Bedrohtes Idyll

Vorwort

Schruns im Juli 2019. Der SC Freiburg bestreitet zum 13. Mal in Folge sein Trainingslager in dem Alpenörtchen. So oft war er schon hier, dass sie beim FC Schruns eine riesige Fotowand mit Bildern von Freiburger Trainern und Spielern an der Außenwand des Stadions angebracht haben. Sie wissen eben, dass der SC auch 2020 wiederkommen wird.

Was der Sport-Club einmal für gut befunden hat, das ändert er auch nicht mehr. Man kann das belächeln und muss das vielleicht sogar manchmal. Doch in Zeiten, in denen viele Ligakonkurrenten eine immer überdrehtere Außendarstellung praktizieren, ist die Freiburger Selbstgewissheit ausgesprochen wohltuend. Fast immer in den letzten Jahrzehnten ist es dem SC zudem gut bekommen, dass wichtige Entscheidungen nach reiflicher Überlegung getroffen wurden. Und erst dann, wenn man halbwegs sicher sein konnte, dass weder die notorisch soliden Finanzen noch der innere Zusammenhalt des Vereins gefährdet werden.

Ich begleite den SC Freiburg beruflich seit Ende der 1990er Jahre, seit 2007 dürft e ich nicht mehr als zehn Heimspiele verpasst haben. Freundschaft en mit Kollegen und Fans sind so entstanden und natürlich auch Loyalitäten: Beim Sport-Club Freiburg sind mir jedenfalls weit mehr Menschen sympathisch als bei anderen Vereinen. SC-Fan war und bin ich allerdings nicht. Ich finde den Fußweg die Dreisam entlang zum Stadion wunderschön, schätze es sehr, dass es im Stadion friedlich und gelassen zugeht, und freue mich alle zwei Wochen auf ein Wiedersehen mit vielen netten Menschen. Und doch geht es mir eben wie einem Protagonisten aus diesem Buch, dem beim Stadionerlebnis der „Dreck unter den Fingernägeln“ fehlt. Privat zieht es mich auch deshalb seit Jahren sowieso eher in die unteren Ligen. Doch das hält mich nicht davon ab, mich bei 16 von 17 Spielen zu freuen, wenn der SC einen Sieg einfährt. Das würde sich allerdings schnell ändern, wenn – sagen wir einmal – Huub Stevens Nachfolger von Christian Streich werden würde oder statt Klemens Hartenbach ein komischer Investor mit dickem Auto und Doppelkinn die Transferpolitik bestimmte.

Vielleicht ist all das ja eine ganz gute Voraussetzung, um sich aus der Nähe anzuschauen, wie dieser Verein funktioniert, was ihn zusammenhält, was ihn bedroht – und was das Geheimnis seines Erfolges ausmacht. Denn nach wie vor ist es ja eine Sensation, dass sich ein Klub mit dermaßen schlechten Voraussetzungen in der ersten Liga halten kann. Den SC Freiburg nennen jedenfalls gefühlt drei von vier Funktionären im deutschen Fußball, wenn sie gefragt werden, wie man einen Profiverein führen kann, damit er gut für die Zukunft gerüstet ist. Dass es fast immer beim reinen Lippenbekenntnis bleibt, ist gut für den Sport-Club, der sich sonst noch größere Sorgen um seine Zukunft machen müsste. Denn schon jetzt gibt es weit mehr Unwägbarkeiten und Gefahren, als Verantwortlichen und Fans lieb sein kann.

Christoph Ruf
August 2019

Der SC Freiburg –
nie kopiert, nie erreicht

Was den SC Freiburg ausmacht, wurde nie an einem Flipchart entworfen. Und ist vielleicht gerade deshalb in Stein gemeißelt.

Als der Präsident des VfB Stuttgart in der SWR-Sendung Sport im Dritten saß und mal wieder eine Trainerentlassung rechtfertigen musste, kam der SC Freiburg zu Ehren. Auch wenn der mächtige Gönner des Drittligisten Karlsruher SC, Vizepräsident Günter Pilarsky, mal wieder über seinen Verein sinniert, ist das so. So wie die Freiburger muss man es machen, heißt es dann. Und wahrscheinlich meinen sie es in diesem Moment auch genau so, wie sie es sagen, all die Funktionäre von Hamburg bis München und von Karlsruhe bis Stuttgart, die finden, dass man einiges von der Art und Weise lernen kann, wie der Sport-Club seit den Zeiten von Präsident Achim Stocker sein Kerngeschäft versieht. Ruhig, unaufgeregt und mit einem Plan, der länger als die nächsten beiden Spieltage überdauert.

Nur: So wie der SC Freiburg machen sie es eben nicht. Nicht beim VfB, wo sie im Januar 2018 Tayfun Korkut als Trainer verpflichteten und ihm nach erfolgreicher Rückrunde im Sommer ohne jede Not einen hochdotierten Zweijahresvertrag gaben, nur um ihn wenige Wochen später wieder rauszuwerfen, woraufhin sie selbstredend den nächsten teuren Trainer verpflichteten, den sie wieder ein paar Monate später rauswarfen – und abstiegen. Schon diese beiden Personalien dürft en einen hohen einstelligen Millionenbetrag gekostet haben. Im Sommer 2019 war der VfB Stuttgart dann auch seinen Präsidenten Wolfgang Dietrich los. Hier war die Trennung von einem beratungsresistenten Spalter mit merkwürdigem Geschäft sgebaren überfällig. Aber es zeigte eben auch, wie nachlässig in der Fußballbranche Führungspositionen besetzt werden, in denen über dutzende Millionen Euro entschieden wird

Nun macht auch der SC Freiburg Fehler. So neigte mancher Funktionär in den vergangenen Jahren dazu, Kritik als zerstörerisch und nicht als produktiv wahrzunehmen. Doch viele der entscheidenden Fehler, die neben Stuttgart und Karlsruhe auch den meisten anderen Profivereinen Jahr für Jahr Millionen kosten, kann der Sport-Club gar nicht machen. Zum einen natürlich, weil er es sich schlicht nicht leisten kann, so viel Geld aus dem Fenster zu werfen wie der HSV oder der VfB Stuttgart. Das allein erzieht schon zu Sparsamkeit. Vor allem aber, weil der Verein als Geschäft sgrundlage tatsächlich etwas hat, das in einer Branche, die ihre Personalrochaden gerne in möglichst pathetische Worte kleidet, „Philosophie“ genannt wird. Der SC Freiburg funktioniert in seiner Grundausrichtung unabhängig von den handelnden Personen. Angestellte des Vereins sind vergleichbar einem Puzzlestück, manches größer, manches kleiner. Doch für alle Teile des Puzzles gilt: Fällt eines heraus, darf es eine andere Farbe haben, aber es muss hineinpassen, die gleiche Form haben wie das Stück, das es ersetzt. Die Konturen des Puzzles bleiben immer gleich. Das nennt man Kontinuität. Etwas, das ja angeblich alle Präsidenten, Manager und Trainer mit aller Kraft anstreben.

Allerdings reicht das Interesse daran, welche Mechanismen beim SC Freiburg wirken, weder in Stuttgart noch in Karlsruhe aus, um sich mal genauer mit der dortigen Arbeitsweise zu befassen. „Stabilität“ und „Kontinuität“, um die der SC so oft beneidet wird, werden in der Schwarzwaldstraße 193 ja nicht durchs Leitungswasser angeliefert. Stabilität und Kontinuität sind vielmehr Ergebnis der ganz konkreten Alltagsarbeit. So wie man dort arbeitet, stehen die Chancen besser, dass die Transfers gelingen, dass man einen Trainer findet, der länger als ein paar Monate bleibt, und dass man immer wieder Talente heranbildet, die zu Bundesliga-Stammspielern werden. Höchste Zeit also, sich die Elemente der „Philosophie“ mal etwas genauer anzuschauen, die dafür sorgen, dass der Verein so beneidet wird.

Jugendstil als Philosophie

Irgendwann im letzten Jahrhundert, also in Zeiten, in denen Fußballvereine noch nicht ständig von einer „Philosophie“ redeten, hat sich der SC tatsächlich bereits eine zugelegt. Nicht am Flipchart, sondern weil man einem Mann vertraute, der sich über Fußball ein paar grundsätzlichere Gedanken gemacht hatte als die meisten seiner Kollegen. Auch beim SC Freiburg, das wird gerne einmal vergessen, wurden früher alle paar Monate die Trainer rausgeworfen – bis Finke kam. Spätestens seit dessen Trainerschaft definierte sich der Sport-Club als Ausbildungsverein, also als Verein, der die Spieler entweder selbst ausbildet oder sie günstig einkauft , um sie ein paar Jahre später – wenn sie schon den Verein wechseln wollen oder sollen – für deutlich mehr Geld wieder zu verkaufen. Das war zwar quasi seit Vereinsgründung das Geschäft smodell eines Fußballklubs, der im faktisch industriefreien Südbaden beheimatet ist. Konsequent durchdekliniert wurde das Modell allerdings nicht, man versuchte halt Jahr für Jahr, möglichst günstig einzukaufen und wechselwillige Spieler möglichst teuer abzugeben. Unter Finke, der ja in Freiburg weit mehr als ein Trainer war, bekam das Ganze dann aber endgültig eine Struktur. Denn dieses Konzept setzt, logisch zu Ende gedacht, nicht nur eine hohe Qualität bei der Ausbildung voraus, also gute Trainer und eine ebenso gute Infrastruktur. Es muss auch Sorge dafür getragen werden, dass die generierten Transfererlöse Stück für Stück für ein Wachstum sorgen, von dem sowohl die Qualität des Kaders als auch die Infrastruktur profitiert.

Im Herbst 2001, also bemerkenswert früh, wurde folgerichtig die „Freiburger Fußballschule“ als Nachwuchsleistungszentrum eröffnet. Dass man einen anderen Namen als „Nachwuchsleistungszentrum“ wählte, war dabei kein Zufall. Denn der studierte Lehrer Finke legte großen Wert auf den pädagogischen Aspekt bei der Ausbildung junger Menschen. Heute hat jedes Nachwuchsleistungszentrum, das sich um eine Zertifizierung durch die DFL bemüht, wie selbstverständlich einen pädagogischen Leiter. 2001 war auch dieser Freiburger Ansatz geradezu revolutionär.

Zumindest überraschend war die Finanzierung der Fußballschule, denn 20 der rund 27 Millionen D-Mark, die ihre Errichtung damals kostete, zahlte der Sport-Club selbst. Das war eine für damalige Verhältnisse ungeheure Summe. Andreas Bornemann, bis Januar 2018 Sportvorstand beim 1. FC Nürnberg, war der erste Leiter der Fußballschule, Jochen Saier, der von 2003 bis 2013 dort amtierte, sein Nachfolger. Heute befindet sich das Areal am Sternwald unter der Leitung von Andreas Steiert und Tobias Schätzle (Organisation) und Martin Schweizer (Sport). Markus Kiefer und Stefanie Nerling sind für die Pädagogik verantwortlich. Trainiert werden dort gut 170 Spieler der Jahrgänge U23, U19, U17, U16, U15, U14, U13 und U12. Die 16 Internatsschüler wohnen in Einzel- und Doppelzimmern. Damals, bei der Erbauung 2001, sorgte das Gebäude für enthusiastische Schlagzeilen, wie sie heute die Nachwuchszentren in Hoffenheim oder Leipzig hervorrufen: drei Rasenplätze, ein Kunstrasenplatz, drinnen eine Sporthalle, ein Soccer-Court, ein Beachvolleyballfeld und ein Basketballplatz, Kraft raum, eine Sauna. So ähnlich stellte man sich 2001, als selbst in der Bundesliga viele Umkleidekabinen noch wie Umkleidekabinen aussahen, das Schlaraffenland vor.

Gebaut wurde nicht auf der grünen Wiese, sondern auf dem Gelände der traditionsreichsten Freiburger Sportstätte, des Möslestadions – also der angestammten Heimstätte des bereits im 19. Jahrhundert gegründeten Freiburger FC. Für den deutschen Meister von 1907, der jahrzehntelang der größere Freiburger Fußballverein gewesen war, war das eine Demütigung, von der sich viele Mitglieder des heutigen Verbandsligisten bis heute nicht erholt haben. 1999 hatte der Sport-Club dem ungeliebten Rivalen ein Angebot gemacht, ihm sein angestammtes Stadion abzukaufen.

Wie das Mösle zum Sport-Club kam

„Das Mösle“ liegt idyllisch am Rande des Sternwaldes. Eine wuchtige Tribüne begrenzt es auf der einen Seite, auf der anderen Seite – Richtung Schnellstraße und SC-Stadion – standen die FFC-Anhänger auf Höhe der Mittellinie und feuerten ihre Mannschaft unter einem riesigen FFC-Wappen an. 3.000 bis 4.000 Fans kamen in den 1970ern, zum als bodenständiger geltenden Sport-Club gingen damals nur ein paar hundert Fans. Fakten und Geschichten, die sich viele ältere FFC-Fans heute noch erzählen, nicht selten mit einer gehörigen Portion Verbitterung in der Stimme. Denn der älteste Verein der Stadt, dessen Niedergang mit dem erstmaligen Abstieg in die Landesliga einen neuen Tiefpunkt erreicht hatte und der aufgrund des jahrelangen Missmanagements finanziell darnieder lag, konnte letztlich gar nicht anders, als auf das Angebot des Lokalrivalen einzugehen und seine sportliche Heimat zu verkaufen. Dass der Sport-Club den FFC damit endgültig abgehängt hatte, war für ihn durchaus image- und identitätsstift end. Noch heute lästern ältere SC-Fans liebend gerne über den „Stehkragenverein“ FFC, der sich vor einigen Jahrzehnten tatsächlich reichlich arrogant gab. Schon lange ist er aber von jedem Hochmut geheilt und präsentiert sich als überaus sympathischer klassischer Amateurverein, der sich im Sommer 2019 mit dem Aufstieg in die Oberliga auch für die seriöse Arbeit der letzten Jahre belohnte.

Zur Tragik des FFC gehört nicht nur, dass ihn die Sünden der Vergangenheit immer wieder in der öffentlichen Wahrnehmung einholen und dass davon die ehrenamtlich arbeitenden Vereinsmitarbeiter betroffen sind, die für diese Sünden nicht das Geringste können. Tragisch war auch, dass der Freiburger FC mit der auf fünf Jahre umgelegten Abstandssumme von zusammengerechnet 240.000 Euro – im Übrigen nicht nur aus FFC-Sicht lächerlich wenig –, die der damalige SC-Manager Andreas Rettig ausverhandelt hatte, ebenso schlecht haushaltete wie in all den Jahren zuvor, in denen man sich erst in die Bredouille gebracht hatte, seine Heimstatt verscherbeln zu müssen. Und so stand der FFC 2008 wieder kurz vor der Löschung aus dem Vereinsregister.

Zwischenzeitlich war der FFC vom Möslestadion in das vergleichsweise piefige Schönwaldstadion im Süden der Stadt gezogen. Und selbst die Miete dafür konnte man sich nun nicht mehr leisten. Der Umzug ins heutige Stadion am Dietenbachpark, zunächst auch ästhetisch ein weiterer Abstieg, war unausweichlich. Im Laufe der Jahre haben sie allerdings das Beste aus den Möglichkeiten dort gemacht, das Gelände immer weiter aufgehübscht, so dass es heutzutage ein nettes Erlebnis ist, an einem Samstagnachmittag wieder Fußball beim FFC zu schauen. Doch natürlich werden ältere Mitglieder noch heute wehmütig, wenn sie an das frühere Stadion denken und es mit dem jetzigen vergleichen: einem klassischen Sportplatz, weit weg vom Stadtzentrum, wo eine Bude vom Baumarkt das Kassenhäuschen ist, wo es keine Vereinsgaststätte gibt und wo drei Stufen das ersetzen, was andernorts eine Tribüne ist.

Inzwischen geht es allerdings wieder bergauf. Der FFC hat mit Ralf Eckert einen Trainer, der in der Spielzeit 2018/19 seine zehnte Saison beim Verein bestreitet. Er verficht einen attraktiven, schnellen und offensiven Fußball, der in Freiburg – auf kleiner Flamme – durchaus seine Liebhaber findet. Zu Spitzenspielen kommen wieder bis zu 700 Zuschauer, ein paar SC-Dauerkarteninhaber haben den FFC als Zweitverein entdeckt. Beides wäre vor drei, vier Jahren noch undenkbar gewesen.

In dem Maße, wie es mit dem FFC bergab ging, vollzog sich fast parallel der Aufstieg des historisch gesehen etwas proletarischeren SC. Vor 2001 trainierten die SC-Jugendmannschaft en hinter der Haupttribüne des Dreisamstadions. Und das auf einem klassischen Hartplatz, der nun wirklich gar nicht zum eigenen Anspruch passte, modernes Kurzpassspiel von der Pieke auf zu lehren und zu praktizieren. Nun war ein neues Zeitalter angebrochen, Anspruch und Wirklichkeit näherten sich auch bei den Trainingsbedingungen zusehends an.

Um talentierte Jugendliche schon gut zu betreuen, bevor sie Kandidaten für die Fußballschule werden, unterhält der Verein seit einigen Jahren Kooperationen mit einer Reihe von Klubs im Umkreis von etwa 150 Kilometern. Hierzu zählen der Offenburger FV, der FV Ravensburg, der FC Radolfzell, der SV Zimmern, die Sportfreunde Eintracht Freiburg sowie der FV Lörrach-Brombach. Von Freiburg aus gesehen sind also alle Himmelsrichtungen abgedeckt. Talentierte Jugendliche im Alter zwischen zwölf und 16 Jahren erhalten dort zusätzliche Trainingseinheiten von Übungsleitern, die der Sport-Club eigens geschult hat. Dazu kommen Einheiten in Freiburg. Jugendliche, die über all die Jahre herausragen, ziehen dann mit 16 Jahren in die Fußballschule um, auf deren Leitungsebene eine ähnlich große Kontinuität herrscht wie bei den Profis.

„Junge Menschen“, kein „Spielermaterial“

Jochen Saier, der heutige Vorstand Sport beim SC, leitete als einer der Vorgänger von Schweizer mehr als zehn Jahre die Fußballschule. Das ist ungewöhnlich in einer Branche, in der die meisten Sportdirektoren Ex-Profis sind. In Freiburg ist die Vita des studierten Sportmanagers Saier allerdings die Regel und nicht die Ausnahme. Von Christian Streich über Saier und den jetzigen Sportdirektor Klemens Hartenbach bis hin zu den Assistenztrainern Patrick Baier und Lars Voßler stammen die Verantwortlichen der Profis aus der Fußballschule. Und die liefert seit Jahren zuverlässig gute Spieler für die erste Mannschaft , die dann häufig gewinnbringend weiterverkauft werden.

Die Liste der Bundesligaspieler, die im Möslestadion zum ersten Mal das Freiburger Trikot trugen, umfasst heuer rund 20 Namen, die bekanntesten von ihnen: Matthias Ginter, Sascha Riether, Oliver Baumann, Ömer Toprak, Daniel Schwaab, Jonathan Schmid, Daniel Caligiuri, Dennis Aogo sowie die langjährigen Leistungsträger des Freiburger Kaders 2018/19 Alexander Schwolow, Christian Günter und Nicolas Höfler. Für Günter und Schwolow interessieren sich längst auch andere, finanzkräft igere Bundesligisten. Doch Günter kickt immer noch in Freiburg und nicht in Leipzig, wo er möglicherweise nur gutbezahlter Back-up für Nationalspieler Marcel Halstenberg geworden wäre.

Vielsagend ist die Anekdote, die die Eltern von Linksverteidiger Christian Günter über dessen Zeit in der Fußballschule erzählen. Voßler, der damalige Jugendtrainer und heutige Co-Trainer von Christian Streich, habe ihnen geraten, während der fußballerischen Ausbildung von Christian auf die zwei Jahre ältere Tochter aufzupassen, da die Gefahr bestehe, dass Geschwister angehender Profis darauf reduziert würden, „Schwester/Bruder von“ zu sein. Es dürft e durchaus noch Jugendtrainer in Deutschland geben, die einen solchen Rat gar nicht geben könnten, weil sie von den familiären Verhältnissen der Jugendkicker nichts wissen. Das wäre in Freiburg nur schwer vorstellbar. Ein guter Nachwuchstrainer, sagt auch Cheft rainer Christian Streich, müsse wissen, ob ein Kind bei Opa oder Oma großgeworden ist oder ob es aus einer klassischen Familie stammt. „Es ist schlecht, wenn sie das zufällig nach ein paar Jahren erfahren.“

Günter, dessen Verhältnis zur Schwester dem Vernehmen nach exzellent ist, wird heute dann auch ausgiebig gelobt. Streich mag junge Leute, die sich durchbeißen. Eben Spieler wie Günter, der heute einer der besten Linksverteidiger der Liga ist und dem dafür weniger das Talent in die Wiege gelegt war als der Wille, genau diesen Mangel zu kompensieren.

In einer Pressekonferenz hat Streich einmal etwas detaillierter über den Spagat zwischen Professionalisierung und Leistungsorientierung einerseits gesprochen und den Eigenschaft en, die den „Lehrer“ im „Fußballlehrer“ ausmachen. „Die Professionalisierung war gut, ich selbst habe ja als A-Jugendtrainer davon profitiert“, sagte er unter Berufung auf die Tatsache, dass er damals, nach den Unijahren, beim SC eine feste Stelle als Jugendtrainer bekam. Aber bevor man die Jugendlichen ins kalte Wasser werfe, müsse der richtige Zeitpunkt erreicht sein. „Sie müssen so weit sein, man darf sie nicht verbrennen.“ Genau das passiere aber oft . Noch öft er allerdings bekämen bestens ausgebildete Nachwuchsspieler nie die Chance zum ersten Bundesligaeinsatz, weil ihnen immer wieder teuer eingekauft e ältere Spieler vorgezogen würden. In beiden Fällen bleibe etwas Entscheidendes auf der Strecke, so Streich. „Das Wichtigste ist der Bezug zu den Kindern und Jugendlichen. Die Jungs wollen ja einen strengen Trainer, sie wollen aber auch einen, der ein bisschen Vater ist. Einen, bei dem sie wissen: Der ist mir nah, der ist die ganze Zeit da.“

Streich hat die Erfahrung gemacht, dass ehemalige Spieler, die er nach ihrem Karriereende wiedertrifft , in aller Regel nicht zuerst über herausragende Spiele ihrer Laufbahn sprechen, sondern über etwas, das offenbar nachhaltiger in Erinnerung bleibt als die Begegnungen mit den Stars der Liga: „Wenn du Spieler nach ihrer Karriere fragst, was hängen geblieben ist, kommt immer etwas Persönliches.“ Doch genau das, so Streich, vermisse er in unserer kurzlebigen Zeit. „Es gibt Internate, die sehen aus wie Raumschiffe“, weiß er, der auch die Sprache solch unwirtlicher Orte kritisiert. Bei Vokabeln wie „Spielermaterial“ schüttelt es ihn ebenso wie bei dem Postulat, dass Spieler „funktionieren“ müssten. „Spielermaterial“, so Streich, „gibt es nicht. Es gibt junge Menschen.“

Doch natürlich geht es auch beim SC darum, möglichst viele gut ausgebildete Profispieler heranzuziehen. Und das klappte in den letzten Jahren sehr gut: In den vergangenen zehn Spielzeiten standen im Schnitt pro Saison vier Spieler aus der eigenen Ausbildung im Profikader des SC. Kolossal erfolgreich waren auch die A-Jugend-Teams. 2006, 2009, 2011, 2012, 2014 und 2018 gewannen die Freiburger den DFB-Junioren-Vereinspokal. Damit ist der SC Rekordhalter in diesem Wettbewerb.

Zurück zu den baden-württembergischen Nachbarn des Sport-Clubs. In Freiburg wäre es aus den genannten Gründen unmöglich, dem A-Jugendtrainer, nachdem er vier Jahre im Verein tätig war, charakterliche Defizite vorzuwerfen. Man stellt ja auch bei seiner Ehefrau nicht im fünft en Ehejahr fest, welche Haarfarbe sie hat. Undenkbar auch, dass der Vertrag mit einem Trainer erst um zwei Jahre verlängert wird, um ihn in der Anfangsphase einer Saison mit der Begründung zu entlassen, er habe die eingeforderte Spielweise nicht umgesetzt. Wer aber – um beim anfangs erwähnten Stuttgarter Beispiel zu bleiben – von einem Trainer wie Tayfun Korkut attraktiven Offensivfußball erwartet, könnte auch Jogi Löw einstellen, wenn er einen Trainer mit der hemdsärmeligen Außendarstellung von Peter Neururer sucht.

In Freiburg hingegen blieben die Cheft rainer der vergangenen Jahre (fast) alle überdurchschnittlich lange im Amt. Volker Finke (1991 bis 2007) und Christian Streich (seit 2011) waren bzw. sind mit großem Abstand die jeweils dienstältesten Trainer ihrer Zeit. Und auch Robin Dutt (2007 bis 2011) wäre wohl noch etwas länger Trainer geblieben, wenn er nicht von sich aus nach Leverkusen hätte wechseln wollen. Lediglich Marcus Sorg scheiterte kurzfristig. Dass er und nicht sofort Streich Trainer wurde, gehört zu den gravierendsten Fehleinschätzungen der letzten drei Dekaden. Sie wurde nach wenigen Monaten korrigiert. Gerade noch rechtzeitig, um den Abstieg zu vermeiden.

Was jedoch allen Trainern – auch Sorg – gemeinsam war, ist die Akribie, mit der der Nachwuchsbereich beobachtet wird. Während es in der Branche alles andere als unüblich ist, als Profitrainer allenfalls die Namen der drei hoffnungsvollsten Talente im eigenen Nachwuchs zu kennen und sich deren Spiele niemals selbst anzuschauen, wäre das in Freiburg undenkbar. Wie bereits Finke, Dutt oder auch Sorg wissen heute sowohl Trainer Streich als auch Klemens Hartenbach und Jochen Saier, in welcher Aufstellung die Freiburger A-Jugend das Wochenende zuvor gespielt hat – oft , weil sie selbst vor Ort waren. Damit führen sie gewissermaßen eine Tradition fort. Schon der verstorbene Präsident Achim Stocker ging gerne sonntags mit seinem Hund auf der Gegentribüne spazieren und schaute sich die Spiele an. Auch Volker Finke hatte seine Lieblingsecke im Möslestadion.

„Natürlich ist das so, wenn du Cheft rainer in Freiburg bist“, sagt dazu Christian Streich. „Das geht auch nicht anders, wenn du beim SC Freiburg arbeitest. Das wäre absolut fahrlässig.“ Zumal die Bedingungen, unter denen der SC versucht, kluge Transfers zu tätigen, mit jeder Transferperiode schwieriger werden.

Es gibt keine Oasen mehr

Denn schon längst gibt es sie nicht mehr, die Oasen bei der Spielersichtung, die von den Spähern der großen Vereine gemieden werden. Während es zu Finkes Zeiten noch Späße über die ganzen Kicker gab, deren Nachnamen auf -vili endeten, sind heute auch Georgien oder Mali (wo Finke bei Soumaila Coulibaly und Boubacar Diarra fündig wurde) von hunderten Scouts durchkartografiert, die für die europäischen und asiatischen Topligen arbeiten. Als Jochen Saier in der türkischen zweiten Liga – wie er glaubte, noch ein blinder Fleck auf der Fußballlandkarte – einen gewissen Çağlar Söyüncü beobachtete, winkte ihm von der Tribüne des Vereins Altınordu Izmir ein Kollege von einem deutschen Erstligisten zu. Dabei fliegen Saier und vor allem Chefscout Hartenbach immer noch überallhin, wo ihnen ein Spieler auffällt, der gut ins Konzept passt. Sie beobachten ihn mehrfach über 90 Minuten und werben für ihren Verein und ihre Stadt – wohlwissend, dass sie immer dann sowieso keine Chance haben, wenn der Spieler vor allem am finanziellen Teil der Vertragsbedingungen interessiert ist.

Natürlich zahlt auch der Sport-Club mittlerweile horrende Gehälter – gewiss nicht im Ligavergleich, aber auch da hat er zumindest aufgeholt. Und so sind die Argumente, mit denen Spieler nach Freiburg gelockt werden, seit Jahren die gleichen: die Lebensqualität der Stadt. Die Tatsache, dass viele, die als hoffnungsvolle Talente zum SC kamen, zwei, drei Jahre später anderswo einen richtig großen Vertrag unterschrieben haben. Weil die Chance hoch ist, dass sie Einsatzzeiten bekommen, weil sie Fehler machen dürfen und einen Trainer haben, der nicht nur fordert, dass sie „mehr anbieten“ müssen, sondern der so lange an ihren Defiziten feilt, bis sie im Idealfall wichtige Stammspieler sind. Wer es beim Sport-Club nicht schafft , heißt es, hat bei den Managern der Ligakonkurrenz erst mal ein Manko: Wenn er es da nicht schafft , denkt sich der ein oder andere, wo sie so viel Zeit mit ihm verbringen, dann wird er es nirgendwo schaffen.

Das Repertoire der Argumente, mit denen die SC-Verantwortlichen für die Vertragsunterschrift in Freiburg werben, ist seit Jahren unverändert. Doch die ökonomischen Rahmenbedingungen haben sich radikal geändert – zu Ungunsten klammer Bundesligisten wie Nürnberg oder Freiburg, die beide in der Saison 2018/19 genau wussten, dass sie keine Chance haben, wenn betuchte Zweitligisten wie Köln und der HSV (aber nicht nur die) ein Konkurrenzangebot abgaben.

Doch damit nicht genug der Unbill. Denn auch die Explosion der finanziellen Ausstattung auf der Insel macht Vereinen wie dem SC zu schaffen. Seit die Premier League einen Fernsehvertrag abgeschlossen hat, der ihr für drei Jahre rund 5,4 Milliarden Euro allein aus der Inlands-TV-Vermarktung verschafft , werfen die Engländer mit dem Geld nur so um sich. Hinzu kommen Auslandsvermarktung sowie Merchandise- und Ticketerlöse, die um ein Vielfaches höher liegen als bei deutschen Klubs. Wenn in Bangkok oder Kalifornien ein Jugendlicher mit Freiburg-Trikot gesichtet wird, ist es unter Garantie ein deutscher Tourist. Trägt er ein Sunderland-Trikot, kann er durchaus ein Einheimischer sein, macht er für Manchester City oder Real Madrid die Litfaßsäule, ist er garantiert einer. Wenn englische Vereine um Spieler wie Leroy Sané, İlkay Gündoğan, Pierre-Emerick Aubameyang oder Kevin de Bruyne buhlen, haben selbst die deutschen Branchenriesen keine Chance mehr, ihre Stars vom Verbleib in der Bundesliga zu überzeugen. Wie sollte Freiburg da argumentieren, wenn Leicester City Çağlar Söyüncü verpflichten will? Wenn der Letzte der Premier League insgesamt mehr Fernsehgelder bekommt als der FC Bayern, sind die Verhältnisse klar.

Leben an der Kante

Wie viel stimmen muss, wenn der Sport-Club Erstligist bleiben will, hat er in der jüngeren Vergangenheit gleich zweimal im Auswärtsspiel bei Hannover 96 vorgeführt bekommen.

Nils Petersen saß nach dem Schlusspfiff weinend in der Kabine, Torwart Roman Bürki liefen die Tränen herunter, als er sich bei den mitgereisten Fans für die Unterstützung bedankte. Und Christian Streich konnte die mühsam aufrechterhaltene Beherrschung nicht mehr wahren, als ihn Wut und Trauer durchschüttelten. Das Interview mit einem Radiosender musste abgebrochen werden, die Emotionen waren stärker als die analytischen Kräft e. Nein, der 23. Mai 2015 war kein schöner Tag in der Freiburger Vereinsgeschichte.

Doch die großen Emotionen nach dem Schlusspfiff mussten beim Freiburger Anhang gemischte Gefühle hervorrufen, denn genau die hatte die Mannschaft während des Spiels nicht gezeigt. Emotions- und wehrlos hatten sich viele Spieler über den Platz geschleppt, Zweikämpfe und Sprints verweigert, schon die Fleißnote stimmte nicht, vom Rest ganz zu schweigen. Symptomatisch, dass man bei einem als Abstiegsendspiel deklarierten Match nach 122 Spielsekunden zurücklag, weil ein 1,73 Meter großer Hüne namens Hiroshi Kiyotake völlig frei zum Kopfball gekommen war. Als dann noch ein groteskes Eigentor durch Pavel Krmaš (84.) dazukam, war der Abstieg besiegelt. Wäre es nicht gefallen, hätte Nils Petersens Treffer kurz vor Schluss doch noch den Klassenerhalt bedeutet. So konnte auch er nicht verhindern, dass der SC am letzten Spieltag von Platz 14 auf Rang 17 stürzte und somit abstieg.

Dabei hätte ein Punkt gereicht, um auch im kommenden Jahr wieder gegen die Bayern spielen zu dürfen. Gegen die hatte der Sport-Club am 33. Spieltag sogar gewonnen, nachdem er beim HSV einen Zähler eingefahren hatte. Und nun das. „Ich hatte vor dem Spiel mit Ersatztorwart Sebastian Mielitz, einem guten Freund von mir, ausgemacht, er solle den linken Arm heben, wenn Hamburg führt, und den rechten, wenn Stuttgart führt – und auf einmal hebt er beide Arme“, erinnert sich Petersen. „Nach meiner Einwechslung habe ich dann nichts mehr mitbekommen von den anderen Spielständen. Wir haben dann zwar noch das 1:2 gemacht, aber tief drin wusste man, es reicht nicht mehr. Dann kam Rudi Raschke, der damalige Pressesprecher, auf den Rasen und sagte: Wir sind abgestiegen.“

„Ein großer Verein in seinem Wesen“

In den Wochen nach dem wohl unnötigsten Abstieg der Vereinsgeschichte sickerte durch, warum bei Streichs Gefühlsausbruch nach dem Abpfiff auch Wut dabei war und warum bei seinem mittlerweile berühmten Ausspruch auf der Pressekonferenz im Hannoveraner Stadion – „Der Verein ist ein großer Verein, ein kleiner, aber großer Verein in seinem Wesen“ – auch mitschwang, dass der Klub größer ist als mancher Spieler, der an diesem Nachmittag mit dem Greifen-Trikot herumspazierte. Das deuten auch die Spieler an, die schon damals im Kader waren und es heute noch sind: „Wir haben heute nicht mehr die individuelle Qualität im Kader, die wir damals hatten“, sagt Petersen überraschenderweise am Ende der Saison 2018/19. Und tatsächlich kam ein späterer Nationalspieler wie Petersen im damaligen Kader anfangs nur zu Kurzeinsätzen. Er sieht es heute so, dass das auch an der guten Konkurrenz auf seiner Position lag. Heute ist das Team individuell schwächer – und kollektiv besser. „Das war eine Phase, in der sich viele Spieler über alle Maßen mit ihrer persönlichen Zukunft beschäft igt haben“, sagt Sportdirektor Klemens Hartenbach rückblickend. „Das hat man ein bisschen gemerkt.“

Im damaligen Kader gab es eine Kluft zwischen den Spielern, die unter Streich großgeworden waren, und denen, die irgendwann als gestandene Spieler gekauft worden sind – qualitativ ein Fortschritt, fürs Mannschaft sgefüge eher eine „Rolle rückwärts“, wie es Petersen formuliert. „Wir haben heute ein unheimlich stabiles Gefüge, stabiler als damals. Vielleicht ist es ja derzeit gerade unsere Stärke, eben keine Stars zu haben.“ Seither achtet der Sport-Club noch mehr darauf, dass mögliche Neuverpflichtungen ins große Ganze passen. Jonathan Schmid, für den das Hannover-Spiel das letzte im SC-Dress war, bevor er zunächst nach Hoffenheim und dann nach Augsburg wechselte, kam im Sommer 2019 zurück. Auch bei Rückkehrer Vincenzo Grifo waren sich Trainerstab und Ex-Kollegen einig, dass Starallüren bei ihm kein Thema sein würden. „Nach dem Abstieg in Hannover hat man dann wieder mehr darauf geachtet, ob das Typen sind, die reinpassen“, so Petersen. „Bei Grifo war es natürlich klar. Hätten wir ihn aber nicht schon vorher gekannt, wäre sicher die Frage aufgekommen, ob wir Stars vertragen können, ob sie unserer Mannschaft guttun.“ Zu fragil sei ein Mannschaft sgefüge, auch dann, wenn es so intakt ist wie derzeit beim SC. „Wir gehen mittags mit 15 Mann essen und frühstücken morgens zu fünfzehnt“, betont Petersen, der so etwas noch in keiner anderen Mannschaft erlebt hat. „Ein, zwei Spieler, die da nicht reinpassen, kriegst du immer durch, aber zu viele darfst du nicht haben.“