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Nr. 2960

 

Hetzjagd auf Bull

 

Der Techno-Mahdi ist am Zug – er will die Unsterblichen ausschalten

 

Hubert Haensel

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1.

2.

3.

4.

5. Rückblick

6. Unaufhaltsam voran

7.

8.

Epilog

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodan hat nach wie vor die Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Unterschwellig herrschen zwar Konflikte zwischen den großen Sternenreichen, aber man arbeitet zusammen. Das gilt nicht nur für die von Menschen bewohnten Planeten und Monde. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, Besucher aus anderen Galaxien suchen Kontakt zu den Menschen und ihren Verbündeten.

Derzeit machen vor allem die Thoogondu aus der Galaxis Sevcooris von sich reden, die vor Jahrzehntausenden ein Sternenreich in der Milchstraße hatten. Dazu gesellen sich die Gemeni, die angeblich den Frieden im Auftrag einer Superintelligenz namens GESHOD wahren wollen.

Ohne Vorwarnung erobern die fürchterlich aussehenden Xumushan das Sonnensystem und besetzen die Erde – diese Invasion ist allerdings eine reine Erfindung, eine Täuschung der Menschen und ihrer Rechnersysteme. Wer steckt dahinter?

Reginald Bull, Perry Rhodans Gefährte seit der Mondlandung, steht im Zentrum der Ereignisse. Der sogenannte Techno-Mahdi scheint die Erde ins Chaos stürzen zu wollen. Nachdem Bull dies erkannt hat, bläst der Gegner zur HETZJAGD AUF BULL ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Reginald Bull – Der Terraner kämpft nicht gegen scheinbare Invasoren.

Adam von Aures – Der Geheimnisvolle dirigiert Illusionen und Täuschungen.

Icho Tolot – Der Haluter beschützt sein »Kleines« gegen alle Anfeindungen.

Toio Bull-Zindher – Die Vitaltelepathin erlebt einen Schock.

Tango Burosch – Selbst der Konstabler des Techno-Mahdi kennt nicht alle Pläne.

Prolog

 

Der Mann war mittelgroß und schlank. Seine Statur und die Gesichtszüge wiesen ihn als Terraner aus, wenngleich seine Haut ein wenig heller anmutete als der im Solsystem verbreitete leicht bronzefarbene Ton.

Er schritt rasch aus. Aus einem Seitenkorridor war er in den Tunnelgang eingebogen, der an die dreißig Meter geradlinig verlief. Schimmerndes, im Hammerschlag strukturiertes Metall bestimmte die Umgebung. Holos in den gewölbten Wänden zeigten Ausblicke auf den riesigen Saturn in seiner ungezähmten Pracht und Ausschnitte seines weiten Ringsystems.

»Ich sagte schon vor einer Stunde, dass es Zeit ist für den nächsten Schritt. Nach der vorgetäuschten Invasion ...«

Er hielt inne, als wäre ihm jäh etwas in den Sinn gekommen, und wandte sich um. Das Lächeln in seinem Gesicht wich einem leicht unzufriedenen Ausdruck. Tief atmete er ein und streifte sich das schulterlange schwarze Haar in den Nacken zurück.

»Mitunter habe ich den Eindruck, ich sei zu schnell für euch«, bemerkte er im selben jovialen Tonfall wie eben. »Was meinst du, Tango?«

Konstabler Tango Burosch schloss zu dem Mann auf. Er kannte Adam von Aures gut genug und nahm die Frage nicht als Vorwurf, eher als Ausdruck gelebter Perfektion und Zielstrebigkeit. Mit einem knappen Kopfnicken deutete er auf den humanoiden Roboter, der eben erst in die Röhre einbog. Die Maschine schob ein Medobett mit allen nötigen Versorgungselementen vor sich her.

»Es sah danach aus, als wolle Rhodan aus dem Koma erwachen«, antwortete Burosch.

»Und?«

»Ein Positronikfehler. Ich musste den Sensor tauschen.«

»Kommt vor«, bemerkte Adam von Aures leicht amüsiert. »Betrachte es als Ironie des Schicksals.«

Er zog den Positroniker zur Seite, damit der Roboter mit der wuchtigen Schwebeliege an ihnen vorbeikonnte. Nachdenklich betrachtete er Rhodan, der wie tot im antigravgestützten Bereich lag. Man musste schon genau hinsehen, um zu erkennen, dass der Terraner zwar gleichmäßig, aber sehr flach atmete.

»Nach der vorgetäuschten Invasion und dem Chaos vor allem auf Terra wird in den nächsten Tagen wieder Ruhe einkehren«, sagte Adam und folgte dem Roboter. »Alles lief perfekt.«

»Lang genug wurde daran gearbeitet«, gab Burosch zurück. »Es war eine – wie soll ich sagen? – nahezu unlösbare Aufgabe.«

»Sie war lösbar, das haben wir bewiesen. Und deshalb wird die Macht im Solsystem bald auf den Wohlfahrtsrat übergehen.«

»Seine Mitglieder ...?«

»Überwiegend Techno-Mahdisten, das ist unerlässlich. Was hülfe eine angebliche Veränderung, die in Wahrheit keine ist? Nach dem Projekt Genesis wird die Menschheit vor weiteren Zugriffen von Superintelligenzen geschützt sein. Dann werden endlich alle frei sein, und zwar ohne irgendeinen Vorbehalt.«

Die beiden Männer erreichten das Ende des Röhrengangs. Der Roboter mit der Medoliege und dem vor Tagen ins Koma versetzten Perry Rhodan wartete unmittelbar vor ihnen. Das Schott, das den angrenzenden Transmitterraum absicherte, öffnete sich.

Einige Techniker nahmen sich der Gruppe an. Sie wollten die Medoliege übernehmen, doch Adam von Aures wehrte ab.

»Der Roboter geht mit mir, Jano Vrinkstetter kommt nach. Die Passage ist vorbereitet?«

»Zur Logo-Oase von Shonaar ...«

Adam nickte knapp. Während sie die geräumige Halle durchquerten, sprach er wieder seinen Begleiter an: »Der Techno-Mahdi hat die Positroniken im Griff, von dieser Seite wird es keinen Ärger geben. NATHAN auf dem Mond ist ebenso wenig einsatzfähig wie die anderen wichtigen Positroniken, ob nun in der Solaren Residenz oder im Tower des TLD.«

»Von dieser Seite erwarte ich ohnehin keine Schwierigkeiten«, kommentierte Tango Burosch. »Der bisherige Ablauf stimmt beinahe minutiös mit der Planung überein. Dagegen kommt sogar die Riege der Aktivatorträger nicht an.«

»Da bin ich anderer Meinung.«

Burosch schaute auf. Fragend kniff er die Brauen zusammen. »Die Mehrzahl von uns hält die Unsterblichen für keine essenzielle Bedrohung; sie haben gar nicht die Möglichkeit, entscheidend einzugreifen. Falls überhaupt, reagieren sie zu spät.«

Sie erreichten die vorgesehene Transmitterweiche. Die Techniker vergrößerten den Transmissionsbereich. Nacheinander leuchteten Freigabewerte auf.

»Soweit ich weiß, halten sich aktuell drei Aktivatorträger im Solsystem beziehungsweise auf Terra auf«, sagte Adam. »Das sind Reginald Bull, Homer G. Adams und der Haluter Icho Tolot. Von jedem geht sehr wohl eine potenzielle Gefahr für den Techno-Mahdi und unsere Ziele aus. Ich habe ihre Festsetzung veranlasst und werde mich persönlich darum kümmern.«

Sie betraten den Transmitter.

Adam von Aures beugte sich über die Medoliege und tastete mit den Fingerspitzen über Rhodans Stirn. Nichts an den Sensoranzeigen veränderte sich.

»Er nimmt die Berührung nicht wahr«, stellte Tango Burosch fest.

»Weil er sehr weit weg ist – und ich frage mich, wo genau«, sagte Adam. »Trotzdem wird er rechtzeitig hier sein, wenn wir ihn brauchen.«

1.

 

»Alles halb so schlimm ...«

Ich grübelte über die Worte nach, die mir viel zu schnell über die Lippen gekommen waren. Glaubte ich wirklich, was ich vor einer Viertelstunde zu Icho Tolot gesagt hatte, oder steckte eine gehörige Portion Selbstbetrug in dem Satz?

Wir potenziell Unsterblichen haben stark zu sein. In jeder Situation. Von uns wird erwartet, dass wir das Richtige zum richtigen Zeitpunkt tun, Schwäche dürfen wir nicht erkennen lassen. Das ist der Preis, den wir seit Jahrtausenden für unsere Langlebigkeit zahlen – sozusagen ein stillschweigendes Übereinkommen mit all jenen, die nie die Chance bekommen, nennenswert älter als zwei-, dreihundert zu werden.

Ich verkrampfte die Finger um das Whiskeyglas, das ich in der Linken hielt. Wollte ich es zerbrechen? Damit der Schmerz, sobald die Splitter mir den Handballen und die Finger aufschnitten, mich in die Realität zurückholte.

Was war das für eine seltsame Anwandlung?

Ich stand seit einigen Minuten auf der Dachterrasse meines Hauses am Ostufer des Kleinen Goshunsees und starrte in die Nacht. Sie hatte keine Sterne. Nicht einmal die fahle Sichel des Mondes, der nahezu im Zenit über mir stehen musste, schimmerte durch die Wolken.

Terrania, sonst eine überbordende Orgie bunter Lichtkaskaden und sogar von jenseits der Mondbahn mit bloßem Auge zu sehen, lag in Agonie. Dass ich nicht wie blind durch absolute Dunkelheit tasten musste, verdankte ich dem fluoreszierenden Schimmer des Terrassenbodens. Die Nachbarbungalows lagen in völliger Schwärze. Nur in meinem Haus war die Energieversorgung intakt, ein Vorteil der autarken Bauweise.

Vergeblich suchte ich den Himmel nach Positionslichtern von Gleitern ab. Trotz der halbwegs aufklärenden Ansprache, die ich über das große Infoholo verfolgt hatte, schien in der halben Stunde seither wenig anders geworden zu sein. Die Stadt erstickte unter dem düster brodelnden Wolkenmeer, das am späten Nachmittag die Skyline von Terrania City verschluckt hatte. Alles Leben schien erloschen zu sein.

In der Ferne, jenseits des Canopus-Boulevards, im Bereich von Antares City und des Residenzparks mit der abgesunkenen Solaren Residenz, tobten extreme Gewitter. Die Entfernung war zu groß, ich konnte einzelne Blitze nicht wahrnehmen, nur das unaufhörlich am Horizont flackernde Wetterleuchten. Es erinnerte an Weltuntergangsszenarien, wie ich sie aus uralten Science-Fiction-Schinken in Erinnerung hatte. Sobald verheerende Unwetter tobten, landeten die bösen Aliens. Das waren Stereotype von einst, wenngleich nach wie vor wirkungsvoll.

Warum war mir das nicht eher in den Sinn gekommen? Verriet diese Analogie mehr über die Urheber der Beinahekatastrophe?

Weiter rechts, etwa in Richtung Sirius River City und Gobi-Park, brandete düsteres Rot gegen die Wolken und vermischte sich mit ihnen. Dort schienen ganze Straßenzüge in Flammen zu stehen.

Wie lange würde es letztlich dauern, bis dieses grässliche Szenario erlosch?

Die Sicht reicht keine sechzig Kilometer weit, sagte ich mir. Die vermeintliche Glut hängt also schon über der Beteigeuze Road bis hin zur Dolan-Gedenkstätte.

Irgendwo dort mochte Dario mittlerweile mit seinem eigenwilligen Flitzer Marke Eigenbau nach seinem Sohn Noah suchen. Dario Bechtil, der mich vor dem Zugriff zweier TARA-Kampfroboter bewahrt und anschließend auf meine Bitte hin nach Hause geflogen hatte.

Der extrem wortkarge Mann mit der schiefen Nase und den geröteten Augen verfügte über eine besonders gute Auffassungsgabe. Ich sah sein Gesicht immer noch vor mir, jede Nuance war mir im Gedächtnis geblieben. Dario hatte die Invasion der Xumushan als Simulation durchschaut und sinnbildlich vom Flügelschlag eines Schmetterlings gesprochen, der in letzter Konsequenz Chaos entfachte.

Der vermeintliche Tod über Terra und im Solsystem: nur eine irrwitzig perfekt inszenierte Lüge?

Ich reagierte wütend auf diesen Gedanken. Hastig hob ich das Glas an die Lippen und trank einen kräftigen Schluck.

Original irischer Whiskey. Ich hatte ihn mir in der Bar im Obergeschoss eingeschenkt und das Glas beinah halb gefüllt. Auch den obligatorischen winzigen Spritzer Wasser hatte ich zu allem Überfluss vergessen.

Wunderte mich das nach den Geschehnissen des Vortags, diesem Wechselbad der Gefühle?

Terra als Ziel einer Invasion ... der wievielten eigentlich, seit Perry Rhodan und ich während der ersten Mondlandung das havarierte Raumschiff der Arkoniden entdeckt hatten? So gesehen hatten wir damals in ein Wespennest gestochen. Eine Ewigkeit lag das zurück, über drei Jahrtausende.

Ich war versucht, die Finger zu Hilfe zu nehmen, um abzuzählen, welche Mächte seither die Erde hatten erobern wollen. Der Whiskey schwappte aus dem Glas und lief mir über die Hand. Ausgerechnet der edle Tropfen, den ich beim Einzug in der Bar vorgefunden hatte – das Geschenk eines unbekannt gebliebenen Spenders.

Ich hatte Homer G. Adams im Verdacht. Was wäre unser Aufbruch zu den Sternen ohne sein Finanzgenie geworden? Homer war immer für eine Überraschung gut. Obwohl: Ein handverlesener Earl Grey hätte eindeutig auf ihn schließen lassen.

Auf dein Wohl, alter Freund!

Der nächste Schluck. Ich spürte dem Aroma nach, das sich mit leichtem Brennen auf der Zunge und am Gaumen ausbreitete. Und genau das verriet mir, wie angespannt ich weiterhin war. Obwohl die Invasion, die rund um den Erdball Entsetzen und Panik ausgelöst hatte, gar nicht stattfand. Die Xumushan und ihre Raumschiffe waren eine Illusion, eine Täuschung. Es gab keine Angreifer, keine brennenden Städte. Schon gar nicht Millionen Tote. Nichts von dem, was wir zu sehen geglaubt hatten, war wahr.

Allmählich fühlte ich mich ruhiger.

Eine leichte Brise wehte vom See heran. Der Wind war frisch und brachte das Aroma üppig wuchernder Wasserpflanzen. Längst war von der leicht salzigen Nuance von einst nichts mehr wahrzunehmen. Und schon gar nichts von dem dichten, stickigen Qualm in Flammen stehender Gebäudekomplexe, der sich durch die Straßenschluchten der City gewälzt hatte.

Systemweit beeinflusste Positroniken ... Nicht einmal unser Mondgehirn NATHAN hatten die eingeschleusten Viren verschont.

Und die optischen Simulationen ... Sie waren ebenfalls Perfektion pur, das musste ich vorbehaltslos anerkennen.

Was immer dahintersteckte, diese Invasion war von sehr langer Hand vorbereitet worden. Keinesfalls von irgendwelchen Freaks, sondern von absoluten Spezialisten. Physiker mussten am Werk gewesen sein, die besten Positronikexperten, die ich mir vorstellen konnte, und nicht zuletzt ausgebuffte Kosmopsychologen. Kein Wunder, dass ich nichts eiliger zu tun gehabt hatte, als die Solare Residenz zu verlassen und mich um meine Familie zu kümmern, um Toio und Shinae. Selten hatte ich so um Leben und Gesundheit mir anvertrauter Menschen gebangt.

Zu meiner großen Erleichterung hatte ich beide schlafend vorgefunden ...

... Toio und Shinae friedlich aneinandergeschmiegt in unserem großen Bett. Ich hatte es nicht fertiggebracht, sie zu wecken, sondern die Schlafzimmertür lautlos wieder zugleiten lassen und mir den Whiskey eingeschenkt.

Alles halb so schlimm ... Die beiden würden früh genug erfahren, dass es keine reale Bedrohung gab – die beste denkbare Nachricht zum Frühstück.

Icho Tolot wusste es bereits. Im Schutz eines einfachen Deflektors hatte er im Garten Wache gehalten und mich abgefangen. An seinem massigen Leib hätte ich mir um ein Haar den Schädel eingerannt, als er jäh vor mir sichtbar geworden war.

»Und?«

Mit allen vier Händen hatte Tolot zugepackt und mich festgehalten. Ein freundschaftlicher Griff, trotzdem spürte ich den Druck seiner Pranken immer noch.

»Nichts Und? Alles halb so schlimm.«

Ein paar Sätze hatten mir genügt, den Haluter zu informieren. Er hatte alle drei Stielaugen ausgefahren und mich eindringlich gemustert. »Der Techno-Mahdi also ...?«

»Dieser Tango Burosch, der über Infoholo sprach, bezeichnete sich jedenfalls als Konstabler des Techno-Mahdi. Ich denke, wir werden bald Einzelheiten erfahren.«

Ich war zum Haus weitergegangen, hatte Toio und Shinae endlich sehen wollen. Erst im Eingangsbereich hatte ich mich kurz umgewandt, da war Tolot schon verschwunden gewesen.

Ich zweifelte nicht daran, dass er weiterhin im Schutz der Unsichtbarkeit Wache hielt.

War da nicht eine Bewegung? Im rückwärtigen Bereich des Grundstücks, wo die nicht allzu hohen Nadelbäume das Flair eines kleinen Wäldchens vermittelten. Hinter den Bäumen verlief die Grundstücksgrenze, dort waren Projektoren des HÜ-Schirms verborgen.

Dass Toio und Tolot darauf verzichtet hatten, den Schutzschirm aufzubauen, verstand ich durchaus. Schon am frühen Nachmittag war es sinnvoll erschienen, keinesfalls die Aufmerksamkeit der Invasoren auf sich zu ziehen. Und ein aktivierter Hochenergie-Überladungsschirm in einer Stadt, in der sonst herzlich wenig funktionierte, hätte die Xumushan womöglich angezogen wie eine offene Flamme die Motten.

Ein Schemen?

Ich kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Wahrscheinlich hatte ich mich getäuscht. Wenn ich nur daran dachte, wie lange ich keinen Schlaf gefunden hatte. Dass ich als Aktivatorträger mit sehr wenig Ruhe auskam ...

Da war es wieder!

Jemand näherte sich dem Haus, als hätte er bis eben zwischen den Bäumen verharrt. War es Tolot? Ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Ohne Deflektorfeld hätte nicht einmal die schwarze Nacht den Haluter verbergen können. Und im Schutz der Unsichtbarkeit ...

Ich hielt weiterhin das Glas in der Linken und verwünschte die Tatsache, dass ich es nicht einfach abstellen konnte. Jedenfalls beugte ich mich nach vorne über das umlaufende Geländer und stützte mich dabei mit der rechten Hand ab.

Angespannt lauschte ich in den Garten hinab. Ein schmaler Kiesweg verlief nahe am Haus. Jede Sekunde erwartete ich, ein verräterisches Knirschen zu hören, und mochte es noch so leise sein.

Da war tatsächlich ein Geräusch.

Es erklang hinter mir.

Gleichzeitig spürte ich die Berührung im Nacken.

 

*

 

Die Muskeln anspannen, herumfahren und mit dem Glas zuschlagen. Oder es werfen und den Gegner damit für einen Sekundenbruchteil irritieren. Zugleich mit der Rechten zum Kombistrahler greifen ... Vor einer Dreiviertelstunde, unter dem Eindruck der mörderischen Invasion, hätte ich vielleicht so reagiert. Ohne nachzudenken, geschweige denn Fragen zu stellen. Nur dem Selbsterhaltungstrieb folgend.

In dem Moment tat ich es nicht. Die Berührung im Nacken war mir vertraut. Ich mochte es, wie die gespreizten Finger leicht gegen meine Schädelkante drückten. Ein etwas härterer Griff allerdings, ein ruckartiges Zupacken, und ich würde spüren, dass mir langsam die Sinne schwanden, womöglich gar das Brechen der Nackenwirbel hören. Dieser arkonidische Dagorgriff konnte sowohl wohlige Schauer auslösen als auch töten.

Die Hand zuckte sofort wieder zurück. Kein Zweifel: Das war Toio. Ich glaubte, ihr Erschrecken zu erkennen.

»Spontan habe ich dich einigermaßen entspannt wahrgenommen«, hauchte sie, »aber das stimmt nicht.«

Sie hatte meine Vitalaura »gelesen« und war wohl gerade deshalb von meiner unterbewussten Reaktion überrascht worden. Auf sie musste meine mentale Reaktion wie ein jäher Hieb gewirkt haben.

»Wieso schleichst du auch wie ein Dieb heran?« Ich wandte mich zu meiner Frau um und ließ dabei den Blick erneut durch den Garten huschen. Falls da wirklich etwas gewesen war, hatte es sich bereits zurückgezogen.

»Du gehst auf leisen Sohlen durchs Haus, Reginald«, erinnerte sie mich. »Warum hast du nur kurz ins Schlafzimmer geschaut? Du hast nicht einmal registriert, dass ich wach war.«

Ich schüttelte den Kopf, trank das Glas endlich aus und ging damit zu dem kleinen Tischchen neben der nach innen führenden Tür. Dort stellte ich es ab. Es war mir nicht vergönnt gewesen, den Whiskey einigermaßen entspannt zu genießen. Ebenso schnell kam ich zu Toio zurück.

Sie hatte sich ihren schimmernden Hausmantel übergestreift und den Magnetverschluss bis zum Hals zugezogen. Das kastanienrote Haar fiel ihr locker über die Schultern, der stärker gewordene Wind spielte damit.

»Ich hatte den Eindruck, du würdest tief schlafen«, sagte ich. »Ich wollte dich nicht wecken, und Shinae schon gar nicht. Du hättest wenigstens eine Andeutung machen können ...«

»Nicht mit Shinae im Arm. Sie war erst im Halbschlaf und entsprechend unruhig. Den ganzen Nachmittag war sie in größter Sorge und wollte, dass ich dich anrufe.«

Ich hob die Schultern. »Du hättest mich ohnehin nicht erreicht.«

»Ich weiß.«

Toio hatte es also versucht. Klar, wenn unsere Tochter sich etwas in den Kopf setzte, erreichte sie das auch. »Ganz der väterliche Dickkopf«, hatte Tolot erst kürzlich festgestellt. »Mein Kleines wird es nicht schwer haben, sich in dieser Welt durchzusetzen. Egal, was die Zukunft bringt.«

Dachte Toio ebenfalls an den Ausspruch des Haluters? Ein leicht spöttisches Lächeln lag plötzlich um ihre Mundwinkel. Die kupferfarbenen Augen leicht verengt, musterte sie mich eindringlich. Sie war schön, aber der fluoreszierende Schimmer, der vom Boden aufstieg, gab ihrem Gesicht einen kantigen Ausdruck. Dieses harte Nebeneinander von Licht und Schatten erzeugte etwas schwer Definierbares.

Toio blickte auf den Kombistrahler an meiner Hüfte. Sie wusste, dass ich das Haus ohne Waffe verlassen hatte. Unterschätz nie eine tefrodische Spezialagentin! Erst recht nicht, wenn sie Vitaltelepathin ist.

»Heraus mit der Sprache!«, drängte sie. »Was ist mit dieser Invasion? Die Kommunikation ist zusammengebrochen; seit Langem habe ich kein einziges unserer Raumschiffe am Himmel gesehen, ebenso wenig Gleiter. Wo steckt die Heimatflotte? LESLY gibt keine Antwort auf diese Fragen ...«

LESLY war so etwas wie der Gute Geist des Hauses; ich hatte die Hochleistungspositronik nach General Lesly Pounder benannt. Der Drei-Sterne-General hatte damals die Bodenkontrolle während unserer ersten Mondlandung geleitet und war der unmittelbare Vorgesetzte unseres Teams gewesen. Später ein wertvoller Helfer beim Aufbau der Dritten Macht – auch er fasziniert von der arkonidischen Technik und überzeugt, dass wir den Griff nach den Sternen wagen mussten. Mit allen Konsequenzen.

»Alles halb so schlimm.«

Ich seufzte. Mehr fiel mir dazu nicht ein? Vielleicht, weil mich ein trockenes Knacken ablenkte. Es schien nahe am Haus erklungen zu sein. Ein dünner Ast, der brach, weil er jäh belastet worden war?

Toio hatte das Geräusch ebenfalls gehört.

»Tolot lässt es sich nicht nehmen, Shinae und mich zu beschützen«, sagte sie. »Obwohl LESLY das ebenso zuverlässig besorgt. Du weißt ja, wie unser Freund ist, wenn es um sein Kleines geht.«

Alles war wieder ruhig.

Ich schaffte es trotzdem nicht, die Xumushan und den Techno-Mahdi wenigstens kurzzeitig aus meinen Gedanken zu verbannen.

»Wir haben Schlimmes in den Trivid-News gesehen«, fuhr Toio hastig fort. »Es klang nach Weltuntergang, als würde halb Terra diese Nacht nicht überstehen. Zum Glück ist Shinae hart im Nehmen. Ich möchte allerdings nicht wissen, wie es in anderen Familien ...« Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und schaute suchend zu den düsteren Wolkenbänken auf.

»Irgendwann sind zwei fremde Raumer über Klein Goshun hinweggezogen – Schiffe, die mir wie blutrünstige Insekten erschienen. Ich sah sie auf irgendwas feuern, und dann waren sie so schnell fort, wie sie erschienen waren. Im Osten ist der Himmel nach wie vor glutrot, wenngleich schon weniger intensiv als vor etlichen Stunden. Und als sei das alles nicht wahr, finde ich dich hier auf der Terrasse, mit einem Glas in der Hand. Du scheinst den Anblick zu genießen wie ...«

Toio stockte.

»Wie was?«, fragte ich.

»Wie ... einer eurer alten Herrscher ...« Nachdenklich biss sie auf ihre Unterlippe. »Wie Kaiser Nero beim Brand von Rom!«, platzte sie dann heraus.

Das war hart.

Ich wollte ihr in die Parade fahren, brachte aber kein Wort heraus. Zweifellos gab es Menschen, die mich wegen Toio Zindher umgehend aus dem Solsystem verbannt hätten, doch mit ihr an meiner Seite war es nie langweilig geworden. Weder in der Stadt Allerorten noch auf dem Planeten Krynn und auf der Erde sowieso nicht. Allerdings galt sie auf Terra als Mitschuldige am Tod Ronald Tekeners, eines Aktivatorträgers.

»Ich wusste nicht, dass du über derart profunde Kenntnisse des terranischen Altertums verfügst«, sagte ich zögernd. »Nur gefällt ...«

Ich verstand mein eigenes Wort nicht mehr. Ohrenbetäubendes Brüllen hallte aus dem Garten herauf, ein Dröhnen, als startete ein schwerer Einmann-Jäger mit voller Schubkraft seines Impulstriebwerks.

Ein Blitz zuckte nahe am Geländer der Terrasse vorbei. So grell, dass ich für einen Moment leicht geblendet war.

Ein zweiter Strahlschuss. Ich sah Lichtreflexe, verzerrte Konturen und einen kegelförmigen Schemen, der aus der Höhe herabstieß und für einen Sekundenbruchteil von brodelnder Energie umflossen wurde.

Ein TARA-Kampfroboter!