Cover

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Für Sarah, Emma,
Paula und Tom

Mit 67 farbigen Fotos und zwei Karten

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-966870

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Fotos: Heike Praschel

Redaktion: Antje Steinhäuser, München

Karten: Marlise Kunkel, München

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

»Es heißt ›Nomaden reisen nie ohne Grund‹;

reisen Sie mit offenem Herzen, und lassen Sie die

Begegnung mit Andersartigem Grund Ihrer Reise sein.«

aus: Marion Wisotzki, Erna Käpelli und Ernst von Waldenfels, Mongolei – Unterwegs im Land der Nomaden

Prolog

Karatas, Provinz Adana, Türkei,
Dezember 2010

Esme streicht ihre dunklen Haare zurück und drückt mir einen selbst gehäkelten Wollschal in die Hand.

»Komsure«, sagt sie – Nachbarschaft –, und ich nicke gerührt. Dann steigt sie zu den fünf Männern, die während der letzten Wochen den Strand, unser Winterquartier, mit uns geteilt hatten, ins Auto und schlägt die Tür zu.

Der Motor springt an, rumpelnd zuckelt die verbeulte Karosserie über den unebenen Weg, und bevor das Gefährt hinter der letzten Kurve verschwindet, reiße ich noch einmal den Arm nach oben.

»Bis in drei Wochen«, rufe ich halblaut. Dann wollen Esme und ihre Leute uns nämlich besuchen. Ich blicke zu den verlassenen Hütten hinüber.

Grau und leer stehen die kleinen Bretterverschläge vor der rauschenden Brandung, alte Fußabtreter verschwinden halb unter feuchtem Sand.

Der Kopf einer grau-weißen Hündin taucht auf. Zusammen mit ihren fünf Welpen schnüffelt sie zwischen den hölzernen Buden nach alten Fischresten, während das salzige Wasser um ihre Füße schwappt, und nach mehr als zwei Monaten haben wir den wenige Autostunden von der syrischen Grenze entfernten Strand ganz für uns alleine.

Der Wind rauscht durch die alten knorpeligen Bäume, die hinter unserem Lagerplatz aus dem Boden wuchern, vor uns leuchtet das Mittelmeer in einem geradezu unnatürlich strahlenden Grün.

Ich recke meinen Kopf in die warmen Strahlen der türkischen Sonne, und noch während ich die salzige Luft tief einatme, setze ich mich summend an den alten hölzernen Picknicktisch, den wir vom Strand ein kleines Stück bis zu unserem Laster getragen haben.

Es ist warm, zu warm für die Jahreszeit. Das T-Shirt klebt mir am Rücken, das Thermometer zeigt weit über zwanzig Grad, und Fred, unser vierjähriger Husky, liegt hechelnd im Schatten. Heute ist der 31. Dezember, Silvester. Seit zehn Monaten sind wir jetzt unterwegs und haben nach einer Asienreise und Tausenden von Kilometern quer durch Russland Anfang Dezember unser Winterlager in Karatas aufgeschlagen.

Nachdenklich streiche ich mir die dunkelblonden Locken hinter die Ohren und blicke auf das weiße Papier, das vor mir auf dem Tisch liegt. Dann zücke ich meinen alten Bleistift und beginne zu schreiben:

31. Dezember, Strandsäuberung

Die Fischer und Esme, knapp ein Dutzend Menschen, müssen den Strand verlassen, ein Bewohnen der alten Buden wird nicht länger geduldet, wenn Herbst und Winter zu Ende gehen. Wie jedes Jahr, so haben es uns die Fischer erzählt, will die Stadtverwaltung den Strand für die Touristen frei und sauber halten, sogar den riesigen Haufen Müll, der bis vor Kurzem Nase und Auge herausforderte, haben sie im Sand vergraben. Alles ist plötzlich so ruhig. Keine Boote mehr auf dem Wasser, kein Gehämmer an den baufälligen Hütten, keine allgegenwärtigen Stimmen … ein merkwürdiges Gefühl nach so langer Nachbarschaft. Die Einzigen, die bleiben, sind die Hunde, eine Mutter mit fünf Welpen und ein großer schwarzer Rüde, dem die Türken den Namen Barack Obama gegeben haben. Ich hoffe, wir können noch eine Zeit lang bleiben, denn hier fühle ich mich schon fast wie zu Hause …

Zu Hause … nachdenklich schweift mein Blick über den breiten Strand, der sich bis nach Karatas zieht, und leise schwingen die Gesänge der Muezzins über die sanften Hügel. Vor knapp einem Jahr hatte mein Zuhause noch ganz anders ausgesehen: hundert Quadratmeter Wohnfläche anstatt acht, fließend warmes Wasser und ein Badezimmer im Gegensatz zu einem baufälligen Klohäuschen ohne Dach, ein eingezäuntes Gemüsegärtchen statt eines kilometerlangen Strandes.

Von Weitem sehe ich meine drei Töchter über den Sand laufen, und die Welpen, die eben noch nach Futter gesucht haben, springen begeistert um ihre Füße … Einen besseren Tausch hätten wir wohl kaum machen können. Jetzt, fast ein ganzes Jahr später, bin ich mir dessen sicher.

Abschied von Deutschland,

März 2O1O

Stein in der Oberpfalz oder: Wie alles begann

»Wir fahren in die Mongolei!« Unser Entschluss stand fest, auch wenn die Leute immer wieder den Kopf schüttelten.

Ein alter Laster stand zur Abfahrt bereit in unserem Gemüsegarten, drückte seine Schnauze in den Rhabarber und das Heck in die Pfefferminze, der frisch ausgebaute Wohnkoffer duftete nach Holz und dem eingelassenen Öl, während die Kinder ihre letzten Kuscheltiere aus dem Haus trugen.

Feuerwehrrot leuchtete der Lack des Lasters, der an einigen Stellen abzuplatzen begann, darunter sah man Sanitäterweiß und Militärgrün. Das Gefährt hatte hundert PS, siebenundzwanzigtausend Kilometer und stolze siebenundvierzig Jahre auf dem Buckel, und hätte es ein vernarrter Schrottplatzbesitzer nicht gerettet, läge es jetzt wohl zu Einsatz-Übungszwecken zerflext in alle Einzelteile auf einem rostigen Haufen Altmetall.

Vor knapp einen Jahr hatten wir den Mercedes 710 tief im Osten Deutschlands entdeckt, verliebten uns auf Anhieb in seine runde Schnauze, und für sechstausend Euro nahmen wir ihn mit nach Hause und verwandelten den damals noch leeren Metallkasten in ein ausgebautes Wohnmobil.

Holz dominierte jetzt sein Inneres, das mit einer kleinen Sitzecke mit versenkbarem Tisch, einem Sofa, einer Küchenzeile samt Wasserkanister, Staukästen und abgerindeten Stämmen (an Regal und Schränkchen), verziert mit geschnitzten Sonnen, ausgestattet war. Auf dem selbst geschweißten Dachträger stapelten sich unsere acht Alukisten mit den nötigsten Kleidungsstücken, Spielzeug und Ersatzteilen, dazu ein Solarpaneel für den Strom im Wohnkoffer und die kleine Kinderbadewanne.

Am Heck hatten wir sogar eine ausklappbare, etwa zwei Meter lange Veranda angebracht, ein Metallgestell mit Holzbohlen, hinter dem sich während der Fahrt zusätzlicher Stauraum befand.

»Mit dem olden Koarn kumts dets grod amal die näxtn finf kilometa, obar niad waida!« Ein alter Bauer stand kopfschüttelnd vor unserem Staketenzaun und beäugte misstrauisch den plattgewalzten Gemüsegarten.

»Was wollts dets denn ibahapt in da Mongolai? Is des daham net schena?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Und anu mit de Kinda, des is doch vül zu gfärlich, mai, was da alls passiern ko!« Vorsichtig legte er seine raue Hand auf einen der Zaunpfosten und kratzte sich nachdenklich über den grauen Stoppelbart.

»Jo mai, als ich no jinga war, da war i scho mitgfarn, des hätt ma scho gfalln, aba etzad is a scho zspat … beim Russn, ja da wor ich a scho, damals im Kriag …«

Gedankenverloren schüttelte er den Kopf und griff dankbar nach der Flasche Bier, die ihm Tom über den Zaun reichte.

»Mai, des worn nu Zeitn!«

Langsam schritt ich am 1. März ein letztes Mal durch unser Haus. Merkwürdig hohl klangen meine Schritte in den leeren Räumen, und die gelbe Farbe leuchtete hell von den kahlen Wänden. Noch roch ich das Kümmelöl für Paulas Bauch in ihrem Zimmer, die Räucherstäbchen und das frisch geputzte Holz, doch schon bald würden, wie die Möbel, auch die altvertrauten Gerüche verschwunden sein und sich neue ausbreiten. Morgen schon würde jemand anderes hier wohnen!

Ich holte tief Luft und bückte mich nach einem kleinen Zettel, der auf der Fensterbank liegen geblieben war, eine Seite aus einem alten Urlaubsprospekt. »Ferien mit Pferd und Wa-« war gerade noch zu entziffern, und ich erinnerte mich.

Ich sah den selbst gebauten Planwagen vor mir, das hohe Dach, das mir vorkam wie einer dieser holländischen Hüte aus der Käsewerbung, hörte die klappernden Hufe der trabenden Pferde. Vor allem aber waren mir die vor Begeisterung leuchtenden Augen in Erinnerung geblieben, die Augen des jungen belgischen Pärchens, das schon seit neun Monaten mit Pferd und Wagen durch Deutschland unterwegs war und von der Hilfsbereitschaft der Bauern schwärmte, von Nächten am Lagerfeuer und den Geschichten aus alten Zeiten. Etwas benommen, mit der neugeborenen Emma auf dem Arm, hatten wir am Straßenrand gestanden und dem begeisterten Klang der Stimmen gelauscht, bis ein kleines Fünkchen davon in unsere Köpfe übergesprungen war.

Damals hatte alles begonnen, damals schon hatten wir den Entschluss gefasst, in die Welt zu reisen, und uns ein feierliches Versprechen gegeben:

In drei Jahren brechen wir auf.

Noch am selben Tag hatte ich eine Karte an die Wand genagelt, auf der wir die weiteste Fahrstrecke suchten, und spontan pinnten wir eine rote Nadel unter den dick gedruckten Namen eines Landes – die Mongolei …

Unser Traum von damals war jedoch zunächst schnell in Vergessenheit geraten. Tom hatte eine Zusatzausbildung zum Naturlehrer begonnen, ich war wieder schwanger geworden, und als unsere dritte Tochter Paula zur Welt kam, hatten wir die Belgier schon völlig vergessen. Nur der Pin blieb, als kleiner roter Punkt unter dem breit geschriebenen Namen der Mongolei, wie ein getrocknetes Samenkorn, das sich in unsere Gedanken gepflanzt hatte und nur eines Tropfen Wassers bedurfte, um zu wachsen.

Zwei Jahre waren vergangen, als plötzlich ein kleiner Trieb aus der harten Schale brach.

Unser Leben lag vor uns wie ein aufgeschlagenes Buch. Wir wussten, was wir erreicht hatten, und wir wussten, was uns erwartete. Und uns war klar, dass wir uns nicht vorstellen konnten, genau so und an diesem Ort unser restliches Leben oder auch nur die nächsten Jahre zu verbringen. Eine erneute Unruhe ergriff von uns Besitz.

Unsere Augen verweilten auf dem kleinen roten Punkt, suchten Halt an dem darübergeschriebenen Namen, und eine neue Idee wuchs in unseren Gedanken. Unsere Kinder sollten etwas anderes kennenlernen als den normalen Schulalltag und das Oberpfälzer Dörfchen. Sie sollten durch Erfahrungen lernen, sollten ihre Sinne gebrauchen und die Umwelt, Geschichte, fremde Kulturen und Sprachen selbst erfahren und hautnah erleben.

Der rote Pin wurde wieder zum Ziel, und wir stürzten uns in die Vorbereitungen. Innerhalb weniger Monate kauften wir uns den Laster, legten die Route in die Mongolei fest, beantragten Visa, kündigten Sparverträge und vermieteten unser Haus. Tom, der als Heilerzieher gearbeitet hatte, beantragte Elternzeit und nahm danach unbezahlten Urlaub. Ich hatte, bevor die Kinder kamen, zuletzt als Kinderpflegerin gearbeitet. Mit knapp dreißigtausend Euro Erspartem im Gepäck, unseren zwei kleinen Töchtern Emma (zu dem Zeitpunkt dreieinhalb) und Paula (ein Jahr und acht Monate) und unserem Hund Fred wollten wir uns auf den Weg nach Südosten machen. Unseren einzigen festen Termin hatten wir am 1. August, 10.20 Uhr in Ölgii in der Mongolei. Dort, knappe vierzehntausend Kilometer entfernt und fünf Monate später, würden wir Sarah, unsere Große, nach ihrem Schulabschluss wieder in die Arme schließen.

Nachdenklich knüllte ich die alte Seite des Urlaubsprospekts in meiner Hand zu einem kleinen Ball, lief ein letztes Mal über die hölzerne Treppe, bevor ich hinter mir die Tür ins Schloss zog. Drei Jahre! Ich runzelte die Stirn und rechnete. Morgen wäre unser selbst gesetztes Ultimatum abgelaufen, wir waren genau in unserem Zeitplan.

Die ersten Meter

Mit in die Seiten gestemmten Fäusten stand Emma vor dem bepackten Laster und schüttelte unnachgiebig den Kopf.

»Das Laufrad muss aber mit!« Sie verstand nicht, warum wir all die Sachen in den großen LKW packten, sie schaute auf das leer geräumte Haus und wirkte plötzlich traurig. Ihr neues Hochbett, ihre Rutsche und ihr Pferd auf Rädern, all das war verliehen und aus ihrem Zimmer getragen, und ich konnte zusehen, wie sie wütend wurde, stinkewütend. Jetzt auch noch das Laufrad! Stampfend lief sie in den Schuppen und griff nach dem roten Lenker.

»Wenn das Laufrad nicht mitdarf, dann fahr ich auch nicht.« Und das war ihr letztes Wort. Wild schüttelte sie die gelockten Haare und brüllte wie ein siegreicher Löwe, als ich nach dem Laufrad griff und es auf den Dachträger hievte.

»Wir fahren in die Mongolei«, hatten wir ihr immer wieder erklärt, doch Emma schien die Worte kaum zu hören, kniff die Lippen zusammen und beobachtete ihre kleine Schwester, die in der Nähe auf dem Boden saß und an einem trockenem Zwieback lutschte.

Noch einmal lief sie durch den Garten, grub ihre kleine Hand in einen letzten Schneeberg und legte ihr Lieblingsschneckenhaus auf einen großen Stein. Ihrer Meinung nach konnte all das doch nicht allzu lange dauern.

»Du musst aufpassen, wir kommen bald wieder!«, ließ sie das Schneckenhaus wissen. Dann griff sie nach meiner Hand und kletterte über die hohen Stufen in den engen Laster. Der Motor dröhnte, fast taten einem die Ohren weh, und erschrocken krallte sie ihre kleinen Finger in den Kindersitz. Paula saß auf meinem Schoß und nuckelte an ihrem Schnuller, während Emma ihre Stirn in Falten legte und prompt die unumgängliche Frage stellte: »Wann sind wir denn da?«

Ich strich ihr über die widerspenstigen Locken und blickte durch die schmale Heckscheibe nach draußen, sah unser Häuschen kleiner und kleiner werden. Ein paar vermummte Walker, die in einiger Entfernung über den verschlammten Boden stapften, hielten kurz inne, um zu winken, inzwischen waren wir bekannt wie bunte Hunde. Wir waren die, die in die Mongolei fuhren, oder zumindest die, die da hinfahren wollten. Denn ob wir jemals ankommen würden, stand freilich in den Sternen.

Noch nie hatten wir die europäischen Grenzen überschritten, hatten keine Ahnung von Fernreisen, hatten den Laster gerade mal einige Hundert Kilometer gefahren. Was, wenn etwas schiefging? Was, wenn die Kinder krank wurden? Und was, wenn uns alles zu viel würde? Wie würden wir ohne Toilette, fließend warmes Wasser und Bad zurechtkommen, wie ohne eine uns verständliche Sprache?

Wir hatten eine Entscheidung getroffen. Und das Haus war vermietet, für zwei Jahre. Ich schloss die Augen und holte tief Luft.

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