge wusste ohnehin schon zuviel über mich, was sich sehr nachteilig auswirken konnte, wenn sie es weitererzählte. Aber sie hatte keinen Grund, mir absichtlich zu schaden.
Plötzlich blieb Vilge stehen.