Über dieses Buch:
Wenn die Menschen, die uns nahestehen, zum wunden Punkt werden … Für Detective Jonathan Stride von der Minnesota Police wird es der schwerste Fall: Seine langjährige Kollegin Maggie wird verdächtigt, ihren eigenen Mann eiskalt mit der Dienstwaffe erschossen zu haben. Widerwillig beginnt Stride, gegen Maggie zu ermitteln, als eine Serie grausamer Verbrechen die Kleinstadt Duluth erschüttert – ein Serienmörder, der nie gefasst wurde, scheint sein blutiges Werk wieder aufgenommen zu haben. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Maggies Schicksal und der Rückkehr des menschlichen Monsters? Die einzige Möglichkeit, die Unschuld seiner Freundin zu beweisen, ist es, den brutalen Wiederholungstäter zu fassen – aber der scheint alles über Detective Stride und seine Methoden zu wissen …
»Ein großartiger Fall, voller unerwarteter Wendungen, gespickt mit Sex und Gewalt: einer von Freemans stärkersten Thrillern.« Publishers Weekly
Über den Autor:
Brian Freeman wurde 1963 in Chicago geboren. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft arbeitete Freeman zunächst als Journalist und Marketingexperte. Sein Debütroman »The Case – Die Vermisste« wurde ein internationaler Erfolg, seitdem hat Brian Freeman zahlreiche Romane in 17 Sprachen veröffentlicht. Er lebt mit seiner Familie in St Paul, Minnesota.
Bei dotbooks veröffentlichte Brian Freeman bereits folgende Thriller: »The Case – Die Vermisste« und »The Case – Der Las-Vegas-Killer«
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eBook-Neuausgabe Oktober 2021
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2007 unter dem Originaltitel »Stalked« bei Headline Book Publishing, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Schmutzige Geheimnisse« bei RM Buch und Medien Vertrieb.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2007 by Brian Freeman
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2008 RM Buch und Medien Vertrieb GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Stefan Hilden, hildendesign.de Covermotiv: © Shutterstock.com, BeanRibbon
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)
ISBN 978-3-96655-901-0
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Brian Freeman
THE CASE
Der Serienmörder
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Imke Walsh-Araya
dotbooks.
Für Marcia
Wo faulend die toten roten Blätter der Jahre liegen,
Und alte Schuld und Tat sich weggeworfen finden,
Boshaft geplant und voller Grauen,
Dort würde ich wohl eine Sünde finden,
Die ich vor dem Tod begehen wollte.
Algernon Charles Swinburne,
The Triumph of Time
Der Gefangene starrte durch den Maschendraht des Stahlkäfigs, der den hinteren Teil des Polizeiwagens einnahm. Der Himmel draußen hatte sich bedrohlich verfinstert. Er hatte guten Grund, sich zu fürchten, aber er spürte nichts. Jedes Gefühl in ihm war erstorben. Er konnte nur hoffen, dass ihn der heranjagende Sturm mit sich reißen würde.
Fünf Sekunden später war das Unwetter über ihnen.
»Heilige Mutter Gottes«, jammerte die dickliche Polizistin am Steuer. Eine Anfängerin, deren Wurstfinger sich verzweifelt um das Lenkrad krallten. Unter ihrem kurzen, dunklen Haar perlte Schweiß hervor und rann ihr über die Wangen. Der Sturm fuhr unter die Vorderräder des Wagens, der schlagartig den Kontakt mit der Fahrbahn verlor. Sintflutartiger Regen ergoss sich über die Windschutzscheibe. Die Sicht war gleich null, und so tat die Fahrerin das einzig Vernünftige: Sie trat auf die Bremse. Der Wagen schleuderte rutschend.
»Fahr weiter«, sagte ihr Partner.
»Spinnst du? Der Sturm hat sich gedreht und bläst uns direkt ins Gesicht.«
Sie standen schräg auf der Straße, um sie herum nichts als menschenleeres Farmland. Die Bewohner waren nach Norden geflohen und hatten ihre Häuser Wind und Wasser überlassen.
»Bis nach Holman sind es nur noch fünfzig Kilometer«, sagte der zweite Beamte. Seine Stimme knarzte wie Staub aus einem Steinbruch. »Wir müssen den Kerl hinter Schloss und Riegel bringen. Fahr weiter.«
Trümmer prasselten gegen die Autofenster: Steine, oberschenkeldicke Äste, Dachziegel, tote Vögel.
»Vergiss es. Wir müssen von der Straße weg.«
»Das bringt auch nichts«, erwiderte der zweite Beamte, den die Gefangenen Deet nannten, weil er einen süßlichen Geruch nach Insektenabwehrmittel verbreitete, mit dem er sich vor den Mücken Alabamas schützte. Das war auch das einzig Süße an ihm. Er war klein und schlank, aber durch und durch bösartig. Seine Stiefel waren mit Stahlkappen versehen, mit denen er den Häftlingen das Schienbein brach, wenn ihm danach war.
»Wir sind vorhin an einem Farmhaus vorbeigekommen«, sagte die Polizistin. »Fahren wir zurück.«
Sie drehte sich halb um und setzte zurück. Der Gefangene sah animalische Angst in ihren Augen. Gleich würde sie sich in die Hosen machen. Der Geruch ihrer Angst weckte ein vertrautes Gefühl der Erregung in ihm.
Die asphaltierte Fahrbahn ging in einen Schotterweg über. Sie hielt an.
»Dahinten!«, sagte sie, als ein Blitz eine heruntergekommene Farm erleuchtete.
Deet deutete mit dem Daumen auf den Rücksitz. »Was ist mit dem?«
»Wir können ihn nicht im Sturm zurücklassen.«
»Aber aus dem Käfig kommt mir der nicht raus!«
Der Gefangene beugte sich vor und drückte sein Gesicht gegen den Maschendraht. »Lasst mich hier. Ist mir scheißegal.«
Lieber sterben als zurück nach Holman.
Seit Wochen hatte er sich auf die Fahrt nach Tuscaloosa gefreut. Noch einmal den Gestank des Black Warrior River in der Nase haben, noch einmal die leicht bekleideten Straßenmädchen sehen. Es gab nichts, das sie ihm für seine Aussage hätten anbieten können. Er würde den Rest seiner Tage im Gefängnis verbringen, aber er wollte noch einmal die dreckige Stadtluft auf der Zunge schmecken und den Puls des Lebens auf der Straße spüren. Des Lebens, das man ihm vor zehn Jahren gestohlen hatte.
Zehn Jahre. Er wusste noch genau, wie diese Hexe, die ihn durch die ganzen Südstaaten verfolgt hatte, selbstzufrieden von der Zuschauerbank aus zugesehen hatte, als er verurteilt wurde. Ohne sie wären die Cops in Alabama gar nicht erst auf ihn aufmerksam geworden. Ihretwegen wurde er wegen Mordes an einem Konkurrenten verurteilt, an einem Niemand, der sein Schicksal verdient hatte, weil er einen Teil der Ware für sich selbst abgezweigt hatte. Wie hatte er sich danach gesehnt, nur eine halbe Stunde mit ihr allein zu sein, bevor sie ihn hinter den Gefängnismauern begruben. Da wäre ihr das Grinsen ein für alle Mal vergangen.
Wieder draußen zu sein machte alles nur noch schlimmer. Ein paar Minuten im Gerichtssaal, in einem Anzug, ohne Handschellen oder Fußeisen – eine üble Gaukelei, wie ein Steak als Henkersmahlzeit, bevor sie einem die Nadel gaben. Noch unerträglicher schien ihm nun der Gedanke, dass er die restlichen Jahre seines Lebens in einer stinkenden, überfüllten Zelle inmitten von Stahl und Beton verbringen sollte. Da war es ihm lieber, wenn ihn der Sturm holte.
»Wo soll er schon hin?«, brüllte die Frau ihren Kollegen an. »Los, wir müssen hier weg!«
Fluchend öffnete Deet die Autotür, die ihm der Wind sofort aus der Hand riss. Das Metall ächzte, und der Sturm donnerte über ihnen wie ein herannahender Zug. Deet zog seine Waffe und zielte auf den Kopf des Gefangenen. »Wenn du Ärger machst, bist du ein toter Mann«, brüllte er. Dann schloss er die hintere Tür auf.
Der Sträfling verfing sich in seinen Ketten und stürzte in den Dreck, als er aussteigen wollte, aber Deet packte ihn am Kragen und zog ihn hoch.
Er hatte Lehm geschluckt und spie aus.
»Los!«, brüllte die Frau, die ein Notruf-Funkgerät aus dem Kofferraum geholt hatte.
Der Regen prasselte auf den Gefangenen ein und stach ihm wie mit Nadeln ins Gesicht. Mit winzigen Schritten kämpfte er sich die Einfahrt hinauf, die sich in einen Wildbach verwandelt hatte. Wenn er, durch die Fußfesseln behindert, stolperte, spürte er Deets Waffe im Nacken, die ihn vorwärtstrieb. Sie erreichten die Veranda des zweistöckigen Farmhauses, aber die Haustür war mit Sperrholzplatten zugenagelt. Die Beamtin legte das Funkgerät zur Seite und zerrte an den Brettern, bis ihre Finger bluteten.
Er fragte sich, wie weit er in dem Sturm wohl kommen würde.
Deet hatte offenbar seine Gedanken gelesen. Er beäugte ihn misstrauisch und spannte den Hahn seiner Waffe. »Willst du weglaufen? Nur zu. Das spart ...«
Dann sagte Deet nichts mehr. Als der Gefangene mit zusammengekniffenen Augen in den Regen starrte, stellte er fest, dass Deet keinen Kopf mehr hatte. Direkt über seinem Körper steckte ein gelbes Verkehrsschild, das der Sturm in eine Guillotine verwandelt hatte, bluttriefend in der Hauswand. Etwas Fußballartiges kullerte über die Veranda, wurde von einer Böe erfasst und davongetragen. Deets Kopf.
Er hörte, wie die Polizistin aufheulte. Es war ein herzzerreißender Laut der Angst. Deets Körper fiel in sich zusammen. Wässriges Blut spritzte aus dem Stumpf und lief die Holzstufen hinunter wie Farbe. Der Gefangene hechtete nach der Waffe, aber die Beamtin kam ihm zuvor. Für eine solch korpulente Frau war sie erstaunlich schnell. Mit einem Fußtritt beförderte sie ihn rücklings die Treppe hinunter. Ohne den im blutigen Schlamm liegenden Gefangenen aus den Augen zu lassen, steckte sie sich Deets Waffe in den Gürtel, ging in die Hocke und erbrach sich über Deets Körper. Dann wischte sie sich den Mund ab.
»Aufstehen!«, herrschte sie ihn an.
Endlich gelang es ihr, die Haustür zu öffnen. Mit einer Bewegung ihrer Waffe bedeutete sie ihm voranzugehen, was er mit einem theatralischen Humpeln tat. Der Rahmen des Hauses schepperte wie eine Blechbüchse, und die Holzbalken unter seinen Füßen bebten, als wollten sie sich von den Nägeln reißen. Drinnen war es stockdunkel. Die Polizistin schaltete das Funkgerät mit dem Notsignal ein. Statisches Knistern hallte von den Wänden, und alle zwei Sekunden blitzte ein rotes Licht auf.
»Nach unten.« Sie deutete auf eine offene Tür.
»Nehmen Sie mir die Fesseln ab.«
»Sonst noch was?«
»So schaffe ich die Treppe nicht«, sagte er mit gespielter Gleichgültigkeit. Nur nichts anmerken lassen. Mach schon, mach schon, mach schon.
»Auf keinen Fall.«
»So breche ich mir den Hals, blöde Kuh. Im Dunkeln kann ich nichts sehen.«
»Vorwärts!«
»Erschießen Sie mich doch. So gehe ich nirgendwohin.« Sie fluchte und warf ihm einen Schlüsselbund vor die Füße. Unendliche Müdigkeit vorschützend, befreite er sich und streckte die starren Glieder. Ein abschätzender Blick auf die Polizistin. Die Hände mit der Waffe zitterten. Die durchnässte Uniform klebte an ihrer Haut, und aus ihrem Haar triefte das Wasser. Ungeduldig tänzelte sie hin und her.
»Nach unten!«, wiederholte sie. Ihre Stimme überschlug sich.
Die nackten Stufen knarrten unter seinem Fuß. Sie ging direkt hinter ihm, aber sie war jung und hielt zu wenig Abstand. Die Waffe bohrte sich in seine Lendenwirbelsäule. Als er stolperte, erstarrte sie. Seine Hand fuhr nach hinten, packte die Frau am Handgelenk und schleuderte sie die Treppe hinunter. Sie schrie auf, überschlug sich und landete als fleischiger Haufen auf dem Betonboden. Beine und Schlüsselbein waren gebrochen, und das Funkgerät zersprang in tausend Stücke. Sofort stand er über ihr, nahm ihr beide Waffen ab und schleifte sie am Hemdkragen in die Mitte des Raumes.
Sie stöhnte vor Schmerz. Aus ihrem Mund quoll Blut. »Dreckskerl!«
Er genoss ihre Angst. Als er sie hilflos und verzweifelt zu seinen Füßen sah, fühlte er sich wie ein Reptil, das seine alte Haut abwirft. Wie neugeboren erhob er sich nach zehn Jahren in der Hölle aus der Asche.
Mit einem enormen Krach löste sich das Kellerfenster und fiel nach innen. Stinkendes, fauliges Wasser strömte herein. Die Polizistin schrie, als sich die dreckige Flüssigkeit in Pfützen auf dem Boden sammelte. »O Gott, der Fluss ist über die Ufer getreten. Wir müssen hier weg!«
Er lachte nur. »Wir?«
»Sie können mich nicht hierlassen. Ich kann nicht aufstehen.«
Das Wasser um seine Füße stand bereits mehrere Zentimeter hoch und stieg ständig. Er sah zu, wie sich die Frau hochzog und dann zurückfiel, weil die gesplitterten Knochen sie nicht tragen wollten. Sie schlug nach dem Wasser und schrie um Hilfe, aber in dem Tosen des Sturms, der über dem Haus wütete, war ihre Stimme nur ein Flüstern.
»Bitte«, flehte sie. »Bitte.«
Sie zu beobachten erregte ihn körperlich. Er rieb sich über die Vorderseite der Jeans, während er ihren Schmerzensschreien lauschte. Zum ersten Mal ging sie unter, als ihm das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte. Hustend und nach Luft ringend, tauchte sie wieder auf. Dann schloss sich das Wasser erneut über ihrem Kopf. Jedes Mal, wenn sie an die Oberfläche kam, brüllte sie obszöne Beschimpfungen, wütete gegen ihn, weil er ihr Schicksal in der Hand hielt. Er besaß absolute Macht, er war der unerbittliche Richter über Leben und Tod. Es gab kein Entrinnen.
Vor seinen Augen vollzog sich eine Verwandlung. Statt des Gesichts der Beamtin sah er die Hexe vor sich, deren Bild ihn zehn Jahre lang heimgesucht hatte. Auch für sie würde es kein Entrinnen geben.
»So ist das mit der Flut«, sagte er, als die Polizistin zum letzten Mal aus dem kalten Flusswasser auftauchte. »Sie wäscht unsere Sünden weg.«
Maggie fuhr aus dem Schlaf hoch. Sie hatte von Sex geträumt und fragte sich, ob der Schuss in ihrem Traum gefallen war.
Die schwarze Bettwäsche hatte sich um ihre Beine gewickelt, und ihre Haut war feucht vom Schweiß. Blinzelnd versuchte sie aufzuwachen, doch der Albtraum wollte sie nicht loslassen. Obwohl sie die Augen geöffnet hatte, sah sie nichts. Unwiderstehlich starke Hände hielten sie fest. Der Gestank von totem Fisch stieg ihr in die Nase und ließ sie würgen, doch ihr Mund war verschlossen. Hilflos wie eine Fliege, die immer wieder gegen eine Fensterscheibe surrt, hämmerte sie mit den Fäusten gegen sein Fleisch. Er lachte nur, ein bösartiges, lustvolles Grollen. Sie schrie und riss die Augen auf.
Sie war wach. Nein, war sie nicht.
Stride saß auf ihrem Bett. »Hey, Boss«, hörte sie sich sagen. Es sollte verführerisch klingen, tat es aber nicht. Er lächelte sie an, und sein Blick war aufreizend dunkel und ironisch. Sie öffnete die Arme. Er kam zu ihr, doch als sie schon seinen Kuss zu spüren meinte, zerfiel er zu Staub.
In diesem Augenblick hörte sie in der Ferne den gedämpften Knall.
Maggie setzte sich auf. Ihr Herz raste. Ein Blick auf die Uhr auf ihrem Nachttisch: drei Uhr morgens. Sie hatte zwei Stunden geschlafen, wobei es eher eine dumpfe Bewusstlosigkeit voll bizarrer Träume gewesen war. Nur Träume.
Aber was war mit dem Schuss? Irgendetwas hatte sie geweckt. Vielleicht Eric, der unten ruhelos auf und ab wanderte. Oder der heftige Wind draußen, der die Holzbalken ächzen ließ. Sie saß still im Bett und spitzte die Ohren. Es hatte angefangen zu schneien, sie konnte das weiße Rieseln vor dem Fenster sehen. Winzige Eiskristalle zischten flüsternd gegen die Scheibe. Sie lauschte auf Schritte, hörte aber nichts.
Dann fiel ihr ein, was Stride immer sagte: Quälende Gedanken, die einen mitten in der Nacht heimsuchten, ignorierte man am besten.
Maggie merkte, dass sie fror. Im Schlafzimmer zog es, und ihre Haut war feucht. Selbst im Januar schlief sie nur im Slip, weil sie sich in Kleidung unter den Decken wie gefangen fühlte, aber das bedeutete, dass sie häufig völlig durchfroren erwachte. Sie stand auf und stellte den Thermostat ein paar Grad höher. Unten im Bauch des Hauses erwachte der Heizkessel brummend zum Leben und blies warme Luft in den Raum.
Sie holte sich einen Bademantel aus dem Schrank. Die Tür war auf voller Höhe verspiegelt, und sie blieb einen Augenblick stehen, um sich im Mondlicht zu betrachten. Seit Jahren hatte sie alles Mögliche an ihrem Körper auszusetzen. Sie war zu klein, nicht einmal einen Meter fünfzig, und zu dünn. Ihre Glieder waren knochig, ihre Brüste nicht mehr als sanfte Wölbungen. Ein Püppchen Mitte dreißig. Das schwarze Haar war geschnitten wie immer, mit einem geraden Pony, der ihr in die Stirn fiel. Sie war hübsch – sagten die anderen. Sie fand das nicht. Ihre Nase war klein und wohlgeformt, aber ihre Wangen waren zu rund. Die mandelförmigen, asiatischen Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten, und mit ein paar unregelmäßigen gelben Flecken gesprenkelt. Ihre Gesichtszüge waren zu symmetrisch. Sie konnte erstaunliche Grimassen schneiden, sarkastisch dreinsehen oder mit ihren kirschroten Lippen einen winzigen Fischmund ziehen. Aber hübsch? Nicht nach ihrem Geschmack.
Sie hob den honigfarbenen Unterarm und stellte fest, dass sie eine Gänsehaut hatte. Dann legte sie eine Hand auf ihren nackten, flachen Bauch und sah sich im Spiegel dabei zu, wie sie in langsamen Kreisen über ihren Unterleib rieb. Tränen traten ihr in die Augen, und das Bild verschwamm. Sie öffnete die Schranktür, damit sie sich nicht mehr sehen musste, nahm einen seidenen Bademantel vom Bügel, schlüpfte hinein und band ihn fest zu.
Dann wandte sie sich schniefend ab und rieb sich die Augen. In dem riesigen Schlafzimmer mit den massiven Mahagonimöbeln kam sie sich winzig vor. An der hinteren Wand stand eine dunkelrote Kommode, die so hoch war, dass sie auf Zehenspitzen stehen musste, wenn sie in die oberste Schublade sehen wollte. An den Ecken des großen Ehebetts erhoben sich vier handgeschnitzte Holzpfosten. Viel zu viel Bett für sie allein. Und allein schlief sie schon seit Wochen. Sie hasste den bloßen Anblick.
Unsicher tat sie einen Schritt. Ihr wurde sofort schwindlig: der Wein, den sie im Park getrunken hatte. Als sie sich am Nachttisch abstützte, fiel ihr Blick auf ihre Polizeimarke. Seit zehn Jahren war sie jetzt dabei. Der Gedanke löste widerstreitende Gefühle in ihr aus. Eigentlich hatte sie gar nicht mehr arbeiten wollen, aber irgendwie brauchte sie die Polizeistation und Stride. Vielleicht lag es daran, dass ihr übriges Leben im vergangenen Jahr nach und nach zur Hölle geworden war. Die Arbeit half ihr, das zu vergessen.
Sie starrte erneut auf den Nachttisch. Leises Unbehagen beschlich sie. Da stimmte etwas nicht. Im Geiste verfolgte sie ihre Schritte zurück, überlegte, was sie getan hatte, wo sie gewesen war, in der Hoffnung, sich in ihrem Suff getäuscht zu haben. Aber das hatte sie nicht. Sie war nach oben gekommen und hatte Polizeimarke, Brieftasche, Waffe und Schlüssel neben den Wecker auf den Nachttisch gelegt.
Die Waffe war weg.
Es war ein furchtbarer Mittwochabend gewesen. Bitterkalt, wie immer im Januar. Eric war um zehn Uhr immer noch nicht zu Hause gewesen. Maggie, die all ihren Mut zusammengenommen hatte, um mit ihm zu sprechen, wurde allmählich wütend. Seit den Feiertagen hatte er sich zurückgezogen und angefangen, Geheimnisse zu haben. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Seit Wochen lebten sie wie Fremde, nur dass sie ununterbrochen stritten. Das lag an ihr. Sie hatte sich von ihm abgewandt und in sich selbst zurückgezogen, weil sie mit den furchtbaren Erlebnissen der letzten Zeit nicht umgehen konnte.
Irgendwann hatte sie genug von der Warterei und ging aus dem Haus. Sie nahm eine Flasche Chardonnay und einen Korkenzieher und packte sich in ihren russischen Zobelmantel. Der Mantel war ein Hochzeitsgeschenk, das sie nur selten trug, aber er hielt sie warm und sie fühlte sich in ihrem Pelz wie eine Königin. Es hatte noch nicht geschneit, und die Straßen waren frei. Sie fuhr in die Stadt, die immer noch festlich mit Lichtern geschmückt war, und dann nach Norden am Ufer entlang, bis sie zu einer Abfahrt zum See kam. Weit und breit war niemand zu sehen. Sie parkte und öffnete die Flasche. Ohne sich um den Wind zu kümmern, der ihr ins Gesicht schlug, als sie aus dem Pick-up stieg, ging sie über einen verschneiten Pfad auf die dunkle, wogende Masse des Lake Superior zu. Über ihr funkelten unbeeinträchtigt von den Lichtern der Stadt im Süden die Sterne. Die Äste der Nadelbäume waren schwer vom Schnee, und ihre Stiefel versanken in den Wehen. Ihr Mantel reichte nur bis zur Hälfte der Oberschenkel, und zwischen dem Pelz und ihren Stiefeln biss die Kälte in ihre Beine.
Aufgrund der schnellen Strömung fror der See an dieser Stelle nicht zu. Nur bei extremen Kältewellen bildete sich eine wenige hundert Meter breite, dünne Eisschicht. Im Augenblick peitschte eine wütende mitternächtliche Brandung gegen das Ufer. Eisige Wellen brachen sich schäumend an den Felsen und rollende Wasserberge wälzten sich wie Seeungeheuer auf den Strand zu.
Sie hielt die Flasche an die Lippen und trank. Der Wein war gut gekühlt und trocken. Da sie nichts gegessen hatte, stieg ihr der Alkohol schnell zu Kopf. Mit jedem Schluck vergaß sie ihr Selbstmitleid ein wenig mehr. Nach einer Stunde war die Flasche leer. Sie schleuderte sie in die tosenden Wellen. Ihre Glieder waren völlig gefühllos, und sie überlegte, ob sie sich in den Schnee legen und nie wieder aufstehen sollte.
Wenn sie sich auszog, würde sie innerhalb kürzester Zeit erfrieren.
Aber nein. Sie musste nach Hause, auch wenn sie nicht wusste, wozu. Unsicher torkelte sie zum Parkplatz zurück. Im Wagen wärmte sie sich erst einmal auf. Selbst ihr Mund war eingefroren. Ihr Gesicht war blass und das Haar schneeverkrustet. Sie kam sich vor wie der Blechmann aus dem Zauberer von Oz: völlig eingerostet. Ein wenig Öl hätte ihr gutgetan.
Langsam, weil sie die Wirkung des Weins deutlich spürte, fuhr sie nach Hause. Es war ein Uhr morgens, und ihre Straße war still und dunkel. Die Nachbarn in den großen Häusern hatten die Lichter gelöscht und sich unter Daunendecken verkrochen. Als sie die Garage öffnete, sah sie, dass Eric zu Hause war. Wahrscheinlich schlief er in seinem Büro. Sie überlegte, ob sie ihn wecken sollte, um mit ihm zu reden, wie geplant, entschied sich aber, bis zum Morgen zu warten.
Im Gang zog sie ihren Mantel aus, ohne auch nur das Licht einzuschalten. Auf dem lackierten Holz der antiken Kommode unter dem Messingspiegel neben der Tür stand ein schwarzer Kaffeebecher aus Keramik, den Eric dort abgestellt haben musste, als er hereinkam. Auf dem Boden klebte noch Kaffeesatz. Darunter steckte ein zusammengefalteter Zettel, auf den Eric ihren Namen gekritzelt hatte.
Sie entfaltete das Papier. Selbst in dem schwachen Licht konnte sie die Worte lesen: Ich weiß, wer es ist.
Lange starrte sie auf die Nachricht. Immer dieselbe Leier, derselbe Vorwurf. Wütend, weil er ihr immer noch nicht traute, knüllte sie den Zettel zusammen, steckte ihn sich in die Tasche und ging nach oben ins Bett.
Wo war ihre Waffe?
Ihr fiel nur eine Erklärung ein. Eric. Er musste in ihr Zimmer gekommen sein und sie vom Nachttisch genommen haben. Sie hatte den Schuss nicht geträumt. Aber das ergab überhaupt keinen Sinn. Eric war kein Selbstmörder. Er war die verkörperte Lebenskraft, voller Energie, leidenschaftlich, immer bereit, an seine Grenzen zu gehen. Und an ihre.
Ein weißer Lichtkegel fiel in ihr Schlafzimmer. Instinktiv duckte sie sich und kroch zu dem Panoramafenster, das auf den See hinausging. Außer Sicht, stand sie auf und spähte durch das kalte Glas. Das dunkle Zimmer bot ihr Deckung. Fünfzig Meter weiter setzte sich vor ihren Augen ein Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern in Bewegung. Die Reifen drehten sich im Schneematsch, als das Fahrzeug wendete und verschwand. Sie hatte weder Farbe noch Marke erkennen können.
Sie wartete, ohne die Straße aus den Augen zu lassen. Draußen schneite es. Große nasse Flocken rutschten über das Fenster. Als sie nach unten sah, entdeckte sie in dem weißen Pulver in ihrer Einfahrt Fußspuren, die zur Straße führten und schon halb von Wind und Schnee verwischt waren.
Sie rannte zur Schlafzimmertür, zögerte einen Augenblick, bevor sie den Türknopf drehte, und riss sie auf. Der Gang war voller Schatten. »Eric?«, fragte sie erst leise, dann lauter. »Eric!«
Aber im Haus herrschte lastendes Schweigen. Sie schnupperte. Der abgestandene Geruch des Rinderbratens, den am Abend niemand gegessen hatte, hing in der Luft. Mit dem Rücken dicht an der Wand ging sie die Treppe hinunter. Sie warf einen Blick durch die Tür von Wohn- und Esszimmer: nichts. Der Boden unter ihren nackten Füßen war kalt. Sie wickelte sich fester in ihren Bademantel und schlich zu Erics Büro. Die Tür stand offen. Wenn sie bloß eine Waffe gehabt hätte!
Aus der Nähe war ein langsames, gleichmäßiges Plätschern zu hören. Flüssigkeit, die in eine Pfütze tropfte. Mit einem Gefühl der Beklemmung griff sie um den Türstock herum und schaltete das Licht im Zimmer ein, konnte aber in der plötzlichen Helligkeit zunächst gar nichts erkennen. Das tropfende Geräusch wollte nicht aufhören. Ein neuer Geruch stieg ihr in die Nase, einer, den sie nur allzu gut kannte.
Als sie ins Büro kam, lag Eric mit ausgestreckten Gliedern auf dem Sofa. Aus dem Einschussloch auf seiner Stirn rann das Blut über sein Gesicht und sammelte sich auf dem glitschigen Boden zu roten Pfützen. Sie lief nicht zu ihm. Es hatte keinen Sinn – er war bereits tot. Eine Leiche, wie sie im Laufe der Jahre so viele gesehen hatte. Instinktiv suchte sie mit den Blicken den Raum ab, eine Ermittlerin auf der Suche nach Antworten. Aber sie stieß nur auf ein furchtbares Rätsel: Wie kam ihre Waffe, die sie vor dem Einschlafen auf den Nachttisch gelegt hatte, auf den Fußboden in Erics Büro? Qualmgestank mischte sich in den mineralischen Geruch des Bluts.
Maggie sehnte sich danach, weinen zu können. Am liebsten wäre sie auf die Knie gesunken und hätte Gott gefragt, wie das hatte geschehen können. Aber sie war innerlich völlig leer. Sie biss sich auf die Lippen und starrte auf den Mann, den sie einmal geliebt hatte. Im letzten Jahr war ihr Leben die Hölle gewesen. Aber das war nichts gegen das, was sie erwartete.
Keine Spuren im Schnee, dachte Jonathan Stride. Das würde noch Probleme geben.
Bei diesem Wetter hielten sich Fußspuren nicht lange. Hinter ihm verwischte der heftige Wind bereits seine eigenen Stiefelabdrücke im Vorgarten, die er erst vor wenigen Sekunden hinterlassen hatte. Aber wofür hatte er ein Handy mit Kamera? Hätte es Fußabdrücke gegeben, hätte er sie fotografieren können.
Die Spuren eines Eindringlings. Einer Person, die nicht Maggie war.
Er hasste es, so zu denken, aber er wusste, wie die Ermittlungen laufen würden – und Maggie auch. Sie hatte ihm den Tatort am Telefon genau beschrieben. Hauptverdächtige war sie selbst, das war ihr klar. Immerhin bearbeiteten sie seit über zehn Jahren gemeinsam Mordfälle. Wenn ein Ehemann im Heim der Familie getötet wurde, war es die Ehefrau gewesen, und umgekehrt. Das war ein ehernes Gesetz. Da war es egal, ob man Priester, Christ, Politiker, Familienvater, Heiliger oder Polizist war. Wessen Ehepartner zu Hause umgebracht wurde, der war ein Mörder.
Stride bürstete sich den Schnee von der schweren schwarzen Lederjacke und den Jeans. Er war groß, fast einen Meter fünfundachtzig, und schlank. Als er sich mit der Hand durch das nasse, wellige Haar fuhr, glitzerte Silber in den schwarzen Strähnen. Er musste nicht klingeln. Die Tür öffnete sich, während er noch auf der Veranda wartete. Maggie stand in der Tür und wirkte in dem roten Seiden-Morgenmantel besonders winzig. Er sah ihr prüfend ins Gesicht, fand aber keine Spur von Tränen.
»Hallo, Boss«, begrüßte sie ihn.
Er sah sie nur an. Was hätte er auch sagen sollen? »Ich lasse die Stiefel draußen«, meinte er schließlich. Er deponierte Stiefel und Jacke in einer Ecke der Veranda. Als er über die Schwelle trat, bückte er sich, um das Schloss zu untersuchen.
»Nicht aufgebrochen«, erklärte Maggie. »Das habe ich schon überprüft.«
»Überlass die Ermittlungen anderen, Mags.«
»Ich weiß, wie ein aufgebrochenes Schloss aussieht«, fuhr sie ihn an. Dann biss sie sich auf die Unterlippe. Wie um sich zu entschuldigen, nahm sie ihn in die Arme. Sie war klein, aber kräftig, und hielt ihn lange fest. »Tut mir leid«, murmelte sie. »Danke, dass du gekommen bist.«
»Warum hast du nicht den Notruf gewählt?«, fragte er. Sein vorwurfsvoller Ton gefiel ihm selbst nicht.
Maggie wich zurück und verschränkte die Arme. »Ich weiß doch, was mir bevorsteht. Bullen, die überall im Haus herumtrampeln. Stundenlange Verhöre. Zeitungen. Fernsehen. Das wollte ich mir nicht antun. Noch nicht.«
»Das ist eine Morduntersuchung. Da zählt jede Minute.«
»Untersuchung?«, meinte sie spöttisch. »Das wird eine Hexenjagd. Reden wir doch nicht um den heißen Brei herum: Ich stecke bis zum Hals in Schwierigkeiten.«
Er widersprach nicht. »Hast du das Haus durchsucht?«
»Nein.«
»Dann sehe ich mich jetzt um.«
»Ich sage dir doch, er ist weg.«
»Er?«
»Ich nehme an, dass es ein Mann war. Aber bei Eric kann man sich ja auf nichts verlassen.« Ihr Lachen klang bitter.
Stride runzelte die Stirn. »So etwas darfst du nicht sagen, Mags. Das rate ich dir als Freund, nicht als Polizist. Halt einfach den Mund.«
Maggie trat nach einem imaginären Staubkorn auf dem Boden. »Ich will den Mund aber nicht halten. Ich will wütend werden. Ich will rumbrüllen.«
»Das bringt doch nichts.«
»Ach nein? Und wenn ich mich dann besser fühle?« Als sie sein Gesicht sah, lenkte sie ein. »Ich weiß, ich weiß. Du hast ja recht. Du darfst eigentlich gar nicht hier sein. Wenn du gehen willst, kann ich das verstehen.«
Er antwortete nicht, aber es stimmte. Mit seiner Anwesenheit bewegte er sich auf dünnem Eis, weil man ihm den Fall mit Sicherheit nicht übertragen würde. Maggie war seit über einem Jahrzehnt seine Partnerin. Außerdem waren sie befreundet. Als Lieutenant des Detective Bureau war Stride für die Verbrechensbekämpfung in Duluth an der Südwestspitze des Lake Superior zuständig, wo sich der See wie eine Messerspitze ins Herz der Stadt bohrte. Duluth war so klein, dass Stride bei den meisten schweren Straftaten selbst die Leitung der Ermittlungen übernahm. Diesen Mordfall würde er allerdings an einen seiner dienstältesten Sergeants abgeben müssen.
Und genau deswegen hatte Maggie ihn gerufen, bevor sie die Polizei alarmierte. Er sollte sich den Fundort ansehen, mit ihr sprechen, sich seine eigene Meinung bilden. Sie wollte ihn auf ihrer Seite wissen.
»Sei so nett und mach uns Kaffee«, sagte er. »Ich sehe mir inzwischen das Haus an.«
Maggie verzog das Gesicht. »Du weißt, dass ich keinen Kaffee trinke.«
»Heute schon«, sagte Stride. »Du hast eine gewaltige Fahne.«
Sie wurde kreidebleich und wandte sich ab.
Stride fing mit Erics Büro an, aber er blieb auf der Schwelle stehen, ohne den Raum zu betreten. Das Einschussloch auf Erics Stirn war unübersehbar. Sein muskulöser Körper lag auf dem burgunderroten Ledersofa ausgestreckt, über Bauch und Beine war eine weiße Decke gebreitet. Die unbehaarte Brust war nackt. Der Kopf und die lange blonde Mähne ruhten auf einem Kissen, in dem sich das Blut gesammelt hatte wie in einer Bowlenschüssel. Die Waffe lag mindestens drei Meter von der Leiche entfernt mitten im Zimmer auf dem Fußboden. Zu weit für einen Selbstmord. Er sah sich nach Schmelzwasser von Stiefeln um, aber der Täter war vorsichtig gewesen. Vermutlich hatte er seine Schuhe im Gang ausgezogen wie alle anderen und war auf Strümpfen durchs Haus geschlichen.
Sofern überhaupt jemand im Haus gewesen war.
Wenn er Eric ansah, fühlte er nicht das Geringste. Solche Emotionen hatte er sich schon vor Jahren abgewöhnt. Dabei war Eric kein Fremder. Eric und Maggie waren seit über drei Jahren verheiratet, und er hatte sie oft in diesem Haus besucht. Es war für alle Beteiligten eine unangenehme Sache gewesen. Stride und Maggie kannten sich schon lange, bevor Eric auf der Bildfläche erschien. Jahrelang war Maggie insgeheim in Stride verliebt gewesen, und er war nicht sicher, dass sie völlig darüber hinweg war. Eric hatte das gewusst.
Stride ging auf allen drei Stockwerken von Raum zu Raum, was fast eine halbe Stunde in Anspruch nahm. Das Haus war gespenstisch groß für zwei Personen, voller Nischen mit merkwürdig schrägen Decken und geheimen Winkeln, in denen ein kalter Lufthauch aus den Wänden drang. Es lag in einem alten Villenviertel ein paar hundert Meter westlich des in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Highways in der Nähe der 24th Avenue. Früher einmal waren hier die alten Patrizierfamilien der Stadt ansässig gewesen. Jetzt wurde die Gegend von Geschäftsleuten und Unternehmern beherrscht. Eric, ein ehemaliger Leistungsschwimmer, besaß das Haus seit über zehn Jahren. Nach seiner Teilnahme an den Olympischen Spielen hatte er ein lukratives Sportartikelgeschäft aufgebaut, das vor allem die Athleten der Winterspiele belieferte. Das schlossartige Monstrum, dessen verwitterte braune Ziegelfassade mit den vielen Giebeln sich majestätisch über der Straße erhob, passte zu ihm und seinem gesellschaftlichen Ehrgeiz. Maggie hasste es. Wenn Eric geschäftlich in Norwegen und Deutschland unterwegs war, übernachtete sie manchmal bei Stride und Serena in deren Haus am See.
Als er nach unten kam, saß Maggie in der Küche und starrte in ihre Kaffeetasse. Die azurblaue Marmortheke hinter ihr war sauber abgewischt.
»Ich habe nichts gefunden«, teilte er ihr mit.
Sie nickte, als wäre das nichts Neues.
»Erzähl mir das Ganze noch einmal von vorn«, sagte er. »Wie am Telefon. Beschreib mir, was geschehen ist.«
Mit monotoner Stimme schilderte Maggie die Ereignisse des Abends. Sie erzählte ihm, wie sie aufgewacht war, den Schuss gehört, das Auto draußen gesehen und schließlich Eric gefunden hatte. Wann sie sich betrunken hatte, erwähnte sie nicht. Stride fragte sich, was sie sonst noch wegließ.
»Wie ist der Mörder ins Haus gekommen?«, fragte er.
»Das habe ich mich auch gefragt«, erwiderte Maggie. »Vielleicht hat er draußen gewartet und sich in die Garage geschlichen, als ich nach Hause kam. Wir schließen die Tür von der Garage zum Haus nicht ab.«
»Und was ist mit deiner Waffe?«
»Ich habe geschlafen wie ein Stein und wäre bestimmt nicht aufgewacht, wenn jemand ins Schlafzimmer gekommen wäre.«
»Hatte Eric mit irgendwem Probleme?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Wie laufen seine Geschäfte?«
»Super, soweit ich weiß.«
»Soweit du weißt?«
»Ich stelle keine Fragen. Ich habe keine Ahnung, wie viel Geld er hat. Die Rechnungen werden bezahlt. Vermutlich verdient er mehr als ich. Und das, wo die Polizei so großzügig zahlt.«
Stride lächelte dünn. »Wo war Eric heute?«
»Keine Ahnung. Über das Wochenende war er in Minneapolis-Saint Paul. Seit Montag war er zurück, aber ich habe ihn kaum gesehen. Heute Abend war er nicht zum Essen da.«
»Wie lief es mit euch beiden?«
Sie zuckte die Achseln.
»Super.« Ihre Stimme klang nicht gerade überzeugend.
Stride wartete, aber es kam nichts mehr. »Hast du mir sonst noch etwas zu sagen?«, fragte er.
»Nein.«
»Fällt dir jemand ein, der ihm den Tod wünschen würde?«
»Außer mir, meinst du?«, fuhr sie ihn an. »Ich war es nicht, das musst du mir glauben.«
»Ich glaube dir.«
»Aber?« Maggie war nicht dumm. Sie wusste, dass er noch Fragen hatte.
»Du bist seit Wochen völlig verändert«, sagte er. »Warum?«
Maggie wurde rot vor Wut. »Das hat mit dieser Sache nichts zu tun.«
»Bist du sicher?«
»Lass es gut sein, Boss. Das geht dich nichts an.«
»Ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.«
»Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln.« Als sie aufstand, öffnete sich ihr Morgenrock und zeigte mehr von ihrer Brust, als sich gehörte. Sie machte keine Anstalten, sich zu bedecken. »Ich ziehe mich besser an, bevor wir die Meute rufen.«
»Du weißt, was sie dich fragen werden«, sagte er.
Sie nickte. »Warum Eric nicht bei mir im Schlafzimmer war.«
»Und?«
Maggie vergrub die Hände in die Taschen ihres Bademantels. »Eric schlief schlecht. Oft ging er in sein Büro und arbeitete. Wenn er dann müde wurde, legte er sich zum Schlafen auf das Sofa.«
Als sie das Zimmer verließ, sah sie ihm nicht in die Augen. Er wusste, dass sie gelogen hatte.
Stride saß draußen in seinem Ford Bronco und sah zu, wie um ihn herum die Untersuchung des Fundorts anlief. Er hatte das Fenster geöffnet und rauchte eine Zigarette. Eine, manchmal zwei pro Tag gestattete er sich. Dies war seine dritte. Es schneite immer noch. Eine feuchte Schneeschicht legte sich auf seine Windschutzscheibe, und sein Gesicht brannte unter den Nadelstichen der Eiskristalle, die der Wind in den Pick-up trieb.
Es gefiel ihm gar nicht, dass er aus dem Spiel war, aber er hatte sich bereits selbst für befangen erklärt. Mehrere Beamte, die sich von ihm Anweisungen holen wollten, hatte er achselzuckend ins Haus zu Abel Teitscher geschickt. Keiner von ihnen war erfreut darüber gewesen, dass Teitscher die Ermittlungen leitete. Das konnte ihnen Stride gut nachfühlen.
Sein Handy klingelte. Die Klingeltöne waren für ihn der Puls seines Lebens. Eine Zeitlang war es Restless von Sara Evans gewesen. Damals hatte er vorübergehend in Las Vegas gelebt – ein Ausflug von geradezu surrealer Qualität. Jetzt war er wieder zu Hause, aber selbst hier stand er ständig unter Strom. Warum, wusste er nicht. Also hatte er I’m in a Hurry von Alabama auf sein Handy geladen, um sich daran zu erinnern, dass man im Leben nur zwei Dinge tun musste: leben und sterben. So hieß es zumindest im Song.
Serena war am Apparat. Obwohl er mit ihr zusammenlebte, verbrachten beide so viel Zeit mit Maggie, dass er sich manchmal vorkam wie in einer Dreierbeziehung.
»Wie geht es ihr?«, fragte Serena.
»Sie hält mit irgendwas hinter dem Berg«, erwiderte er.
»Du glaubst doch nicht, dass sie es getan hat?«
»Nein, aber sie ist nicht ehrlich. Das wird ihr schaden.«
»Wer leitet die Ermittlungen?«
»Ich habe mit K-2 geredet.« Das war der interne Spitzname für den stellvertretenden Polizeichef, Kyle Kinnick. »Er hat den Fall Teitscher übertragen.«
»Mist.«
»Ja, meine erste Wahl wäre er auch nicht gewesen.«
»Kannst du ihr helfen?«
»Nicht viel. Mir sind die Hände gebunden.«
»Mir nicht«, meinte Serena.
»Das stimmt. Du bist ein freier Mensch.«
»Halt mich auf dem Laufenden.«
Stride klappte sein Telefon zu.
Nach dem Tod seiner ersten Frau, Cindy, vor fünf Jahren hatte er mit Serena eine zweite Chance bekommen. Sie war früher in Las Vegas bei der Mordkommission gewesen. Bei der gemeinsamen Arbeit an einem Fall, der Berührungspunkte zu beiden Städten hatte, hatten sie sich ineinander verliebt. Die Ermittlungen endeten in einem Fiasko, und er ging mit Serena nach Las Vegas. Schon nach wenigen Monaten wurde ihm klar, dass er dort völlig fehl am Platz war. Als sich ihm die Gelegenheit bot, seinen alten Job in Duluth zurückzubekommen, griff er zu und bat Serena mitzukommen. Sie wollte sich nicht festlegen, weil sie fürchtete, in Duluth ebenso Außenseiterin zu bleiben wie Stride in Vegas. Aber nun lebte sie bereits seit über einem Jahr mit ihm zusammen.
Als er Abel Teitscher die Steintreppe zu Maggies Haustür herunterkommen sah, wurde ihm wieder einmal bewusst, dass er indirekt Teitscher die Chance verdankte, nach Duluth zurückzukehren. Nach Strides Weggang hatte sich Teitscher erfolgreich um die Stelle des Lieutenant beworben. Er leistete solide, gründliche Arbeit und besaß das entsprechende Dienstalter. Mit Mitte fünfzig war er fast zehn Jahre älter als Stride, ein verbissener Einzelgänger ohne Führungsqualitäten. Nach wenigen Monaten unter Teitschers Leitung rebellierten die Beamten, und K-2 war gezwungen, die Beförderung zu widerrufen. Er nutzte die Gelegenheit, um Stride zurückzuholen.
Das hatte Teitscher ihm nicht verziehen.
Nun ging er auf die Beifahrerseite und stieg unaufgefordert ein. Beide blickten sich bemüht höflich an.
»Hallo, Teitscher«, sagte Stride.
Teitscher nickte. »Lieutenant.«
Man sah ihm sein Alter an. Teitscher war groß und hatte als passionierter Läufer kein Gramm Fett am Körper, was ihn ungesund dürr wirken ließ. Das blasse Gesicht war von einem Spinnennetz von Falten durchzogen und viel zu schmal für die große Metallbrille. Die Wangenknochen stachen durch die Haut, und das Kinn sprang auffällig vor. Das graue Haar war passend zu dem sauber gestutzten Schnauzbart militärisch kurz geschnitten.
»Sind Sie völlig von Sinnen, Lieutenant?«, fragte Teitscher.
»Wie bitte?«
»Sie haben einen Leichenfundort kontaminiert.«
Stride schüttelte den Kopf. »Keineswegs.«
»Sie waren eine Stunde lang mit dem Toten und der Verdächtigen allein, bevor Sie die Polizei gerufen haben.«
»Ich bin Polizist«, erinnerte Stride ihn.
»Nicht in diesem Fall. Sie wussten ganz genau, dass K-2 Sie abziehen würde. Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?«
»Wir sprechen von Maggie. Sie war es nicht.«
»Nein? Dann sehen Sie sich doch mal die Beweislage an, Lieutenant.«
Stride hatte keine Lust auf einen Streit. Nicht hier, nicht jetzt. »Hören Sie, Teitscher, Maggie hat mich zuerst angerufen. Wir arbeiten seit zehn Jahren zusammen. Also bin ich gekommen und habe mit ihr geredet. Ich habe mich vergewissert, dass niemand sonst im Haus war. Dann habe ich die Truppen mobilisiert. Das war alles.«
»Sie sind jetzt selbst Zeuge. Ich muss Sie befragen.«
»Nur zu.«
Teitscher schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Aber ich will von Ihnen einen Bericht über alles, was vorgefallen ist, während Sie bei ihr im Haus waren. Und zwar offiziell.«
»In Ordnung«, sagte Stride.
»Bis heute Mittag.«
Als Teitscher die Autotür öffnete, legte Stride ihm die Hand auf die Schulter. »Sie sind ein guter Cop, Teitscher, aber manchmal sehen Sie den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Wenn Maggie sagt, sie war es nicht, dann können Sie das glauben. Hinter der Sache steckt etwas anderes.«
Teitscher beugte sich so nah zu ihm, dass Stride eine Wolke seines schweren Eau de Cologne in die Nase stieg. »Ich werde Ihnen sagen, was hier läuft. In dem Haus da sitzt eine Frau, deren Ehemann tot ist. Ihre Waffe liegt im Zimmer mit der Leiche auf dem Boden, und sie lügt mich an. Denken Sie, das merke ich nicht?«
»Falls sie tatsächlich mit etwas hinter dem Berg hält, hat es mit Sicherheit nichts mit dem Mord zu tun.«
»Was ist das für ein Quatsch, Lieutenant!«, sagte Teitscher verächtlich. »Jede andere Verdächtige hätten Sie schon verhaftet.«
Das war richtig, aber Teitscher war ebenfalls voreingenommen. »Denken Sie an Maggie oder an Nicole?«
Teitscher lief rot an. »Das ist Jahre her.«
»Stimmt. Damals wurde der Ehemann Ihrer Partnerin tot aufgefunden. Sie vertrauten Nicole, was sich später als Fehler herausstellen sollte. Und Maggie soll das büßen.«
»Sie hätten aus meiner Erfahrung lernen sollen«, fauchte Teitscher und stieg aus. Dann steckte er noch einmal den Kopf zur Tür herein. Sein Trenchcoat war viel zu dünn für die Kälte und flatterte um seinen Rücken wie ein Cape. »Man kann niemandem trauen, Stride. Hören Sie auf, Maggie zu decken, und überlegen Sie sich lieber, wie gut Sie sie wirklich kennen.«
Auf dem Weg nach Hause dachte Stride über Teitschers Worte nach. Wie gut kannte er Maggie wirklich? So gut wie kaum einen anderen Menschen auf diesem Planeten.
Mit der ruhigen, konservativen Chinesin, die er vor über einem Jahrzehnt kennengelernt hatte, hatte sie kaum noch etwas gemeinsam. Sie war in Shanghai aufgewachsen und mit achtzehn in die Staaten gekommen, um an der University of Minnesota Kriminologie zu studieren. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens hatte sie sich an der Universität politisch engagiert und war ins Visier der chinesischen Regierung geraten. Daher hatte sie sich nach Abschluss ihres Studiums entschlossen, in Minnesota zu bleiben, anstatt in ihrer Heimat eine Gefängnisstrafe zu riskieren.
Stride hatte sie eingestellt, weil sie ein geradezu fotografisches Gedächtnis besaß und einen Tatort messerscharf analysieren konnte. Sie war smarter als viele Cops, die seit Jahren dabei waren, aber ihre unverblümte Ernsthaftigkeit war eher chinesisch als amerikanisch. Make-up und Mode interessierten sie nicht. Humor war für sie ein Fremdwort, und ihr Gesicht zeigte grundsätzlich keine Regung. Wenn Stride sie aufzog, hielt sie das für Kritik.
Doch die Zeiten änderten sich, und Maggie mit ihnen.
Nach zehn Jahren in den USA war sie nicht wiederzuerkennen. Mittlerweile war sie nach der letzten Mode gekleidet. Ihr Schrank war voll von Lederklamotten und Stilettos. Weil sie so klein war, kaufte sie meistens in der Kinderabteilung ein. Mit Mitte dreißig sah sie keinen Tag älter aus als fünfundzwanzig. Dagegen wirkte ihr runder Pagenkopf merkwürdig altmodisch, wie ein letztes Zugeständnis an ihre chinesischen Wurzeln. Aber ansonsten war sie sorgfältig gestylt, bis hin zu dem Diamantenstecker an ihrem Näschen, den sie seit letztem Jahr trug. Es hatte höllisch wehgetan, hatte sie gesagt, aber der in ihrem Gesicht glitzernde Edelstein gefiel ihr einfach.
Obwohl sie zu einer attraktiven Frau geworden war, hatte Stride immer nur väterliche Gefühle für sie gehegt. Vielleicht lag es daran, dass sie erst Anfang zwanzig gewesen war, als er sie kennenlernte. Damals war er glücklich mit Cindy verheiratet gewesen. Er war Maggies Mentor geworden und hatte ihre Entwicklung miterlebt. Bald hatte sie sich zu ihm hingezogen gefühlt. Cindy war es nicht entgangen, dass Maggie bis über beide Ohren in ihn verliebt war, aber er hatte so getan, als gäbe es dieses Gefühl nicht. Irgendwann war Maggie seinem Beispiel gefolgt. Aber es war da – eine unsichtbare Mauer, die immer zwischen ihnen stand.
Ansonsten schien sie ihre Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Sie war lebhaft, sarkastisch, witzig und hatte eine scharfe Zunge. Es hatte Jahre gedauert, bis sich ihre Persönlichkeit herauskristallisiert hatte. Zu Beginn tat sie ihre Arbeit wie ein Roboter, weil sie dachte, Polizisten dürften keine Gefühle zeigen. Aber Stride wusste, dass man in diesem Job ohne Emotionen nicht erfolgreich sein konnte. Man musste sich ihrer bewusst sein, ohne sich von ihnen beherrschen zu lassen. Es war ein heikler Balanceakt.
Er erinnerte sich noch an den Fall, bei dem Maggie den ersten großen Entwicklungsschritt vollzogen hatte. Es war eine Ermittlung, wie sie jeder Polizist hasst – ein Verbrechen, das man nicht vergessen kann. Maggie hatte das nicht verstanden. Sie war daran gewöhnt, Fälle zu lösen. Wenn sie sich nur intensiv genug mit allen Details auseinandersetzte, würde die Wahrheit schon ans Licht kommen, dachte sie damals. Normalerweise stimmte das auch, aber nicht immer.