Vorwort

von Trudl Heckmair

Hohe Berge, fremde Länder mit ihren Menschen und Kulturen – das ist die Leidenschaft von Alix von Melle und Luis Stitzinger. Luis kenne ich nun schon sein gesamtes Leben lang. Mit den Eltern von Luis, Volkmar Stitzinger (genannt Burschi) und seiner Frau Kathrin, war mein Mann Anderl Heckmair (1906  2005) und bin ich seit mehr als fünfzig Jahren freundschaftlich verbunden.

Anderl kletterte bereits in den 1920er-Jahren viele der damals schwierigsten Wände in den Ost- und Westalpen. Doch erst mit der Erstdurchsteigung der Eiger-Nordwand im Jahr 1938 erreichte er weltweit Bekanntheit. Als Seilerster kletterte er mit Ludwig Vörg, Heinrich Harrer und Fritz Kasparek durch die berühmt-berüchtigte Wand und fand mit viel Gespür eine Route, die heute seinen Namen trägt. Während seines gesamten Lebens war Anderl ein leidenschaftlicher Naturfreund und Bergsteiger und verbrachte jede freie Minute in seinen geliebten Bergen. Dazu kam ihm der Beruf des Berg- und Skiführers gerade recht.

Anderls Wahlspruch als Bergführer lautete: »Für mich kann ich riskieren, was ich will, für andere gar nichts!« Oder, wenn die Gipfelbesteigung mit Gästen nicht möglich war: »Lange Gesichter sind mir lieber als bleiche!« Vom Bayerischen Jugendherbergswerk wurde Anderl zum alpinen Berater berufen. Die Gründung des Berufsverbands Deutscher Berg- und Skiführer ist mit auf seine Initiative hin entstanden. Als Berg- und Skiführer bot sich ihm auch die Möglichkeit, Berge der Welt wie etwa im Karakorum, in Nepal, in Nord- und Südamerika, Afrika, aber auch in Europa zu besteigen. Gemeinsam mit Burschi und Kathrin genossen Anderl und ich viele Bergerlebnisse.

Auch Luis wählte schließlich denselben beruflichen Weg und wurde staatlich geprüfter Berg- und Skiführer. Das freute Anderl sehr, schließlich war er sein Taufpate. Vater Burschi hatte diesen Wunsch seiner Zeit an Anderl herangetragen. Die Taufzeremonie in der kleinen Dorfkirche von Sankt Michael in Buching hatte Luis selig schlafend über sich ergehen lassen. Das veranlasste Anderl zu der Aussage: »Als Luis aufwachte, war er katholisch!«

Seitdem hat Luis viele Gipfel im Himalaja bestiegen, von denen er häufig auch mit Ski abfährt. Regelmäßig begleitet ihn beim Höhenbergsteigen seine Frau Alix. Gibt es eine schönere Partnerschaft, als mit einem gemeinsamen Hobby das Leben interessant zu gestalten? Das Vertrauen und die Hingabe in einer Beziehung gehen weit über das hinaus, was eine normale Bergkameradschaft bieten kann. In schwierigen Situationen können Alix und Luis zusammenstehen und sich gegenseitig Halt und Unterstützung bieten. Die bestandenen Erfahrungen lassen sich gemeinsam noch viel intensiver genießen, und später hat man etwas, woran man sich immer zurückerinnern kann. Glück ist das Einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt, so sagt man. Dabei haben sich Alix und Luis eine gewisse Bescheidenheit und den Respekt vor der Natur erhalten. Bei der Besteigung eines Berges bewahren sie sich die Freiheit, umzukehren, wenn die Verhältnisse dies als klug erscheinen lassen. Das bedeutet nicht scheitern, sondern anerkennen, dass die Natur stärker ist als der Mensch. Wer aus Ehrgeiz zu viel riskiert, lebt nicht lang.

Anderl berücksichtigte dies ein Leben lang. Bereits in den 1930er-Jahren sagte eine Wahrsagerin in der Schweiz Anderl voraus, dass er eines unnatürlichen Todes sterben werde. Seine Antwort: »Au weh, dann sterb ich im Bett!« Und so kam es dann auch. Anderl hatte bis dahin ein langes Leben, das er »ausquetschte wie eine Zitrone«, wie er sagte. Aber eben nicht nur die Anzahl der Lebenstage zählt, sondern auch, was man in ihnen unternommen und erlebt hat. In diesem Sinne möchte ich den beiden, Alix und Luis, vor allem ein erfülltes Leben wünschen. Mögen sie möglichst lange mit dem weitermachen können, was ihr Leben so bereichert: gemeinsam an den hohen Gipfeln der Welt zum Bergsteigen gehen!

Träume sind da, um gelebt zu werden

Alix und Luis

Als wir uns im Jahr 1998 näher kennen und schließlich lieben lernten, ahnten wir noch nicht, wohin uns unser gemeinsamer Weg einmal führen würde – weder, dass wir einmal heiraten, noch, dass wir gemeinsam regelmäßig auf hohe Berge steigen würden. Wir sind weit voneinander entfernt aufgewachsen, Alix in Hamburg, im hohen Norden, Luis in Füssen, am Fuß der Alpen. Trotz allem, was uns trennte, haben wir uns durch die und in den Bergen gefunden. Seitdem gehen wir als Seilschaft durchs Leben, im Alltag wie am Berg. Unsere große gemeinsame Leidenschaft gehört den hohen Bergen dieser Welt.

An neun Achttausendern waren wir im Laufe der letzten fünfzehn Jahre unterwegs und haben sechs davon erfolgreich besteigen können. Daneben finden sich in unserem Tourenbuch viele Sechs- und Siebentausender sowie Unternehmungen in den Alpen und der weiten Welt. Alle unsere Berge haben uns etwas mitgegeben. Jedes Ziel war ein Abenteuer für sich und hat seine eigene Geschichte in uns geschrieben, ob wir nun den Gipfel erreichten oder nicht. Von unseren gemeinsamen Erlebnissen möchten wir in diesem Buch erzählen. Nicht nur von den Achttausendern, auch von den Anfängen, davon, warum wir so »bergsüchtig« wurden. Wie die Berge uns prägten, was sie in uns bewegten. Und auch, was sie uns als Paar als geteilte Erfahrung bedeuten.

In »Leidenschaft fürs Leben« geht es uns nicht darum, einfach ein weiteres Buch über das Bergsteigen abzuliefern – da gibt es schon so viele. Oder unsere Leistungen hervorzuheben – da gibt es so viel größere. Vielmehr möchten wir dir, lieber Leser, spannende Geschichten erzählen und dich nachvollziehen lassen, warum Berge zu einem wesentlichen Lebensinhalt für uns wurden. Während du diese Abenteuer nacherlebst, möchten wir, dass du dir selbst einen Spiegel vorhältst und dich fragst: »Lebe auch ich meine Träume, oder schiebe ich sie nur auf?« Dabei ist das Bergsteigen eine austauschbare Variable. Deine Bestimmung kannst du ebenso gut in vielerlei anderem finden. Was auch immer dein Traum ist, geh hinaus und lebe ihn! Für dein Glück bist nur du selbst verantwortlich. Erwarte nicht, dass es sich durch höhere Fügung von selbst einstellt. Ein Leben ist zu kurz, die Zeit zu wertvoll, um sie mit unnützen Dingen zu verschwenden, die dich nicht wirklich erfüllen. Eine Leidenschaft auszuleben verleiht ein leidenschaftliches Leben – das ist es, was wir mit unserem Buch sagen wollen.

Wir sind keine alpinen Superhelden, die solo einen Zehner klettern oder die Eiger-Nordwand in zwei Stunden hinaufrennen. Das soll nicht heißen, dass wir keine leistungsfähigen Bergsteiger wären. Wir stehen zu unseren Idealen. Wir möchten unsere Gipfel nur mit fairen Mitteln besteigen, ohne die Verwendung von künstlichem Sauerstoff oder anderen Hilfsmitteln. Aber wir sind auch ganz normale Menschen. Wir führen ein bodenständiges Leben, haben einen Beruf, der uns in Anspruch nimmt, und müssen uns unsere Unternehmungen zeitlich wie finanziell jedes Mal schwer erarbeiten. Und das ist gut so. Auf diese Weise bleiben sie etwas Besonderes und werden nicht zur sich wiederholenden Normalität. Wir wollen etwas erleben, aber auch wieder sicher und lebendig vom Berg zurückkehren. Wir sind nicht dazu bereit, unser Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Dafür ist es zu schön.

Wir wissen nicht, was die Zukunft für uns bereithält. Wie bei einer Bergtour versuchen wir, dem Weg zu folgen, der sich vor uns abzeichnet. Mal ist er wenig deutlich und vom Schnee überdeckt. Du kannst du ihn leicht verlieren und auf Abwege geraten. Dann tust du gut daran, genau hinzuschauen und langsamer zu treten. Mal liegt er klar und weithin sichtbar vor dir, und du kannst mit schnellem Schritt voranschreiten, immer weiter auf das Ziel hin.

Aber was genau ist eigentlich das Ziel? Unter Bergsteigern gibt es den geflügelten Satz: »Der Weg ist das Ziel.« Trifft das nicht genauso auf ein Leben zu? Ein erfülltes, glückliches Leben ist kein Punkt, den du irgendwann erreicht hättest wie einen Berggipfel. Dieses Ziel kannst du nur erlangen, indem du es auf deinem Weg mit Er-Leben füllst. Dazu musst du nur den ersten Schritt tun und dann deinem inneren Kompass folgen. Es lohnt sich!

Aus den entgegengesetztesten Winkeln Deutschlands

Luis

Als Sohn eines Bergführers und einer genauso bergaffinen Mutter bekommt man es als Kind schon in die Wiege gelegt, weder Wassersportler noch Fußballspieler zu werden. Im kalten Winter des Jahres 1968 wurde ich in Füssen im Ostallgäu geboren. Meine Mutter Kathrin war im benachbarten Schwangau als eines von drei Kindern einer alleinerziehenden Kriegswitwe in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit aufgewachsen. Nach einer Ausbildung zur Chemisch-technischen Assistentin arbeitete sie einige Jahre im Labor eines Arzneimittelherstellers in Biberach. Auch mein Vater Volkmar stammte aus dem Allgäu und hatte seine Kindheit zusammen mit zwei Geschwistern in Hellengerst, in der Nähe von Kempten, verbracht. Als junger Mann zog er nach Freising, um dort das Studium zum Diplom-Brauingenieur zu absolvieren. Nach bestandener Abschlussprüfung und einigen kleineren Anstellungen wurde ihm die Leitung einer Brauerei in Aulendorf in der Nähe des Bodensees angetragen.

Auf einem Kletterkurs des Oberstdorfer Bergführers Peter Lechhart hatte er meine Mutter kennengelernt. Lechhart und eine andere folgenschwere Bekanntschaft aus Oberstdorf, Anderl Heckmair, ebenfalls Bergführer und einer der Erstbesteiger der Eiger-Nordwand, waren es dann auch, die in ihm den Wunsch reifen ließen, selbst Bergführer zu werden. Doch die Leitung der Brauerei war eine anspruchsvolle Aufgabe, die wenig Zeit für Ausschweifungen ließ. Das sichere Einkommen eines Diplomingenieurs war zudem eine solidere Absicherung für eine junge und schnell wachsende Familie. Drei Jahre nach mir wurde meine Schwester Verena geboren, fünf Jahre später mein Bruder Wendelin.  

Alix

Ich wurde 1971 in Hamburg geboren. Nichts deutete damals darauf hin, dass ich einmal eine Bergsteigerin werden würde. Im Gegenteil, Sport spielte viele Jahre lang in meinem Leben keine große Rolle. Und die Berge erst recht nicht.

Mein Vater Werner von Melle stammte aus einer Lübecker Kaufmannsfamilie. Er schlug jedoch einen anderen beruflichen Weg ein und war mehr als 30 Jahre lang bei IBM in Hamburg tätig. Meine Mutter Renate kommt aus Bremen. Sie war Diplom-Handelslehrerin, hängte jedoch ihren Beruf an den Nagel, als sie mit der Betreuung von uns vier Geschwistern mehr als genug zu tun hatte.

Schon bald nach meiner Geburt zogen wir nach Ahrensburg in Schleswig-Holstein, eine 30 000-Einwohner-Stadt im Hamburger Nordosten: meine Eltern, meine acht Jahre ältere Schwester Daniela, mein zwei Jahre älterer Bruder Philip und ich. 1980 vervollständigte unser jüngster Bruder Vincent das Geschwister-Quartett. Alle vier hatten wir und haben ein gutes Verhältnis zueinander. Inzwischen sind wir über ganz Deutschland verstreut: Daniela und Philip sind in der Nähe von Hamburg geblieben, Vincent lebte viele Jahre am Bodensee, ist inzwischen aber ebenfalls wieder nach Hamburg zurückgekehrt, und ich lebe in Füssen. Am engsten bin ich mit Philip aufgewachsen, mit ihm teile ich viele Kindheitserlebnisse.

Luis

Der Traum von der Bergführerei ging Burschi, wie mein Vater von seinen Freunden genannt wurde, nicht mehr aus dem Kopf. Als die Brauerei in Aulendorf 1974 an einen anderen Eigentümer überging, beschloss mein Vater kurzerhand, radikal die Branche zu wechseln. Mittlerweile hatte er tatsächlich die Ausbildung zum staatlich geprüften Berg- und Skiführer abgeschlossen. Die Zeit dafür hatte er sich, wann immer es ging, abgeknapst.

Günter Sturm, der zusammen mit meinem Vater die Bergführerlehrgänge besucht hatte, war vom Präsidium 1969 mit dem Aufbau einer Bergschule im Dienste des Deutschen Alpenvereins beauftragt worden. Als »Internationaler Trekkingmanager« nahm mein Vater eine Festanstellung in München an, die ihn allerdings oft genug vom Schreibtisch in die Alpen und in die Berge der Welt entkommen ließ. Schließlich war es seine vorrangige berufliche Aufgabe, Berg- und Wandertouren in aller Welt zu organisieren, für die Sturm den Namen »Trekking« (abgeleitet vom »Trek« der burischen Siedler in Südafrika) erdacht hatte. Damit leitete die Berg- und Skischule des DAV, die 1984 zum »DAV Summit Club« umfirmierte, maßgeblich einen weltweiten Trend ein, der nach wie vor ungebremst anhält. Jährlich verreisen weltweit mehrere Millionen Menschen mit dem Ziel, fremde Länder und Kulturen mit ihren Wanderschuhen kennenzulernen.

Mit der beruflichen Umorientierung meines Vaters zogen meine Eltern mit uns Kindern in ein lang erträumtes eigenes Haus in Berghof, einem kleinen Dorf der Gemeinde Halblech mit wenigen Hundert Einwohnern, direkt am Fuß der Ammergauer Alpen. Idyllisch auf einem kleinen Hügel gelegen, überblickt man vom Dorf die wenige Kilometer entfernten Berge Hochplatte, Krähe, Geiselstein, Hoher Trauch- und Buchenberg. Im Nachbardorf Bayerniederhofen besuchte ich die Grundschule, zu der ich in wenigen Minuten zu Fuß gehen konnte. Zusammen mit zwei, drei weiteren Schulkameraden aus meiner Straße pilgerte ich jeden Morgen an Bauernhöfen und Wohnhäusern vorbei zur Dorfkirche Sankt Michael, neben der sich das alte Schulhaus befand.

Wir Kinder genossen die frische Luft und das Spiel in der freien Natur. Bereits nach wenigen Hundert Metern hatten wir die Siedlung verlassen und befanden uns in der »Wildnis«. Wir bauten Baumhäuser im Wald, fuhren mit den Rädern umher oder gingen im Sommer an einen der vielen Seen zum Baden. Wöchentlich spielten sich auf dem Bolzplatz Fußballdramen zwischen der Dorfjugend vom benachbarten Buching und jener des Nachbardorfs Trauchgau ab. Doch am Wochenende waren wir Stitzinger-Kinder für derartigen Zeitvertreib nicht verfügbar. Nicht nur unsere Eltern, auch deren Freunde und Bekannte, sämtliche Tanten, Onkel und Großmütter, alle gingen sie in die Berge. Familientreffen konnten schnell einmal zum Wandertag ausarten. Wie sollte man sich als Kind dem entziehen?

Von frühester Kindheit an wurden wir mit in die Berge genommen, zuerst in der Kraxe, später auf eigenen Beinen. Zusammen mit meinen Geschwistern lernte ich Wandern und Bergsteigen in den heimischen Bergen der Ammergauer, Allgäuer, Tannheimer und Lechtaler Alpen. Im Alter von zwei Jahren stand ich das erste Mal auf Ski und fuhr zwischen den Beinen meiner Eltern den Buchenberg hinunter, einen 400 Meter hohen Vorgebirgshügel oberhalb von Buching. Offensichtlich bereitete mir das Skifahren schon damals viel Freude, da ich jedes Mal zu schreien anfing, wenn die Skiabfahrt zu Ende war, und meinen Eltern immer noch eine weitere Abfahrt abnötigte. Der erste Skikurs ließ nicht lange auf sich warten, und natürlich wollte ich auch, wie alle meine Freunde, in die Rennsportgruppe des TSV Buching. Hier galt es bei jeder Abfahrt Neues zu entdecken, auf der Suche nach noch steileren Hängen oder noch tollkühneren Sprüngen.

Auch zum Klettern ins Gebirge nahmen uns die Eltern schon recht bald mit, nachdem wir eine Lehrzeit im Klettergarten absolviert hatten. Das kam uns gerade recht, war doch eine Klettertour in unseren Kinderaugen um ein Vielfaches spannender als eine Bergwanderung. Eine Herausforderung an Kraft, Geschicklichkeit und Mut, über die Aufschwünge eines Straußberg-Westgrats oder Säuling-Ostgrats zu turnen, wo hinter jedem Zacken eine neue Überraschung wartete – das war genau die Art von Abenteuerspielplatz, von der ich als Kind träumte. Von den Eltern am Seil gesichert, war die Gefahr dann auch nur im Kopf vorhanden.

Anderl Heckmair, von dem zuvor schon die Rede war, war mein Taufpate geworden. Auch er tat sein Bestes, um den »Bergvirus« in mir zu bestärken, wo er nur konnte. Von ihm und seiner Frau Trudl bekam ich zum Geburtstag und zu Weihnachten regelmäßig wunderschöne Bildbände über die Berge der Welt geschenkt. Bei deren Durchsicht geriet ich herrlich ins Träumen. Wenn ich einmal erwachsen war, wollte ich auch zum Bergsteigen ins Berner Oberland oder in den Himalaja reisen.

Einige Male durfte ich die beiden auch auf Bergtouren begleiten und lauschte gespannt Anderls Geschichten über die abenteuerlichen Bergfahrten, die er in den schwierigen Dreißiger- und Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts unternommen hatte. Mit nicht viel mehr als der Kleidung auf dem Leib und einem Fahrrad zur Anreise hatten er und seine Bergkameraden die schwierigsten Touren in den Alpen bewältigt. Später, als ich die Dimension einer Eiger- oder Grand-Jorasses-Nordwand besser begreifen konnte, sah ich noch mehr zu ihm auf. Dabei stellte er sich nie in den Vordergrund oder sein Können über das seiner Freunde. Bescheiden, humorvoll und hintersinnig waren stets die Erzählungen, die er mit einer Toscanelli – einer dieser krummen, qualmenden italienischen Zigarren – im Mundwinkel und einem Glas Whisky in der Hand zum Besten gab. »Onkel Anderl« erschien mir immer wie der Archetypus des Alpinisten, der eine Route nur deshalb probiert, um zu sehen, ob sie machbar ist, nicht um mit ihr zu glänzen. Sobald ein Problem gelöst war, war im Handumdrehen auch schon das nächste gefunden.

Alix

Ein Erlebnis hat mich als Kleinkind schon sehr früh geprägt. Wir gingen oft mit meinen Eltern im Park Manhagen bei Ahrensburg spazieren. Besonders spannend war für uns der See im Park, an dem man auf unzähligen Stegen herumlaufen und ins Wasser schauen konnte. Es war ein nasskalter und regnerischer Wintertag, wir trugen Gummistiefel und unsere Regenanzüge. Philip hatte einen dunkelblauen, ich einen gelben. Da zeigte Philip meinen Eltern etwas, was er im Wasser entdeckt hatte. Ich trollte mich davon und erkundete einen Steg. Auf dem vom Regen nassen Holz rutschte ich mit meinen Gummistiefeln plötzlich aus und fiel rückwärts in den See. Ich konnte noch nicht schwimmen, doch zum Glück waren meine Eltern sofort zur Stelle. Ich sehe noch heute vor mir, wie ich rücklings im eiskalten Wasser liege, meine Eltern, sich auf den Steg kniend, zu mir herunterbeugen, mich an den Armen und Beinen packen und aus dem Wasser ziehen. Zu Hause wurde ich sofort in die warme Badewanne gesteckt, um meine Lebensgeister wieder zu wecken.

Sicherlich war dieses Erlebnis ausschlaggebend dafür, dass ich sehr viel Respekt vor dem offenen Wasser habe. Tauchsport wäre nichts für mich, und beim Segeln oder Kajakfahren hätte ich Angst vor dem Ertrinken. Auch wenn dies paradox klingen mag, bin ich dennoch dem Wasser, vor allem der Nord- und Ostsee, sehr verbunden. Ich liebe die raue See, die salzige Meeresluft und weite Sandstrände, an denen man Muscheln sammeln kann. Einmal im Jahr fahre ich regelmäßig für ein paar Tage allein an die Nordsee, nehme mir eine kurze Auszeit und erkunde eine Insel: Amrum, Pellworm, Hallig Hooge – jedes Jahr eine neue.

Schon als Kinder verbrachten wir unsere Ferien immer am Meer, viele Jahre auf Sylt, später dann in Dänemark. Wir mieteten für drei Wochen ein gemütliches Holzhaus und unternahmen Radtouren oder verbrachten den Tag am Strand, auf Bornholm, in Rørvig auf der dänischen Insel Seeland oder am Limfjord auf Jütland. Für das abendliche Vorlesen hatte meine Mutter immer genügend Lesestoff mit dabei. Während vieler Sommerferien lauschten wir ihr, wie sie uns die Abenteuer von Ronja Räubertochter und der Brüder Löwenherz, von Kalle Blomquist, den Höhlenkindern, Michel aus Lönneberga oder aus anderen Kinderbuchklassikern vorlas, Philip in ihren rechten Arm gekuschelt, ich in ihren linken.

Auch heute noch spielen Bücher in meinem Leben eine sehr wichtige Rolle. Unsere Wohnung ist voller Bücher. Sie stehen in Regalen, sie liegen auf dem Esstisch, auf dem Schreibtisch und dem Nachttisch. In Buchhandlungen kann ich stundenlang stöbern, und keine verlasse ich, ohne mindestens ein Buch gekauft zu haben. Auf jeder Expedition habe ich Bücher dabei, und meine größte Sorge ist jedes Mal, dass mir beim Aussitzen von Schlechtwetterphasen der Lesestoff ausgehen könnte.

Mit sieben Jahren begann ich, ein Musikinstrument zu erlernen, die Violine. Philip spielte bereits Geige, und als meine Mutter mich fragte, welches Musikinstrument ich lernen wolle, sollte es natürlich jenes sein, das auch der große Bruder schon spielte. Die Stormarnschule, die wir in Ahrensburg besuchten, war ein sehr musisch geprägtes Gymnasium, und bald traten wir ins Schulorchester, später dann ins Jugendorchester ein. Oftmals gingen wir mit dem gesamten Orchester auf Reisen. Unser Dirigent Karl-Heinz Färber pflegte sehr gute Kontakte zu anderen musisch orientierten Partnerstädten in ganz Europa. So reisten wir mehrfach nach Haugesund in Norwegen und Budapest in Ungarn, aber auch ins schottische Aberdeen, nach Posen in Polen und Tallin im heutigen Estland. Meist waren wir für eine Woche oder länger unterwegs und privat in Gastfamilien untergebracht. So kam man hautnah mit den Menschen und der Kultur des Gastlandes in Kontakt. Wir gaben ein bis zwei Konzerte, für die wir natürlich proben mussten. Trotzdem blieb immer Zeit für eine Wanderung in der Hardangervidda, einen Ausflug in die schottischen Highlands oder für Besichtigungen in so wunderbaren Großstädten wie Budapest oder Tallin.

Ein alljährliches Highlight war jeweils im Februar unser Jugendorchesterkonzert in der Hamburger Musikhalle. Oftmals kamen meine Großeltern aus Bremen als Zuhörer angereist. Mein Großvater war besonders stolz auf uns Enkelkinder, und beim Applaus hörten wir immer seine begeisterten Bravorufe aus der Menge heraus. Mit siebzehn Jahren bekam ich über meinen Geigenlehrer die Möglichkeit, in seinem Muggen-Orchester mitzuspielen. Der Begriff »Mugge« bedeutet, bei einem Konzert mitzuwirken, meistens waren es Kirchenkonzerte oder Gottesdienste, bei denen wir einen Chor begleiteten und dabei ein kleines Taschengeld verdienten. Aus vielen dieser Muggen habe ich mir meinen ersten Skiurlaub finanziert.

Der große Geiger Isaac Stern sagte einmal: »Musik zivilisiert; Musik macht wachsam; Musik weckt die Phantasie. Sie tröstet dich, wenn du traurig bist, sie bringt dich zum Lachen, wenn du dir Sorgen machst, und sie macht deinen Kopf klar, wenn alles drunter und drüber geht. Wer Musik macht, lernt nicht zu hassen. Wer Musik macht, lernt zu sehen, zuzuhören und zu denken.« Schöner, finde ich, kann man es nicht ausdrücken. Dies bedeutet auch mir die Musik nach wie vor. Das Geigespielen gab ich zwar mit dem Beginn des Studiums auf, doch klassische Musik höre ich nach wie vor sehr gern. Auf den Expeditionen habe ich immer meinen iPod dabei und genieße es, abends im warmen Schlafsack zu liegen und beim Einschlafen klassische Musik zu hören. Dabei kann ich mich besonders gut erholen und entspannen.

Luis

Mit acht Jahren meldeten mich meine Eltern in der Jugendgruppe der Sektion Füssen des Deutschen Alpenvereins an. Obwohl ich als Kind immer etwas zurückhaltend war, freundete ich mich schnell mit anderen an, vor allem, wenn sie denselben Hobbys nachgingen. Schon bald waren wir ein eingeschworener Haufen, zu allen Schandtaten bereit. Mit vielen von ihnen verbinden mich noch heute langjährige Freundschaften.

Die erste Unternehmung mit der Jugendgruppe führte mich auf die Hohe Geige (3393 m) in den Ötztaler Alpen. Die Schuhe waren zu groß, der Rucksack war zu schwer, und der Weg zu lang. Trotz mehrfacher Angebote, umzukehren und einen angenehmen Nachmittag mit Apfelstrudel und Spezi auf der Rüsselsheimer Hütte zu verbringen, verfolgte ich hartnäckig den Weg weiter. Ich wollte diesen Gipfel besteigen und sehen, wie das Tal dahinter aussah. Und der Bergzug danach. Zu aufregend war es, das erste Mal die Heimat zu verlassen und in die Berge der »weiten Welt« zu gelangen, als dass ich dieses Abenteuer hätte frühzeitig abbrechen können. Der Drang in mir, meine Umgebung zu erforschen und Neues kennenzulernen, war schon immer groß gewesen. Dabei besiegte die Neugier alle Erschöpfung und jeden Schmerz. Meine Leidensfähigkeit steigerte sich mit dem Preis, den es zu gewinnen galt.

Die langjährigen Leiter der Jugendgruppe, Inge und Werner Tenbrink, nahmen uns auf so manch abenteuerliche Bergfahrt mit. Neben meinen Eltern habe ich vor allem ihnen die so nachhaltige Begeisterung für den Bergsport zu verdanken. Keiner von uns wollte auch nur eine der Wochenendunternehmungen oder gemeinsamen Tourenwochen verpassen. Ein Bergerlebnis reihte sich ans andere, und ehe ich mich’s versah, hatte ich mit meinen zwölf Jahren bereits den Piz Palü, den Triglav, die Wildspitze und viele felsige Kletterberge in den Ostalpen bestiegen.

Nach dem Abschluss der Grundschule wechselte ich auf das Gymnasium Hohenschwangau. Die dort anbrechende unbeschwerte Schulzeit prägte mich für mein späteres Leben wie kaum eine andere Phase. Meinen damaligen Lehrern, aber auch meinen Schulfreunden verdanke ich viele Denkanstöße, die mich meinen Weg finden ließen, so wie es für mich gut war. Dankbar muss ich ihnen aber auch dafür sein, dass sie nicht versuchten, mich von meinen »Verrücktheiten« – so wie sie es sehen mussten – abzubringen, auch wenn sie sicherlich nicht immer ganz verstehen konnten, was ich da tat und warum.

Schon in jungen Jahren durften wir mehrere Tage allein von zu Hause fort. Mit meinem Schulfreund Klaus fuhr ich als Fünfzehnjähriger im Stil der alten Pioniere mit dem Fahrrad zum Berninapass, um dort Touren vom Zelt aus zu unternehmen. Das hatten wir uns so schön ausgedacht, nachdem wir die Geschichten von Heckmair und seinen Gefährten gelesen und die Bilder der schwer bepackten Drahtesel bestaunt hatten. Berner Oberland oder Wallis waren uns dann aber doch etwas zu weit vorgekommen, und da hätten auch die Eltern nicht mitgespielt. Ganz allein schlugen wir uns durchs österreichische Inntal bis in die Schweiz und wieder zurück durch. Oder zumindest fast. Beim Rückweg regnete es dann so stark, dass unser Pioniergeist nicht ganz durchhielt. In Imst riefen wir bei den Eltern an, ob sie uns nicht mit dem Auto abholen könnten. Mit meinem Cousin Johannes unternahm ich Klettertouren rund um Oberstdorf, wo ich ein ums andere Mal bei Tante und Onkel zu Gast sein durfte. Ein andermal richteten wir uns für mehrere Tage im Winterraum der Hermann-von-Barth-Hütte im oberen Lechtal ein, um dort im Spätherbst einsame Klettertouren zu unternehmen. Ganz allein wollten wir sein und alles selbst machen, vom Holzhacken über das Kochen bis hin zur Tourenplanung. Das Vertrauen der Eltern tat gut und eröffnete viele Freiheiten. Doch es verpflichtete auch dazu, sich des Vertrauens als würdig zu erweisen.

Mit sechzehn Jahren nahm ich an einem Schüleraustausch nach Kanada teil. Als unser Englischlehrer das Angebot verkündete, war ich sofort Feuer und Flamme. Ich überlegte mir Überredungsstrategien, um meine Eltern davon zu überzeugen, dass der Austausch von elementarer Bedeutung für meine spätere Karriere war. Als ich schließlich meinen ganzen Mut zusammengenommen und meine Eltern eines Abends darauf angesprochen hatte, war ich sprachlos, als sie dem Vorhaben spontan zustimmten. Wochenlang fieberte ich auf den Tag der Abreise hin. Als es schließlich so weit war, wurde mir dann doch etwas bange, ein halbes Jahr in der Fremde verbringen zu müssen. Dank meiner Eltern und der Alpenvereinsjugend hatte ich schon viele europäische Länder bereisen dürfen, doch so lange und so weit weg von zu Hause war ich noch nie gewesen.

Meine Bedenken erwiesen sich allerdings schon bald als unbegründet. Mein Austauschpartner Jim und seine Familie waren sehr nett und verständnisvoll. In Calgary, in der Provinz Alberta, besuchte ich zusammen mit Jim die Highschool und freundete mich schnell auch mit anderen an. Jims Traum war es, in der Juniorenschulmannschaft Canadian Football zu spielen, eine Variante von American Football. Schnell begeisterte er mich dafür, mich ebenfalls für die Aufnahmeprüfung zu bewerben. Tatsächlich wurden wir beide akzeptiert und mussten daraufhin viel für die anstehenden Spiele trainieren. Durch meine geringe Größe und mein niedriges Körpergewicht (1,60 Meter und 58 Kilo) hatte ich einem Gegenspieler bei einer direkten Konfrontation nicht allzu viel entgegenzusetzen. Meine Ausdauer und Flinkheit prädestinierten mich eher für den Posten eines »Running Back«, eines Angriffsspielers, der den Ball durch Laufmanöver nach vorne trägt. Meine Austauscheltern bestanden allerdings darauf, meine Eltern zuvor um Erlaubnis zu bitten, schließlich galt Canadian Football als verletzungsträchtiger und gefährlicher Sport. Hätten sie nachvollziehen können, wie ich meine Freizeit zu Hause verbrachte, wäre ihnen die Anfrage womöglich banal erschienen.

Meine Gastfamilie zeigte mir viele Orte in Kanada, und ich war begeistert vom Naturreichtum und der Schönheit des Landes. Insgeheim träumte ich davon, in den Rocky Mountains zum Bergsteigen zu gehen. Doch das hätten mir meine Gasteltern niemals erlaubt. So musste dies zunächst ein Traum bleiben, der sich erst einige Jahre später erfüllen sollte. Wie im Flug war die Zeit vergangen, und ich saß wieder im Flugzeug zurück nach Hause. Obwohl ich viel Stoff in der Schule nachholen musste, hatte mich die Zeit in Kanada tief beeindruckt. Sie hatte mir auch gezeigt, dass es fernab der Heimat noch viel Interessantes zu sehen gab, das nur darauf wartete, erkundet zu werden.

Auch wenn die Fremde noch so lockte, die Berge vor der eigenen Haustür waren mir stets Heimat und Spielwiese, auf der es nie langweilig wurde. Besonders angetan hatte es mir seit jeher der Geiselstein, das »Matterhorn der Ammergauer Alpen«. Von der Haustür weg waren wir als Jugendliche in gerade mal zwei Stunden mit dem Fahrrad durchs Halblechtal bis zum Fuß des Berges geradelt. Von allen Seiten zogen Kletterrouten auf den steilen Kalkzahn hinauf, die vier bis vierzehn Seillängen umfassten. Mit den Lebensjahren stiegen auch die Schwierigkeitsgrade der gekletterten Routen an. Aus der IV+ der Südverschneidung wurde die VI des »Schertelweges« und die VII von »Wunderland der Träume«.

Meine Eltern bewiesen stets großes Vertrauen, wenn es darum ging, uns als Teenager allein ziehen zu lassen. Keine Selbstverständlichkeit bei einem Zeitvertreib wie dem Felsklettern. Und Jugend neigt ja bekanntlich zum Überschwang. Eines Abends kam ich mit meinem Kletterpartner Martin erst nach 22 Uhr mit dem Fahrrad aus dem Gebirge zurück. Weil es uns gar so gut gefallen hatte, hatten wir noch eine zweite Route angehängt und waren in die Dunkelheit geraten. Das Einzige, was ich zu Hause zu hören bekam, war: »Anscheinend war’s gut? Was seid ihr geklettert, erzähl!« Da hatte es Martin nicht so einfach gehabt. Seine Eltern waren kurz davor gestanden, die Bergwacht zu alarmieren.

Natürlich war irgendwann auch der erste Rückschlag fällig. Eine feuchte Kletterschuhsohle wurde mir bei einem Aufrichter in den »Plattenrissen« am Geiselstein zum Verhängnis. Die überstreckte Schuhspitze glitt urplötzlich von der kleinen Trittleiste ab. Ehe ich mir dessen bewusst wurde, stürzte ich auch schon in die Tiefe und riss einen geschlagenen Haken aus. Nur der selbst gelegte Klemmkeil hielt. Als ich wieder zu mir kam, hing ich 15 Meter tiefer neben meinem Sicherungspartner im Seil. Zum Glück war mir nicht das Geringste passiert. Mein Kletterpartner hatte sich beim Sichern mehr verletzt als ich, da ihm die Wucht meines unvermittelten Sturzes die Hände an einen Felsvorsprung gerissen hatte. Doch der Schock saß tief. Ich benötigte lange Jahre, um mich beim Alpinklettern wieder ganz wohlzufühlen.

Noch mehr als das Felsklettern hatten es mir aber Ski- und Hochtouren angetan. Nach ersten Tourenwochen in der näheren Umgebung verschlug es uns schon bald ins Hochgebirge. Ötztaler, Zillertaler, Stubaier Alpen oder Bernina – ich konnte nicht genug davon bekommen. Nachdem diese Ziele am Alpenhauptkamm aber weiter entfernt lagen, mussten wir uns, waren wir nicht mit der Jugendgruppe unterwegs, dafür einen älteren Freund angeln, der schon den Führerschein hatte, oder mit dem Zug fahren. So blieb es über die restliche Schulzeit hinweg. Die Kollegstufe, die das Ende meiner Gymnasialzeit einläutete, brachte zwar einen größeren Lernaufwand mit sich, doch die lang ersehnte Mobilität in Form von Führerschein und dem elterlichen Auto wog diesen Nachteil bei Weitem auf. Endlich konnten wir unseren Aktionsradius auch ohne Chauffeur auf weiter entfernt liegende Ziele ausdehnen. Vom Ostallgäu aus waren viele Gebiete der österreichischen und Schweizer Alpen an einem Wochenende erreichbar.

Das bevorstehende Abitur setzte dem munteren Treiben vorübergehend ein Ende, schließlich ging es nun ums Ganze. Das hatten meine Kameraden und ich kapiert. Wir waren nicht faul – was uns gelegentlich Lehrkräfte vorwerfen mochten –, wir favorisierten lediglich ein optimales Verhältnis von Aufwand zu Nutzen. Warum doppelt so lange lernen, wenn man mühelos mit einer Drei statt einer Eins durch die Schulaufgabe rutschen konnte? Die Zeit ließ sich getrost mit sinnvolleren Dingen verbringen, zum Beispiel mit Klettern. Die Noten des Abiturs jedoch würden von Dauer sein und über eine Studienkarriere entscheiden. Dafür lohnte es sich, zu büffeln, auch wenn es schwerfiel.

Alix

Als Kind und Jugendliche ging ich meist gern zur Schule. Vor allem die Zeit der Oberstufe, in der man eine gewisse Eigenverantwortlichkeit entwickeln konnte, kam mir sehr entgegen. Man konnte Kurse nach seinen Interessen belegen, andere wiederum abwählen. Als Leistungskurse belegte ich Physik und Deutsch. Mit großem Interesse lernte ich viele der klassischen deutschen Schriftsteller kennen. Nur mit der mittelhochdeutschen Literatur konnte ich mich überhaupt nicht anfreunden, ebenso wenig wie mit Science-Fiction. In Physik schrieb ich meine Facharbeit, beim Deutschen Elektronen-Synchrotron in Hamburg. Schulische Erfolge flogen mir indes nicht unbedingt zu. Ich hatte oftmals mehr Fleiß als Talent und musste mir gute Noten erarbeiten. Das große Latinum erlangte ich ohne rechte Leidenschaft. Ebenso wenig schien ich komplexe biologische Zusammenhänge zu begreifen. Physik und Mathematik wurden in der Oberstufenzeit meine Lieblingsfächer, vor allem wegen der Lehrer. Insbesondere in Mathematik hatte ich einen Lehrer, den ich noch heute für seine Gabe bewundere, komplizierte Sachverhalte nachvollziehbar zu erklären.

In Sport war ich nie eine große Leuchte. Bei Ballspielen tat ich mich wegen eines Augenfehlers schwer, da mir die nötige Feinkoordination beim Fangen und Werfen fehlte. Bei allen anderen Sportarten war ich meist auch nur Mittelmaß. Schon damals zeigte sich jedoch, dass mir am ehesten die Langzeitausdauer lag. Heute muss ich ein wenig schmunzeln, wenn ich mich frage, ob mein damaliger Sportlehrer wohl meinen Werdegang vom Schulsportmuffel zur fanatischen Höhenbergsteigerin mitverfolgt hat.

Insgesamt verbrachte ich eine eher behütete Kindheit und Jugend. Erst spät, im Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren, entwickelte ich eine gewisse Abenteuerlust. Partout bildete ich mir den Motorradführerschein ein. Um ihn mir zu finanzieren, jobbte ich im Büro der kleinen Fahrschule, bei der ich meine Fahrstunden nahm, und legte jede Mark für Prüfung und Motorrad zurück. Als es schließlich so weit war, kaufte ich mir von meinen Ersparnissen zusammen mit meinem Vater eine silberne BMW R50 S, die mein ganzer Stolz wurde. Mit ihr unternahm ich viele Ausflüge, die mich auch bis in die Alpen führten. Oft war ich allein unterwegs, machte mir aber keine Gedanken wegen der Sicherheit. Mittlerweile hatte ich ein gutes Selbstvertrauen entwickelt und wusste, ich würde, auf mich gestellt, zurechtkommen.

Das Abitur kam mit schnellen Schritten und war noch rascher wieder vorbei. Plötzlich hatte die Schulzeit ein Ende. Ich konnte jeden weiterführenden Bildungsweg beschreiten, den ich wollte. Nur, was wollte ich eigentlich? Studieren? Und wenn, wo? Wenn ich in München studierte, konnte ich viel Zeit mit Skifahren verbringen. Die Berge wären dann sozusagen »vor der Haustür« und keine Fernreise mehr. Alles Weitere würde sich ergeben.

Luis

Noch im Herbst nach dem Abitur wurde ich zum Wehrdienst eingezogen. Von vornherein war für mich klar: Wenn schon Bundeswehr, dann wollte ich zu den Gebirgsjägern. Nachdem ich bei meiner Musterung mit 1,59 Meter vermessen worden war und damit als Eignung nur eine Zwei erhalten hatte, war dies unmöglich. Eines Tages flatterte indessen überraschend eine Einbestellung zur Nachmusterung vom Kreiswehrersatzamt in den Briefkasten. Erstaunt präsentierte ich mich erneut den Medizinern und fragte mich, was sie nun wohl mit mir vorhatten. Sie wollten allerdings nur eines: Der Chef persönlich zückte ein Maßband, vermaß mich in einer Minute auf offizielle 1,62 Meter, verpasste mir eine Eins und schickte mich nach Mittenwald zum Gebirgsjägerbataillon 234.

Anscheinend war von ganz oben eine Anforderung erteilt worden, die sogar diesen Beamtenapparat zu einer Neuauflage des Verfahrens bewegt hatte. Wer nur wollte mir hier Gutes tun? Wie auch immer, ich war glücklich, dass es geklappt hatte. Einige meiner älteren Freunde beim Alpenverein hatten ihren Dienst im Mittenwalder Hochzug abgeleistet und mir viel erzählt. Der Hochzug ist eine Elitetruppe der Gebirgsjäger, die für Wegbereitung, Bergrettung und Ausbildung anderer Truppenteile verantwortlich ist. Dahin wollte ich auch. Fürs Klettern bezahlt werden – ein Traum. Doch der Sold betrug nur wenige Hundert Mark pro Monat und reichte kaum für das Nötigste. Und man ging auch nicht jeden Tag zum Klettern. Aber das sollte ich erst später herausfinden.

Um erst einmal in den Hochzug aufgenommen zu werden, musste man eine Eignungsprüfung bestehen. Diese hatte Felsklettern, Skifahren und Berglaufen zum Inhalt, und man musste in allen Disziplinen gut beschlagen sein. Ich bestand und wurde nach der Grundausbildung zum Hochzug versetzt. Schon beim Aufnahmeritual zeigte sich, dass es dort etwas anders zuging. Man musste in voller Montur mit Eisgeräten durch einen Wasserfall klettern. Allerdings im Sommer. Oder wurde im Winter mit einem Schlauchboot die steile Skipiste hinuntergeschickt. Unser Zugführer war ein vollbärtiger, etwas bärbeißiger Partenkirchner und ein Hüne von einem Mann, der aber das Herz am richtigen Fleck hatte. Nicht nur einmal bewies er, dass ihm an Jedem gelegen war, und oft genug stellte er sich vor uns, wenn wieder einmal ein Dummer gesucht wurde.

Um die so oft vorhandene leere Zeit zu füllen, fielen uns natürlich alle möglichen Streiche ein. Mit dem Unimog veranstalteten wir Geländefahrübungen, bei der Instandsetzung bemalten wir die Fahrzeuge mit allerlei versteckten Kunstwerken in Tarnfarben oder verabschiedeten uns am Schießplatz ins Gebüsch, um ein Nickerchen zu halten. Wenn man eine Blutwurstdose – das »Lieblingsgericht« jeder Einmannpackung – verkehrt herum auf einen brennenden Esbit-Würfel stellte, gab dies einen hochexplosiven Treibsatz ab. Sobald der Inhalt zu kochen begann, wölbte sich die Dose auf und flog schließlich in hohem Bogen in die Luft, eine fettige rote Spur der Verwüstung hinter sich herziehend. Die berühmt-berüchtigte »Rotwurstbombe« wurde schon bald zum Schrecken des Unteroffizierslehrgangs.

Unsere Scherze richteten sich jedoch nie gegen einzelne Schwache, sondern meist gegen die machtvollen Vorgesetzten. Nicht zuletzt waren sie auch Ausdruck unserer Frustration, die sich durch Sinn- und Zwecklosigkeit aufbaute. So war ich auch nicht allzu traurig, als sich meine Dienstzeit allmählich ihrem Ende entgegenneigte. Ich hatte interessante Leute kennengelernt, einige Freundschaften begleiteten mich weiterhin. Ansonsten hatte ich der Bundeswehr aber nur wenig abgewinnen können.

Alix

Meinen Einstieg in die Welt der Berge fand ich über den alpinen Skilauf. Vor der Familiengründung waren meine Eltern begeisterte Skifahrer gewesen. Mit vier Kindern »in der Bütt« konnten sie sich teure Skiurlaube aber nicht mehr leisten. Trotzdem wollten sie uns die Sportart, die sie selbst so begeistert ausgeübt hatten, näherbringen. So durfte jedes Kind im Winter vor der Einschulung für vierzehn Tage mit den Eltern nach Flims in Graubünden zum Skilaufen fahren. Die anderen Kinder wurden in der Zeit bei den Großeltern oder Freunden untergebracht.

Die Berge waren eine ganz andere Welt. Tief eingeschnittene Täler, von mauerartigen Bergzügen umschlossen, die dazwischenliegende kleine Ortschaften und Siedlungen regelrecht einkesselten – eine schon beinahe klaustrophobische Atmosphäre im Vergleich zum offenen Flachland rund um Hamburg oder zur Seeküste. Dort kann man montags schon sehen, wer sonntags zum Kaffeetrinken kommt. Oben bot sich dann ein ganz anderes Bild: Unendlich weit reichte der Blick, über Berg und Tal, Regionen und Ländergrenzen hinweg. Ein Gefühl von Unbeschwertheit und Freiheit durchströmte mich bei diesem Anblick. Ich war begeistert, das Feuer brannte.

Mit dreizehn und vierzehn Jahren durfte ich zusammen mit meinen Bremer Cousinen in den Osterferien Skiurlaub am Fanningberg im österreichischen Lungau machen. Ich konnte es jedes Mal kaum erwarten, wieder in die Berge zu kommen. Dann jedoch folgte eine lange Durststrecke. Erst nach dem bestandenen Abitur kam ich mit neunzehn Jahren wieder zum Skifahren. Als Belohnung schenkte ich mir selbst einen Skiurlaub mit meiner Freundin Bettina in St. Anton am Arlberg. Diesen »Abi-Ferien« folgten viele weitere gemeinsame Skireisen: Weihnachtsferien, Fasching, Osterferien – immer wieder St. Anton, und immer zusammen mit Bettina. Der Arlberg mit seinen phantastischen Freeride-Möglichkeiten wurde meine Winter-Loge. Bis ich zu Beginn des Studiums dann das Skitourengehen mit dem Bergsteigen und Klettern für mich entdeckte und beinahe augenblicklich dem Pistenrummel den Rücken kehrte.

Luis

Schon vor meiner Entlassung aus der Bundeswehr hatte ich beschlossen, Sport zu studieren. Zwischen dem Ende meiner Dienstzeit und dem Eignungstest für das Sportstudium lag nun aber noch ein Dreivierteljahr, und diese Zeit wollte ich nicht ungenutzt verstreichen lassen. Während der Wehrdienstzeit hatte ich meine Ausbildung zum Fachübungsleiter Hochtouren beim Deutschen Alpenverein vollendet und erkannt, dass mir diese Art von Tätigkeit Spaß machte. Mein Vater hatte mir einstweilen einen Praktikumsplatz bei einer Bergschule verschafft, da er der Auffassung gewesen war, ich sollte auch einmal die Bergführerausbildung angehen.

Der einzige Haken: Das Unternehmen befand sich in Ecuador, und ich sprach kein Wort Spanisch. Das war aber eher ein Abenteuer als ein Hindernis. Begeistert sagte ich Marco Cruz von Expediciones Andinas zu und landete schon bald darauf in Quito, der Hauptstadt Ecuadors. Mit diversen Gruppen, darunter auch einigen aus Deutschland, bestieg ich als Hilfsbergführer die Fünf- und Sechstausender Ecuadors, Chimborazo, Cotopaxi, Cayambe, Carihuayrazo, Antizana und viele mehr, die meisten gleich drei, vier oder fünf Mal. Marco war ein sehr einfühlsamer und geduldiger Lehrer, der mir vieles beibrachte, auch in Hinsicht auf das Höhenbergsteigen. Mit mehr als 500 Chimborazo-Besteigungen war er nicht nur der erfahrenste Führer Ecuadors, er war auch der erste UIAGM-Bergführer des Landes (nach internationalen Standards staatlich ausgebildet) und kannte sich auf der ganzen Welt aus.

Er und seine Frau Ximena, eine gelernte Reisekauffrau, die im Unternehmen mitarbeitete, waren allerdings die Einzigen der gesamten Belegschaft, die Englisch sprachen. So war ich vom ersten Augenblick an gezwungen, mich mit Hand und Fuß oder auf Spanisch zu verständigen. Entsprechend schnell lernte ich die Sprache. Schon bald hatte ich unter meinen Kollegen auch Freunde gefunden, die allesamt in Riobamba wohnten, dem Sitz des Unternehmens. Diego und Ramiro, beide Bergführer, oder Gloria, die Sekretärin, nahmen mich auch nach Feierabend mit, um Ausflüge zu unternehmen oder mit ihren Freunden feiern zu gehen. So lernte ich neben Höhenbergsteigen und Spanisch auch noch Salsa tanzen und lateinamerikanische Mädchen kennen.

Am Ende der Bergsteigersaison war ich ganz und gar nicht glücklich, dass damit auch meine Zeit in Ecuador zu Ende ging. Aber der Weiterflug war bereits gebucht und unverrückbar. In den verbleibenden Wochen wollte ich noch einmal Kanada und meine Freunde vom Schüleraustausch wiedersehen. So verabschiedete ich mich von Ecuador mit dem Vorsatz, schon bald wiederzukommen, und reiste in den nördlichen der beiden amerikanischen Kontinente weiter.

Die ersten beiden Wochen meines Aufenthalts verbrachte ich in Calgary und sah meinen ehemaligen Austauschpartner Jim und viele Freunde von damals wieder. Dann kam mein alter Jugendfreund Christoff aus Oberstdorf nach, wir kauften uns einen großen Chevy Station Wagon, in dem man bequem auf der Ladefläche schlafen konnte, und reisten quer durch Kanada bis zur Westküste nach Vancouver. Auf dem Weg dorthin besuchten wir die schönsten Skigebiete und unternahmen eindrucksvolle Skitouren in den Rocky Mountains. Irgendwann musste ich dann zurück nach Deutschland, während Christoff mit unserem Vehikel an der Westküste entlang bis nach Kalifornien weiterreiste. Insgeheim beneidete ich ihn, doch auf der anderen Seite war ich auch ein bisschen froh, nach so langer Zeit endlich wieder einmal nach Hause zu kommen und Familie und Freunde wiederzusehen. Am Flughafen verabschiedeten wir uns herzlich voneinander, und ich bestieg meine Maschine nach München. Für mich war damit das Ende meines Globetrotter-Daseins gekommen, nun begann der Ernst des Lebens mit Studium und Beruf. So oder so ähnlich sah ich die Lage damals jedenfalls. Später wünschte ich noch öfter, ich hätte diese Phase meines Lebens länger ausgelebt. Innerhalb dieser kurzen Zeit hatte ich mehr fürs Leben gelernt als während Jahren meines Studiums. Auf eigenen Füßen zu stehen kann man sich nämlich nur selbst beibringen.  

Lehrjahre, in den Alpen wie im Leben

Alix

Ich verbrachte eine glückliche und erfüllte Jugend, und doch fühlte ich mich mit achtzehn Jahren nicht wirklich erwachsen. Nach dem Abitur war ich völlig orientierungslos, was ich einmal beruflich anfangen sollte. Zunächst bildete ich mir ein, Medizin sei vielleicht das richtige Studium. Ich wollte Karriere machen, eine erfolgreiche Ärztin werden, einen gut aussehenden Chefarzt heiraten … So war die Idee, aber natürlich kam alles ganz anders. Irgendwie können wir Menschen nicht anders. Wir machen Pläne über Pläne. Und dann sind wir ganz erstaunt, wenn die Rechnung nicht aufgeht. Mein Plan mit dem Medizinstudium funktionierte jedenfalls überhaupt nicht. Gleich im ersten Semester musste ich mir eingestehen, dass das nicht das Richtige für mich war. Da kam mir eine Allergie gegen Desinfektionsmittel, die ich bei einem Praktikum im Krankenhaus entwickelte, gerade recht, um meine Karriere als Ärztin an den Nagel zu hängen, bevor sie überhaupt begonnen hatte.

Ich wechselte auf den Studiengang Diplomgeografie. Noch heute ist mir nicht ganz klar, was man damit eigentlich beruflich anfängt. Dennoch hatte ich dieses Fach aus reinem Interesse gewählt und studierte es mit viel Begeisterung. Gerne erinnere ich mich an die vielen Exkursionen in die deutschen Mittelgebirge oder in die französische Bretagne, die ich im Rahmen des Studiums absolvierte, an die geologischen Geländepraktika auf dem Zugspitzplatt und in der Brentagruppe der Dolomiten.

Luis

Den Sporteignungstest hatte ich in der Tasche, doch wie nun weiter? Sport als Beruf, so viel war klar. Aber das war auch schon alles. Ursprünglich hatte ich mir Sportökonomie oder Diplom-Sport als Studiengang vorgestellt. Ein Termin bei der Studienberatung erbrachte allerdings, dass die Aussichten hierfür nicht zum Besten standen. Man empfahl mir, mich stattdessen für das Lehramt zu entscheiden, wenn ich denn schon unbedingt Sport studieren wollte. Also schrieb ich mich zum Wintersemester 1990 für das Studium zum Lehramt für die Fächer Sport und Englisch an der Universität in München ein und zog in die Großstadt. Erst während des Studiums offenbarte sich mir, dass man mit den Prognosen des Ministeriums, was den Lehrerbedarf anging, vorsichtig umgehen musste. Mitunter war das Ergebnis das genaue Gegenteil des Vorhergesagten. Doch da war es schon zu spät.