Schwabe Verlag Basel
Umschlag: Ehemaliges Tell-Denkmal in Altdorf, Stahlstich, um 1860. Die Statue hatte am Eidgenössischen Schützenfest 1859 den Triumphbogen bekrönt und war anschliessend den Urnern geschenkt worden. Das imposante Monument aus Gips löste sich innert weniger Jahre im Altdorfer Regen auf. Vgl. den Beitrag «Namenlose Eidgenossen» in diesem Band. Foto Schweizerisches Landesmuseum, Zürich, Nr. COL-16324.
© 2003 by Schwabe AG, Verlag, Basel
Bildredaktion: Georg Kreis
Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel
ISBN 3-7965-2020-0
eISBN ePUB 978-7965-3585-7
eISBN mobi 978-7965-3596-3
www.schwabe.ch
Inhalt
Vorwort
Teil 1
Die Schweiz als Kohäsionsfabrik
Schweizerische Landesausstellungen – zu welchem Zweck?
Die «Landi» – zwischen Tradition und Moderne
Kontroversen um die Expo 64
Namenlose Eidgenossen
Unten und oben
Zeitgeist in Altdorf und Basel – Tell und Wettstein
Die «ruhige Kraft» einer kolossalen Frau
Die «Sentinelle» von Les Rangiers
Gefallenendenkmäler in kriegsverschontem Land
Momentaufnahmen eines Dauerzustandes
Lebendiger Wilhelm Tell
Nationalpädagogik in Wort und Bild
Die Kappeler Milchsuppe
Das Festspiel – ein antimodernes Produkt der Moderne
Schwören in der Schweiz
Die Schweiz und ihre Landeshymnen
Umworben und ausgelacht: Helvetia vor und nach 1848
Das Verfassungsjubiläum von 1948
Das Schlachtfeld von Marignano aufkaufen?
Das Schweizerkreuz
Der Triumph des 1. Mai
Ein Schweizer Museum fürs nächste Jahrtausend
Textnachweis
Hat man mal ein bis zwei Bücher publiziert, kann es geschehen, dass jemand die wohlgemeinte Frage stellt, was denn das nächste Buch sei. Oder in einer anderen Variante, an welchem Buch man gerade arbeite. Beim wissenschaftlichen Arbeiten dürfte weit seltener als im Falle der Belletristik die Absicht, ein Buch zu schreiben, die Ausgangslage markieren. Am Anfang steht mehrheitlich das Interesse für ein bestimmtes Problem. Daraus mag dann ein Aufsatz entstehen, dann vielleicht mal auch ein Buch. Auch wenn man einiges an Büchern vorweisen kann, hat man in der Regel viel mehr Zeit für Aufsätze als für Bücher verwendet.
Jedenfalls sind Aufsätze im Leben eines Wissenschaftlers wie aber auch in der Landschaft der wissenschaftlichen Publikationen das wesentlich häufigere Resultat wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Paradoxerweise sind es aber vor allem die Bücher, die zur Kenntnis genommen werden, und es sind die Bücher, die in den Bibliothekskatalogen aufgeführt werden. So riskieren die Aufsätze, einen Teil ihres Publikums nicht zu erreichen. Dies wissend, fährt man aber fort, stets weitere Aufsätze zu schreiben, statt die Kapazität für das Verfassen von Büchern einzusetzen. Das Produzieren von Aufsätzen hat, abgesehen vom vorausgesetzten Interesse für die Sache, seinen Grund auch darin, dass man immer wieder mal eingeladen wird, sich an Sammelbänden zu beteiligen, und dieser Buchtypus eine wichtige Form der Wissensvermittlung ist. Hier kann man sich nicht beklagen, dass der Einzelbeitrag seine Leser nicht erreiche. Hier tritt aber die Arbeitswelt der einzelnen Beiträger nur bedingt in Erscheinung und werden dessen in anderen Sammelbänden erscheinende Abhandlungen nicht im Zusammenhang wahrgenommen.
Die Herausgabe von gesammelten Aufsätzen (bei weitem nicht allen) soll die in den Texten aufgeworfenen Fragen und entwickelten Antworten mit einer etwas zeitbeständigeren Form nochmals unters interessierte Publikum bringen, nicht «auf vielfachen Wunsch» einer imaginierten Gemeinde, sondern schlicht für eine Sache eintretend, die einem immerhin so wichtig erscheint, dass man ihr den grössten Teil des Lebens widmet.
Die hier zusammengestellten Aufsätze sind grösstenteils an anderem Ort bereits erschienen. In einigen Fällen erschienen Ergänzungen im Sinne von Aktualisierungen und Weiterführungen wünschenswert. Diese sind als solche gekennzeichnet. Der Autor ist dem Verlag für das beträchtliche Engagement, mit dem er sich dieses Unternehmens angenommen hat, zu grossem Dank verpflichtet. Er möchte auch allen Mitarbeitern danken, die sich auf dem längeren Weg bis zur Publikation mit ihrem Wissen und Können in das Projekt eingebracht haben.
Basel, im Mai 2003 Georg Kreis
Warum sich mit der Geschichte der Landesausstellungen beschäftigen? Wie in vielen anderen Geschichten bieten sich zwei grundsätzlich diverse und doch gleichartige Demarchen an: Wir betonen, dass es früher ganz anders war, oder wir betonen, dass es früher auffallend gleich war. Auf Kontrast wäre beispielsweise die Aussage angelegt, dass man früher um das Ausstellungsprojekt viel weniger gestritten habe und das Geld weniger wichtig gewesen sei. Auf Kontinuität pocht dagegen, wenn jemand gerne sagt, dass schon früher um die Ausstellungen viel gestritten worden1 und auch damals das Geld wichtig gewesen sei. Wenn man will, wird sich wohl beides beweisen und widerlegen lassen. Es ist auch nicht so, dass wir die Spätform eines Phänomens (und die Expo 2001/02 ist eine Spätform) nicht besser verstehen, wenn wir die sogenannten Anfänge verstehen. Es gibt, um mit unserem cher Marc Bloch zu reden, ein «idole» oder eine «hantise des origines», die irrtümlich meint, dass in sogenannten Anfängen alles Folgende bereits angelegt sei.2
Die Möglichkeiten der Geschichte sind jedoch angemessener genutzt, wenn wir uns überlegen, 1. aus welchen sozioökonomischen Bedürfnissen heraus das Ausstellungswesen entstanden ist, 2. wie sich daraus eine Tradition gebildet hat und 3. wie es kommt, dass diese Tradition weitergetragen wird, obwohl sich die gesellschaftlichen Bedürfnisse grundlegend gewandelt haben und auch die Funktion solcher Ausstellungen eine völlig andere geworden ist.
Die um 1800 als transnationales Phänomen aufkommenden Wirtschaftsausstellungen unterschieden sich von den traditionellen Messen und Märkten, wo individuelle Angebote und individuelle Nachfragen in direktester Weise gegenüberstanden, in drei grundsätzlichen Punkten: 1. Sie verfolgten eine gemeinnützige Zielsetzung, indem sie auf der Seite der Produzenten die technische Entwicklung und den Wettbewerb vorantrieben und auf der Seite der Kunden über die Verbesserung des Wissens über die Möglichkeiten der modernen Produktion die Ansprüche steigern. 2. Sie legten höchsten Wert auf die Präsentation. Die Schaustellung erlangt eine eigene Bedeutung, sie dient nicht nur der Absatzförderung, sondern auch der Belehrung. 3. Die Ausstellungen wurden zu Muster-Messen; an die Stelle des direkten Verkaufs traten Bestellungsaufnahmen und Imagepflege.
Als Anfang des modernen Ausstellungswesens in der Schweiz darf die Berner Kunst- und Industrieausstellung von 1804 gelten. Diese stand wahrscheinlich unter der Nachwirkung eines Vorbildes: der Pariser Ausstellung von 1798, die als erste moderne Landesausstellung in die Geschichte eingegangen ist. Deren «Temple du Travail» sollte ebenfalls der wirtschaftlichen Wiederbelebung dienen, aber auch gegen aussen, das heisst insbesondere gegenüber dem gegnerischen England, Frankreichs wirtschaftliche Stärke demonstrieren. Später sollte sich dieses Charakteristikum noch verstärken: Solche Ausstellungen wollten das Neueste zeigen, sie wollten, und diese Absicht ist bis heute erhalten geblieben, innovative Impulse geben, ob dies nun frühe Uhrwerke, private Badezimmereinrichtungen oder elektronische Neuheiten des 21. Jahrhunderts waren.
Die schweizerische Frühform der modernen Industrieausstellung kam einstweilen allerdings ohne das Begleitprogramm aus, das in Paris bereits entwickelt worden war: ohne Volksfest, Militärparade, Regierungsaufmarsch, Feuerwerk, sportliche Wettkämpfe und Bälle, also ohne Veranstaltungsteile, welche die Gesamtheit des Volkes ansprechen wollten.
Kunst und Industrie, heute oft als Gegensatz verstanden, bildeten im Denken des frühen 19. Jahrhunderts weitgehend eine Einheit. Beides verband sich in dem, was eine wesentliche Eigenheit der schweizerischen Industrie werden sollte: in der Veredelung von Rohstoffen. Kunst und zugleich Industrieprodukte waren beispielsweise die Chronometer, Filter und Ventile, Federn und Gewinde – und in den verschiedenen Kombinationen die «arbeitenden Maschinen»: Pressen, Pumpen usw.3
Die frühen Ausstellungen wiesen stark lehrhafte Züge auf, ja, ihr Zweck bestand – dem Aufklärungsgedanken gemäss, aus dem sie hervorgegangen waren – recht eigentlich in der Belehrung. Im späten 18. Jahrhundert wie beinahe im gesamten 19. Jahrhundert war der Wissensdurst so gross, anderseits das Wissen so schwer zugänglich, dass solche Vermittlungsveranstaltungen einem allgemeinen Bedürfnis entsprachen. Niemand stiess sich an der Lehrhaftigkeit der Ausstellungen. In der Vermittlung von gesichertem Wissen bestand recht eigentlich ein Nachholbedarf, wobei die wirtschaftliche Produktion im Zentrum des Interesses stand und nicht die gesellschaftspolitische Problematik.
Dem Schulwesen wurde in der ersten eigentlichen Landesausstellung von 1883 besondere Aufmerksamkeit zuteil. Die ihm gewidmete Ausstellungsfläche nahm als thematische Abteilung mitten in der Produktemesse eine Sonderstellung ein.
Nachdem bereits für die Wiener Weltausstellung von 1873 eine erste schweizerische Schulstatistik zusammengestellt worden war, wurde im Hinblick auf die Zürcher Ausstellung von 1883 im Auftrag des Bundesrates eine umfassende Erhebung durchgeführt. Auch in den folgenden Ausstellungen wurde dem Bildungswesen hohe Bedeutung beigemessen.4
Deutlicher als heute stand den Zeitgenossen vor Augen, dass das Unterrichtswesen sozusagen die wichtigste Voraussetzung für die nationale Produktionsstärke war. Dies nach dem zeitgenössischen sozialdarwinistischen Motto: «qu’il est inutile, le pays qui ne peut s’assurer une place dans le grand mouvement des sociétés humaines par son propre travail. Et l’humanité n’entretient pas d’asiles pour les peuples ruinés.»5 Bundesrat Numa Droz appellierte denn auch in seiner Eröffnungsansprache zur Ausstellung von 1883 an das Nationalgenie und den Nationalstolz: «Quand nous parcourons ces halles immenses où se trouvent réunis les produits du travail et du génie national, nous ne pouvons nous empêcher d’éprouver un sentiment de fierté en voyant tout ce qu’un petit peuple, peu favorisé par la nature, est capable de créer de richesses, lorsque toutes ses ambitions, tous ses efforts sont uniquement dirigés vers les œuvres profitables de la paix et de la liberté.»6
Die Ausstellung gab der Schule einen Ehrenplatz, sie wollte aber auch selbst temporäre Schule der Nation sein. In der offiziellen Zweckumschreibung ist ausdrücklich von der «gegenseitigen Belehrung» die Rede. Der Schulcharakter der Ausstellung kam darin zum Ausdruck, dass nicht wie heute zur blossen Unterhaltung, sondern zur praktischen Belehrung junge Menschen klassenweise durch die Ausstellung geschleust wurden. Als eher seltsam wird man empfinden, dass ganze Fabrikbelegschaften in Reih und Glied zur Ausstellung marschierten.
Die Ausstellungen hatten, wie das an der Schulfrage bereits zu erkennen war, auch die Funktion von Bestandesaufnahmen. Ausführliche Berichte wurden im Hinblick auf die Ausstellungen und im Rückblick auf die Ausstellungen verfasst. Letztere hielten fest, was zufriedenstellend gewesen und was bis zum nächsten Mal zu verbessern sei. Die bereits in der Ausstellung von 1804 vorhandenen Preisgerichte verteilten Zensuren bzw. Ehrenmeldungen und Goldmedaillen und gaben den Produktemessen den Charakter eines Klassenwettbewerbs oder einer Wirtschaftsolympiade.
Eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wichtiger werdende Funktion solcher Ausstellungen bestand darin, mit der Gesamtschau ein Gegenstück zur segmentierenden Wirkung der Arbeitsteilung zu bilden. Der einzelne sollte erfahren können, zu welchem grossen gesamtwirtschaftlichen und nationalen Ensemble er seinen kleinen, aber wichtigen Beitrag leistete. Es ging auch darum, der Wirtschaft über die rein materiellen Interessen hinaus eine erhabenere, noblere Mission zu geben und die Spannungen, Disparitäten und Widersprüche, die sich aus der sozioökonomischen Entwicklung ergeben, zu entschärfen und akzeptabler zu machen. Kein Zufall, dass Numa Droz in seiner Rede von 1883 den «esprit d’harmonie» beschwor.
Mit der Berner Ausstellung von 1914 wurde neben der Produkteschau eine weitere Dimension entwickelt, die heute als dominante Funktion das Feld beherrscht und die ursprüngliche Funktion weitgehend verdrängt hat: die Landesausstellung als Problemschau. Dies lässt sich am Militärwesen stellvertretend deutlich aufzeigen. Nachdem an der Genfer Ausstellung von 1896 erstmals Armeematerial ausgestellt worden war, um den guten Stand der eigenen Rüstung zu zeigen und mit den schönen Exponaten dem Kriegsmaterialexport den Weg zu ebnen, bestand bei der Berner Ausstellung von 1914, wo es erstmals einen eigenen Armeepavillon gab, auch die Absicht zu zeigen, was mit Steuergeldern gekauft wurde. 1939 ging es dann um die Demonstration des Wehrwillens und 1964 auch um die Propagierung der Landesverteidigung.
Mit der Verlagerung des Schwerpunktes weg von der Produkteschau hin zur Problemschau wurde die heutzutage diskutierte Frage nach der Botschaft der Expo bedeutsam. Bis 1914 wurde von keiner Landesausstellung erwartet, dass sie ausser sich selber eine zusätzliche Botschaft transportiere. Auch die «Landi 39», die übrigens mit einem beträchtlichen Ertragsüberschuss abschloss, hatte noch keine Botschaft, aber sie war die Botschaft, und sie wurde das weniger wegen ihrer Art als wegen des Aggregatszustands der Gesellschaft. Die Expo 64, die übrigens mit einem grösseren Defizit ausging, musste – das drückt bereits die Erwartung einer Botschaft aus – mit einem Motto antreten; es war ein Allerweltsslogan, der viel und wenig zugleich sagte: «Pour la Suisse de demain: croire et créer».7
Eine andere Funktion kam ebenfalls erst später hinzu: die Funktion, mit Hilfe solcher Grossausstellungen die schwache Infrastruktur des Ausstellungsortes zu verbessern. Anfänglich waren die Ausstellungen selbstverständlich in den etablierten Städten und gegebenen Zentren des Landes. Es ist kein Zufall, dass der Reigen der grossen Ausstellungen 1883 in Zürich beginnt und Zürich zweimal mit einer derartigen Ausstellung bedient wurde. Die Parallele dazu war, dass die ersten Weltausstellungen 1851/55 in den wichtigsten europäischen Zentren London und Paris durchgeführt wurden.8
Als sich nach der Expo 64 abzeichnete, dass die nächste Landesausstellung an die Innerschweiz gehen könnte, meldete Schwyz schon 1974 seinen (indirekt gegen Luzern gerichteten) Anspruch mit dem Argument an, dass jetzt auch einmal ein Landkanton berücksichtigt werden sollte. Aus der innerschweizerischen Rivalität (nicht nur zwischen Schwyz und Luzern, auch zwischen Schwyz und Uri und in anderen freundeidgenössischen Rivalitätsbeziehungen) entstand dann in den 1980er Jahren das dezentrale Konzept. Aus der Not wollte man eine Tugend machen.
Aus der Vorgeschichte der Gegenwart sei in Erinnerung gerufen, dass sich Schwyz und Luzern in den 1970er Jahren die Sache gegenseitig streitig machten, dass die Interschweizerische Regierungskonferenz schlichten wollte, indem sie den Schwyzern die 700-Jahr-Feier und Luzern die Landesausstellung anbot, dass aber beide, die einen mit einem Rotbuch, die anderen mit einem Blaubuch, an der exklusiven Zuteilung festhielten, dass schon in Luzern «Arteplages» geplant waren, diese aber die wachsende Opposition der als «Aktion Seerose» auftretenden Ökobewegung herausforderten, dass manche Luzern nicht als «zehnjährige Baustelle» haben wollten, dass man zudem nicht eine Konsumhaltung, sondern echte Begegnung und Besinnung haben wollte. Zur Forderung nach Demokratisierung kam, wie gesagt, die der Dezentralisierung, was andere wieder abtaten als «überall ein bisschen Landi», so dass Luzern im Mai 1985 als erster Innerschweizer Ort ausstieg. Rund 55 Prozent lehnten in einer Volksabstimmung einen 1,55 Mio.-Kredit ab.
Das um Luzern reduzierte Dezentralisierungskonzept überzeugte noch weniger, eine Mehrheit sah darin nur eine Multiplikation der Übel und schickte das Projekt in mehreren Volksabstimmungen bachab (zuletzt im April 1987), und zwar nach der Tradition der Vögtevertreibung und des Burgenbruchs, das heisst im Bedürfnis, «denen da oben» zu zeigen, dass man sich mit billigen Appellen an das patriotische Pflichtgefühl nicht gängeln lasse, zumal wenn hinter zu vielen Projekten das Profitstreben von Zürcher Firmen stand.9 Nachtrag von 2003: Der Schreibende war an der Landsgemeinde von Sarnen zugegen, in seinen Ohren hallt noch immer der doppelte Volksjubel nach: der erste, der ausbrach, als man über Transistorradios vernahm, dass die Landsgemeinde von Stans, die etwas früher an diesem Geschäft war, soeben nein gesagt hatte, und der zweite, als die «abe»- («runter»-)Partei obsiegte.
In den 1950er Jahren, als ein Standort für die 5. Landesausstellung gefunden werden musste, versuchte Genf vergeblich, Lausanne für ein gemeinsames Ausstellungsprojekt «à mi-chemin» zwischen den beiden rivalisierenden Städten zu gewinnen. Der Kooperationsvorschlag entsprang wohl der richtigen Einschätzung, dass Genf alleine zu schwach war, um ein zweites Mal den Zuschlag zu bekommen. Und das starke Lausanne, mit Paul Chaudet im Bundesrat vertreten, wies siegesgewiss den Vorschlag zurück: Es gebe überhaupt keinen Grund, warum Lausanne seine Trümpfe als geographisches und demographisches Zentrum der Suisse romande nicht ausspielen sollte.10
Bei der Vergabe des jüngsten Ausstellungsprojektes war es klar, dass nur ein dezentrales Projekt, das heisst eine grössere Allianz – zum Beispiel von vier Kantonen –, eine Chance hatte. Mit der Dezentralisierung glaubte man auch, die Sorgen wegen der Überstrapazierung der Umwelt entkräften zu können. Nach 1964 verstärkte sich, was man weltweit beobachten kann: die Tendenz, die Ausstellungen nicht mehr in den ohnehin stark belasteten Zentren anzusiedeln und die Ausstellungen mit dem zusätzlichen Argument der Entwicklungshilfe an die Peripherie zu geben. Ökonomisch schwach entwickelte Peripherie, zunächst in der zentralen Schweiz, dann im Tessin, wovon nach 1991 vorübergehend die Rede war, und schliesslich im Jurabogen. Schon im Hinblick auf die CH 91 hatte man an den Kanton Jura gedacht, einerseits mit der Idee, die Feier der Urschweiz mit dem jüngsten Kanton zu verknüpfen, aber auch mit dem stärkeren Argument, dass dieser Kanton doch Platz und eine Förderung der Infrastruktur nötig habe. Auch jetzt geschieht einiges unter diesem Aspekt: Dank der Expo konnte man einen Funiculaire in Neuenburg, eine Fussgängerpassage beim Bieler Bahnhof und andere schöne Sachen an anderen Orten bauen. Schon Lausanne hatte dank der Expo einen Autobahnanschluss bekommen.
Wie konnte aus den Anfängen eine starke Tradition entstehen? Zunächst sei gesagt, dass es sich um eine spezielle Tradition handelt, keine saisonale, alle Jahre wiederkehrende wie die 1917 geschaffene Schweizerische Mustermesse in Basel, der 1919 entstandene Comptoir Suisse in Lausanne, die seit 1943 durchgeführte St. Galler OLMA (Ostschweizerische land- und milchwirtschaftliche Ausstellung), die BEA, die 1951 erstmals in Bern durchgeführt worden ist. Im Falle der Landesausstellungen ging es um die Schaffung von Grossausstellungen in grösseren Zeitabständen analog zu anderen Ausstellungen des Auslands.
Es sieht so aus, als ob man einen Zeitabstand schaffen wollte, der wegen des damit verbundenen Aufwandes nicht zu kurz sein durfte. Der Abstand durfte aber auch nicht zu gross sein, damit jede Generation (gemessen an ihrer produktivsten Lebensphase) einmal eine Ausstellung erleben könne. In Klammern: An der Expo 64 wurde vom damals noch jungen Fernsehen ein Mann gefeiert, der von sich sagte, alle bisherigen Ausstellungen seit 1883 besucht zu haben. In unseren Tagen schickt sich nun die Expo 02 an, einen 92jährigen Obwaldner (Otto Wolf aus Sarnen), der seit 1914 keine Landesausstellung verpasst hatte, zum Werbeträger zu machen.
Traditionen sind im allgemeinen streng, ja kleinlich. Im Falle der Landesausstellungen war die Kadenz anfänglich aber keineswegs geregelt. Zwischen der 1. und der 2. Ausstellung lagen 13 Jahre, erst zwischen der 2. und der 3. Ausstellung kam es zum Abstand von 25 Jahren, der dann noch zweimal eingehalten wurde und aus leicht erklärbaren Gründen in der jüngsten Etappe mit ihren 38 Jahren nicht mehr eingehalten wurde. Würde man die ursprüngliche Funktion der Landesausstellungen ernst nehmen, d.h. die Funktion der Förderung und Verbreitung von Innovation, dann müssten angesichts des beschleunigten Wandels die Kadenzen nicht länger, sondern eigentlich kürzer werden.
Die Tradition hat, wie wir wissen, eine irrationale Seite, das heisst rechtfertigt sich zum Teil aus sich selber, muss also nicht erklärt werden, ist einfach so, weil sie so ist. Und trotzdem kann man auch Traditionen beziehungsweise ihre Bedeutung rational erklären: Sie vermitteln mit ihren festen Elementen den Menschen Halt im haltlosen Wandel der Zeit. Sie schaffen Wegmarken, die es ihnen gestatten, den erlebten Zeitraum zu strukturieren. Man kann das eigene Leben danach unterteilen, Privates einordnen als etwas, das «vorher» oder «nachher» geschehen ist, wie bei Abschlussprüfungen, Rekrutenschule, Geburten etc. Ähnliches gilt auch für grosse Feste, zum Beispiel für die alle 22 Jahre durchgeführte Fête des vignerons von Vevey.
Die in derart grosser Kadenz praktizierten Traditionen haben sicher nicht die gleiche Funktion wie die im engen Jahresrhythmus praktizierten Traditionen (die gewöhnlichen Winzerfeste und die gewöhnlichen Messen à la OLMA und BEA). Im Falle der Expo 02 hat aber der künstlerische Direktor das Milliarden-Projekt unter anderem mit der Traditionspflege gerechtfertigt und Vergleiche mit dem «Morgenstreich» und dem «Sechsiläuten» angestellt, rechtfertigende Vergleiche, die meines Erachtens in mehrfacher Beziehung fragwürdig sind.11
Tradition bedeutet nicht, dass die rituelle Wiederkehr immer wieder das gleiche bringt. Ganz im Gegenteil, sie lebt zum Teil davon, dass jede Repetition neben dem stets Gleichen auch Einmaliges, eine bestimmte Individualität hat. Dies ist im Falle der Landesausstellungen bereits durch den Wechsel der Durchführungsorte gegeben: Zürich, Genf, Bern, Zürich, Lausanne – und jetzt die drei Seen. Das je eigene Gesicht wird aber vor allem durch die je eigenen Zeitumstände gegeben. Am deutlichsten ist die historische Einmaligkeit bei der «Landi 39» sichtbar mit ihrer sonderbaren Mischung von Modernität, Offenheit und Zukunftsorientierung einerseits und Konservativismus, Verschlossenheit und Vergangenheitsorientierung anderseits.
Es wäre eine fruchtbare Spekulation, sich zu überlegen, wie die «Landi» 1935 oder 1943 ausgesehen hätte, was an ihr anders gewesen wäre. Auch in den Ausstellungen von 1914 und 1964 kann man eine historische Individualität erkennen: 1914 ebenfalls an der Wende hin zu einem grossen Krieg, ein wenig berührt von der sogenannten «sozialen Frage», z.B. im Bereich des Wohnungsbaus; 1964 zwischen dem nicht allzu grossen «Helvetischen Malaise» und dem rapiden Wachstum in allen Sektoren. Schwieriger ist es, die Ausstellungen von 1883 und 1896 auf den Punkt zu bringen: 1883 ist es der Geist der «Gründerjahre» und 1896 der Geist der «Belle Epoque», was immer das heisst.
Auf der Suche nach den Ausstellungsindividualitäten kommen wir unvermeidlich wieder zum Punkt, da wir die grosse Gemeinsamkeit entdecken: die für 1939 bereits angesprochene Dualität von Rückschau und Vorschau, gewiss den Zeitumständen entsprechend in der je eigenen Mischung. Vielleicht wird die Expo 02 die erste Landesausstellung sein, die nicht nach diesem Muster gelesen werden kann.
Traditionen verkörpern die Dauer in der Zeit, sie können sich aber auch wieder verflüchtigen, oder sie können bleiben, aber einen Bedeutungswandel erleben. Welcher Variante folgt das Phänomen der Landesausstellungen? Wir kommen damit zu unserer dritten Frage und zugleich zu einer These, die da lautet: Während im 19. Jahrhundert ein wirklich existierendes Bedürfnis insbesondere der Informationsverbreitung und der nationalstaatlichen Manifestation, vielleicht auch des ordentlichen Erlebens von Ausserordentlichem vorhanden war und dies zur Institution der Landesausstellung geführt hat, wird jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Institution weitergeführt, obwohl das entsprechende Bedürfnis nicht mehr gegeben ist.
Schon 1991 konnte man die ernsthafte Diagnose hören, dass angesichts der Misserfolge der CH 91 und des Neins des Tessins die Ausstellung von 1964 die «letzte» Landesausstellung gewesen sei.12 Traditionen und Praktiken können auch Krisenphasen erleben und daraus sogar gestärkt hervorgehen. Die Diagnose von der «letzten» Landesausstellung ist nun offensichtlich eine Fehldiagnose. Warum? Weil eine derartige Ausstellung eben doch einem breiten Bedürfnis entspricht? Wer will sich herausnehmen zu entscheiden, was «die» Schweiz braucht oder nicht braucht? Und warum sollten diese Ausstellungen keinen Funktionswandel erfahren dürfen? Dann allerdings sollte man nicht das Neue mit dem Vokabular von vorgestern anstreben. Offensichtlich ist doch
1 Als Beispiel einer frühen Kritik die Karikatur aus dem «Neuen Postillon», welche Tell (nach dem Muster des Altdorfer Denkmals mit seinem Büblein) zeigt, der unter Protest die Ausstellung verlässt und frei nach Schiller sagt: «Ich ziehe es vor, unter den Lawinen zu leben.» In: Les Suisses dans le miroir. Les expositions nationales suisses. Hrsg. von Olivier Pavillon, Pierre Pauchard. Lausanne 1991. S. 80. Zu den Kontroversen um die Expo 64 vgl. den Beitrag in diesem Band.
2 Marc Bloch, Apologie pour l’histoire ou métier d’historien. Paris 61964. S. 5.
3 Ausführlicher: Georg Kreis, Von der Produktemesse zur Problemschau / Ort der Belehrung – Ort der Begegnung. In: NZZ vom 5. und 18. Oktober 1983.
4 Vgl. Hermann Bücheler, Drei schweizerische Landesausstellungen. Zürich 1883, Genf 1896, Bern 1914. Zürich 1970 (Diss.). S. 62. Allgemeine Darstellung der neueren Ausstellungen vgl. Martin Arnold, Von der Landi zur Arteplage. Schweizer Landes- und Weltausstellungen (19.–21. Jh.). Hintergründe und Erinnerungen. Zürich 2001. – Quand la Suisse s’expose. Les expositions nationales XIXe-XXe siècles. Revue Historique Neuchâteloise 1/2, 2002.
5 Georg Kreis, L’Exposition nationale de 1883. In: Les Suisses dans le miroir. Les expositions nationales suisses. Hrsg. von Olivier Pavillon, Pierre Pauchard. Lausanne 1991. S. 17–21.
6 Ebenda. S. 15.
7 Roger Sidler, Pour la Suisse de demain: croire et créer. Das Selbstbildnis der Schweiz an der Expo 64. In: Dynamisierung und Umbau. Die Schweiz in den 60er und 70er Jahren. Hrsg. von Mario König et al. Zürich 1998. S. 39–50. Vgl. ferner Simon Erny, Die Geschichtsbilder der Schweizerischen Landesausstellungen 1939 und 1964. Ein Vergleich (Basler Liz.-Arbeit 2000/01).
8 Zur allgemeinen Entwicklung: Weltausstellungen im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Eckhardt Fuchs. Leipzig 2000. Und zum Schluss: Alice von Plato, Präsentierte Geschichte. Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2001.
9 Georg Kreis, «Wissen, wo die Fahnen stehen». Vom langen Weg zum Bundesjubiläum von 1991. In: Schweizer Monatshefte 7/8, Juli/August 1987. S. 589–598.
10 Frédéric Sardet, Organiser l’Expo 64: espace, argent et pouvoirs. In: expos.ch. idées, intérêts, irritations. Bern 2000. S. 222 (Dossier 12 des Archives fédérales suisses).
11 Martin Heller und Juri Steiner, Vergesslich? Nimm 13 tgl. Expo 02. In: Tages-Anzeiger vom 28. Juni 2000.
12 Les Suisses dans le miroir. Les expositions nationales suisses. Hrsg. von Olivier Pavillon, Pierre Pauchard. Lausanne 1991. – Ferner: expos.ch. idées, intérêts, irritations. Bern 2000 (Dossier 12 des Archives fédérales suisses).
13 Zum Kohäsionsargument vgl. etwa den von Nelly Wenger gezeichneten Text im Tages-Anzeiger vom 17. März 2001 sowie zur Rolle des «premier ambassadeur» Jean-François Roth im Construire vom September 2001.
Der damals und noch heute moderne «Landi»-Stuhl aus Aluminium, konzipiert von Hans Coray und gezeichnet von Hans Fischli (Das goldene Buch der Landesausstellung 1939. Zürich 1939).
Im Geleitwort zum grossen Erinnerungswerk, das sogleich nach Ausstellungsschluss zum Kauf angeboten wurde, bezeichnete Bundespräsident Philipp Etter die Landesausstellung insgesamt als «wuchtigen Wurf». Im einzelnen würdigte er aber nur zwei Ausstellungselemente: das Dörfli und den Höhenweg. Diese Akzentsetzung ist nicht zufällig. Sie entsprach den Erlebnis- und Erinnerungsschwerpunkten der meisten Besucher. Das Dörfli und der Höhenweg haben beim zeitgenössischen Publikum so grossen Anklang gefunden und auch spätere Betrachter so sehr in ihren Bann gezogen, dass sie den Gesamteindruck der «Landi» bestimmten.
Die Landesausstellung von 1939 erscheint – absolut gesehen oder im Vergleich mit ihren Vorgängerinnen – vielen als Ausdruck einer rückwärtsorientierten, ja reaktionären Mentalität allzu biederer Bodenständigkeit ohne Selbstkritik, ohne Dynamik, ohne Zukunftsvisionen. Es gab sie in der Tat, die Bluementrögli- und Riegelbautenidylle, die Hellebarden-Schweiz und die stolze Ahnengalerie der sogenannten Ehrenhalle. Es gab die mythologische Überhöhung des Bauerntums, das Loblied von der eigenen Scholle, den Kult der Mütterlichkeit u.a. Es gab in dieser Ausstellung aber auch anderes: zahlreiche Elemente, welche als Ausdruck einer durchaus modernen Mentalität zu werten sind. Im folgenden soll versucht werden, auch diese Botschaften aufzuzeigen und von dieser Seite her die Funktion der traditionalistischen, historisierenden, statischen Ausstellungsteile zu erklären, wobei unter moderner Mentalität eine aufgeschlossene Haltung gegenüber neueren und neuesten Erscheinungen eines auf permanente Verbesserung bedachten gesellschaftlichen Wandels verstanden sei.
Im Bereich der Technik war die Präsenz der Moderne gewissermassen automatisch gewährleistet durch die lockende Möglichkeit, die neuesten Errungenschaften einzusetzen und vorzustellen. Die Landi wartete mit einer Super-Gondelbahn auf – der angeblich ersten über einen See gebauten Bahn mit der grössten Spannweite der Welt und (in den Masten) Europas schnellsten Liften. Im Ausstellungsgelände beeindruckten mit 12000 PS die stärkste Lokomotive der Welt und mit 42500 PS und 120t Gewicht ein Generator der Dixence-Werke als «Weltrekord der Ingenieurkunst».
Die «Landi» von 1939 war – wie auch ihre Vorgängerinnen von 1883, 1896 und 1914 – eine Leistungsschau, das heisst eine Demonstration der neuesten Leistungssteigerungen. Der Grossteil der ausgestellten Produkte verkörperte die durch den Leistungswillen vorangetriebene Moderne. Der Besucher war nicht nur von Holz, Ziegel und Schmiedeeisen umgeben. Man zeigte ihm die neuesten Kautschuk- und Kunststoffprodukte, man machte ihm die Verflechtung der schweizerischen chemischen Industrie mit der Weltwirtschaft bewusst und informierte ihn über die Bedeutung der modernen Energiegewinnung.
Die Landesausstellungen wollten indes nicht nur eine Produkte- und Leistungsschau sein. Von Mal zu Mal wurden diejenigen Ausstellungsteile gewichtiger, die auch gesellschaftspolitische Themen behandelten. Und es sieht so aus, als ob bereits 1939 die thematische Dimension wichtiger gewesen sei als die rein produktionsbezogene. Dies trifft allerdings nur hinsichtlich der Resonanz beim Publikum zu, nicht jedoch bezüglich Ausstellungsfläche und Aufwand. War im Produktebereich die Moderne sozusagen von allein sichergestellt, bedurfte es im Thementeil einer besonderen geistigen Leistung, die gesellschaftspolitischen Fragen zukunftsweisend zu präsentieren. Auch in dieser Hinsicht finden wir moderne Aussagen in der Ausstellung: Aussagen etwa zugunsten der erst 1947 eingeführten allgemeinen AHV und zugunsten des gesamtschweizerisch erst 1971 verwirklichten Frauenstimmrechts. Im Bereich der Kunst blieb die «Landi» allerdings hinter der neuesten Entwicklung zurück. Man zeigte weder abstrakte noch konstruktivistische Werke. Näher bei der Avantgarde waren dagegen die Architektur und das Design der meisten Möbel. Die bekannten Aluminiumstühle werden noch heute als modern empfunden.
Konfrontiert mit so viel Moderne, fragte sich ein Berichterstatter: «Ist das noch die Schweiz? Oder ist es ein internationales Stück Europa? Oder gar ein bisschen Amerika?» Da und dort fanden sich tatsächlich zaghafte Anklänge an die amerikanische Moderne: bei den adretten Liftgirls oder Teddy Stauffers populärer Jazzband. Die Swissair war mit einer Attrappe des modernsten Douglas-Flugzeuges, einer DC 3, präsent, und eine in dieser angeblich so introvertierten und rückwärtsgewandten Ausstellung aufgestellte Europakarte veranschaulichte, zu welchem Zeitgewinn der Luftverkehr dem modernen Menschen verhalf. Es galt die neodarwinistische Parole: «Ein Volk, das nicht fliegt, wird überflügelt.»
Im «Landi»-Dokumentationsband wird betont, dass die Schweiz seit langem kein ausgesprochener Agrarstaat mehr sei. Kritisch wird bemerkt, das Schweizervolk lebe in der romantischen Vorstellung vieler Leute gleichsam als ein Volk von Hirten, Alphornbläsern und Jodlern weiter, als ob sich im Zeitalter der Maschine und des Verkehrs nichts ereignet hätte. Ausstellungstafeln sollten das falsche Bild korrigieren: Nur 22 Prozent der Bevölkerung seien in der Landwirtschaft tätig, 55 Prozent dagegen in Industrie, Handel und Gewerbe.
Die Ausstellung selbst stellte die traditionelle und die moderne Welt kontrastreich nebeneinander. Vom Schifflibach heisst es in einer Schilderung, er habe Natur und Technik miteinander verbunden: «Soeben noch floss der Bach durch stille Auen, und schon wird er von arbeitsdröhnenden Hallen gefasst.» Das Nebeneinander nicht nur von Welten, sondern auch von Weltanschauungen oder Wertschätzungen kam andernorts ebenfalls zum Vorschein: wenn auf der einen Seite die erdrückende Macht des Zementkartells kritisiert und die vermehrte Verwendung von Naturstein propagiert, auf der anderen Seite aber eine Spannbetonkonstruktion als kühne Meisterleistung gewürdigt wurde; wenn die Schönheit der Natur gepriesen und zugleich die Schiffbarmachung des Oberrheins gefordert, wenn das Tragen von Trachten propagiert und das Publikum den Lockungen mondäner Abendroben ausgesetzt wurde.
Die nachträgliche Kritik hat bei der Beurteilung der Landesausstellung von 1939 zwei fragwürdige Gleichsetzungen vorgenommen: Sie hat im Dörfli-Geist und im Geist des Höhenwegs den typischen Ausdruck des «Landi»-Geistes und in diesem den Ausdruck des «braunen» Zeitgeistes gesehen. Diese Fehlinterpretation, welche die mehr oder weniger überzeugenden Produkte der Geistigen Landesverteidigung vorschnell in die Nähe der nationalsozialistischen Kultur rückt, kann uns hier nicht weiter beschäftigen. Nur etwas sei bemerkt: Mit dem Nachweis des Modernitätsgehaltes allein wäre die «Landi» in der Tat der geistigen Nähe zum Faschismus nicht zu entziehen. Umgekehrt aber kann dieselbe «Landi» nicht als faschistisch oder faschistoid qualifiziert werden, nur weil da und dort eine Blut-und-Boden-Romantik zum Ausdruck kommt. Die Moderne mit ihren faszinierenden Superlativen wurde von den deutschen Nationalsozialisten bekanntlich ebenfalls sehr geschätzt; Begeisterung überkam sie nicht nur an heimeligen Lagerfeuern, sondern auch vor gigantischen Kraftwerkbauten.
Ernster zu nehmen ist nun allerdings die Frage, ob die «Landi» richtige oder falsche Bewusstseinspflege betrieben, ob sie Problembilder und Antworten vermittelt habe, die gewissermassen dem Entwicklungsstand der Zeit entsprochen haben. Fasst man nur das Dörfli und den Höhenweg ins Auge, müsste man die letzte Frage verneinen und zum Schluss kommen, die Ausstellung habe sich der bedrängenden Gegenwart und erst recht den Herausforderungen der Zukunft entzogen – durch Flucht einerseits in eine idyllische und andererseits in eine pathetische Scheinwelt. Wie wir aber gesehen haben, war die Moderne in ihrem vollen Umfange, mit ihrer ganzen Bedeutung an der Ausstellung durchaus und kraftvoll gegenwärtig. Wenn man vom Höhenweg absieht, der gewissermassen «auf der falschen Seeseite» untergebracht war, befolgte der Ausstellungsplan eine klare Zweiteilung: Am linken Seeufer lag das grössere Areal der modernen Welt, hier gab es die Abteilungen Industrie und Verkehr, Baumaterial, Sport und Spital, Medien, Energie usw. Am rechten Seeufer befand sich das kleinere Gelände mit der traditionellen Schweiz, eben dem Dörfli, der Landwirtschaftsausstellung, der Jagdabteilung. Und beide Sphären waren verbunden durch die Schwebebahn der Superlative.
Die Kritik kann allenfalls beanstanden, dass die beiden Sphären nur durch die Gondelbahn miteinander verbunden waren, dass sie nicht wirklich ineinander verarbeitet worden waren. So völlig beziehungslos konnten die beiden Teile der Ausstellung ja nicht sein. Wenn es aber in diesen gegensätzlichen Welten keine Gemeinsamkeiten gab, worin bestand wenigstens der funktionelle Zusammenhang? Ein zeitgenössischer Erinnerungsband enthält einen Hinweis, der weiterhilft, der aber der vertieften Deutung bedarf. «Hier suchte der Landibesucher», heisst es über das Dörfli in diesem Bericht, «Erholung von den Strapazen des jenseitigen Ufers der Technik und Erheiterung ob dem erdrückenden Ernst der Weltlage.» In ähnlicher Weise gilt diese Interpretation auch für den Höhenweg. Auch er hatte, obwohl in der konkreten Wirklichkeit auf dem gleichen Ufer angesiedelt, mit seiner triefenden Sinnhaftigkeit ein Gegengewicht zur materialistischen Moderne zu bilden. Er hatte seelische Erholung und Erheiterung zu spenden, wenn vom (übertragen gesprochen) Ufer der hochtechnisierten Zivilisation die meterlangen Blitze des Hochspannungsforschungslaboratoriums leuchteten und dunkle Wolken der Ungemütlichkeit drohten.
Von der «Landi» ist anerkennend gesagt worden, es sei ihr gelungen, dem in einer Zeit der Bedrohung verstärkten Bedürfnis nach Selbstvergewisserung ideal zu entsprechen. Mit Bedrohung ist der machtpolitische Konflikt gemeint, der noch während der «Landi» zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges führte. Bedrohungsgefühlen, die allenfalls aus dem Erlebnis der Weltwirtschaftskrise zurückgeblieben waren, musste 1939 offenbar nicht mehr direkt entgegengetreten werden. Der Arbeitslosenbestand war in den Jahren 1936–1939 von rund 92000 auf 32000 geschmolzen. Die versichernde, Mut und Zuversicht spendende Leistung der Landesausstellung von 1939 wurde aus naheliegenden Gründen ausschliesslich im Zusammenhang mit der bedrohlichen Weltlage gesehen. Übersehen wurde dabei, dass die «Landi» wie jede andere Landesausstellung und wie manche andere Manifestation auch die Funktion hatte, zur Bewältigung der üblichen und zuweilen ebenfalls als bedrohlich empfundenen Modernisierungsprobleme beizutragen. Man zeigte einerseits den Fortschritt und versah andererseits die Schau mit Elementen, die dem Besucher «Erholung von den Strapazen des jenseitigen Ufers» gewährten. Und was den Nationalsozialismus betrifft: Ohne falsche Gleichsetzungen vorzunehmen, kann man, da wegen der Gleichzeitigkeit Bezüge zur Kultur des Dritten Reiches naheliegen, auch vom Nationalsozialismus sagen, er sei seinerseits ein eigener und inhumaner Versuch gewesen, die entfremdenden Modernisierungsprobleme des 20. Jahrhunderts zu bewältigen.
Im Prinzip, wenn auch nicht mit der gleichen Dringlichkeit, gab es die Aufgabe der Modernisierungsbewältigung immer und wegen des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels speziell gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Das Dörfli vom rechten Seeufer konnte schon darum nicht einfach das Produkt eines vorherrschenden Zeitgeistes sein, weil es seine historischen Vorläufer hatte. Als Teile romantisierender Gegenwelten wurden in der Landesausstellung von 1896 in Genf ein «village suisse» und in der Landesausstellung von 1914 in Bern zum Beispiel der «Röseligarte» angeboten. 1883 in der ersten Landesausstellung von Zürich war das Bedürfnis nach Gegenwelten noch nicht so stark entwickelt. Man begnügte sich mit einem grossen Aquarium und einem Palmengarten. Nachts aber träumte (wofür es Belege gibt) schon damals, ein halbes Jahrhundert vor der Dörfli-Zeit, das Bewachungspersonal beim dumpfen Stampfen der Pumpmaschinen den Gegentraum von einer Welt ohne Technik, ohne Handel und Wandel, von einer zeitlosen Zeit, vom ursprünglichen Leben – ohne Moderne.
Zukunftsorientierte, von technokratischem Optimismus geprägte Landesausstellung, den Weltraum vor Augen. Fünf Jahre später landete der erste Mensch auf dem Mond (Bundesarchiv, Dossier 12, Bern 2000. S. 219).