Editorische Notiz
Bei Übertragungen aus dem Russischen wurde größtenteils nach den geläufigen Regeln der Duden-Transkription vorgegangen. Ausnahmen stellen das Weichheitszeichen (Ь) dar, das in diesem Buch als j dargestellt wird, sowie die originalgetreue Umschreibung von ий zu ij. Bei englischen Originaltiteln wurde die dort verwendete Umschrift aus dem Russischen beibehalten.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Ch. Links Verlag ist eine Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG
© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022
Entspricht der aktualisierten und erweiterten Druckauflage von 2022
Die 1. Auflage erschien 2020 in der Christoph Links Verlag GmbH.
Prinzenstraße 85, 10969 Berlin
www.christoph-links-verlag.de
Lektorat: Dennis Grabowsky, Berlin
Umschlaggestaltung: Preuße & Hülpüsch Grafik-Design, Berlin (www.kunstistarbeit.de), unter Verwendung von Fotos vom Einsatz russischer Militärs 2019 in Syrien (news24-7.ru): Bildmontage
ISBN 978-3-96289-182-4
eISBN 978-3-86284-473-9
Einführung
Putins Säulen der Kleptokratie
Des Kremls Traum von der Großmacht
Moskaus Abwendung vom Westen
China – der strategische Partner?
Putin, die Raketen und die Angst
Russland auf dem Weg zum Olymp?
Von der Arktis bis nach Zentralafrika
Putins graue Männer
Die Festung Russland
Der Bluff oder »pokasucha« – so tun, als ob
Der Überfall auf die Ukraine
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Dank
Angaben zum Autor
Moskau hat die Welt verändert. Seit dem 24. Februar 2022 ist nichts mehr so, wie es einmal war. Wladimir Putin hat auf seinem Weg in eine »russische Welt«, wie sie nur in seinem Kopf existiert, das Nachbarland Ukraine überfallen, hat ihm den Krieg aufgezwungen. Er hat Tod, Zerstörung und Verderben in ukrainische Dörfer und Städte getragen und wähnte sich dennoch in einer »Befreiungsoperation«. Über zehn Millionen Ukrainer, meist Frauen und Kinder, mussten fliehen, um ihr Leben zu retten.
Zynisch und gnadenlos hat der Präsident der Russischen Föderation die ukrainische Hafenstadt Mariupol das Schicksal von Grosny und Aleppo durchleiden lassen, hat Charkiw, Sumy, Kiew und auch das ganz im Westen liegende Lviv bombardiert, hat sich ein Land, das er wenige Monate zuvor noch als »Bruderland« bezeichnete, zum Feind gemacht. Auf Jahre oder sogar Jahrzehnte. Und er hat damit fast die gesamte Welt gegen sich aufgebracht. »Mein Land ist in den Krieg gezogen, und ich konnte es nicht aufhalten, mein Land ist verrückt geworden, und ich konnte nicht helfen« dichtete der russische Rockmusiker und Gründer der Gruppe »Maschina Wremeni« (Die Zeitmaschine) Andrej Makarewitsch schon 2014, als Putin sich die Krim einverleibte und in der Ostukraine Vasallenregime installieren ließ.
Mit dem Krieg 2022 wurde die Situation weit brisanter. Seit dem Moment, da der Mann im Kreml eine mehr als 100 000 Mann starke Armee über die Grenze in die Ukraine befohlen hat, steht die Welt vor einem drohenden Flächenbrand. Putins Drohungen mit einem möglichen Atomwaffen-Einsatz haben wir noch im Ohr.
In höchster Gefahr ist indes auch die Weltwirtschaft. Das bisher gültige Kooperationsmodell, in dem jeder jederzeit an dem Ort kaufen konnte, wo es am preiswertesten war, in dem die eigene Produktion dank weltweit vernetzter Lieferketten funktionierte, war bereits vorher durch verschiedene Krisen an den Rand seiner Möglichkeiten geraten. Durch Putins Kriegslüsternheit ist es endgültig in seiner Existenz bedroht.
Was, so rätselte man landauf, landab, hat ihn dazu getrieben, welche Gründe haben Putin bewogen, die Ukraine anzugreifen? Von dort drohte Russland keine Gefahr, sie gab es lediglich in der Vorstellungswelt eines der Realität entrücken Kremlchefs.
Auch die von Putin beschworene Bedrohung aus dem Westen existierte nicht. Darüber hatten ihn wenige Tage zuvor hohe russische Offiziere im Ruhestand aufgeklärt. In einem Aufruf verwiesen sie darauf, dass von der Nato keine bedrohlichen Aktivitäten ausgingen, ihre Streikräfte würden nicht aufgestockt. Die »aufgeladene Situation um die Ukraine« sei in erster Linie künstlich und diene internen Kräften in der Russischen Föderation.1
Dass Putin dennoch losschlug, scheint vielen in Deutschland unbegreiflich und überraschend. Allerdings nur denjenigen, die die seit langem erkennbaren Anzeichen einer zunehmenden Aggressivität des Systems Putin, seine Intention, die Entwicklung der vergangenen dreißig Jahre mit der Charta von Paris, der NATO-Russland Grundakte und anderen internationalen Verträgen zurückzurollen, nicht hatten sehen wollen.
Dabei war die zynische Freude der Meinungsmacher des Kremls nicht zu überhören, wenn sie immer neue Ideen zur atomaren Zerstörung mal der USA, mal Islands unters Publikum brachten. Fake News waren ihr tägliches Geschäft: Der Feind, homophil und verderbt, steht an Russlands Grenzen, bereit, jeden Moment loszuschlagen. Das wirkte bis in die tiefste Provinz. »Warum«, fragte mich eine freundliche, sympathische Familienmutter, »wollt ihr Deutschen uns überfallen?« Das war vor sechs Jahren.
Tatsächlich hat eine allgegenwärtige, aggressive und verlogene Propaganda, die schon im Kindergarten ansetzt, einen großen Teil der russischen Bevölkerung in einen zombieähnlichen Zustand versetzt. In den verzückten Augen von 100 000 Moskauern, die im März 2022 im Luschniki-Stadion den achten Jahrestag der Eroberung der Krim feierten und ihrem Idol Putin zujubelten, war zu lesen: Dieser Völkerrechtsbruch ist längst eingegangen in die Mythenwelt der staatlich verordneten Geschichtsbetrachtung. Ebenso die Lüge von der Nazi-Herrschaft in der Ukraine, die zu beenden angeblich eine Frage des Überlebens sei.
»Auf ukrainischem Territorium kämpfen unsere Soldaten und Offiziere jetzt für Russland, für ein friedliches Leben der Bürger des Donbass, für die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine, damit kein ›Anti-Russland‹, das der Westen jahrelang direkt an unseren Grenzen geschaffen hat, uns bedroht, auch nicht mit Atomwaffen«,2 hatte Putin zuvor bei anderer Gelegenheit behauptet.
Widerspruch gegen Putins verbrecherischen Angriffskrieg gab es zunächst kaum. Seit Jahren hatte der Kreml oppositionelle Regungen systematisch niedergemacht, kritische, unabhängige Medien verboten oder außer Landes getrieben, Regimegegner wie den Korruptionsbekämpfer Alexej Nawalny eingesperrt. Vor allem nach den Verfassungsänderungen von 2020, von klarsichtigen Russen auch »Putsch« genannt, gab es nur noch »ein Volk, ein Präsident«. Das geistige Aufmarschfeld für den Kampf gegen einen erfundenen Feind war bereitet. Der Kremlchef kannte nur noch Patrioten oder »Abschaum und Verräter«.
Folgerichtig wächst die Zahl der ins Exil Getriebenen ständig; viele von ihnen haben sich im Forum Freies Russland zusammengefunden, um Widerstand gegen Putin zu leisten. Dort findet man die Blüte der russischen Intelligenzija, die ihre Heimat verlassen musste. Neben dem Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow, der Politologin Maria Snegowaja und der Menschenrechtlerin Olga Romanowa stehen die Namen von Alexander Morosow, Journalist und Politologe, Jurij Piwowarow, Historiker, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Wladislaw Inosemzew, Ökonom und Historiker, Viktor Schenderowitsch, Schriftsteller.
Anfang März, der Krieg war bereits in vollem Gange, rief das Forum die westlichen Länder, in erster Linie die USA, auf, »ihre militärische Präsenz in der Region deutlich zu verstärken«. Denn sollte es Putin gelingen, die Ukraine zu erobern, würden möglicherweise das Baltikum und weitere Länder der ehemaligen Sowjetunion folgen. Dem Westen warfen die Mitglieder des Forums vor, »die Warnungen der russischen Opposition über das Wesen des Putin-Regimes« ignoriert zu haben.
In der jetzt vorliegenden zweiten Auflage meines Russlandbuches, das 2020 erschienen ist, analysiere ich die neuesten Entwicklungen nach dem 24. Februar 2022, beschreibe den mutigen Widerstand des ukrainischen Volkes und ihres Präsidenten Wolodymyr Selenskij. Geblieben sind die Abschnitte, die sich mit dem Kern des Putin-Systems beschäftigen, mit seinen charakteristischen Zügen, seinen weltweiten Interventionen und den Ambitionen, den Status einer Weltmacht zu erobern. Sie erklären die Hintergründe, die die gegenwärtigen Entwicklungen erst ermöglichten. In dem Zusammenhang konnte ich feststellen, dass das in Russland sehr geläufige Wort »pokasucha« – so tun, als ob – neue Anwendungsmöglichkeiten gefunden hat: Wir tun so, als wäre das kein Krieg, sondern eine »Befreiungsaktion«; wir tun so, als würden wir nur militärische, keine zivilen Objekte angreifen; wir tun so, als liefe alles nach Plan.