Rudolf Virchow

Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre

Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2022
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066115241

Inhaltsverzeichnis


Die CELLULARPATHOLOGIE
Vorrede zur ersten Auflage.
Vorrede zur zweiten Auflage.
Vorrede zur dritten Auflage.
Uebersicht der Holzschnitte.
Erstes Capitel. Die Zelle und die cellulare Theorie.
Zweites Capitel. Die physiologischen Gewebe.
Drittes Capitel. Physiologische Eintheilung der Gewebe.
Viertes Capitel. Die pathologischen Gewebe.
Fünftes Capitel. Die Ernährung und ihre Wege.
Sechstes Capitel. Weiteres über Ernährung und Saftleitung.
Siebentes Capitel. Circulation und Blutmischung.
Achtes Capitel. Das Blut.
Neuntes Capitel. Blutbildung und Lymphe.
Zehntes Capitel. Pyämie und Leukocytose.
Eilftes Capitel. Infection und Metastase.
Zwölftes Capitel. Theorie der Dyscrasien.
Dreizehntes Capitel. Das peripherische Nervensystem.
Vierzehntes Capitel. Rückenmark und Gehirn.
Fünfzehntes Capitel. Leben der Elemente. Thätigkeit und Reizbarkeit.
Sechzehntes Capitel. Nutritive und formative Reizung. Neubildung und Entzündung.
Siebzehntes Capitel. Passive Vorgänge. Fettige Degeneration.
Achtzehntes Capitel. Amyloide Degeneration. Verkalkung.
Neunzehntes Capitel. Gemischte, activ-passive Prozesse. Entzündung.
Zwanzigstes Capitel. Die normale und pathologische Neubildung. Geschichte des Knochens.
Einundzwanzigstes Capitel. Die pathologische, besonders die heterologe Neubildung.
Zweiundzwanzigstes Capitel. Form und Wesen der pathologischen Neubildungen.

Die
CELLULARPATHOLOGIE

Inhaltsverzeichnis

in ihrer Begründung auf

physiologische und pathologische Gewebelehre,

dargestellt

von

RUDOLF VIRCHOW,

ord. öff. Professor der pathologischen Anatomie, der allgemeinen Pathologie und Therapie an der Universität, Director des pathologischen Instituts und dirigirendem Arzte an der Charité zu Berlin.

Vierte, neu bearbeitete und stark vermehrte Auflage.

Mit 157 Holzschnitten.

Berlin, 1871.

Verlag von August Hirschwald.

Unter den Linden No. 68.

Der Verfasser behält sich das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen, besonders in's Englische und Französische vor.


Vorrede zur ersten Auflage.

Inhaltsverzeichnis

Die Vorlesungen, welche ich hiermit dem weiteren ärztlichen Publikum vorlege, wurden im Anfange dieses Jahres vor einem grösseren Kreise von Collegen, zumeist praktischen Aerzten Berlin's, in dem neuen pathologischen Institute der Universität gehalten. Sie verfolgten hauptsächlich den Zweck, im Anschlusse an eine möglichst ausgedehnte Reihe von mikroskopischen Demonstrationen eine zusammenhängende Erläuterung derjenigen Erfahrungen zu geben, auf welchen gegenwärtig nach meiner Auffassung die biologische Doctrin zu begründen und aus welchen auch die pathologische Theorie zu gestalten ist. Sie sollten insbesondere in einer mehr geordneten Weise, als dies bisher geschehen war, eine Anschauung von der cellularen Natur aller Lebensvorgänge, der physiologischen und pathologischen, der thierischen und pflanzlichen zu liefern versuchen, um gegenüber den einseitigen humoralen und neuristischen (solidaren) Neigungen, welche sich aus den Mythen des Alterthums bis in unsere Zeit fortgepflanzt haben, die Einheit des Lebens in allem Organischen wieder dem Bewusstsein näher zu bringen, und zugleich den ebenso einseitigen Deutungen einer grob mechanischen und chemischen Richtung die feinere Mechanik und Chemie der Zelle entgegen zu halten.

Bei den grossen Fortschritten des Einzelwissens ist es für die Mehrzahl der praktischen Aerzte immer schwieriger geworden, sich dasjenige Maass der eigenen Anschauung zu gewinnen, welches allein eine gewisse Sicherheit des Urtheils verbürgt. Täglich entschwindet die Möglichkeit nicht bloss einer Prüfung, sondern selbst eines Verständnisses der neueren Schriften denjenigen mehr, welche in den oft so mühseligen und erschöpfenden Wegen der Praxis ihre beste Kraft verbrauchen müssen. Denn selbst die Sprache der Medicin nimmt nach und nach ein anderes Aussehen an. Bekannte Vorgänge, welche das herrschende System seinem Gedankenkreise an einem bestimmten Orte eingereiht hatte, wechseln mit der Auflösung des Systems die Stellung und die Bezeichnung. Indem eine gewisse Thätigkeit von dem Nerven, dem Blute oder dem Gefässe auf das Gewebe verlegt, ein passiver Vorgang als ein activer, ein Exsudat als eine Wucherung erkannt wird, ist auch die Sprache genöthigt, andere Ausdrücke für diese Thätigkeiten, Vorgänge und Erzeugnisse zu wählen, und je vollkommener die Kenntniss des feineren Geschehens der Lebensvorgänge wird, um so mehr müssen sich auch die neueren Bezeichnungen an diese feineren Grundlagen der Erkenntniss anschliessen.

Nicht leicht kann Jemand mit mehr Schonung des Ueberlieferten die nothwendige Reform der Anschauungen durchzuführen versuchen, als ich es mir zur Aufgabe gestellt habe. Allein die eigene Erfahrung hat mich gelehrt, dass es hier eine gewisse Grenze gibt. Zu grosse Schonung ist ein wirklicher Fehler, denn sie begünstigt die Verwirrung: ein neuer, zweckmässig gewählter Ausdruck macht dem allgemeinen Verständnisse etwas sofort zugänglich, was ohne ihn jahrelange Bemühungen höchstens für Einzelne aufzuklären vermochten. Ich erinnere an die parenchymatöse Entzündung, an Thrombose und Embolie, an Leukämie und Ichorrhämie, an osteoides und Schleimgewebe, an käsige und amyloide Metamorphose, an die Substitution der Gewebe. Neue Namen sind nicht zu vermeiden, wo es sich um thatsächliche Bereicherungen des erfahrungsmässigen Wissens handelt.

Auf der anderen Seite hat man es mir schon öfters zum Vorwurfe gemacht, dass ich die moderne Anschauung auf veraltete Standpunkte zurückzuschrauben bemüht sei. Hier kann ich wohl mit gutem Gewissen sagen, dass ich eben so wenig die Tendenz habe, den Galen oder den Paracelsus zu rehabilitiren, als ich mich davor scheue, das, was in ihren Anschauungen und Erfahrungen wahr ist, offen anzuerkennen. In der That finde ich nicht bloss, dass im Alterthum und im Mittelalter die Sinne der Aerzte nicht überall durch überlieferte Vorurtheile gefesselt wurden, sondern noch mehr, dass der gesunde Menschenverstand im Volke an gewissen Wahrheiten festgehalten hat, trotzdem dass die gelehrte Kritik sie für überwunden erklärte. Was sollte mich abhalten, zu gestehen, dass die gelehrte Kritik nicht immer wahr, das System nicht immer Natur gewesen ist, dass die falsche Deutung nicht die Richtigkeit der Beobachtung beeinträchtigt? Warum sollte ich nicht gute Ausdrücke erhalten oder wiederherstellen, trotzdem dass man falsche Vorstellungen daran geknüpft hat? Meine Erfahrungen nöthigen mich, die Bezeichnung der Wallung (Fluxion) für besser zu halten, als die der Congestion; ich kann nicht umhin, die Entzündung als eine bestimmte Erscheinungsform pathologischer Vorgänge zuzulassen, obwohl ich sie als ontologischen Begriff auflöse; ich muss trotz des entschiedenen Widerspruchs vieler Forscher den Tuberkel als miliares Korn, das Epitheliom als heteroplastische, maligne Neubildung (Cancroid) festhalten.

Vielleicht ist es in heutiger Zeit ein Verdienst, das historische Recht anzuerkennen, denn es ist in der That erstaunlich, mit welchem Leichtsinn gerade diejenigen, welche jede Kleinigkeit, die sie gefunden haben, als eine Entdeckung preisen, über die Vorfahren aburtheilen. Ich halte auf mein Recht, und darum erkenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht zu vertheidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft unserer individuellen Entwickelung und unseres Einflusses auf das Allgemeine. Eine solche Vertheidigung ist keine That eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wissen, sondern auch in der Schätzung der Anderen. Diese Schätzung aber beruht zum grossen Theile auf der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen, das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte.

In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft, wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte conserviren und das Neue hinzufügen. Aber den Zeitgenossen trübt sich das Bild dieser Thätigkeit. Denn nur zu leicht gewinnt es den Anschein, als würde eben nur ein buntes Durcheinander von Altem und Neuem gewonnen, und die Nothwendigkeit, die falschen oder ausschliessenden Lehren der Neueren mehr als die der Alten zu bekämpfen, erzeugt den Eindruck einer mehr revolutionären, als reformatorischen Einwirkung. Es ist freilich bequemer, sich auf die Forschung und die Wiedergabe des Gefundenen zu beschränken und Anderen die „Verwerthung“ zu überlassen, aber die Erfahrung lehrt, dass dies überaus gefährlich ist und zuletzt nur denjenigen zum Vortheil ausschlägt, deren Gewissen am wenigsten zartfühlend ist. Uebernehmen wir daher jeder selbst die Vermittelung zwischen der Erfahrung und der Lehre.

Die Vorlesungen, welche ich hier mit der Absicht einer solchen Vermittelung veröffentliche, haben so ausdauernde Zuhörer gefunden, dass sie vielleicht auch nachsichtige Leser erwarten dürfen. Wie sehr sie der Nachsicht bedürfen, fühle ich selbst sehr lebhaft. Jede Art von freiem Vortrage kann nur dem wirklichen Zuhörer genügen. Zumal dann, wenn der Vortrag wesentlich darauf berechnet ist, als Erläuterung für Tafel-Zeichnungen und Demonstrationen zu dienen, muss er nothwendig dem Leser ungleichmässig und lückenhaft erscheinen. Die Absicht, eine gedrängte Uebersicht zu liefern, schliesst an sich eine speciellere, durch ausreichende Citate unterstützte Beweisführung mehr oder weniger aus und die Person des Vortragenden wird mehr in den Vordergrund treten, da er die Aufgabe hat, gerade seinen Standpunkt deutlich zu machen.

Möge man daher das Gegebene für nicht mehr nehmen, als es sein soll. Diejenigen, welche Musse genug gefunden haben, sich in der laufenden Kenntniss der neueren Arbeiten zu erhalten, werden wenig Neues darin finden. Die Anderen werden durch das Lesen nicht der Mühe überhoben sein, in den histologischen, physiologischen und pathologischen Specialwerken die hier nur ganz kurz behandelten Gegenstände genauer studiren zu müssen. Aber sie werden wenigstens eine Uebersicht der für die cellulare Theorie wichtigsten Entdeckungen gewinnen und mit Leichtigkeit das genauere Studium des Einzelnen an die hier im Zusammenhange gegebene Darstellung anknüpfen können. Vielleicht wird gerade diese Darstellung einen unmittelbaren Anreiz für ein solches genaueres Studium abgeben, und schon dann wird sie genug geleistet haben.

Meine Zeit reicht nicht aus, um mir die schriftliche Ausarbeitung eines solchen Werkes möglich zu machen. Ich habe mich deshalb genöthigt gesehen, die Vorlesungen, wie sie gehalten wurden, stenographiren zu lassen und mit leichten Aenderungen zu redigiren. Herr Cand. med. Langenhaun hat mit grosser Sorgfalt die stenographische Arbeit besorgt. Soweit es sich bei der Kürze der Zeit thun liess, und soweit der Text ohne dieselben für Ungeübte nicht verständlich sein würde, habe ich nach den Tafel-Zeichnungen und besonders nach den vorgelegten Präparaten Holzschnitte anfertigen lassen. Vollständigkeit liess sich in dieser Beziehung nicht erreichen, da schon so die Veröffentlichung durch die Anfertigung der Holzschnitte um Monate verzögert worden ist.

Misdroy, am 20. August 1858.

Vorrede zur zweiten Auflage.

Inhaltsverzeichnis

Der vorliegende Versuch, meine von den hergebrachten abweichenden Erfahrungen dem grösseren Kreise der Aerzte im Zusammenhange vorzuführen, hat einen unerwarteten Erfolg gehabt: er hat viele Freunde und lebhafte Gegner gefunden. Beides ist gewiss sehr erwünscht, denn die Freunde werden in diesem Buche keinen Abschluss, kein System, kein Dogma finden, und die Gegner werden genöthigt sein, endlich einmal die Phrasen aufzugeben und sich an die Sachen selbst zu machen. Beides kann nur zur Bewegung, zum Fortschritt der Wissenschaft beitragen.

Allein Beides hat doch auch seine niederschlagende Seite. Wenn man ein Decennium hindurch mit allem Eifer gearbeitet und die Ergebnisse seiner Forschungen dem Urtheile der Mitwelt vorgelegt hat, so stellt man sich nur zu leicht vor, dass mehr davon, dass vielleicht der grössere und wesentliche Theil allgemeiner bekannt sein könne. Dies war, wie die Erfahrung gelehrt hat, bei meinen Arbeiten nicht der Fall. Einer meiner Kritiker erklärt es aus der Breite meiner Beweisführungen. Mag es sein, allein dann hätte ich vielleicht erwarten dürfen, dass andere Kritiker die Beweise, welche sie hier nicht in ausreichender Weise fanden, in den Originalarbeiten aufgesucht hätten. Denn ausdrücklich hatte ich schon das erste Mal hervorgehoben, dass diejenigen, welche sich in der laufenden Kenntniss der neueren Arbeiten erhalten hätten, hier wenig Neues finden würden.

In der neuen Ausgabe habe ich mich darauf beschränkt, den Ausdruck zu verbessern, Missverständliches schärfer zu fassen, Wiederholungen zu unterdrücken. Gewiss bleibt auch so noch sehr Vieles der Verbesserung bedürftig, aber es schien mir, dass dem Ganzen der frischere Eindruck der mündlichen Rede und des freien Gedankenganges möglichst erhalten bleiben müsse, wenn es noch weiterhin als ein wirksames Ferment für die an sich so verschiedenartigen Richtungen des medicinischen Lebens und Wirkens dienen sollte. Denn das Buch wird seinen Zweck erfüllt haben, wenn es Propaganda, nicht für die Cellular-Pathologie, sondern nur überhaupt für unabhängiges Denken und Forschen in grossen Kreisen machen hilft.

Berlin, am 7. Juni 1859.

Vorrede zur dritten Auflage.

Inhaltsverzeichnis

Die neue Auflage, welche hiermit vor das Publikum tritt, hat wesentliche Umgestaltungen erfahren müssen. Der Verfasser hat sich genöthigt gesehen, die Form der Vorlesungen ganz aufzugeben, weil sie ihn hinderte, wesentliche Veränderungen, insbesondere Neuerungen in den Text zu bringen. Solche Aenderungen waren aber vielfach nothwendig. Denn die Wissenschaft, insbesondere die deutsche, ist in den drei Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage rüstig vorwärts geschritten, und wenn sie auch an den Grundanschauungen und Hauptlehrsätzen, welche hier dargelegt wurden, nichts geändert hat, so gestattete sie doch an vielen Punkten ein ungleich tieferes Eingehen.

Aber die weitere Entfernung von dem Ausgangspunkte gestattet auch eine freiere Uebersicht. Vieles hatte, wie es bei freien Vorträgen nur zu leicht geschieht, nur losen Zusammenhang; Anderes war, wie es die Demonstration bestimmter Präparate mit sich brachte, geradezu zerrissen. Dies ist dem Verfasser insbesondere bei der Durchsicht der inzwischen erschienenen englischen und französischen Uebersetzungen entgegen getreten, und er hat sich daher bemüht, durch schärferen Ausdruck, durch Umstellung des alten und Hinzufügung neuen Stoffes das Verständniss zu sichern. Deswegen sind auch noch einige neue Holzschnitte beigegeben.

Freilich war es nicht möglich, überall das Einzelne der Beweisführung zu liefern. Früher hatte der Verfasser darauf hingewiesen, dass diese Beweisführung in seinen Specialarbeiten zu suchen sei, aber Wenige haben darauf gehört, im Gegentheil haben Manche Prioritäts-Anklagen gegen den Verfasser erhoben, gleich als ob er seine Lehrsätze in diesem Werke zum ersten Male aufgestellt hätte. Es ist daher nöthig geworden, an den betreffenden Stellen die Citate der früheren Arbeiten anzugeben. Wenn der Verfasser sich dabei darauf beschränkt hat, fast nur seine eigenen Arbeiten zu citiren, so glaubt er sich damit verantworten zu können, dass es ganz unmöglich gewesen sein würde, alle Belegstellen oder Werke zu citiren, auf welche sich seine Anschauungen stützen, dass aber diejenigen Leser, welche die citirten Stellen nachsehen wollen, an denselben in der Regel die einschlagenden Leistungen auch der anderen Untersucher gewissenhaft vorgetragen finden werden.

Bei dem Zusammenstellen dieser Citate ist der Verfasser noch mehr, als er dies schon früher hervorhob, von der Thatsache durchdrungen worden, dass der grosse Erfolg des vorliegenden Werkes nur der leichten Form und nicht dem Inhalte zu danken ist. Denn in der That findet sich alles Wesentliche schon in seinen früheren Arbeiten ausgesprochen, ja es ist dort zum Theil weit klarer und schärfer ausgedrückt. Aber nur Wenige haben davon Kenntniss genommen, und Mancher nur zu dem Zweck, um es als sein Eigenthum zu verwerthen. Das kurzgefasste Büchlein aber ist in der kürzesten Frist in fünf Sprachen übersetzt worden; es hat einer grossen Zahl von Lesern, wie ich aus dem Munde Vieler weiss, eine dauernde Anregung gegeben, und so möge in der Freude darüber der Schmerz vergessen sein, dass eine strengere Form der Darstellung noch jetzt eine so geringe Theilnahme findet. Hoffentlich wird dieser Mangel durch die jetzige Auflage nicht befördert werden.

Dürkheim, am 26. September 1861.
Rud. Virchow.


Uebersicht der Holzschnitte.

Inhaltsverzeichnis
Seite
Fig. 1. Pflanzenzellen aus einem jungen Triebe von Solanum tuberosum 5
2. Rindenschicht eines Knollens von Solanum tuberosum 7
3. Knorpelzellen vom Ossificationsrande wachsender Knorpel 8
4. Verschiedene Arten von Zellen und Zellgebilden. a Leberzellen, b Bindegewebskörperchen, c Capillargefäss, d Sternzelle aus einer Lymphdrüse, e Ganglienzellen aus dem Kleinhirn 10
5. Freie Pflanzenzellenbildung nach Schleiden 11
6. Pigmentzelle (Auge), glatte Muskelzelle (Darm), Stück einer doppeltcontourirten Nervenfaser 14
7. Junge Eierstockseier vom Frosch 15
8. Zellen aus katarrhalischem Sputum (Eiter- und Schleimkörperchen, Pigmentzelle) 15
9. Epiphysenknorpel vom Oberarm eines Kindes 18
10. Zellenterritorien 19
11. Schema der Globulartheorie 23
12. Schema der Umhüllungs- (Klümpchen-) Theorie 23
13. Längsschnitt durch einen jungen Trieb von Syringa 25
14. Pathologische Knorpelwucherung aus Rippenknorpel 26
15. Cylinderepithel der Gallenblase 30
16. Uebergangsepithel der Harnblase 30
17. Senkrechter Schnitt durch die Oberfläche der Haut der Zehe (Epidermis, Rete Malpighii, Papillen) 32
18. Schematische Darstellung eines Längsdurchschnittes vom Nagel unter normalen und pathologischen Verhältnissen 35
19. A Entwickelung der Schweissdrüsen. B Stück eines Schweissdrüsenkanals 38
20. A Bündel des gewöhnlichen Bindegewebes, B Bindegewebs-Entwickelung nach dem Schema von Schwann. C Bindegewebs-Entwickelung nach dem Schema von Henle 40
21. Junges Bindegewebe vom Schweinsembryo 42
22. Schema der Bindegewebs-Entwickelung 43
23. Durchschnitt durch den wachsenden Knorpel der Patella 45
24. Knochenkörperchen aus einem pathologischen Knochen der Dura mater cerebralis 48
25. Muskelprimitivbündel unter verschiedenen Verhältnissen 51
26. Muskelelemente aus dem Herzfleische einer Puerpera 54
27. Glatte Muskeln aus der Harnblase 56
28. Kleinere Arterie aus der Basis des Grosshirns 60
29. Schematische Darstellung von Leberzellen. A Physiologische Anordnung. B Hypertrophie. C Hyperplasie. 90
30. Grosse Spindelzellen (fibroplastische Körper) aus einem Sarcoma fusocellulare der Rückenmarkshäute 94
31. Durchschnitt aus einer Epulis sarcomatosa des Unterkiefers 95
32. Stück von der Peripherie der Leber eines Kaninchens, die Gefässe injicirt 103
33. Injection der Capillaren der Rinde der Niere nach Beer 105
34. Injection der Gefässe der Rinde des Kleinhirns 106
35. Natürliche Injection der Gefässe des Corpus striatum eines Geisteskranken 107
36. Injectionspräparat von der Muskelhaut des Magens 108
37. Gefässe des Calcaneus-Knorpels vom Neugebornen 109
38. Knochenschliff aus der compacten Substanz des Femur 110
39. Knochenschliff (Querschnitt) 111
40. Knochenschliff (Längsschnitt) aus der Rinde einer sklerotischen Tibia 113
41. Schliff aus einem neugebildeten Knochen (Osteom) der Arachnoides cerebralis 116
42. Zahnschliff mit Dentin und Schmelz 117
43. Längs- und Querschnitt aus der halbmondförmigen Bandscheibe des Kniegelenkes vom Kinde 119
44. Querschnitt aus der Achillessehne des Erwachsenen 121
45. Querschnitt aus dem Innern der Achillessehne eines Neugebornen 122
46. Längsschnitt aus dem Innern der Achillessehne eines Neugebornen 123
47. Senkrechter Durchschnitt der Hornhaut des Ochsen nach His 126
48. Flächenschnitt der Hornhaut parallel der Oberfläche nach His 127
49. Das abdominale Ende des Nabelstranges eines fast ausgetragenen Kindes, injicirt 128
50. Querdurchschnitt durch einen Theil des Nabelstranges 129
51. Querdurchschnitt vom Schleimgewebe des Nabelstranges 131
52. Elastische Netze und Fasern aus dem Unterhautgewebe des Bauches 133
53. Injection der Hautgefässe, senkrechter Durchschnitt 137
54. Schnitt aus der Tunica dartos 138
55. A Epithel von der Cruralarterie. B Epithel von grösseren Venen 144
56. A Kleinere Arterie aus der Sehnenscheide der Extensoren 145
57. Epithel der Nierengefässe. A Flache Spindelzellen vom Neugebornen. B Bandartige Epithelplatte vom Erwachsenen 148
58. Ungleichmässige Zusammenziehung kleiner Gefässe aus der Schwimmhaut des Frosches nach Reizung (Copie nach Wharton Jones) 152
59. Geronnenes Fibrin aus menschlichem Blute 168
60. Kernhaltige rothe Blutkörperchen von einem sechs Wochen alten menschlichen Fötus 171
61. Rothe Blutkörperchen des Erwachsenen 172
62. Hämatoidin-Krystalle 177
63. Pigment aus einer apoplectischen Narbe des Gehirns 178
64. Häminkrystalle aus menschlichem Blute 179
65. Farblose Blutkörperchen 182
66. Farblose Blutkörperchen bei variolöser Leukocytose 183
67. Fibringerinnsel aus der Lungenarterie und ein Korn, aus dichtgedrängten farblosen Blutkörperchen bestehend, bei Leukocytose 184
68. Capillarstrom in der Froschschwimmhaut 185
69. Schema eines Aderlassgefässes mit geronnenem hyperinotischem Blute 187
70. Durchschnitte durch die Rinde menschlicher Gekrösdrüsen 208
71. Lymphkörperchen aus dem Innern der Lymphdrüsen-Follikel 211
72. Eiterkörperchen und Kerne derselben bei Gonorrhoe 219
73. Eingedickter käsiger Eiter 220
74. Eingedickter, zum Theil in Auflösung begriffener, hämorrhagischer Eiter aus Empyem 221
75. In der Fettmetamorphose begriffener Eiter 222
76. Durchschnitt durch die Rinde einer Axillardrüse bei Tättowirung der Haut des Arms 224
77. Das mit Zinnober, nach Tättowirung des Arms, gefüllte Reticulum aus einer Axillardrüse 225
78. Valvuläre Thrombose der Vena saphena 236
79. Puriforme Detritusmassen aus erweichten Thromben. A Körner des zerfallenden Fibrins. B Die freiwerdenden, zum Theil in der Rückbildung begriffenen Blutkörperchen. C In der Entfärbung begriffene und zerfallende Blutkörperchen 238
80. Autochthone und fortgesetzte Thromben der Cruralvenen-Aeste 243
81. Embolie der Lungenarterie 245
82. Ulceröse Endocarditis mitralis von einer Puerpera 246
83–84. Capillarembolie in den Penicilli der Milzarterie nach Endocarditis 247
85. Melanämie. Blut aus dem rechten Herzen 264
86. Querschnitt durch einen Nervenstamm des Plexus brachialis 273
87. Graue und weisse Nervenfasern 274
88. Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges 276
89. Tropfen von Markstoff: A aus der Markscheide von Hirnnerven nach Aufquellung durch Wasser, B aus zerfallendem Epithel der Gallenblase 277
90. Breite und schmale Nervenfasern mit unregelmässiger Aufquellung des Markstoffes 279
91. Vater'sches oder Pacini'sches Körperchen aus dem Unterhautgewebe der Fingerspitze 281
92. Nerven- und Gefässpapillen der Haut der Fingerspitze. Tastkörperchen 283
93. Grundstock eines spitzen Condyloms vom Penis mit Papillarwucherung 287
94. A Verticaldurchschnitt durch die ganze Dicke der Retina. B, C (nach H. Müller) Isolirte Radiärfasern 290
95. Theilung einer Primitiv-Nervenfaser 295
96. Nervenplexus aus der Submucosa des Darmes vom Kinde 297
97. Elemente (Ganglienzellen und Nervenfasern) aus dem Ganglion Gasseri 301
98. Ganglienzellen aus den Centralorganen. A, B, C Aus dem Rückenmarke. D Aus der Gehirnrinde 304
99. Die Hälfte eines Querschnittes aus dem Halstheile des Rückenmarkes 310
100. Schematische Darstellung des Nervenverhaltens in der Rinde des Kleinhirns nach Gerlach 312
101. Querdurchschnitt durch das Rückenmark von Petromyzon fluviatilis 314
102. Blasse Fasern aus dem Rückenmarke des Petromyzon fluviatilis 315
103. Ependyma ventriculorum mit Neuroglia. ca Corpora amylacea. 318
104. Zellige Elemente der Neuroglia 321
105. Schematischer Durchschnitt des Rückenmarkes bei partieller grauer Atrophie 324
106. Schema des Zustandes der Nerven-Molekeln, A im ruhenden, B im elektrotonischen Zustande nach Ludwig 339
107,I. Automatische Zellen aus der Flüssigkeit einer Hydrocele lymphatica 354
107,II. Automatische Zellen aus Enchondrom 355
107,III. Dieselben Zellen mit stärkerer Verästelung der Fortsätze 356
107,IV. Bewegliche Eiterkörperchen des Frosches nach v. Recklinghausen 357
107. Gewundenes Harnkanälchen aus der Rinde der Niere bei Morbus Brightii 372
108. Parenchymatöse Keratitis 377
109. Parenchymatöse Keratitis 379
110. Kerntheilung in den Elementen einer melanotischen Geschwulst der Parotis 382
111. Markzellen des Knochens nach Kölliker 383
112. Kerntheilung in Muskelprimitivbündeln im Umfange einer Krebsgeschwulst 385
113, I. Wucherung (Proliferation) des wachsenden Diaphysenknorpels von der Tibia eines Kindes (Längsschnitt) 387
113, II. Proliferation eines Myxosarkoms des Oberkiefers 389
114. Fettzellgewebe aus dem Panniculus. A Das gewöhnliche Unterhautgewebe mit Fettzellen, B Atrophisches Fett 406
115. Interstitielle Fettwucherung der Muskeln 407
116. Darmzotten und Fettresorption. A Normale Darmzotten, B Zotten im Zustande der Contraction. C Menschliche Darmzotten während der Chylusresorption, D bei Chylusretention 410
117. Die aneinanderstossenden Hälften zweier Leberacini (Zonen der Fett-, Amyloid- und Pigmentinfiltration) 415
118. Haarbalg mit Talgdrüsen von der äusseren Haut 418
119. Milchdrüse in der Lactation, Milch, Colostrum 419
120. Corpus luteum aus dem menschlichen Eierstock 424
121. Fettmetamorphose des Herzfleisches in verschiedenen Stadien 427
122. Fettige Degeneration an Hirnarterien. A Fettmetamorphose der Muskelzellen in der Ringfaserhaut. B Bildung von Fettkörnchenzellen in den Bindegewebskörperchen der Intima 429
123. Geschichtete amylacische Körper der Prostata (Concretionen) 436
124. Amyloide Degeneration einer kleinen Arterie aus der Submucosa des Dünndarms 441
125. Amyloide Degeneration einer Lymphdrüse 448
126. Corpora amyloidea aus einer erkrankten Lymphdrüse 448
127. Verkalkung der Gelenkknorpel alter Leute 454
128. Verticalschnitt durch die Aortenwand an einer sklerotischen, zur Bildung eines Atheroms fortschreitenden Stelle 464
129. Der atheromatöse Brei aus einem Aortenheerde. aa' Flüssiges Fett, b Amorphe körnig-faltige Schollen, cc' Cholestearinkrystalle 466
130. Verticaler Durchschnitt aus einer sklerotischen, sich fettig metamorphosirenden Platte der Aorta (innere Haut) 466
131. Condylomatöse Excrescenzen der Valvula mitralis 471
132. Intracapsuläre Zellenvermehrung in der mittleren Substanz der Intervertebralknorpel 487
133. Endogene Neubildung, blasentragende Zellen (Physaliphoren). A Aus der Thymusdrüse eines Neugebornen. B C Krebszellen 489
134. Verticalschnitt durch den Ossificationsrand eines wachsenden Astragalus (pathologische Reizung) 501
135–36. Horizontalschnitte durch den wachsenden Diaphysenknorpel der Tibia, menschlicher Fötus von 7 Monaten 504
137–38. Rachitische Diaphysenknorpel: markige und osteoide Umbildung, Verkalkung und Verknöcherung 507–9
139. Periostwachsthum der Schädelknochen (Os parietale, Kind) 513
140–41. Osteoidchondrom vom Kiefer einer Ziege 515–16
142. In der Heilung begriffene Fractur des Oberarms, Callusbildung 519
143. Demarkationsrand eines nekrotischen Knochenstückes bei Paedarthrocace, Knochenterritorien 521
144. Interstitielle Eiterbildung bei puerperaler Muskelentzündung 530
145. Eiterige Granulation aus dem Unterhautgewebe des Kaninchens, im Umfange eines Ligaturfadens 536
146. Entwickelung von Krebs aus Bindegewebe bei Carcinoma mammae 539
147. Beginnendes Blumenkohlgewächs (Cancroid) des Collum uteri 554
148. Entwickelung von Tuberkel aus Bindegewebe in der Pleura 559
149. Krebszellen 559
150. Cancroidzapfen aus einer Geschwulst der Unterlippe mit Epidermis-Perlen 568
151. Cancroid der Orbita 569
152. Sarcoma mammae 572

Erstes Capitel.
Die Zelle und die cellulare Theorie.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung und Aufgabe. Bedeutung der anatomischen Entdeckungen in der Geschichte der Medicin. Geringer Einfluss der Zellentheorie auf die Pathologie.

Die Zelle als letztes wirkendes Element des lebenden Körpers. Genauere Bestimmung der Zelle. Die Pflanzenzelle: Membran, Inhalt (Protoplasma), Kern. Die thierische Zelle: die eingekapselte (Knorpel) und die einfache. Der Zellenkern (Nucleus). Das Kernkörperchen (Nucleolus). Die Theorie der Zellenbildung aus freiem Cytoblastem. Constanz des Kerns und Bedeutung desselben für die Erhaltung der lebenden Elemente. Der Zellkörper und das Protoplasma. Verschiedenartigkeit des Zelleninhalts und Bedeutung desselben für die Function der Theile. Die Zellen als vitale Einheiten (Elementarorganismen). Der Körper als sociale Einrichtung. Die Intercellularsubstanz und die Zellenterritorien.

Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Solidarpathologie.

Falsche Elementartheile: Fasern, Kügelchen (Elementarkörnchen). Entstehung der Zellen. Umhüllungstheorie. Generatio aequivoca der Zellen. Das Gesetz von der continuirlichen Entwickelung (Omnis cellula e cellula). Pflanzen- und Knorpelwachsthum.

Wir befinden uns inmitten einer grossen Reform der Medicin. Zum ersten Male seit Jahrtausenden ist in unserer Zeit das gesammte Gebiet dieser so umfangreichen Wissenschaft der naturwissenschaftlichen Forschung unterworfen worden. Lehrsätze, welche zu den ältesten Ueberlieferungen der Menschheit gehören, werden der Feuerprobe nicht bloss der Erfahrung, sondern noch mehr des Versuches ausgesetzt. Für die Erfahrung werden Beweise, für den Versuch zuverlässige Methoden gefordert. Ueberall dringt die Forschung auf die feinsten, den menschlichen Sinnen zugänglichen Verhältnisse; die Erkenntniss geht in zahllose Einzelheiten aus einander, welche das Bewusstsein von der einheitlichen Natur des menschlichen Wesens stören und welche Vielen mehr geeignet zu sein scheinen, einen Schmuck des Wissens, als eine Handhabe des Handelns darzustellen. Am meisten wird der ausübende Arzt bedrängt. Er, dem die Praxis kaum die Musse des Lesens vergönnt, dem sowohl die ausreichenden literarischen Hülfsmittel, als die Anschauung der neueren Erfahrungen nur zu oft abgehen, er findet sich verwirrt in einem Chaos, in welchem die Trümmer des Alten mit den Bausteinen des Neuen bunt durch einander geworfen zu sein scheinen.

Und doch ist das Chaos nur scheinbar. Es besteht nur für den, welcher die Thatsachen nicht beherrscht, auf welchen die neue Anschauung sich begründet. Für den Eingeweihten lässt sich wohl eine Ordnung herstellen, welche sowohl dem praktischen, als dem wissenschaftlichen Bedürfnisse genügt, eine Ordnung, welche freilich weit davon entfernt ist, ein in sich abgeschlossenes System zu bilden, welche aber von einem allgemeinen biologischen Principe aus die Einzelerfahrungen nach ihrem besonderen Werthe und nach ihren Beziehungen unter einander in einen wissenschaftlichen Zusammenhang zu setzen vermag. Diess ist das cellulare Princip, welches in seiner Anwendung auf den zusammengesetzten, lebenden Körper uns zu einer Cellular-Physiologie und zu einer Cellular-Pathologie führt, welches aber in jeder dieser beiden Richtungen zunächst auf einer Anatomie des feinsten Einzelnen, auf der Histologie beruht.

In der That ist die gegenwärtige Reform wesentlich ausgegangen von neuen anatomischen Erfahrungen. Freilich waren es zumeist Erfahrungen der pathologischen Anatomie, welche die alten Lehrgebäude erschütterten, und noch jetzt scheint es Vielen, als sei damit genug gethan und als habe die Histologie nur die Bedeutung einer Luxuswissenschaft. Jeder Blick in die Vergangenheit zeigt uns aber, wie unrichtig es ist, wenn man glauben kann, der Einfluss der Anatomie auf die Medicin sei nur ein äußerlicher, ihr Werth ein mehr relativer. Die Geschichte der Medicin lehrt uns ja, wenn wir nur einen einigermaassen grösseren Ueberblick nehmen, dass zu allen Zeiten die bleibenden Fortschritte bezeichnet worden sind durch anatomische Neuerungen, dass jede grössere Epoche zunächst eingeleitet wurde durch eine Reihe bedeutender Entdeckungen über den Bau und die Einrichtung des Körpers. So ist es in der alten Zeit gewesen, als die Erfahrungen der Alexandriner, zum ersten Male von der Anatomie des Menschen ausgehend, das galenische System vorbereiteten; so im Mittelalter, als Vesal die moderne Anatomie begründete und damit die Reform der Medicin begann; so endlich im Anfange unseres Jahrhunderts, als Bichat die Grundsätze der allgemeinen Anatomie entwickelte.

Wenn man den ausserordentlichen Einfluss erwägt, welchen seiner Zeit Bichat auf die Gestaltung der ärztlichen Anschauungen ausgeübt hat, so ist es in der That erstaunlich zu sehen, dass eine verhältnissmässig so lange Zeit vergangen ist, seitdem Schwann seine grossen Entdeckungen in der Histologie machte, ohne dass man die eigentliche Breite der neuen Thatsachen würdigte. Es hat dies allerdings zum Theil trotz dieser Entdeckungen daran gelegen, dass immer noch eine grosse Unsicherheit unserer Kenntnisse über die feinere Einrichtung vieler Gewebe fortbestanden hat, ja, wie wir leider zugestehen müssen, in manchen Theilen der Histologie selbst jetzt noch in solchem Maasse herrscht, dass Mancher kaum weiss, für welche Ansicht er sich entscheiden soll. Jeder Tag bringt neue Aufschlüsse, aber auch neue Zweifel über die Zuverlässigkeit eben erst veröffentlichter Entdeckungen. Ist denn überhaupt, fragt Mancher, in der Histologie etwas sicher? Giebt es einen Punkt, in dem Alle übereinstimmen? Vielleicht nicht. Aber gerade um deswegen habe ich in den Vorträgen im Anfange des Jahres 1858, welche vor einem grossen Kreise von Collegen, zunächst als Erläuterung unmittelbarer Demonstrationen, als Erklärung bestimmter, für die Ueberzeugung der Einzelnen durch eigene Anschauung und Prüfung eingerichteter Beweisstücke gehalten wurden und welche der gegenwärtigen Darstellung zu Grunde liegen, mich für verpflichtet erachtet, eine kurze und leicht fassliche Uebersicht desjenigen, was ich durch langjährige, gewissenhafte Untersuchung für wahr zu halten mich berechtigt glaubte, auch dem weiteren Kreise der Aerzte zugänglich zu machen. Manches Einzelne ist seitdem berichtigt, manches Andere neu entdeckt worden; die gegenwärtige Bearbeitung wird davon Zeugniss ablegen. Aber das Princip der Anschauung, welches ich für das gesammte Gebiet der Physiologie und Pathologie zu benutzen gelehrt habe und dessen erste schüchterne Ausführung in einer Arbeit des Jahres 1852[1] niedergelegt ist, darf gegenwärtig als gesichert angesehen werden, und für denjenigen, welcher daran festhält, wird es auch künftig nicht schwer werden, neue Ergebnisse des Forschens an der richtigen Stelle aufzunehmen, ohne dass er deshalb genöthigt wäre, die obersten Sätze aufzugeben, welche hier über die allgemeinen Grundlagen der Lebensthätigkeiten aufgestellt werden.

Alle Versuche der früheren Zeit, ein solches einheitliches Princip zu finden, sind daran gescheitert, dass man zu keiner Klarheit darüber zu gelangen wusste, von welchen Theilen des lebenden Körpers eigentlich die Action ausgehe und was das Thätige sei. Dieses ist die Cardinalfrage aller Physiologie und Pathologie. Ich habe sie beantwortet durch den Hinweis auf die Zelle als auf die wahrhafte organische Einheit. Indem ich daher die Histologie, als die Lehre von der Zelle und den daraus hervorgehenden Geweben, in eine unauflösliche Verbindung mit der Physiologie und Pathologie setzte, forderte ich vor Allem die Anerkennung, dass die Zelle wirklich das letzte Form-Element aller lebendigen Erscheinung sowohl im Gesunden, als im Kranken sei, von welcher alle Thätigkeit des Lebens ausgehe. Manchem erscheint es vielleicht nicht gerechtfertigt, wenn in dieser Weise das Leben als etwas ganz Besonderes anerkannt wird, ja, es wird vielleicht Vielen wie eine Art biologischer Mystik vorkommen, wenn das Leben überhaupt aus dem grossen Ganzen der Naturvorgänge getrennt und nicht sofort ganz und gar in Chemie und Physik aufgelöst wird. In der Folge dieser Vorträge wird sich jedermann davon überzeugen, dass man kaum mehr mechanisch denken kann, als ich es zu thun pflege, wo es sich darum handelt, die Vorgänge innerhalb der letzten Formelemente zu deuten. Aber wie viel auch von dem Stoffverkehr, der innerhalb der Zelle geschieht, nur an einzelne Bestandtheile derselben geknüpft sein mag, immerhin ist die Zelle der Sitz der Thätigkeit, das Elementargebiet, von welchem die Art der Thätigkeit abhängt, und sie behält nur so lange ihre Bedeutung als lebendes Element, als sie wirklich ein unversehrtes Ganzes darstellt.

Nicht am seltensten ist gegen diese Auffassung der Einwand erhoben worden, man sei nicht einmal einig darüber, was eigentlich unter einer Zelle zu verstehen sei. Dieser Einwand ist insofern unerheblich, als der Streit nicht um die Existenz der Zellen, sondern nur um ihre Deutung geführt wird. Im Wesentlichen weiss jedermann, welche thatsächlich existirenden Körper gemeint sind; ob der Eine sie so, der Andere sie anders interpretirt, ist eine Frage zweiter Ordnung, deren Beantwortung den Werth des Princips nicht berührt. Um so grössere Bedeutung hat sie für die Erörterung der Einzelvorgänge, und es ist gewiss zu bedauern, dass nicht schon lange eine Einigung erzielt ist. Die Schwierigkeiten, auf welche wir hier stossen, datiren unmittelbar von der ersten Begründung der Zellenlehre. Schwann, der auf den Schultern des Botanikers Schleiden stand, deutete seine Beobachtungen nach botanischen Mustern, und so kam es, dass alle Lehrsätze der Pflanzen-Physiologie mehr oder weniger entscheidend wurden für die Physiologie der thierischen Körper. Die Pflanzenzelle in dem Sinne, wie man sie zu jener Zeit ganz allgemein fasste und wie sie auch gegenwärtig häufig noch gefasst wird, ist aber ein Gebilde, dessen Identität mit dem, was wir thierische Zelle nennen, nicht ohne weiteres zugestanden werden kann.

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Fig. 1. Pflanzenzellen aus dem Centrum des jungen Triebes eines Knollens von Solanum tuberosum. a. Die gewöhnliche Erscheinung des regelmässig polygonalen, dickwandigen Zellengewebes. b. Eine isolirte Zelle mit feinkörnigem Aussehen der Höhlung, in der ein Kern mit Kernkörperchen zu sehen ist. c. Dieselbe Zelle, nach Einwirkung von Wasser; der Inhalt (Protoplasma) hat sich von der Wand (Membran, Capsel) zurückgezogen. An seinem Umfange ist eine besondere feine Haut (Primordialschlauch) zum Vorschein gekommen. d. Dieselbe Zelle bei längerer Einwirkung von Wasser; die innere Zelle (Protoplasma mit Primordialschlauch und Kern) hat sich ganz zusammengezogen und ist nur durch feine, zum Theil ästige Fäden mit der Zellhaut (Capsel) in Verbindung geblieben.

Wenn man von gewöhnlichem Pflanzenzellgewebe spricht, so meint man in der Regel damit ein Gewebe, das in seiner einfachsten und regelmässigsten Form auf einem Durchschnitt aus lauter vier- oder sechseckigen, wenn es etwas loser ist, aus rundlichen oder polygonalen Körpern zusammengesetzt erscheint. An jedem dieser Körper (Fig. 1, a.) unterscheidet man eine ziemlich dicke und derbe Wand (Membran) und eine innere Höhlung. In der Höhlung können je nach Umständen, insbesondere je nach der Natur der einzelnen Zellen, sehr verschiedene Stoffe abgelagert sein, z.B. Fett, Stärke, Pigment, Eiweiss (Zelleninhalt). Aber auch ganz abgesehen von diesen örtlichen Verschiedenheiten des Inhaltes, ist die chemische Untersuchung im Stande, an jeder Pflanzenzelle mehrere verschiedene Stoffe nachzuweisen.

Die Substanz, welche die äussere Membran bildet, die sogenannte Cellulose, ist stickstofflos, und characterisirt sich durch die eigenthümliche, schön blaue Färbung, welche sie bei Einwirkung von Jod und Schwefelsäure annimmt. (Jod allein giebt keine Färbung, Schwefelsäure für sich verkohlt.) Dasjenige, was in der von der Cellulose-Haut umschlossenen Höhle liegt, wird nicht blau, es müsste denn zufällig Stärke (Amylon) vorhanden sein, welche schon durch Jod allein blau gefärbt wird. Ist die Pflanzenzelle recht einfach, so erscheint vielmehr nach der Einwirkung von Jod und Schwefelsäure eine bräunliche oder gelbliche Masse, die sich als besonderer Körper im Innern des Zellenraumes isolirt und an der sich häufig eine besondere faltige, häufig geschrumpfte Umhüllungs-Haut erkennen lässt (Fig. 1, c.). Hugo v. Mohl, der zuerst (1844–46) diese innere Einrichtung genauer beschrieben hat, nannte jene Masse das Protoplasma, die Umhüllungs-Haut den Primordialschlauch (Utriculus primordialis). Auch die gröbere chemische Analyse zeigt an den einfachsten Zellen neben der stickstofflosen äusseren Substanz eine stickstoffhaltige innere Masse, und es lag daher nahe, zu schliessen, dass das eigentliche Wesen einer Pflanzenzelle darin beruhe, dass innerhalb einer stickstofflosen Membran ein von ihr differenter stickstoffhaltiger Inhalt vorhanden sei.

Man wusste freilich schon seit längerer Zeit, dass noch andere Dinge sich im Innern der Zellen befinden. Insbesondere war es eine der am meisten folgenreichen Entdeckungen, als Rob. Brown den Kern (Nucleus) innerhalb der Pflanzenzelle entdeckte (Fig. 1, b u. c.). Unglücklicherweise legte man diesem Gebilde eine grössere Bedeutung für die Bildung, als für die Erhaltung der Zellen bei, weil in sehr vielen älteren Pflanzenzellen der Kern äusserst undeutlich wird, in vielen ganz verschwindet, während die Form der Zelle doch erhalten bleibt.

Objecte zu gewinnen, welche das vollkommene Bild der Pflanzenzelle darbieten, ist nicht schwierig. Man nehme z.B. einen Kartoffelknollen und untersuche ihn da, wo er anfängt, einen neuen Schoss zu treiben, wo also die Wahrscheinlichkeit besteht, dass man junge Zellen finden wird, vorausgesetzt, dass Knospung überhaupt in der Bildung neuer Zellen besteht. Im Innern des Knollens sind alle Zellen mit Amylonkörnern vollgestopft; an dem jungen Schoss dagegen wird in dem Maasse, als er wächst, das Amylon aufgelöst und verbraucht, und die Zelle zeigt sich wieder in ihrer einfacheren Gestalt. Auf einem Querschnitte durch einen jungen Schössling nahe an seinem Austritte aus dem Knollen unterscheidet man etwa vier verschiedene Lagen: die Rindenschicht, dann eine Schicht grösserer Zellen, dann eine Schicht kleinerer Zellen, und zu innerst wieder eine Lage von grösseren. In dieser letzteren sieht man lauter regelmässige Gebilde; dicke Kapseln von sechseckiger Gestalt und im Innern derselben einen oder ein Paar Kerne (Fig. 1). Gegen die Rinde (Korkschicht) und ihre Matrix (Cambium) hin sind die Zellen viereckig und je weiter nach aussen, um so platter, aber auch in ihnen erkennt man bestimmt Kerne (Fig. 2, a.). Ueberall, wo die sogenannten Zellen zusammenstossen, ist zwischen ihnen eine Grenze zu erkennen; dann kommt die dicke Celluloseschicht, in welcher häufig feine Streifen (Ablagerungsschichten) zu bemerken sind, und im Innern der Höhle eine zusammengesetzte Masse, in welcher leicht ein Kern mit Kernkörperchen zu unterscheiden ist, und an der nach Anwendung von Reagentien auch der Primordialschlauch (Utriculus) als eine gefaltete, runzlige Haut zum Vorschein kommt. Es ist dies die vollendete, aber einfache Form der Pflanzenzelle. In den benachbarten Zellen liegen einzelne grössere, matt glänzende, geschichtete Körper: die Reste von Stärkemehl (Fig. 2, c.).

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Fig. 2. Aus der Rindenschicht eines Knollens von Solanum tuberosum nach Behandlung mit Jod und Schwefelsäure. a. Platte Rindenzellen, umgeben von der Kapsel (Zellhaut, Membran). b. Grössere, viereckige Zellen derselben Art aus dem Cambium; die geschrumpfte und gerunzelte eigentliche Zelle mit dem Primordialschlauch innerhalb der Kapsel. c. Zelle mit Amylonkörnern, welche innerhalb des Primordialschlauches liegen.

Mit solchen Erfahrungen kam man an die thierischen Gewebe, deren Uebereinstimmung mit den pflanzlichen Schwann nachzuweisen suchte. Die eben besprochene Deutung der gewöhnlichen pflanzlichen Zellenformen, wobei man jedoch den von Vielen geleugneten Primordialschlauch ganz unberücksichtigt zu lassen pflegte, diente als Ausgangspunkt. Dies ist aber, wie die Erfahrung gezeigt hat, in gewissem Sinne irrig gewesen. Man kann die pflanzliche Zelle in ihrer Totalität nicht mit jeder thierischen zusammenstellen. Wir kennen an thierischen Zellen keine solchen Unterschiede zwischen stickstoffhaltigen und stickstofflosen Schichten; in allen wesentlichen, die Zelle constituirenden Theilen kommen auch stickstoffhaltige Stoffe vor. Aber es giebt allerdings gewisse Formelemente im thierischen Leibe, welche an diese pflanzlichen Zellen unmittelbar erinnern; die am meisten charakteristischen unter ihnen sind die Zellen im Knorpel, der seiner ganzen Erscheinung nach von den übrigen Geweben des thierischen Leibes so sehr abweicht, und der schon durch seine Gefässlosigkeit eine ganz besondere Stellung einnimmt. Der Knorpel schliesst sich in jeder Beziehung am nächsten an die Gewebe der Pflanze an. An einer recht entwickelten Knorpelzelle erkennen wir eine verhältnissmässig dicke äussere Schicht, innerhalb welcher, wenn wir recht genau zusehen, wiederum eine zarte Haut, ein Inhalt und ein Kern zu finden sind. Hier haben wir also ein Gebilde, das der Pflanzenzelle durchaus entspricht.

Man hat daher auch lange Zeit hindurch, wenn man den Knorpel schilderte, das ganze eben beschriebene Gebilde (Fig. 3, ad.) ein Knorpelkörperchen genannt. Indem man dasselbe aber den Zellen anderer thierischer Theile coordinirte, stiess man auf Schwierigkeiten, welche die Kenntniss des wahren Sachverhältnisses ungemein störten. Das Knorpelkörperchen ist nehmlich nicht als Ganzes eine Zelle, sondern die äussere Schicht, die von mir sogenannte Capsel[2], ist das Produkt einer späteren Entwickelung (Absonderung, Ausscheidung). Im jungen oder wenig entwickelten Knorpel ist sie sehr dünn, während auch die Zelle kleiner zu sein pflegt. Gehen wir noch weiter in der Entwickelung zurück, so treffen wir auch im Knorpel nichts als eine einfache Zelle, welche jene äussere Absonderungsschicht noch nicht besitzt, dasselbe Gebilde, welches auch sonst in thierischen Geweben vorkommt.

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Fig. 3. Knorpelzellen, wie sie am Ossificationsrande wachsender Knorpel vorkommen, ganz den Pflanzenzellen analog (vgl. die Erklärung zu Fig. 1). ac. entwickeltere, d. jüngere Form.

Die Vergleichung zwischen thierischen und pflanzlichen Zellen, die wir allerdings machen müssen, ist demnach insofern zu beschränken, als in den meisten thierischen Geweben keine Formelemente gefunden werden, die als Aequivalente der Pflanzenzelle in der alten Bedeutung dieses Wortes betrachtet werden können. Insbesondere entspricht die Cellulose-Membran der Pflanzenzelle nicht der thierischen Zellhaut. Aber bei einer anderen Deutung der Pflanzenzelle trifft die Vergleichung allerdings zu, nur muss man sofort davon abgehen, dass die thierische Zellhaut als stickstoffhaltig eine typische Verschiedenheit von der pflanzlichen als stickstoffloser darbiete. Vielmehr treffen wir in beiden Fällen eine stickstoffhaltige Bildung von im Grossen übereinstimmender Zusammensetzung. Wenn auch die sogenannte Membran (Capsel) der Pflanzenzelle in der Capsel der Knorpelzellen ein Analogon findet, so entspricht doch vielmehr die gewöhnliche Membran der Thierzelle dem Primordialschlauch der (inneren) Pflanzenzelle, wie ich schon 1847 hervorgehoben habe[3]