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ISBN 978-3-492-96938-3
April 2015
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015
Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München
Covermotiv: David Ryle/Getty Images (Frau), Finepic (Hintergrund)
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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In diesen Liedern suche du
Nach keinem ernsten Ziel!
Ein wenig Schmerz, ein wenig Lust,
Und alles war ein Spiel.
Conrad Ferdinand Meyer
Mit der Dämmerung krochen kupferrote Schatten aus den Ecken und verwoben sich mit Erinnerungen und Bildern längst vergangener Tage. Auch wenn der Hang zur Nostalgie nicht unbedingt zu Janas ausgeprägtesten Wesenszügen zählte, so fiel ihr der endgültige Abschied von der Wohnung ihrer Mutter doch schwer. Sie war hier aufgewachsen, wusste genau, wie man über die Flurdielen gehen musste, damit sie nicht knarrten, und auch das Quietschen der Wohnungstür war ihr nur allzu vertraut. Seit ihrer Kindheit hatte es geheißen, dass diese Tür geölt werden müsste, aber aus irgendeinem Grund war das nie passiert, als sei dieses Quietschen etwas, das zu der alten Wohnung unbedingt dazugehörte. Vielleicht hatte ihre Mutter nach dem Tod ihres Mannes absichtlich an jedem Relikt aus der Vergangenheit festgehalten, das Erinnerungen barg.
»Marla?« Keine Antwort. Den ganzen Tag schon hatte sich Janas jüngere Schwester in Schweigen gehüllt, war durch die Wohnung gegangen, hatte die alten Türen, die Küchenschränke und den Schuhschrank mit der verzogenen Klappe berührt. Schließlich war sie im Zimmer ihrer Mutter verschwunden. Nach kurzem Zögern schlug Jana den Weg dorthin ein und hielt mit der Hand auf der Klinke inne. »Marla?« Erneutes Schweigen. Jana wartete, doch als sich nach einigen Minuten immer noch nichts rührte, öffnete sie vorsichtig die Tür und betrat den Raum. Dunkelheit umfing sie, dann bemerkte sie die Silhouette am Fenster.
Ihre Schwester sah sie an und spielte mit einer Strähne ihres langen, mahagonifarbenen Haars, das ihr glatt bis zur Taille fiel. »Du ziehst das also wirklich durch?«
Ein rascher Atemzug hob Janas Brust. »Wir ziehen das durch.«
Die letzten feinen Strahlen des Abendlichts, die durch die Jalousien drangen, zerbrachen Marlas spöttisches Lächeln in Stücke. Sie hatte immer schon etwas Düsteres gehabt, selbst als kleines Kind hatte sie gewirkt wie ein Wesen aus einem Fantasyroman, ein elfenhaftes Mädchen, das einen lange schweigend mustern konnte, sodass man sich unweigerlich fragte, welche Geheimnisse sich hinter den grauen Augen verbargen.
»Klar, wir ziehen das durch.«
Sie ging an Jana vorbei in den Flur zu dem Karton, auf dem das Abendessen aus dem chinesischen Schnellimbiss angerichtet war. Jana hatte das Essen hierher verlegt, weil es so elend kalt war in den leeren Zimmern und sie am Abend vor ihrer Abreise nicht noch die ganze Wohnung heizen wollte. Also hatte sie nur den kleinen Heizkörper im Flur aufgedreht und alle Türen geschlossen, damit die Wärme nicht entweichen konnte.
Marla griff nach der einzigen Wasserflasche und hob sie an den Mund – etwas, was sie sich in Gegenwart ihrer Mutter nie erlaubt hätte und was Jana regelmäßig auf die Palme brachte. Als diese jedoch den herausfordernden Blick bemerkte, mit dem Marla sie bedachte, während sie die Flasche zurückstellte, beschloss sie zu schweigen. Sie wollte an diesem Abend nicht der Funke sein, an dem sich der nächste Wutausbruch ihrer Schwester entzündete.
»Ich möchte in dieser Wohnung bleiben.«
»Oh, bitte, Marla, das hatten wir doch alles schon. Du bist sechzehn. Selbst wenn ich es erlauben würde, glaubst du wirklich, das Jugendamt macht da mit?«
»Wir müssen es ja nicht offiziell machen.«
Jana nahm einen Plastikbecher, goss sich Wasser ein und beobachtete, wie die Kohlensäureperlen aufstiegen. »Du weißt doch selbst, dass das nicht geht.«
»Aber mich nach Marokko zu verschleppen, das geht, ja?«, fauchte Marla. »Sogar die Tante vom Jugendamt war misstrauisch.«
»Sie war nicht misstrauisch, sondern wollte wissen, wie meine Lebensplanung aussieht, damit ich nicht mit dir hungernd auf der Straße lande.« Jana dachte an das Treffen zurück. Sie fungierte nun als Marlas offizieller Vormund, und vor der Auswanderung musste natürlich sichergestellt sein, dass es ihrer jüngeren Schwester an nichts fehlte, dass sie die Schule weiter besuchen würde und in stabilen Familienverhältnissen lebte. Sie hatte unzählige Fragen über sich ergehen lassen müssen, und selbst wenn die Mitarbeiterin des Jugendamts sehr freundlich und verständnisvoll gewesen war, so hatte sie eine leise Anspannung nicht verleugnen können. Aber die Mitarbeiterin war dergleichen offenbar gewöhnt, und letzten Endes sprach nichts gegen die Ausreise.
»Und wie sieht deine Lebensplanung aus? Los, erzähl es noch mal. Und am besten, ohne dass der Name Joaquín dabei fällt, denn auf den können wir im Notfall ja nicht bauen, wenn du deine Ehe mit ihm ein zweites Mal in den Sand setzt.«
Jana stellte den Becher ab und sah ihre Schwester an. »Wir sind nicht von ihm abhängig. Es ist unser Leben, das ich dort aufbauen möchte. Du weißt doch, wie unglücklich ich in meinem Job war.«
»Dann such dir halt was anderes. In Bonn gibt es sicher auch Arbeitsstellen, und das ist nicht so elend weit weg von Köln wie Marokko.«
Dieses Gespräch hatten sie unzählige Male geführt, und Jana konnte den Verlauf schon auswendig herunterleiern. Sie holte tief Luft, wappnete sich. »Du weißt, dass du auch zu unseren Großeltern ziehen kannst.« Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, kam er auch schon, der Wutausbruch.
»Tolle Alternative! Du weißt doch genau, wie streng die sind!« Marla schnappte sich ihre Portion Nudeln, drehte sich um und lief in ihr Zimmer. »Aber dir ist es ja egal, wenn du mir mein Leben kaputt machst!«, rief sie noch. Dann warf sie die Tür mit einem Krachen ins Schloss, das die Wände erbeben ließ.
So viel zum gemeinsamen Abendessen, dachte Jana und setzte sich erschöpft im Schneidersitz auf den Boden. Als ihre Mutter vor sechs Monaten erfahren hatte, dass sie an einer aggressiven Form von Leukämie erkrankt war, hatte dies die beiden Schwestern eng zusammengeschweißt. In der Regel war ihr Verhältnis jedoch eher schwierig. Als ihre Schwester geboren wurde, war Jana gerade zwölf Jahre alt geworden. Sie erinnerte sich noch zu gut an das Gespräch, das ihr Vater vor Marlas Geburt mit ihr geführt hatte.
»Was hältst du von einem Geschwisterchen?«, hatte er sie gefragt.
»Nichts!«, war Janas gallige Antwort gewesen. Zwar war sie von dem Baby dann doch ebenso entzückt gewesen wie ihre Eltern. Aber die anfängliche Faszination verflog schnell, als sich der niedliche, zerknautschte Winzling als Dauerschreihals entpuppte, den man im Kinderwagen spazieren fahren musste und dessen Windeln unterwegs genau dann eindeutige Gerüche verströmten, wenn man auf den tollsten Jungen der Schule traf. Und dann die Babysitterdienste, die später in Fahrdienste übergegangen waren. Schließlich war die Phase gekommen, in der die kleine Schwester die große um Ratschläge bat, und erst während dieser Zeit war eine Art Vertrautheit entstanden. Doch da hatte Jana schon nicht mehr zu Hause gewohnt.
Natürlich war es für Marla nicht leicht, da machte Jana sich nichts vor. Mit fünf hatte sie den geliebten Vater durch einen Autounfall verloren, und nun war ihre Mutter gestorben, die Marla mit ihren sechzehn Jahren doch noch so dringend brauchte. Bei dem Gedanken daran, dass sie, Jana, diese Lücke nun füllen musste, überkam sie leichte Panik. Sie seufzte. In diesem Jahr war wirklich alles zusammengekommen: die Krankheit ihrer Mutter, die Probleme im Job, und alldem vorausgegangen war die Trennung von Joaquín. Joaquín ...
Es war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie waren sich in der Uni über den Weg gelaufen, er in Hektik, weil er zu spät kam, sie mit dem Kopf über ein Buch gebeugt. Nur ein kurzer Augenkontakt im Vorbeigehen, und es war um sie geschehen. Er hatte schwarzes Haar, sehr dunkle Augen und warf ihr einen Blick zu, der Jana die Knie weich werden ließ – und ihm war es ähnlich ergangen, wie sie im Nachhinein erfahren hatte. Dann hatten sie sich erneut gesehen, in der Mensa, und sie hatte zum ersten Mal seine Stimme gehört, das weiche akzentgefärbte Deutsch. Er war in ein Gespräch mit einem Kommilitonen vertieft gewesen, und erst hatte Jana gedacht, er hätte sie nicht wahrgenommen. Doch dann hörte sie, was er sagte. Ich will wissen, wer sie ist.
Ihre Gedanken kehrten zurück in die Gegenwart. Wie hätte sie weitergemacht, hätte Joaquín nicht vor zwei Monaten angerufen? Hätte sie die Wohnung behalten und wäre in ihrem Job geblieben? Oder hätte sie einen neuen Job gesucht und wäre mit Marla aus dieser viel zu großen Wohnung ausgezogen? Hätte Marla dann auch einen Aufstand gemacht? Aber die Frage hatte sich nicht gestellt, denn während sie und ihre Schwester gerade versuchten, mit dem Tod der Mutter klarzukommen, hatte Joaquín angerufen und seine Hilfe angeboten. Und er hatte sie gebeten, zu ihm zurückzukehren, erst einmal rein freundschaftlich, wenn ihr das lieber war. Warum nicht alle Zelte abbrechen und es woanders neu versuchen? Es gab in Ceuta eine gute Privatschule für Marla, in der auf Englisch unterrichtet wurde. Und sie selbst könnte dort den Stoffhandel, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte und der seit vier Generationen ihrer Familie gehörte, weiterführen. Bereits zu Lebzeiten ihrer Mutter hatte das Unternehmen kaum genug abgeworfen, um den grundlegenden Lebensunterhalt zu decken, sodass diese noch einen weiteren Job in einer Versicherung angenommen hatte, um sich und Marla über die Runden zu bringen. Am Ende hatte sie das Unternehmen stillgelegt, mit der Absicht, sich etwas Neues einfallen zu lassen, etwas, das den Umsatz wieder ankurbeln würde. Doch dann war die Krankheit gekommen. Nun gehörte das Unternehmen Jana und Marla, und obwohl Jana sich nie wirklich dafür interessiert hatte, war der Ehrgeiz in ihr erwacht, aus dem Stoffhandel etwas Neues, Großes zu machen, etwas, das ihr und Marla ein unabhängiges Einkommen ermöglichen würde.
Während sie ihre Portion Nudeln aß, versuchte sie noch einmal ganz nüchtern die Situation, in der sie sich befand, vor sich auszubreiten. Wo genau stand sie? Die Beziehung mit Joaquín war wie ein sturmumtostes Meer gewesen. Sie hatten vor vier Jahren in ihrer anfänglichen Verliebtheit sehr überstürzt geheiratet. Jana war noch so jung gewesen, und an Joaquíns Seite war das Leben einfach aufregender. Vor über einem halben Jahr jedoch hatten sie eine Trennung auf Zeit vereinbart, denn auch das Wilde, Leidenschaftliche nutzte sich ab, wenn es von zu viel Stille umgeben war. Joaquín war in seine Heimatstadt Ceuta zurückgekehrt und hatte dort eine gut bezahlte Stelle angenommen. Jana hingegen war in ihrem Beruf unglücklich. Seit Jahren ackerte sie sich im Vertrieb eines großen Softwareherstellers ab, ohne dass sich auch nur die kleinste Aufstiegschance abzeichnete. Und nun hatte sie auch noch die Vormundschaft über ihre Schwester inne.
Und wo stand Marla? Sie hatte keine Eltern mehr, war erst sechzehn und wollte unbedingt hierbleiben, wo sie alles kannte. Aber was genau hielt sie?, überlegte Jana. Ihre beste Freundin war vor einem Jahr weggezogen, mit der anderen hatte sie sich zerstritten, und seit ihre Mutter vor zwei Monaten gestorben war, ging sie zunehmend weniger gern zur Schule. Die Mitschüler, die einfach nicht wussten, wie sie mit Marlas Verlust umgehen sollten, zogen sich zum Teil von ihr zurück, die anderen versuchten, sie mit hohlen Phrasen zu trösten, was angesichts ihrer völligen Überforderung durchaus verständlich war. Marla wurde immer abweisender, und auch ihre schulischen Leistungen ließen nach. Sie konnte den Eiertanz, den man um sie herum aufführte, nur schwer ertragen.
Wenn sie unbedingt hierbleiben wollte, könnte sie bei den Großeltern leben, die bei Weitem nicht so streng waren, wie Marla sie darstellte, und sie sicher sehr gerne bei sich aufnehmen würden. Das Problem lag woanders. Marla wollte in dieser Wohnung bleiben, wo alles an ihre Mutter erinnerte, das letzte bisschen Vertrautheit und Geborgenheit, das ihr noch blieb. Ihre Großeltern hatten mehrmals angerufen und Jana Vorwürfe gemacht. Dabei erboten sie sich, das »arme Kind« zu sich zu nehmen. Das wiederum wollte Marla nicht und brachte das in sehr drastischen und verletzenden Worten zum Ausdruck. Zwei Tage lang hatte Jana sich um eine Aussöhnung bemüht, hatte Marla erklärt, dass ihre Großeltern es nur gut meinten und ebenfalls trauerten.
»Ich habe meine Mutter verloren«, sagte Marla.
»Wir haben unser einziges Kind verloren«, sagten die Großeltern.
Am Ende waren sie alle wieder so weit, dass ein Gespräch möglich war, bei dem sich niemand anschrie.
Auch Jana vermisste ihre Mutter schmerzlich. Immer wieder überrollten sie Erinnerungen, und oft war sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Am stärksten spürte sie den Verlust, wenn sie morgens in die Küche ging. Denn dann fehlten der Kaffeegeruch und der Anblick ihrer Mutter, die am Fenster stand, ihre erste Tasse Kaffee in aller Frühe allein trank, sich mit einem Lächeln zur Tür drehte und »Guten Morgen, mein Liebling« sagte. Seit ihrer Kindheit war das so gewesen, und wann immer sie zu Besuch war, das Bild hatte sich nicht geändert. Aber sie war erwachsen, hatte ein eigenes Leben, während Marla den Halt, den die Mutter ihr gegeben hatte, von einem Moment auf den anderen verloren hatte.
Als die Erkrankung festgestellt worden war, hatten die Ärzte direkt gesagt, dass die Heilungschancen sehr, sehr schlecht stünden und eine Chemotherapie nur noch eine unnötige Qual bedeutete. Jana hatte ihre Wohnung gekündigt und war zu ihrer Mutter und ihrer Schwester gezogen. Ein Großteil ihrer Möbel war von den Nachmietern übernommen worden, den Rest hatte sie verkauft. Es war ihr nie schwergefallen, sich von Dingen zu trennen, sie sammelte keinen Krempel an, sondern sortierte alles mit demselben Pragmatismus aus, mit dem sie auch ihr Leben ordnete. Nur bei Joaquín hatte es ihr alle Sicherungen rausgeschlagen.
Ihre Mutter hatte damals lange Abende mit ihr in der Küche gesessen und sich bei vielen Tassen heißer Zimtschokolade über Joaquín unterhalten. Erst über Janas unbändige Verliebtheit, dann über die stürmische Ehe, dann über Joaquíns Schweigen und schließlich über die Trennung. Ihre Mutter hatte Ratschläge stets in sorgsam gewählte Worte zu kleiden gewusst, sodass es nie bevormundend wirkte in jener entnervenden Art, in der Ältere ihr Wissen und ihre Erfahrungen den Jüngeren zu vermitteln suchten. Zu gerne hätte Jana ihre Mutter auch nun wieder gefragt, was sie von ihrer Entscheidung hielt, nach Ceuta zu gehen, zu Joaquín und gleichzeitig in ein neues Leben. Und davon, sich behutsam in die Ehe zurückzutasten. Als wäre bei ihr und Joaquín jemals etwas behutsam geschehen ...
Marla saß im bläulichen Licht des Smartphone-Displays auf der Matratze, die seit einigen Tagen ihr Bett ersetzte, als eine Melodie den Eingang einer Chatnachricht anzeigte.
Alina: Bist du da?
Marla tippte eine Antwort. Ihre beste Freundin war vor einem Jahr nach Berlin gezogen, weil ihr Vater sich beruflich verändern wollte. Warum nur kündigten die Leute ihre guten Jobs und rissen die gesamte Familie aus ihrem Umfeld, nur um sich beruflich zu verändern?
Alina: Mein Vater hat nachgeschaut. Von Málaga nach Berlin sind es knapp dreieinhalb Stunden, von Köln nach Berlin mit der Bahn vier Stunden und zwanzig Minuten. Wir können uns also trotzdem im Sommer sehen, und du hast sogar eine kürzere Anreisezeit.
Marla musste lächeln. Das war typisch Alina, sie sah die Dinge immer von ihrer praktischen Seite und suchte auch in scheinbar ausweglosen Situationen stets eine Lösung, die alles gar nicht so schlimm erscheinen ließ. Die Reisezeit von Ceuta nach Málaga musste man natürlich auch noch einrechnen, aber nichtsdestotrotz hatte Alina irgendwie recht: Sie würden sich ebenso oft in den Ferien sehen können, wie wenn sie in Köln blieb.
Marla: Oder wir treffen uns auf halber Strecke und machen Urlaub in Spanien.
Natürlich wusste Marla, dass sie es ihrer Schwester schwer machte, aber manchmal überkam sie eine solch unbändige Wut, an der sie zu ersticken glaubte, wenn sie sie nicht herausließ. Aber die Wut war immer noch besser als die Traurigkeit, die sie in ein dunkles Loch sog. Sie sah sich in ihrem leeren Zimmer um und dachte daran, wie oft Mama ihr gesagt hatte, sie solle aufräumen oder mal in der Küche helfen. Und wie sie sie angezickt hatte. Überhaupt hatte sie sich Mama gegenüber oft danebenbenommen, und trotzdem war diese immer ruhig und geduldig geblieben. Sie hatte mit Jana gesprochen, darüber, dass sie alles anders machen würde, wenn Mama nur bei ihnen bliebe. Aber Jana hatte den Kopf geschüttelt und sie an sich gezogen.
»Nein«, hatte sie mit leisem Lachen in der Stimme gesagt, »das denkst du, aber das würdest du nicht. Ich habe es auch nicht getan. Wir sind nun einmal, wie wir sind. Das ist keine Boshaftigkeit, sondern Erwachsenwerden. Frag mal Oma und Opa, sie würden dir vermutlich dasselbe über Mama in dem Alter erzählen.«
Im Grunde genommen war Jana schon eine tolle Schwester, und sie konnte zuhören. Nur wenn es um Joaquín ging, setzte etwas bei ihr aus. Marla sah zu dem Stapel Prospekte, die sie sich über Ceuta besorgt hatte – ohne Janas Wissen, schließlich sollte diese nicht denken, sie freunde sich mit dem Umzug an. Sie wollte sich lediglich informieren, so, wie man einen Feind genau erforschte, ehe man in die Schlacht zog.
Ein Foto von ihr und Jana lag zwischen Papieren, die sie am kommenden Morgen vor der Abreise noch wegwerfen wollte. Sie rollte sich zur Seite, beugte sich vor und hob es auf. Wie war das denn dazwischengeraten? Vielleicht hätte sie beim Packen und Aussortieren doch etwas sorgsamer sein sollen. Hoffentlich war nicht noch mehr weggekommen. Nachdenklich sah sie das Foto an. Joaquín hatte es im letzten Jahr gemacht, als sie am ersten schönen Frühlingstag an den Rhein gefahren waren. Sie und Jana hatten die Arme umeinander gelegt und lächelten, Jana mit diesem Filmstarlächeln und sie, Marla, mit diesem geheimnisvollen Blick, als wollte sie in einem düsteren Drama die Hauptrolle spielen. Unwillkürlich zuckten Marlas Mundwinkel. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen. Wenn man sie so nebeneinander sah, konnte man kaum glauben, dass sie Schwestern waren. Jana hatte sehr helle Haut, rote Locken, die ihr nicht ganz bis zur Schulter reichten, und Augen, deren Farbe eine Mischung aus Braun, Grün und Grau war.
Marla dachte an das Gespräch, das sie vor einigen Tagen mit Jana geführt hatte, in einem dieser Momente, in denen das Leben wieder versöhnlicher schien und sie ihrer Schwester gestanden hatte, selbst nicht so genau zu wissen, wie es für sie weitergehen sollte. Sie wollte nicht fort, aber auch nicht zurück in die Schule, vor deren Besuchen ihr Tag für Tag mehr graute.
Jana hatte ihr einige Haarsträhnen, die an den tränenfeuchten Wangen geklebt hatten, zurückgestrichen. »Schau mal, Ceuta ist zwar in Marokko, gehört aber gewissermaßen zu Spanien, und Spanien mochtest du doch immer.«
»Im Urlaub«, war Marlas schniefend vorgebrachte Antwort gewesen.
»Wir fangen zusammen ganz neu an, okay? Du machst dort dein Abitur, bis dahin sind es keine zwei Jahre mehr. Und danach darfst du studieren, wo immer du willst.«
Es war das erste Mal seit Langem gewesen, dass ein Funken Interesse in Marla aufgeglommen war. »Und du sagst mir dann nach dem Abi nicht, dass ich unbedingt in Ceuta bleiben muss?«
»Nein, das würde ohnehin schwierig, es gibt da ja nur die Fakultät für Pädagogik und Geisteswissenschaften. Wenn schon, müsstest du nach Granada an die Universität.«
»Das versprichst du mir ganz fest, ja?«
»Ja, das tue ich.«
Marla tippte einen Abschiedsgruß an Alina und schloss das Chatprogramm. Ihr war nicht nach Geplauder. »Mama wollte, dass wir zusammenbleiben«, flüsterte sie, als würde das Aussprechen der Worte die Wünsche ihrer Mutter wieder greifbar machen. Sie öffnete den Fotoordner auf ihrem Handy und sah sich eines der letzten Bilder vor der Diagnose an. Sie waren an dem Tag gerade von einem Spaziergang zurückgekehrt, lachend und gut gelaunt. Als Marla das Foto gemacht hatte, stand ihre Mutter schräg zu ihr und sah sie an, weil sie sie gerufen hatte. Das kurze graue Haar war zerwühlt vom Wind, ihre Augen glänzten. Und sie war so unglaublich blass.
Jana räumte das Abendessen ab, stopfte Pappteller und leere Verpackungen in einen Müllbeutel. Müde strich sie sich einige gelöste Haarsträhnen hinter die Ohren, stellte den Müllsack neben die Eingangstür, ging noch einmal durch alle Räume, um sich zu vergewissern, dass nirgendwo mehr etwas von ihren Habseligkeiten herumlag, und betrat dann ein letztes Mal ihr altes Zimmer. Ohne die Möbel und all das Vertraute wirkte es fremd. Es war nicht mehr Janas Zimmer, sondern einfach nur ein Raum, den andere Menschen nun mit Leben füllen würden. Keine Erinnerungsflut mehr beim Eintreten, sondern einfach nur Dunkelheit, die eine von der Decke hängende Glühbirne mit milchig gelbem Licht in die Ecken trieb. Eine leer geräumte Wohnung hatte etwas Trauriges und irgendwie auch Unheimliches.
In dieser geisterhaften Stille war das plötzliche Klingeln des Handys so überlaut, dass Jana heftig zusammenfuhr. Sie sah auf das Display. Joaquín. Dann nahm sie das Gespräch an.
»Wie geht es dir?«, fragte er. Immer noch hatte er diesen leichten Akzent, den Jana so unwiderstehlich fand.
»Gut.« Sie klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter, gab sich geschäftig. Sie war seinerzeit diejenige gewesen, die die Trennung gewollt hatte, und sie wusste, dass die Gründe dafür nach wie vor bestanden, ganz gleich, wie sehr sie ihn immer noch liebte.
»Weißt du schon, wann ihr ankommt? Ich nehme mir frei und hole euch ab.«
Jana wollte ihm sagen, dass dies nicht notwendig sei, unterließ es jedoch. »Moment, ich sehe kurz in den Reiseunterlagen nach.«
Sie wusste, dass ihm der Tod ihrer Mutter ebenfalls naheging. Er war vor vier Monaten nach Deutschland gekommen, um sie noch einmal zu sehen, was ihrer Mutter viel bedeutet hatte. Denn sie hatte ihn sehr gemocht und war betrübt gewesen über die Trennung. Und Jana wiederum hatte es ihm hoch angerechnet, dass er keine Versuche gemacht hatte, ihre Trauer und Verstörtheit auszunutzen, um eine erneute Annäherung zu wagen, ehe sie so weit war. In diesen Momenten der Trauer, das wusste Jana nur zu gut, hätte sie sich sofort dazu hinreißen lassen, wieder mit ihm zu schlafen, und das hätte alles nur unnötig verkompliziert.
Als sie die Ausdrucke mit den Abfahrts- und Ankunftszeiten gefunden hatte, las sie ihm diese vor.
»Ihr bleibt ein paar Tage in Spanien?«
»Ja, ich dachte mir, das ist vielleicht das Richtige für Marla.« Blieb nur zu hoffen, dass Marla das genauso sah. Aber Jana wusste, dass ihre Schwester Andalusien schon lange mal sehen wollte, daher war sie zuversichtlich. Sie wechselte noch einige Worte mit Joaquín, dann entschuldigte sie sich mit der Begründung, sie sei müde, und beendete das Gespräch. Danach atmete sie tief durch und starrte auf das Handy in ihrer Hand. Obwohl sie noch nie in Ceuta gewesen war, wusste sie inzwischen viel darüber. Ein Überrest der Kolonialreiche, als Spanien noch Weltmacht gewesen war. Nachdem Jana Joaquín Mariscal kennengelernt hatte, wollte sie alles über seine Heimatstadt erfahren, als sei seine Herkunft der Zugang zu ihm und als könne sie darin ergründen, was es mit seiner Unnahbarkeit auf sich hatte, die eine immer noch ungebrochene Faszination auf sie ausübte und sie gleichzeitig abstieß.
Das Taxi holte sie morgens ab, als sich die Dämmerung in die bläulichen Reste der Nacht mischte. Laternen malten schmutzig weiße Lichtpfützen auf die vor Nässe glänzenden Straßen und Bürgersteige. In kleinen Tropfen lief der stetige Nieselregen an den Scheiben des Autos entlang. Marla saß neben Jana auf der Rückbank, starrte finster durch das Fenster und schwieg während der ganzen Fahrt zum Flughafen Köln/Bonn.
Erst als sie durch den Check-in waren, bemerkte Jana, wie sich die Starre in Marlas Gesicht löste. Ihre kleine Schwester liebte das Reisen, und der Flughafenatmosphäre konnte sie sich nicht entziehen. Auch Jana spürte eine erwartungsvolle Erregung in sich aufsteigen. Sie gingen in ein Café, und Jana bestellte einen Kakao für ihre Schwester sowie einen Kaffee für sich selbst. Während Marla die Sahne vom Kakao löffelte, wurde aus dem feindseligen Schweigen ein freundlicheres, einvernehmlicheres. Sie betrachteten den Trubel um sich herum, das Reisefieber der Leute. Man freute sich, aus dem kalten Deutschland ins wärmere Andalusien zu fliegen. Zehn Tage Aufenthalt hatte Jana eingeplant, für eine Tour, die in Córdoba beginnen würde.
Zwei Spanier nahmen am Tisch neben ihnen Platz. Einer von ihnen zwinkerte Marla zu, wurde aber mit einem kühlen Blick abgefertigt. Unvermittelt erinnerte sich Jana an ihre erste Reise mit Joaquín. Sie waren nach Córdoba in die Flitterwochen geflogen, und auf der Rückreise hatte er sich am Flughafen mit dem Mann an der Abfertigung auf Spanisch unterhalten. Es hatte sich herausgestellt, dass sie einen gemeinsamen Bekannten hatten, und so waren sie – typisch Südländer – sofort in ein herzliches Gespräch verwickelt, als wären sie Freunde, die voneinander bisher nichts geahnt hatten – zum großen Unmut der wartenden Touristen. Bei dem Gedanken daran lächelte Jana versonnen, und als sie Marla ansah, bemerkte sie auch auf deren Lippen ein kaum sichtbares Lächeln.
Als zum Boarding aufgerufen wurde, trat ein lebhafter Blick in Marlas Augen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, das spürte Jana. Natürlich begleitete die Trauer sie auch hier, aber es war anders, nicht dieser zähe Morast, in dem Marla in Köln zu versinken gedroht hatte.
Mittags landete die Maschine auf dem Aeropuerto de Córdoba, sechs Kilometer südwestlich der Stadt. Fünfzehn Grad zeigte eine Temperaturskala an, und obwohl graue Wolken über den Himmel zogen, war es trocken. Während der Fahrt mit dem Taxi zum Hotel kam sogar gelegentlich die Sonne hervor. Das Mittelmeerklima sorgte dafür, dass es selbst jetzt, im Januar, noch vergleichsweise mild war.
Sie hatten zwei Zimmer anstelle eines Doppelzimmers gebucht. Das war Janas Zugeständnis an Marla, die in einem Alter war, in dem man viel Wert auf Privatsphäre legte und einen Rückzugsraum brauchte, wenn man sich wieder gänzlich unverstanden fühlte. Zudem wusste Jana, dass ihre Schwester nicht wollte, dass sie ihre Stimmungen und ihre Trauer in jeder feinsten Nuance miterlebte.
Da Marla sich ein wenig ausruhen wollte, ging Jana spazieren. Sie war zu unruhig, um sich hinzulegen, und hatte immer schon bewundert, wie Marla es in jeder Stimmung und an jedem Ort schaffte zu schlafen, wenn ihr danach war.
Auf den Straßen erkannte Jana vieles von ihrer Reise mit Joaquín wieder: die weißen Häuser, die engen gewundenen Gassen, das maurische Gepräge. Sie hatten ihre Hochzeitsreise im Sommer gemacht, und Jana erinnerte sich an die flirrende Hitze, die kühlen Laken und die durch die Ritzen der altmodischen Holzläden fallenden Sonnenstrahlen, die auf Joaquíns Haut tanzten und über seine Hände auf ihren Körper flossen. Sie hatte seinen Atem auf ihren Lippen gespürt, und er hatte sie in ein Netz aus spanischen Worten eingehüllt, als er sich daranmachte, sie zu verführen.
Als Jana später ins Hotel zurückkehrte, war Marla wach und hungrig. Sie gingen in ein Restaurant, wo sie Tapas bestellten, danach tranken sie süßen spanischen Kaffee und schlenderten durch die Altstadt. Marla hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich vorn einige kürzere Strähnen gelöst hatten. Sie wirkte, als gehörte sie hierher, das Erbe ihres südfranzösischen Vaters, von dem Jana optisch so gar nichts hatte. Sie schlug mehr nach ihrer Mutter.
»Ich wünschte, wir könnten hierbleiben«, sagte Marla, als sie am Guadalquivir entlanggingen, jenem Fluss, den die alte Römerbrücke Puente Romano mit sechzehn Bögen überspannte. Durch das von vier Säulen flankierte Tor Puerta del Puente betraten sie die Brücke. Jana bemerkte Marlas Zögern, als berge das Überqueren des Flusses auch etwas Symbolisches.
»Mama hätte es gefallen«, flüsterte Marla, als sie schließlich an der Brüstung standen und hinunter zum Fluss sahen, wo die Überreste dreier Mühlen aus der Maurenzeit sanft vom Wasser umspült wurden.
»Ja, das hätte es.« Ihre Mutter hatte öfter zu Jana gesagt, dass sie auch mal nach Spanien wollte, später, wenn die Firma wieder besser lief. Und Jana hatte ihr versprochen, sie zu begleiten, ihr die Wege zu zeigen, die sie vorher mit Joaquín beschritten hatte.
Die Lichter der Stadt spiegelten sich im Wasser, dem der Glanz des frühen Abends einen goldenen Schimmer verlieh. Fast war es, als würde man in eine andere Zeit gleiten, eine Zeit lange vor ihr und Joaquín. Und gleichzeitig in jene Tage ihres ersten Besuchs, als sie mit ihm hier gestanden und dasselbe gedacht hatte. Seine Hand war über ihren Nacken geglitten, eine zurückhaltende Zärtlichkeit, denn was Liebkosungen in der Öffentlichkeit anging, war Joaquín altmodisch, als sei er vom Charakter andalusischer Dörfer, in denen er nie gelebt hatte, geprägt.
Zwei Tage blieben sie in Córdoba, dann setzten sie ihre Reise fort und fuhren durch Olivenhaine zu der kleinen, an eine Bergkuppe geschmiegten Stadt Baena mit ihren Renaissancepalästen. Von dort aus ging es weiter nach Priego de Córdoba, das auf einer felsigen Anhöhe inmitten einer grünen Berglandschaft lag. Als sie das in der näheren Umgebung gelegene Alcalá la Real erreichten, wo sie einen Tag lang blieben, ehe es weiterging nach Granada, bot ihnen der Turm der Burgkapelle einen malerischen Blick auf das Olivenland, Grün in allen Abstufungen und Schattierungen, das im Wind wogte. Das wilde Andalusien, in dem Jana so vieles entdeckte, was sie an Joaquín erinnerte. Vielleicht, weil er wirklich das Land in sich trug, vielleicht aber auch einfach nur deshalb, weil sie wusste, dass seine Vorfahren aus Granada stammten, eine reiche Händlerfamilie aus jenen Zeiten, von denen nur ein schwacher Abglanz zu sehen war. Als sie zwischen den alten Gemäuern stand, stellte sie sich noch Männer in der Kleidung reicher Händler aus dem siebzehnten Jahrhundert vor, jener Zeit, als die Familie nach Ceuta gegangen war. Und all diese Männer trugen Joaquíns Gesicht.
Es war das alte Spiel, die Jagd. Ricardo Mariscal lehnte sich gegen einen Pfeiler und beobachtete das dunkle Augenpaar, das ihn aus den düsteren Tiefen des Korridors heraus anstarrte. Die untergehende Sonne malte blutrote Muster auf die Säulen der Eingangshalle, schuf neue Schatten, die sich zu dunklen Winkeln verwoben. Stille. Dann ein Herumwirbeln, das Geräusch bloßer Füße auf dem Marmorboden. Kleine Glöckchen an den Fußgelenken klirrten, ein verführerischer Schmuck. Und so verräterisch. Ricardo lächelte. Sein Bruder Javier kam die Treppe heruntergeschlendert, blieb auf der letzten Stufe stehen und sah in die Richtung, wo die kleinen Glöckchen nun verstummten.