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abb

Waldmärchen

kap

Von der Autobahn aus betrachtet, ist der Wald ein Stück Muster, mal mehr und mal weniger grün, mal löchrig, dann wieder flauschig wie ein Riesenteppich für Giganten, die wahrscheinlich in mythischen Urzeiten hier gelagert und mit ihren schweren Füßen Mulden und Gräben gepflügt haben oder Hügel als Kissen nutzten. In jedem Fall ist der Wald, den Märchen sei Dank, von frühster Kindheit an mit etwas Schwerem belastet. Man kann sich im Wald verlaufen, wilde Tiere wohnen darin und manche kommen sogar darin um. Wilde Menschen verbergen sich ein Leben lang im Wald. Und meschuggene Großmütter nehmen Geschwisterpaare gefangen und sperren sie in kochend heiße Käfige, auf dass sie irgendwann knusprig sind. Der Wald ist Märchenland und so wird er Kindern vermittelt, die nicht zufällig in Waldnähe aufwachsen. Doch welches Kind tut dies heute schon? Wo sich doch zwei Drittel aller Menschen in Metropolregionen ballen, in denen der Stadtwald das höchste Freizeitgut darstellt.

Vielleicht ist uns der Wald so fremd geworden, weil man ihn erst aufsuchen muss. Raus ins Grüne heißt meist so viel wie rein in den Wald. Solange sich darin auch Bespaßungszentren wie Wildparks, Wildschweinfütterungen und Märchenwälder verbergen, geht das noch alles an, ab dem Augenblick, da der Wald zum Outdoorerlebnis wird, begeben sich die Menschen gerne in Gruppen in den Wald. Überleben ohne Hilfsmittel, Übernachten im Nachtwald, Kochen mit nix, barfuß Wandern auf Waldböden.

Der Wald als Event oder als Hölle. Denn manche Wälder haben wenig Licht, knacken, wenn man es nicht vermutet, und benehmen sich schaurig bei Sturm. Schon eine windige Schonung kann fürchterlich wirken, wenn die Stämme eine Wand bilden, durch die labyrinthische Pfade führen. Im Wald kann man sich verirren, auch wenn die meisten Menschen niemals die Pfade verlassen, die durch Wälder führen. Es ist ja nicht so, dass unsere mitteleuropäischen Wälder wilde Urgebilde sind, in denen niemand sich auskennt, nein, jeder Wald gehört jemandem, jeder Wald wurde sicherlich schon kartografiert, eingeordnet, von Förstern gehegt und fotografiert, von Waldarbeitern durchstreift und von Jägern entwaidet. Wald gehört Privatpersonen, Gemeinden oder dem Staat. Wald ist fast immer auch Wirtschaft, Macht, Politikum, Handelsware und territoriales Kapital.

Für den Städter aber bleibt der Wald ein grünes Muster, das neben den Autobahnen für ein Minimum an Ablenkung sorgt. Der Wald als Masse wirkt wie eine Landschaftstapete, die zweimal im Jahr für das Auge besonders interessant wird, im Herbst und im Frühjahr, wenn der Laubwechsel für jene Augenmuster sorgt, die man als wohltuend empfindet. Städter, die ihren urbanen Lebensraum verlassen, vielleicht um von A nach B zu kommen, wollen ja von der Natur auch bespaßt werden.

Ich nehme mich da nicht aus. Ein Wald zwischen Ende November und Ende März kann einen schon melancholisch werden lassen. Im Nebel sieht man nur graugrüne Stämme und Äste. Dann wird die Autobahnfahrt zur Dystopie – so könnte es mal aussehen, wenn ein Vulkanausbruch die Sonne verdunkeln würde, immergleiches Grau mit Braun. Dann ist der Wald, den wir ja immer nur als »den Wald« bezeichnen, egal, ob er nadelig, belaubt oder gemischt daherkommt, weit weg von der wildromantischen Vorstellung, die so fest in unsren Köpfen sitzt wie der schaurige Wald. Und die ihre Ursprünge in unsrer Kindheit hat, wenn wir mit Büchern groß geworden sind. In der Kinderbuchwelt gibt es Wälder, die grundsätzlich von schrulligem Personal bewohnt werden. Furchtbar nette Bären mit Liebeskummer, Schrate, die vom Alleinsein geheilt werden müssen, Nager, die ihre Welt verbessern wollen, und Igelkommunen mit einem Familienbild wie vor hundert Jahren. Da wird gebacken, gegessen, getröstet und geschlafen, gereimt, geholfen, geliebt. Dass die Idyllenforschung noch nicht ein Teil der Psychologie ist, man wundert sich. Ganze Generationen sind mit Waldidyllen groß geworden, in denen Marienkäfer schwere Blumenlasten tragen, Grashüpfer und Frösche in Gummistiefeln unter Fliegenpilzen picknicken und Hasen malend durch die Botanik stapfen. Ernst Kreidolf, Ida Bohatta, Fritz Baumgarten, die Lurchi-Bücher einer Schuhmarke, bis heute. Da werden Waldbücher auf Naturpapieren gedruckt, sind dadurch ein wenig matt in den Farben, aber öko. Der Wald als Lieferant für Naturpapier. Auch das.

Der Wald – eine Furcht, eine Idee, eine Form der Romantik, ein Mythos? Der Wald ist ein Bild in uns und dabei Kulturlandschaft, die es zu bewirtschaften gilt.

Was also ist sie, diese Waldlust?

Wer sind wir im Wald?

kap

Tiere im Wald, nichts Schöneres können wir uns vorstellen als die Harmonie zwischen Fauna und Flora. Wir sind Bambi-Romantiker. Entdecken wir eine Ricke mit ihrem Kitz am Waldrand, sehen wir gebannt zu, wie sie sich in die Schutzlosigkeit wagen. Feldhasen, die witternd am Feld stehen, um im Dickicht zu verschwinden, sind uns eine Osterhasengeschichte wert. Sausuhlen lassen vermuten, dass Rotten in der Nähe sein könnten. Einem Wildschwein will man nicht zu nah kommen. Hirsche sehen normale Waldläufer eher selten. Dafür hören sie fünfzig verschiedene Vögel und können keinen Laut zuordnen. Ich nehme mich nicht aus. Den Specht erkenne ich, doch was da sonst noch fliegt – ein Buch mit zwei Flügeln. Aber wie heißt es schon bei Lucretius in seinem Buch De rerum natura, diesem zweitausend Jahre alten Text, der zwischen Naturwissenschaft, Phänomenologie, Mystik und epikuräischer Empfindsamkeit hin- und hermäandert, und das in nicht weniger als 1200 Versen: »Misstraue dem Empfinden, es kann dich täuschen

Der Wald und seine Bewohner bleiben ein Rätsel für uns Laien. Und wir sind alle Laien, die wir keine Jäger oder Förster oder Biologen sind. Also gehen wir in den Wald als Toren. Lassen Farben wirken und Gerüche und Reize, die wir uns zurechtlegen, solange wir nur davon träumen.

Träumen tut niemand, der im Wald arbeitet. Rotwild verfegt die Bäume, durch die Wunden in den Borken können Pilze eindringen, die Rotfäule verursachen. Das Holz wird dann kein gutes mehr sein, was sich im Preis pro Festmeter ausdrückt. Wie viel Wild darf also sein, bevor das Holz verdirbt? Darüber können sich Jäger und Förster sehr unterschiedlich echauffieren. Der Laie gibt auch was dazu, nämlich die Naturromantik! Wie kann man nur Tiere töten, sei es aus Waid- oder aus Waldsicht? Was man gerne vergisst: Der Wald ist eine Landwirtschaft mit Tieren und Pflanzen, Bäume werden geerntet, Tiere gehalten und … verkauft. Entweder als Jagdziel oder erlegt als nahrhaftes Superfood, denn schöner kann Fleisch nicht wachsen als im Wald. Manches Wild wird auch gefüttert, damit es überleben kann im Wald. Wie viel Wild was genau fressen darf, regeln Verordnungen. Würde man sich als Laie damit befassen, käme man in den Wald. Abschusspläne, Jagdkalender, Schonzeiten. Irgendwer muss immer geschützt werden vor dem anderen. Tiere vor Menschen, Menschen vor Tieren, Wald vor Wild und Wild vor Weide und Weide vor Wild. Denn in so manchem Wald leben auch Wesen, die man vor allem schützt, weil sie selten sind. Wolf und Luchs und manchmal ein Bär. Und dann wird es auch schon sehr, sehr unromantisch, denn des einen Freud’ an den Urbewohnern ist des andren Leid. Dann stoßen Artenschützer, Bambi-Romantiker, Agrarvertreter und Gefahrenschützer aufeinander.

Unsere Waldgebiete sind zivilisationsnah, also verirren sich auch wilde Tiere in die Städte. Besser, sie täten es nicht. Aber irgendwie halten sie sich nicht an die Vorschriften und benehmen sich grenzenlos. Der Wald ist ein Zankapfel, aber davon merkt der Laie nichts. Denn er ist immer noch in einer Schleife aus gelerntem Gedankengut der Romantik, Weltrettung und grüner Lunge. Der Wald polarisiert. Er ist Gesundbrunnen und Heilort, Ertragslandschaft und Beispiel für Nachhaltigkeit. Und ein Ort, der gepflegt werden muss.

Was wir im Wald sehen – wir, die Laien –, sind keine zufälligen grünen Ereignisse, sondern Ergebnisse zukunftgerichteten Planens. Hier etwas aufgeforstet, dort Licht ins Dunkel gebracht, da wieder Laubbäume angepflanzt, zum Beispiel als natürliche Schranke für den Borkenkäfer, dem es im Laubholz nicht schmeckt. Sorgsam gesetzte Waldränder, die Artenvielfalt zeigen. Zum einen Behausung für vieles, was lebt, zum anderen als sanfte Windableitung, damit ein Sturm nicht mit aller Macht ins Gehölz fahren kann. Ein idealer Waldrand baut sich von unten nach oben sanft auf. Häufelt Laub- neben Nadelholz, Busch und Gehölz und puffert so die empfindlichste Stelle des Waldes ab. Da, wo er sich nicht wehren kann, dort, wo er großen Kräften ausgesetzt ist. Wir Laien sehen nur ein Vielfaltsgrün und die unterschiedlichen Strukturen der Blätter, die einen Waldrand so lebendig machen. Hier flirrt es kleinblättrig, dort zergliedern wuchtige Büsche den ansteigenden Saum, der einen Wald wie ein Polster umgibt, aus dem sich bei nahender Dunkelheit die Rehe wagen und in den sie auch wieder verschwinden und in dem sie sich verstecken. Manchmal ragen Kanzeln aus diesen grünen Säumen, die Leuchttürme der Jäger, für die der Waldrand Schutz und Jagdgrund zugleich ist.